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Spieluhrlied - Wellenmelodie

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01.10.18 16:42
12 Ab 12 Jahren
In Arbeit

Clyde wimmerte, als ihm das Telephon zum fünften Mal aus den schwitzigen Händen rutschte.

„Nichts passiert, nichts passiert“, stammelte er, lachte nervös auf. „Entschuldigen Sie, vielmals. Herr Kanaeo, was... Was sagten Sie zuletzt?“

Er grinste entschuldigend die Innenwand der Telephonzelle an. Sie war seit Jahren nicht gereinigt worden und den Witterungen der südchinesischen Küste ausgesetzt gewesen. Die Scheiben waren so dreckig, dass Clyde draußen nichts erkennen konnte - nicht, dass es ohne Dreck anders gewesen wäre. Es war Nacht. 

„Unwichtig“, nuschelte Herr Kanaeo am anderen Ende der Leitung. Der Verwalter des Indiks hatte eine tiefe Stimme. „Holen Sie die Kinder. Ich will die beiden hier, egal ob tot oder lebendig.“ Er machte eine kurze Pause. „Ein Botschafter dürfte gleich zu Ihnen stoßen. Einen Wächter konnte ich nicht schicken - ich brauche alles, was ich kriegen kann hier vor Ort.“ 

„Ja, hm. Danke, ja. Also...“ Clyde flutschte das Telephon beinahe erneut hinab, als er sich mit einer Hand die Haare raufte. 

„Aradeo?“

Clyde traute sich einen Moment nicht, auf seinen Nachnamen zu reagieren. „J... Ja?“

„Versagen Sie nicht. Die beiden Bälger sind gefährlich. Lassen Sie sich den Botschafter um das Mädchen kümmern.“ Clyde hätte gern nach einem Warum gefragt, aber er wollte sich nicht anhören, als würde er Kanaeos Befehle in Frage stellen. „Holen Sie den Jungen, aber hüten Sie sich vor seiner Magie. Er dürfte bereits stark geschwächt sein, aber unterschätzen Sie ihn nicht. Aradeo, hören Sie mir zu?“ 

„Ja! Ja, also... Ja, selbstverständlich, Herr Kanaeo.“ 

„Gut, gut. Ich will nicht noch mehr Leute verlieren. Das Wasser dieser Stadt wird ewig nach Blut schmecken.“ 

Clyde atmete tief durch, wischte sich die nasse Hand am Hemd ab. „Ja, also... Ich meine, ja, natürlich, aber... Es sind doch nur... Kinder, richtig?“

„Die Kinder haben mittlerweile zweiundzwanzig Leute auf dem Gewissen. Das ist mehr, als sie in Taiji diese Saison haben.“ 

Clyde wusste nicht, ob das ein Witz sein sollte. Er kannte Kanaeo seit zehn Jahren und war immer noch nicht warm mit dessen Humor geworden. Nichts an Taiji war witzig.

„Jetzt bewegen Sie ihren Arsch, Aradeo! Es geht nicht nur um die Sicherheit der Wellen und um Gerechtigkeit oder was auch immer, Sie wissen genau, was entwendet wurde! Das Artefakt muss sichergestellt werden, das hat noch höhere Priorität als der Verbleib der Kinder!“ 

„Mist, Mist, Mist!“ Clyde fluchte, als er nach dem Telephon angelte, das jetzt zum siebten Mal an der Strippe hing. Er hatte sich erschrocken, als jemand von außen gegen die Fensterscheibe geklopft hatte. Dieser Landstreifen war verlassen bei Nacht. 

„Beeilen Sie sich. In diesem Gebiet fallen Sie auf.“ 

„Ja, selbstverständlich“, versicherte Clyde. Dabei schaute er auf jene Person, die draußen stand. Trotz des dreckigen Fensters konnte er erkennen, wer es war. „Sie haben mir ja Farley geschickt! Er gehört doch gar nicht zum Verwaltungsgebiet.“ 

„Er war gerade in der Stadt, als es passiert ist, und hatte sich angeboten. Gut, dass er jetzt da ist.“ 

Clyde nickte, ehe ihm einfiel, dass sein Gesprächspartner das nicht sehen konnte. „Oh, ja. Hm, Herr Kanaeo? Welche Arten? Also, die Kinder. Falls sie nicht in menschlicher Gestalt da sind... und so.“ 

Sein Chef lachte kurz. Clyde konnte nicht erkennen, ob es freundlich oder bitter klang. „Gut, dass Sie mich erinnern. Das Mädchen ist ein Spinnerdelphin, der Junge ein Schwertwal. Letzteren haben die Wächter noch erwischt, als er Gestalt gewechselt hat. Und jetzt machen Sie, dass Sie hier weg kommen!“ 

„Selbstverständlich, selbstverständlich!“, stammelte er so schnell, dass daraus kaum verständliche Wortsoße wurde. „Wir werden Sie nicht enttäuschen, Sie nicht und die Gewässer von Sasara nicht und die fünf Ozeane erst Recht nicht!“ 

„Schön. Ich verlasse mich auf Sie.“ 

Als Clyde das darauffolgende Piepen hörte, wusste er, dass Kanaeo aufgelegt hatte. Er ließ eine lange, sehr leidend klingende Mischung aus Seufzer und Stöhnen ertönen, dann schloss er die Schnallen seiner Jacke wieder und verließ die Zelle. An dieser Küste war es nicht kalt, zumindest nicht für ihn – normalerweise arbeitete er in Ferma, der Hauptstadt der antarktischen Gewässer. Doch der Wind war unangenehm und als Mensch fehlten ihm mehrere Zentimeter Fettschicht. Ihm war unklar, wie Menschen überhaupt lebensfähig waren, wenn sie keine Zweitgestalt hatten, die ihrem Lebensraum besser angepasst war. 

„Farley!“ Clyde grinste flüchtig und schief, als er zu dem Botschafter trat. „Dich hätte ich wirklich nicht erwartet.“ 

Der Angesprochene erwiderte das Grinsen ebenso knapp. Er kam von ganz oben, aus dem Norden, stand der Verwalterin nahe. Ihre Wege kreuzten sich nicht häufig, aber sie hatten sich damals kennengelernt, als Clyde seine Ausbildung gemacht hatte. 

„Nur die Besten der Besten für diesen Auftrag“, sagte Farley, nickte Clyde zu und klopfte ihm dann auf die Schulter. 

„In dem Fall wäre ich nicht hier und...“, sprach Clyde seufzend, aber Farley unterbrach ihn. 

„Na. Ich wiederhole mich nicht und wenn ich etwas sage, dann meine ich es auch so. Jammern kannst du später, wenn du wieder zu Hause bist.“ Farley war ein sehr großer Mann und er schaute Clyde nicht halb so kritisch an, wie er es erwartet hätte. „Ich habe die beiden gefunden, ungefähr anderthalb Kilometer östlich von hier, am Strand. Weit sind sie nicht gekommen. Kanaeo hat die Lage gut eingeschätzt.“ 

„Anscheinend.“ Clyde schaute aufs Meer. „Der Kerl macht mich fertig. Ich weiß nicht, ob es an ihm direkt liegt, ich weiß ja nicht einmal, ob ich ihn eigentlich mag oder nicht. Vielleicht sind es auch einfach nur Schwertwale, die komisch sind... Weißt du, was ich meine?“

Er sah wieder zu Farley, doch der war verschwunden. Stattdessen saß auf dem Boden ein Basstölpel, der mit seinen gelben Augen zu ihm aufschaute, ehe er sich kurz das Gefieder putzte. 

„In Ordnung, in Ordnung, ich mach ja schon“, seufzte Clyde, dann begann er, sich seinen Weg in Richtung Strand zu suchen, den Hügel hinab. Ihm kam der Gedanke, Farley darauf aufmerksam zu machen, dass er hier keine Tarnung hatte, wenn er keinen Täuschungszauber verwendete. In der Region gab es keine Basstölpel und auch keine nahen Verwandten, die ähnlich ausgesehen hätten. Aber es war Nacht und die Wahrscheinlichkeit, auf Ornithologen zu treffen gering. Außerdem hatte Farley bereits begonnen, sich in die Lüfte zu erheben. Der Wind war so laut, er hätte ihn ohnehin nicht verstanden, einmal ganz davon abgesehen, dass er ihm in Vogelgestalt nicht antworten konnte. Clyde beschleunigte seine Schritte und wartete nicht auf Farley. Der würde ihn noch früh genug einholen. 








Der Höhepunkt der Flut hatte Clyde das Vorankommen erschwert. Als Gestaltwandler der Wellen konnte er Wasser in gewissem Grad bändigen, aber es war unmöglich, die Macht der Gezeiten unter Kontrolle zu bringen. Und das Wasser war zu flach, die Felsen zu schroff, um hier Gestalt zu wechseln. Er hätte sich nur verletzt. 

Als sie die beiden Kinder dann fanden, wechselte Farley wieder in seine menschliche Gestalt und kam zu Clyde, der sich hinter einem Felsen versteckte. Sie hatten guten Blick auf die beiden, die sie offensichtlich noch nicht bemerkt hatten.

Ungefähr zwanzig Meter von ihnen entfernt lag ein junger Schwertwal im Flachwasser. In der Dunkelheit und auf die Entfernung war es nicht auszumachen, ob er noch am Leben war oder nicht. Die Wellen, die gegen seine Flanken klatschten, bewegten ihn ein bisschen, ließen ihn schaukeln. Seine Rückenflosse lag in Fetzen, sein Körper war zerkratzt, doch es blutete nicht. Entweder, die Verletzungen waren geheilt worden oder seine Adern pumpten kein Blut mehr. 

Neben ihm hockte ein Mädchen, vielleicht dreizehn, vierzehn Jahre alt; dessen braune Haare so lang waren, dass sie bereits im Wasser hingen. Mit den Händen machte sie langsame, elegante Bewegungen, wellenförmig, und ließ das Wasser vom Ozean sich lösen und sanft über den gestrandeten Wal gleiten. Der Wind trug Bruchstücke einer Melodie zu Farley und Clyde. Das Mädchen summte.

Clyde wurde kalt, als er das hörte. Er schüttelte den Kopf, um ein paar der in ihm aufsteigenden Gefühle zu verdrängen. Kniff die Augen zusammen, drückte die Handflächen an die Ohren. Vor seinem inneren Auge sah er Wasser und wie es sich rot färbte und er fühlte Gewichte, die an ihm zogen. Die Tiefe war schwarz und der Ozean schluckte alles. Er kannte keine Rücksicht und er interessierte sich für niemanden und es wurde laut, lauter, lauter. Wir müssen hier weg.

Farleys Hand auf seiner Schulter gab ihm Halt. Er wusste, dass Farley die Melodie auch hören konnte, aber er wusste auch, dass sie keinen Einfluss auf ihn hatte. Das war gut für ihn. Ein Berufsrisiko weniger. 

„Es sind... Kinder...“, flüsterte er, um sich abzulenken. Als die Windrichtung drehte, konnte er leise durchatmen. „Es sind verdammt nochmal Kinder.“ 

Farley tippte ihn an und nickte in die Richtung der beiden. „Der Junge ist offenbar völlig fertig. Ich glaube, er lebt noch, aber er liegt auch nicht freiwillig in der Brandung. Hat Kanaeo irgendetwas gesagt, ob sie ihm einen Blockadezauber aufgehalst haben?“, erkundigte er sich. „Fragt sich, ob die Kleine ihn im Stich lassen wird, wenn wir beide in Erscheinung treten.“ 

Clyde starrte auf den Wal. Der Anblick schmerzte. „Kanaeo hat nichts gesagt, nein. Nicht, dass ich wüsste“, antwortete er. Normalerweise wäre er sich sicher, dass das Mädchen sich nicht vom Fleck rühren würde. Sie waren die Wellen, sie verließen einander nicht, selbst wenn es dumm war zu bleiben. Eine Eigenschaften, die ihnen häufig Unglück brachte. Aber er wusste auch, was diese beiden Kinder gemacht hatten und er bezweifelte, dass auch nur irgendetwas an ihnen normal war. 

„Wenn die Kleine wegrennt, solltest du ihr folgen“, fügte Clyde hinzu. „Ich bin am Land keine große Hilfe, aber ich kümmer mich um den Jungen.“ Außerdem hatte Kanaeo das gesagt, aber das gab Clyde nicht weiter. 

Farley schmunzelte. „Allerdings nicht“, sagte er und nickte dann. „Du solltest den Jungen in menschliche Gestalt bekommen, so kriegen wir ihn besser durchs Portal. Hast du das Equipment dabei?“

Clyde nickte und zog zur Bestätigung ein Lederband um seinen Hals hervor, an dem eine ganze Hand voll unterschiedlicher Edelsteine hing. 

„Gut so“, sagte Farley und schaute wieder zu den Kindern. „Auf ein gutes Gelingen.“ 

Als Clyde schluckte, spürte er erneut Farleys Hand auf seiner Schulter. Er arbeitete gern mit ihm zusammen. „Auf ein gutes Gelingen.“

Die See war heute ausgesprochen rau. Die Wellen brachen sich an den Klippen der Stadt Altereira, spritzten viele Meter mit weißer Gischt hinauf. Laila war mittlerweile nass. Sie saß einige Meter über der Wasseroberfläche und fror ein wenig, auch wenn sie es hatte besser wissen müssen.

Obwohl es bereits Nachmittag war, war es nicht wirklich hell. Anfang April waren die Tage in Altereira nicht lang und außerdem gab es da noch den Vulkan in Island, der vor Kurzem angefangen hatte, sein Inneres als schwarze Wolke gen Himmel zu speien. Laila lächelte hinter ihrem Schal. Der Vulkan war zu weit weg, um ihn zu sehen und obwohl seine Aktivität für Lailas Volk nichts Gutes bedeutete, fand sie den Vorgang spannend. Die Botschafter der Wolken, mit denen sie seit jeher fest zusammen arbeiteten, konnten derzeit nur schlecht fliegen und es machte den Frühling oberhalb des Nordpolarkreises noch dunkler, als er ohnehin schon war.

Aber der Anblick war faszinierend. Die Natur war eine einzige Gewalt und keiner konnte sich anmaßen zu behaupten, er hätte sie unter Kontrolle.

„Laila?“, hörte sie vom Balkon. Sie war hinab geklettert, auf einen Felsvorsprung, um eine bessere Sicht zu haben.

Zum Einen.

Zum anderen mochte sie es, wenn man sie nicht sofort sehen konnte, wenn man ihr Zimmer betrat.

„Ich bin unten!“, rief sie nach oben, auch wenn es unnötig war. Lyell, ihr bester Freund, wusste ganz genau, wo sie am liebsten saß. Sie drehte sich um und sah, wie er sich über die dicke Steinmauer lehnte, die ihrem Balkon als Geländer fungierte. „Ich wette, meine Mutter hat dich geschickt, um mich zu holen“, seufzte sie. „Die hat den Hintern voll mit Feuerquallen, schon seit Tagen.“

Lyell nickte, dann kletterte auch er über die Mauer, um sich neben sie zu setzen. „Es hat noch ein paar Minuten“, sagte er. „Denke ich. Unsere Abreise ist erst in einer Stunde.“

Laila gluckste und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. „Hast du schon fertig gepackt?“

Er nickte erneut. „Du?“

„Ja. Mehr oder weniger. Dass ich was vergessen habe, fällt mir dann eh erst ein, wenn wir da sind.“

„Du solltest eine Liste machen“, schlug er vor. Auch sein Blick hing am schwarzen Himmel in der Ferne.

„Du mit deinen Listen, pft“, schnaubte sie. „Also, ich habe eine, aber wenn ich etwas vergessen habe, da überhaupt drauf zu schreiben, dann hilft mir das auch nicht weiter.“

„Die Portale sind ganz praktisch“, sagte er schmunzelnd. „Man ist schnell von A nach B gekommen.“

„Ach, lass mich.“ Sie hakte sich bei ihm ein. Lyell kam von drinnen, er war noch schön warm. Apropos warm. „Wie liegt gerade die Durchschnittstemperatur in Sin-Khâvin, weißt du das?“

„Nein“, gab er zu. „Kalt?“

„Eher warm. Also, wärmer als hier.“

„Dort geht gerade der Herbst los. So schlimm kann es nicht sein“, sagte er. „Südafrika ist nicht der Kongo.“

„Jaaa, das stimmt. Aber wir machen ja auch nicht die Portalreise gleich nach Sin-Khâvin, wir machen ja den Stopp in Ohayla und ich wette, dort ist es ätzend heiß gerade“, sagte sie. Portalreisen waren gut und schön, aber weder sie noch Lyell hatten jemals eine angetreten – zumindest ihres Wissens nach – und es hieß, dass der Körper gern unschön darauf reagierte. Zumindest beim ersten Mal. Deshalb würden sie nicht auf direktem Weg nach Sin-Khâvin am Kap der Guten Hoffnung reisen. Ein Zwischenhalt in Ohayla war eingeplant, eine wichtige Stadt auf dem Mittelatlantischen Rücken, südlich der Azoren.

Obwohl Lyell hätte behaupten können, dass er von ihrem Endziel und eben nicht Ohayla gesprochen hatte, tat er das nicht. Stattdessen schwieg er.

Laila wurde langsam kalt, aber sie wollte nicht hinein. Zwar war sie sehr aufgeregt wegen des Bevorstehenden, doch sie hatte keine Lust, sich von ihrer Mutter zu verabschieden. Die wurde sehr schnell sehr anstrengend.

„Ob ich in Sin-Khâvin dann endlich mal raus darf?“, fragte sie leise und eigentlich nicht, damit es beantwortet wurde. Lyell konnte es schließlich nicht wissen.

„Exkursionen nach draußen stehen auf dem Lehrplan“, sagte er. Wann hatte er sich den denn angeschaut?

„Dann hoffe ich, dass meine Mutter denen nicht dazwischen funkt“, seufzte Laila. Sie liebte das Meer. Den Geruch, die Geräusche, die Farbe. Allein der Anblick konnte sie in allen Tiefen beruhigen und gleichzeitig aufgeregt machen. Laila wusste, dass es gefährlich war. Dass sie jung war und keine Erfahrung hatte, weil sie hier in der Stadt geboren und aufgewachsen war. In den Wogen des Ozeans war die Gefahr der Wildnis allgegenwärtig, doch selbst das Argument, dass sie mit Lyell hinaus gehen konnte oder sogar einem Wächter oder sonst jemandem, der auf sie aufpasste, Lailas Mutter hatte nicht mit sich reden lassen, noch nie. Laila verstand das nicht. Ihre Mutter war vielleicht Regentin des Nordmeeres, aber Laila nicht deren einziges Kind. Und wenn sie beschützt wurde, was sollte dann schon passieren? Sie musste ja nicht unbedingt gehen, wenn gerade alles zugefroren war und auch keine Ewigkeit lang draußen bleiben.

„Hast du auch nachgeschaut, wie viele andere dort sein werden?“, erkundigte sie sich. Es war bereits seit einer Weile klar, dass Laila und Lyell ihre Grundausbildung trotz ihres Altersunterschieds zusammen in Sin-Khâvin erhalten würden, doch erst vor einem halben Jahr war bekannt gegeben worden, wann es beginnen würde. Lyell schüttelte den Kopf und schwieg. Laila hatte immer noch die Beschwerde ihres jüngeren Bruders in den Ohren, der Lailas und Lyells zukünftige Abwesenheit als „gemein, ungerecht und unfair“ betituliert hatte. Zehnjährige waren ein Geschenk an den Planeten.

Laila hingegen saß seit der Nachricht über ihre baldige Abreise an das Kap der Guten Hoffnung auf glühenden Kohlen.

„Wenn wir noch länger hier sitzen, kommt deine Mutter persönlich“, sagte Lyell nach einer Weile des Schweigens und der rauschenden See, während er zu Laila schaute.

„Iff“, murrte sie. „Ja, nein. Also, definitiv. Aber ich habe keine Lust.“

„Geht doch gar nicht um deine Mutter“, sagte er und zuckte mit den Schultern. „Aber ich dachte, du willst in den Süden?“

„Auf jeden Fall!“ Er hatte Recht. Sie wollten los! Da konnte sie auch ein Abschlussgespräch mit ihrer Mutter über sich ergehen lassen. Mehr oder weniger. „Je eher desto besser. Oder so. Obwohl, eigentlich ist es egal, ich glaube nicht, dass die die Portale für uns eher öffnen.“

„Glaube ich auch nicht“, stimmte er ihr zu.

Laila hatte sich bereits von ihm gelöst und kletterte das Balkongeländer wieder hoch. Oben angekommen schaute sie noch einmal auf die raue See, auf die Wolken, auf den dunklen Horizont. In Sin-Khâvin würde es keine langen Nächte geben wie hier. Keine tagelange Dunkelheit. Und vor allem ganz viele neue Gesichter. Die Aufregung ließ sie fast platzen.

Sie hielt Lyell die Hand hin, um ihm hoch zu helfen. „Ich passe schon auf, dass ich mich nicht verletze“, nuschelte er, nahm die Hand aber an.

„Das sagst du immer“, meinte sie, aber da beide nicht weiter darüber reden wollten, holte Laila einfach nur ihr Gepäck und winkte ihren besten Freund hinter sich her. Sie würde ihre Heimat und ihre Familie vermissen, das garantiert. Aber auch das machte die ungewisse Zukunft nur noch spannender. Sie hörte, wie Lyell die Balkontüren hinter sich schloss, während sie selbst die Zimmertür mit dem Ellenbogen öffnete, weil sie die Hände voll hatte. Lyell war aber schnell bei ihr, um ihr etwas abzunehmen. Sie grinste ihn breit an, schloss ab.

„Oh Mann! Ooooh Mann, ich kann es...“, sie brach ab. „Ich sollte nicht weiter darüber reden, ah. Aber es ist so aufregend! So sehr!“

Ungelenk versuchte sie, eine große Spanne zwischen ihren Händen anzuzeigen, was dadurch erschwert wurde, dass sie in einer Hand eine große Tasche trug. „Und ich bin so froh dass du dabei bist, das glaubst du gar nicht!“ Laila machte eine kurze Pause. „Also, ich meine, ich habe es dir ungefähr schon fünfhundert Mal gesagt...“ Sie hörte Lyell leise lachen und musste selbst breit grinsen. „Aber das wird unsere erste Portalreise und alles wird sich ändern, alles! Vielleicht darf ich endlich mal raus! Also, wir zwei, aber meine Mutter hält dich hier ja auch nicht davon ab, also... Ich darf raus! Dann! Irgendwann!“ Sie machte eine kurze Pause. „Tut mir Leid, ich will dich nicht nerven.“

Lyell winkte ab. „Du nervst nicht. Ich verstehe das.“

Sie wusste, dass er sich mit Änderungen etwas schwerer tat als sie, aber das war auch in Ordnung. Es funktionierten schließlich alle anders, es wäre langweilig, wenn dem nicht so wäre.

„Wie wäre es, wir gehen zu dir, dann kannst auch du dein Zeug holen, ich geh zu meiner Mutter und wir treffen uns unten bei den Portalen oder am Ausgang der Residenz? Vermutlich ist meine Mutter eh dabei. Wäre mir lieber ohne, aber ich bin mir sicher, dass sie dich auch noch einmal sehen will.“ Der Aufenthaltsort ihrer Mutter war näher an den Portalen als das Gebäude, in dem Laila und Lyell wohnten. Es war ein sehr großer Komplex, in denen mehr Familien unterkamen als nur die von Laila, aber es war nicht das einzige Haus in Altereira, das Lailas Art als zu Hause diente. Immerhin gab es nirgendwo so viele Belugas wie hier. Dafür waren sie in anderen Städten selten.

Er nickte. „Können wir so machen, ich warte am Tor.“ Seine Augen sahen aus wie das Meer bei gutem Wetter.

Es dauerte auch nicht mehr lange, bis sie an seinem Zimmer ankamen. Lyell öffnete die Tür und verschwand kurz in seinem Zimmer, um gleich darauf mit seinen Sachen wieder zu kommen. Lailas Tasche hatte er abgestellt, die musste sie jetzt selbst tragen. Das war in Ordnung für sie, immerhin war es ihr Zeug.

Da Valerie Seravino – Lailas Mutter – um diese Uhrzeit noch in ihrem Büro war, mussten die beiden zur Hauptresidenz in der Mitte der Stadt laufen. Das war mindestens eine Viertelstunde Fußweg und da es etwas kälter geworden war als vor ein paar Minuten noch, redeten die beiden nicht viel auf dem Weg. Als sie ankamen, blieben sie vor dem Gebäude stehen.

Laila nickte den beiden Residenzwächtern zu, die vor dem Haupteingang Wache hielten. Es gab viele Wächter hier, in Altereira, da diese Berufsgruppe hier ausgebildet wurde, doch waren jene, die vor wichtigen Gebäuden platziert waren, definitiv die stärksten Kämpfer ihres Volks. Hier im Norden trugen sie dicke, schwarze Umhänge mit bauschigem Kragen aus weißem Fell. Allein dadurch sahen sie eindrucksvoll aus. Die Gesichtstätowierungen der beiden Wächter hier waren gleich – die vier schwarzen Punkte untereinander von Schläfe bis Unterkiefer auf jeder Seite deuteten an, dass sie ihre ersten fünf Jahre im Ozean verbracht hatten, ohne für längere Zeit in den Städten gewesen zu sein. Die meisten Wächter kamen von draußen, waren sie doch mit Gefahren besser vertraut als jene Leute, die in den Städten aufgewachsen waren. Und dann hatten die den schwarzen Strich über Unterlippe und Kinn, der ihnen den Wächtern zuschrieb.

Laila würde, wenn sie einmal mit ihrer Ausbildung fertig war, keine der beiden Tattoos haben. Ihre würden anders aussehen.

„Wir sehen uns nachher“, verabschiedete sich Laila von Lyell, dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen kurzen Kuss auf die Wange.

„Bis nachher“, sagte auch er, ehe sie davon wuselte.







Laila klopfte am Büro ihrer Mutter an.

„Ich bin's“, rief sie gleich dazu und trat ein, als sie Valeries „Herein!“ hörte. Im Raum warf sie einen kurzen Blick aus den großen Fenstern, die das Stadtpanorama zeigten, doch auch wenn sie der Anblick mehr interessierte als sonst alles in diesem Zimmer, hatte sie jetzt keine Zeit, sich damit zu befassen.

Valerie saß hinter ihrem gigantischen Schreibtisch aus dunklem Holz und schrieb hastig etwas auf. Kaum hatte sie es fertig, faltete sie das Papier, steckte es in einen Umschlag, um es dem Mann neben ihr zu reichen.

„Hey, Laila“, grüßte dieser sie.

Valerie schenkte ihr ein kurzes Lächeln, war aber gleich darauf wieder beschäftigt, in ihren Unterlagen zu kramen.

„Hey, Farley“, sagte Laila mit einem Nicken an ihren Onkel.

„Bring das nach Alvara, so schnell es geht“, wies Valerie an. Farley laß sich die Rückseite durch, nickte, legte den Brief wieder ab. Anschließend öffnete er das Fenster. Valerie gab ein angestrengtes Zischen von sich, als der Windzug ihr die Unterlagen durcheinander brachte.

„Tut mir Leid“, sagte Farley schmunzelnd, aber Laila bezweifelte, dass es wirklich so war.

„Warum nach Alvara?“, erkundigte sie sich, schloss die Tür und kam näher. Alvara war keine Stadt des Wellenreichs, lediglich ein Außenposten.

„Die Portalverbindung dorthin ist eingebrochen“, antwortete Valerie mit einem schweren Seufzen. „Es ist alles grässlich anstrengend, noch mehr, als es normalerweise um diese Jahreszeit ist. Eyjafjallajökull stresst mehr als erwartet.“

„Aber die anderen Portalverbindungen gehen noch?“

„Ja, ja, auf jeden Fall! Ich habe es gleich überprüfen lassen, sonst hätte ich längst Bescheid gegeben, dass du und Lyell die Stadt heute nicht verlassen.“ Dabei nickte sie.

Farley setzte sich auf das Fensterbrett, wo er Gestalt wechselte. Laila ging zum Schreibtisch, griff sich den Brief und befestigte ihn an der Halterung an Farleys Bein. „Sehen wir uns nochmal?“, fragte sie ihn, während sie ihm durch das Rückengefieder strich.

„Er ist jetzt erstmal unterwegs“, antwortete Valerie.

Laila hätte ihr fast gesagt, dass sie Farley gefragt hatte und nicht sie, aber das wäre unnötig gewesen, da er im Moment ohnehin nicht antworten konnte. Farley schüttelte sich und breitete die Flügel aus, was Laila dazu veranlasste, einen Schritt zurück zu treten. Er sammelte Luft und gleich darauf flatterte er auch schon los, hinaus in den Himmel über der Stadt. Laila schaute ihm nach. Fliegen war sicherlich auch etwas Schönes. Aber dazu musste man ein Vogel sein, ein Gesandter der Wolken.

„In Sin-Khâvin wirst du ihn wohl öfter sehen als mich“, fügte Valerie hinzu. Laila nickte.

Ihre Mutter war mittlerweile aufgestanden und zu ihr gegangen. Valerie war noch ein Stück kleiner als Laila und genau wie ihre Tochter hatte sie lange, weißblonde Haare, die sie in Kombination mit der fahlen Haut aussehen ließ wie ein Gespenst. Von Leben zeugten ein paar Sommersprossen, aber Laila hatte wesentlich mehr als ihre Mutter. „Wo hast du Lyell gelassen?“, erkundigte sie sich.

„Unten. Er wartet vor dem Eingang mit seinem Zeug.“

„Gut, gut, dann sammeln wir ihn einfach ein, ja?“ Valerie rieb sich die Hände.

Laila konnte ihr gut ansehen, wie nervös sie war. Im Gegensatz zu ihr fühlte sie sich sehr ruhig. „Ja“, wiederholte Laila und nickte zur Unterstützung.

Valerie seufzte erneut, dann nahm sie ihre Tochter in die Arme. „Ich werde dich vermissen“, sagte sie leise.

Laila vergrub ihr Gesicht an ihrer Schulter. „Ich dich auch, Mama.“

Ihre Mutter wechselte für irgendwelche Besprechungen immer mal wieder die Stadt und Sin-Khâvin war die Hauptstadt des Atlantiks, aber sie würde Valerie für eine längere Zeit nicht sehen, als sie es gewohnt war.

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“

„Ich mache mir doch...“ Valerie unterbrach und löste sich von Laila. „Ich... Ich lasse dich doch gehen. Lass mir ein paar Sorgen, es wäre doch traurig, hätte ich die nicht.“ Sie strich ihr über die Wange und Laila schloss die Augen kurz. Ihre Mutter hatte eine sehr sanfte und ruhige stimme, leise, wenn sie privat sprachen. Sie konnte auch laut werden, aber das machte sie nicht häufig.

„Wie war es denn bei dir damals, in Sin-Khâvin?“, erkundigte Laila sich und schaute wieder auf das Meer. Ein paar Basstölpel kreisten über der Gischt, aber sie konnte nicht sagen, wer davon Tier war und wer davon zum Reich der Wolken gehörte.

„Das hast du jetzt schon so oft gefragt, Laila“, antwortete Valerie, deren Blick dem ihren folgte. „Ich kann mich nur wiederholen. Es war ein sehr aufregendes Jahr.“

„Wäre auch Schade, wenn es langweilig wäre“, sagte Laila grinsend. „Ich meine, wenn ich dann endlich mal rausdarf, will ich auch was erleben.“

Valerie schaute sehr leidend drein. „Du musst es nicht gleich übertreiben. Du weißt doch, wie gefährlich es da draußen...“

„Ja, ja.“ Sie winkte ab. „Menschen, Umweltverschmutzung, Menschen, Netze, Menschen, Schwertwale, Menschen, Haie, Menschen...“

„Laila, ich bitte dich“, wurde sie unterbrochen. „Ich könnte dir erklären, was ich wollte, an deiner Haltung würde sich nichts ändern.“

„Weil du keine Argumente hast, außer das übliche Blahblah. Es leben genug vom Volk draußen und in der Regel überleben die doch auch und ich wäre doch eh nur maximal ein paar Stunden im Ozean“, behauptete sie.

„Ich fühle mich eben nicht wohl dabei.“

Das war für Laila kein Argument, aber sie hatte keine Lust, jetzt schon wieder darüber zu diskutieren und Valerie ging es wohl ähnlich. „Ich passe auf mich auf. Versprochen.“

„Das hilft häufig genug auch nicht, Laila.“

„Weißt du, ich könnte jeden Tag in Altereira von einem fallenden Eiszapfen erschlagen werden und doch ist es mir noch nicht passiert.“ „Das ist etwas ganz anderes“, winkte Valerie ab.

Laila sah das anders, aber sie sagte es nicht. Letztendlich musste sie aber wieder grinsen. „Du hast von hier aus ohnehin keine Macht, was ich da unten mache.“

Sie seufzte sehr leidig. „Ja eben, das ist schlimm genug!“ Daraufhin zog sie Laila sanft zu sich und legte den Kopf auf ihrer Schulter ab. „Pass auf dich auf. Bitte.“

„Ich werde dich nicht enttäuschen, Mama.“

„Wenn ich den obersten Verwalter des Atlantiks höre, wie er sich über dich beschwert, dann gnade dir der Wellenherrscher“, murmelte Valerie. „Herr Tehkara wirkt wesentlich ruhiger, als er eigentlich ist.“

Laila grinste noch etwas weiter und vergrub ihr Gesicht in Valeries Haaren. Sie rochen nach Meersalz und trockenem Moos. „Selbstverständlich wird er nur in den besten und schönsten Tönen von mir singen, das ist doch wohl klar.“

Valeries erneutes Seufzen ließ darauf schließen, dass sie anderer Meinung war. Aber zumindest konnte sie darüber schweigen.

„Wir sollten los. Lyell steht sich sonst noch die Beine in den Bauch“, sagte Laila. „Oder er quatscht wider Erwarten mit den Wächtern und findet deren Beruf so cool, dass er eine Bestimmung dafür haben will.“

Aus dem Augenwinkel sah sie Valerie kurz schmunzeln. Tief durchatmend, richtete sie sich wieder auf. „Na dann, Laila. Wir sollten keine Zeit verlieren.“

Als Laila aufwachte, lag sie in einem fremden Bett, eingekuschelt in ein dünnes Laken. Ihr Kopf tat weh und auch der Rest ihres Körpers schmerzte und vor allem wusste sie nicht, wie sie hier her gekommen war. Sie hob ihre Decke, schaute sich mit flüchtigen Blicken um. Alles hell, ordentlich, steril. Ein Zimmer der Krankenstation. Sehr warm. Zu warm. Draußen schien die Sonne. Sie war nicht mehr in Altereira, wo – ah. Ohayla. Sie hatten doch... Aber wann war sie ins Portal gegangen? 

„Hey“, hörte sie Lyells Stimme und schaute zu ihrer Rechten. Er saß auf einem Stuhl, in der Hand ein Buch, das er jetzt allerdings weglegte, damit er aufstehen und zu ihr kommen konnte „Wie geht es dir?“ 

Laila gab ein Geräusch der Verwirrung von sich. „Was ist passiert?“, fragte sie mit kratziger Stimme und wischte sich über die Augen. 

„Das Portal“, antwortete er. „Du hast es nicht vertragen.“ 

„Hnnhgn.“ Laila setzte sich schwerfällig auf und ließ die Schultern hängen. „Und? Hat sich meine Mutter schon gemeldet, dass sie mich sofort zurück schicken sollen?“ 

Lyell lächelte knapp. „Noch nicht. Aber vielleicht weiß sie es auch noch nicht.“ 

„Bestimmt, ah.“ Sie schaute kurz an die Decke, ehe sie das Laken beiseite zog, um sich auf die Bettkante zu setzen. „Heilige Gewässer. Ist das normal?“ 

„Es passiert nicht jedem beim ersten Mal“, antwortete er. „Aber es ist auch nicht selten.“ 
„Hm.“ Zufrieden stimmte sie die Antwort nicht, doch da er auch bloß nichts dafür konnte, beließ sie es dabei. Viel lieber schlang sie die Arme um seine Mitte und vergrub das Gesicht an seinem Bauch. „Super Start“, sagte sie. Es klang sehr gedämpft. Lyell legte eine Hand auf den Kopf und strich ihr sanft durch die Haare. 

Laila löste sich und stand auf, versuchte, einen Schritt zu gehen, musste allerdings feststellen, dass ihre Beine nicht wirklich mitmachten, weshalb sie sich wieder hinsetzte. „Mist“, murrte sie und starrte auf den Boden. „Was kann ich eigentlich?“ 

„Es ist wirklich nicht schlimm“, sagte Lyell. 

„Sagst du.“ 

„Sagt jeder?“ 

Es klopfte an der Tür. „Darf ich reinkommen?“ 

„Öh.“ Laila erkannte die Stimme nicht. „Klar, klar.“ 

Die Tür öffnete sich und eine junge Frau trat ein. „Es ist schön, dass du wieder wach bist“, sprach sie, während sie mit der rechten Hand perfekt ein Tablett ausbalancierte. Ein paar Tassen standen darauf und eine Kanne. Laila versuchte, ihr Lächeln zu erwidern, brachte jedoch nur einen nervös zuckenden Mundwinkel zustande. 

„Sie haben in der Küche Tee für dich gekocht und da ich eh zu dir, beziehungsweise, euch wollte, habe ich mir gedacht, ich kann ihn gleich mitbringen.“ 

Lyell trat einen Schritt beiseite, damit sie das Tablett auf dem Nachttisch abstellen konnte. Anschließend hielt sie Laila die offene Hand und den Unterarm hin. Laila griff nach letzterem und spürte gleichzeitig den Griff der Frau am eigenen Arm. 

„Fortuna Jaravi. Ich werde mit euch morgen nach Sin-Khâvin weiterreisen.“ 

„Oh. Ooooh.“ Laila fühlte sich dumm. 

Fortuna hielt Lyell ebenfalls die Hand hin, auch wenn der etwas länger zum reagieren brauchte.
​​​​​ „Lyell“, stellte er sich knapp vor und da sein Nachname weniger wichtig als der von Fortuna war, ließ er ihn weg. 

„Laila Seravino“, stammelte Laila selbst und grinste komisch, um wettzumachen, dass sie offenbar einfache Kommunikation nicht beherrschte. 

„Ich weiß doch, ich weiß doch.“ Fortunas Lächeln wurde ein bisschen verschmitzt. „Meine Mutter hatte erwähnt, dass du hier sein würdest.“ 

„Meine hat... nichts gesagt.“ Laila starrte an Fortuna vorbei. „Vielleicht... wusste sie nichts davon.“

„Vielleicht. Wer weiß schon, ist ja auch egal.“ Sie winkte ab. „Eigentlich wollte ich euch zwei eher sehen, aber dann habe ich das mit dem Portal erfahren.“ 

Laila versuchte, nicht den Kopf hängen zu lassen. Es misslang. 

„Hey, komm“, sagte Fortuna und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Wegen so etwas bauen sie doch die Puffertage ein.“ Ihr Blick schwenkte zu Lyell. „Hattest du auch Probleme mit dem Portal?“ 

Anstatt etwas zu sagen, schüttelte er einfach nur den Kopf. 

Fortuna schwieg kurz. Offenbar musste sie einschätzen, wie sie auf sein Schweigen reagieren sollte, weshalb Laila sich einen Ruck gab. Es gab Leute, die gut mit Fremden reden konnten und es gab Lyell. 

„Jaaaa, naja, haha. Das erste Mal mit dem Portal, was will man machen, ich hatte halt Pech. Ging es dir auch so?“, fragte sie also Fortuna. 

„Nein, nein“, antwortete sie. „Mir war ein bisschen schlecht, aber das war es auch.“ 

Lailas erzwungenes Lächeln bröckelte wieder. Natürlich war jemandem wie Fortuna nur ein bisschen schlecht dabei – das sollte nicht abfällig klingen, im Grunde genommen kannte sie diese junge Frau ja nicht. Aber sie wusste, wer sie war, der Nachname hatte es verraten. Die Tochter von Oberverwalterin Jaravi, die den gleichen Job hatte wie Lailas Mutter, nur eben im Pazifik. Das war aber nicht ganz alles, denn Laila wusste auch, dass es sich bei Oberverwalterin Jaravi um eine Schwertwaldame handelte und Schwertwale waren... speziell. Laila hatte bisher nicht viel mit ihnen zu tun gehabt, aber sie waren im Allgemeinen für ihre Spitzfindigkeit und ihr enormes Ego bekannt. 

„Sagt mal, wisst ihr beide schon, was für Fähigkeiten ihr habt?“, erkundigte Fortuna sich, die sich neben Laila aufs Bett gesetzt hatte. „Ich weiß, dass es einige unterschiedliche gibt, aber ich kenne bisher nur meine. Es ist cool, aber großartig speziell auch wieder nicht, immerhin kann meine Mutter das gleiche.“ 

„Hey, meine auch!“, verkündete Laila. „Also, ich glaube nicht, dass sie das gleiche kann wie du und deine Mutter, also.. Das wäre... seltsam? Ja? Ja.“

„Was könnt ihr denn?“, fragte Fortuna nach und wirkte tatsächlich interessiert. 

„Heilen. Wir können beide heilen.“ Der Grund, warum Valerie damals, als Lyell in die Stadt gekommen war, sich um ihn gekümmert hatte. Der Grund, warum Laila damals in seiner Nähe sein sollte. Vermutlich hätten die zwei sich durch Lyells zurückgezogene Art gar nicht wirklich kennengelernt, wenn sie nicht diese Art von besonderen Fähigkeiten gehabt hätte, wegen denen sie jetzt auch hier war. Sie würde ja eine weiterführende Schule in Altereira besuchen, aber der Unterricht unten vor der Küste Südafrikas war für all jene, die mehr als nur die Standardfähigkeiten hatten. 

„Das ist praktisch“, stellte Fortuna fest. „Ich wusste gar nicht, dass es so praktische Sachen gibt. Ich kann Schutzbarrieren machen, das ist irgendwie... Ich weiß nicht, wozu braucht man das? Außer natürlich, um Leute durch die Gegend zu schubsen.“ 

„Ich würde manchmal echt gern Leute besser durch die Gegend schubsen können“, sagte Laila, woraufhin Fortuna auflachte. 

„Ja, stimmt schon, aber der ursprüngliche Zweck kann es doch auch nicht sein, oder? Vermutlich gibt es einfach so Fähigkeiten, die einen Sinn haben, und welche, bei denen sich die Geister dachten: Heh, voll witzig, lass machen!“ 

Jetzt musste auch Laila kurz lachen. „Sicherlich, ja.“ 

Fortuna indessen schaute wieder zu Lyell, der bisher nur am Fenster gelehnt und geschwiegen hatte. „Und was kannst du?“ 

„Das hättest du nicht fragen sollen“, sagte Laila schmunzelnd und schaute ihren besten Freund ebenfalls an. 

Der hob die Hände. „Wird sich noch herausstellen.“ 

„Whoah, also haben sie auch die genommen, bei denen sich die Fähigkeiten noch nicht gezeigt haben? Das wusste ich nicht“, gestand Fortuna. 

„Vielleicht hat das Medium etwas zu viel im Schlaf geredet.“ Laila zuckte mit den Schultern. 
„Gut möglich, ja.“ 

„Ich für meinen Teil bin dankbar.“ Sie griffelte nach Lyells Händen, der aber zu weit weg stand. Ein Glück bemerkte er das und hielt ihr die Hand hin. Dafür, dass es in dieser Stadt sehr warm war, war seine Hand erstaunlich kalt. 

„Na ja.“ Fortuna erhob sich wieder. „Trinkt den Tee. Wir werden uns ja noch sehen, spätestens bei der Abreise nach Sin-Khâvin. Ich wollte noch nach den anderen aus der Klasse schauen.“ 

„Hier sind noch mehr?“ Lailas Stimme kratzte auf einmal sehr. 

„Ja. Zwei aus Kandreen und einer aus Antalar.“ Fortuna fummelte ein Band von ihrem Handgelenk und begann, mit schnellen Fingern ihre Haare zu flechten und zusammen zu binden. Genau wie Lyell hatte sie Wellen, aber viel stärker und vor allem waren sie schwarz. Es passte zu ihrer dunklen Haut und den tiefbraunen Augen. Allein optisch war sie das ganz genaue Gegenteil von Laila, es war faszinierend. 

„Gute Genesung und, wenn wir uns nicht noch einmal sehen, einen schönen Aufenthalt in Ohayla!“ Sie schaute zu Lyell. „Dir natürlich auch. Auch wenn du nicht genesen musst.“ 

Er nickte ihr zu. „Danke. Schönen... Tag noch.“ Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen fragte er sich gerade, ob das die richtigen Wörter dafür gewesen waren, aber Fortuna schien das schon wieder egal zu sein. 

„Ja, auch danke, man sieht sich und so!“ Laila bekam sogar eine Umarmung von Fortuna, bevor diesie beschwingten Schrittes den Raum verließ und die Tür hinter sich schloss. Für einige Augenblicke war es still im Raum. Lyell griff nach seinem Tee, der mittlerweile wohl in trinkbarer Temperatur war, und trank ein paar Schlucke. Laila tat es ihm nach.

„Whoah“, gab sie danach von sich. „Was war das denn?“ Sie bewunderte Leute mit einer solchen Selbstsicherheit, die ansteckend war. Dafür war sie Fortuna sehr dankbar, einer jungen Frau, die sie gerade erst kennen gelernt hatte. Wie gut war es doch, dass jeder anders funktionierte. 

„Schwertwal?“, vermutete Lyell. 

„Ach psht, sag das nicht.“ Sie zog ihn wieder zu sich und sah, wie er knapp grinste. „Sie sah perfekt aus“, flüsterte sie, als er dann näher war. 

„Nicht schlecht, ja.“ 

„Nicht nicht schlecht. Perfekt.“ Fortuna musste sich wohl auf jeden Fall keine Gedanken machen, die Haut zu schützen, wenn sie fünf Minuten lang in mittelmäßig starker UV-Strahlung stand, damit sie keinen Ausschlag bekam. „Wir sollten uns die Stadt anschauen.“ 

„Schaffst du das? Zu laufen?“, erkundigte er sich und hielt ihr noch die andere Hand hin. 

„Ich muss es nur bis zum Wasser schaffen“, sagte sie, als sie annahm und sich auf die Beine ziehen ließ. Da ihr immer noch schwindelig war, stützte sie sich an Lyell ab. 

„Auf deine Verantwortung.“ Mit den Worten nahm er sie einfach auf den Arm. Laila quiekte vor Schreck, hatte letzten Endes aber nichts dagegen einzuwenden. Sie streckte sich lediglich, um ihm den gewohnt kurzen Kuss zu geben. 

„Auf dass ich die nächsten paar Tage nicht so kläglich versagen werde“, verkündete sie, als sie sich aus dem Raum tragen ließ. „Du, wir müssen aber noch vorn Bescheid geben und so.“ 

„Sollten wir, ja. Nicht, dass die Ärzte dich vermissen.“






Ohayla war kleiner als Altereira, hatte um die Jahreszeit aber wesentlich mehr Einwohner. Die Azoren waren nicht weit und so bestand die Stadt wie Lailas Heimat auch vorrangig aus dunklem Vulkangestein, das fruchtbaren Boden lieferte. Die Stadt war so grün und voll mit Bäumen, mit Palmen. Laila hatte noch nie so viel und so üppigen Pflanzenwachstum gesehen. 

Der größte Unterschied war aber der Inhalt der Wasserstraßen. Diese waren Hauptbestandteil einer jeden Stadt und vermutlich machte allein die zahlreichen Gassen, Straßen und Becken mindestens die Hälfte der Stadt aus. Hier in Ohayla gab es so viele andere Gestaltwandler, als Laila es von Altereira gewohnt war. Waren Lyell und sie zu Hause als Belugas ein ganz normaler Anblick, so waren sie hier eine Seltenheit. Als die beiden am Vortag sich die Stadt vom Wasser aus angeschaut hatten, waren ihnen in den Straßen viele kleinere Delphinarten begegnet, Grindwale, unterschiedliche Schnabelwale. Altereira war groß und hatte im Sommer mehr Einwohner als zu jeder anderen Jahreszeit, mehr als Ohayla jetzt, jedoch mit viel geringerem Artenreichtum. 

Trotz des Einknickens gestern im Portal fühlte Laila sich nun sehr motiviert, nach Sin-Khâvin zu kommen. Wenn Ohayla schon so ungewohnt und faszinierend war, wie war es dann erst die größte Stadt des Wellenreiches? 

„Wenn ich zu fest drücke, musst du es sagen“, sagte Laila, hibbelig wie vorgestern Abend. „Ich will nicht, dass du blaue Flecke kriegst und... Ah. Ah.“ Sie ließ Lyells Hand lieber los und kümmerte sich um ihr Gepäck. 
„Wenn mir die Adern platzen, schrei ich.“ Er grinste und nahm sein Zeug ebenfalls hoch. 

„Das sagst du jetzt, du dreckiger Lügner.“ Laila tat, als würde sie ihm gegen das Schlüsselbein schnipsen. 

Doch Lyell lachte nur leise, als er ihr voran ging. Sie mussten Gebäude wechseln, um zum Portal zu gelangen und trafen auf halber Strecke selbstverständlich auf Fortuna. 

„Na? Schönen Tag noch gehabt?“, erkundigte die sich, als sie Laila zur Begrüßung eine Umarmung gab. 

„Ja. Ja, waren schwimmen“, antwortete Laila. Da Fortuna nicht allein war, fiel ihr Blick auf die Leute, die bei ihr waren, während Fortuna und Lyell sich knapp zunickten. 

„Oh, ja. Ich hab die anderen tatsächlich gefunden“, sagte Fortuna anschließend. 

„Hey“, kam es undeutlich von einem stämmigen Jungen, der sehr unauffällig wirkte. Während seine Haut gut gebräunt aussah, waren seine Haare von der Sonne ausgeblichen. Verglichen mit den beiden anderen, die Laila nicht kannte, war er richtig dunkel, sodass Laila annahm, dass es sich bei ihm um ihren Klassenkameraden aus Antalar handelte, einer Stadt nahe des Eingangs zum Mittelmeer. 

Die anderen beiden musterten sie ebenfalls, von denen die eine Laila und Lyell und zunickte und die andere ein noch leiseres „Hallo“ als der Junge hervorbrachte. Sie beide waren sehr hell. Das Blond der einen sah nicht nach Leinen aus wie das von Laila, aber auch nicht so nach Honig wie Lyell, während die andere schwarze Haare zu zwei Zöpfen hatte. Und eine sehr prominente Nase, obwohl sie ansonsten vermutlich die zierlichste Person war, die Laila je gesehen hatte. 

„Hi, ich bin Laila“, sagte Laila zu laut und zu nervös und grinste blöd. Sie war die einzige, die ihren Namen gesagt hatte. Warum war sie so, wie sie war? 

„Barry“, kam es von dem Jungen. Das blonde Mädchen schwieg. 

Die andere nahm das als Aufforderung, zu ihr zu gehen und ihr die Hand zum Einschlagen hinzuhalten. Sie versuchte, Lailas fürchterliches Lächeln zu erwidern. Laila fühlte sich verstanden. „Annalina, freut mich.“ 

„Jetzt kennen wir uns ja alle“, tönte es von Fortuna. „Wir haben noch einen Termin!“ 

Nein. Keiner kannte Lyell, der es aber auch nicht einsah, irgendetwas zu sagen. Und das blonde Mädchen hatte auch noch nichts von sich gegeben. Introvertierte Personen plus Fortuna. Laila kannte sie so gut wie gar nicht, aber sie war jetzt schon froh, dass sie da war. 

Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Laila verzog sich lieber wieder zu Lyell und beobachtete die anderen aufmerksam, ohne aber selbst etwas zu machen. Interaktion würde dann am Montag losgehen. Montag. Morgen. Morgen würde es losgehen. Der Gedanke daran ließ es ihr noch wärmer werden, als es aufgrund der allgemeinen Temperatur bereits war. Es würde schon alles gut werden. Wenn sie es sich noch weiter einredete, würde sie noch daran glauben, bevor sie am Portal ankam.

Autorennotiz

Freunde der Volksmusik! Ich lade die nächste Story hoch! Und Achtung. Sie ist alt. Nicht der Text selbst, an dem arbeite ich schließlich ständig. Aber die Story? Antik. Ich hab in der Grundschule schon Bilder dazu gemalt und weil ich einfach nicht loslassen kann, schreibe ich halt irgendwie immer noch daran.

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Kapitel: 3
Sätze: 715
Wörter: 7.452
Zeichen: 43.362

Kurzbeschreibung

Eine Melodie, so verflucht, dass nur jene sie hören können, die mit dem Original vertraut sind. - Den Gestaltwandlern der Wellen wird ein wichtiges Artefakt entwendet. Als vier Jahre später eine neue Klasse Schüler mit speziellen Fähigkeiten ihren Unterricht beginnt, ist man sich über den Verbleib der verlorenen Spieluhr immer noch im Unklaren, doch wurden durch den Diebstahl Ereignisse ins Rollen gebracht. Die Wellen sind in Unruhe. Und wenn Wasser einmal aufgewühlt wird, so lässt es sich nicht mehr stoppen.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Natur auch in den Genres Fantasy, Entwicklung, Freundschaft gelistet.