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Zeit der Kolibris

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11.11.21 17:13
16 Ab 16 Jahren
Heterosexualität
In Arbeit

Zugegeben, dies ist nicht nur eine Geschichte über einen geistig behinderten Menschen und dessen Versuche, am Leben teilzunehmen - und allein das ist ein Wagnis -, sondern auch der Versuch, über einen Regisseur zu schreiben, der sich in der ehemaligen DDR vor allem durch seine hochsensiblen und gleichsam kritischen Filme einen Namen machte, in der Nachwendezeit jedoch nur noch Serien und Schinken für das Unterhaltungsprogramm drehte. Im Übrigen traf dieses Schicksal nicht nur ihn allein, sondern all jene, die sich nach Auflösung der DEFA plötzlich von Arbeitslosigkeit bedroht sahen. So einige ergingen sich im "Traumschiff" etc. Wie fühlt es sich an, plötzlich nicht mehr gebraucht zu werden, die eigene Arbeit nicht mehr geachtet und beachtet zu sehen und zugleich dazu gezwungen zu sein, durch seichte Unterhaltung das tägliche Brot zu verdienen? Derjenige, dem ich durch diese Geschichte näher kommen möchte, ist daran zerbrochen und viel zu früh verstorben. In einem seiner letzten Interviews sagte er: "Ich lebe einfach weiter." Drei Wochen später war er tot. Mein Freund besuchte ihn damals in Potsdam-Babelsberg, da war er gerade auf dem Dach seines Hauses - er drehe nur noch, so sagte er, um das Haus halten zu können. Aber eben das, mag es auf den heutigen Leser noch so vertraut wirken, war nicht sein Anspruch, den er ans Filmemachen hatte. Die Kunst galt ihm nicht nur als Möglichkeit des Geldverdienens durch die Schaffung von billigem Amüsement, purer Unterhaltung, gar Augenwischerei. Frei nach Brecht wollte er Widersprüche und Missstände innerhalb der Gesellschaft aufdecken, wollte bewegen, aufrütteln, zum Nachdenken und Diskutieren anregen. Er wollte Reales, Greifbares, unmittelbar Bestehendes erzählen ohne einem platten Naturalismus zu verfallen, wollte, dass sich die Menschen in seinen Filmen wiedererkennen, sich mit den Figuren identifizieren. Dazu bedurfte es aufrichtiger, zutiefst ehrlicher Geschichten, die die Menschen unmittelbar angingen. Er wollte dazu beitragen, dass die Gesellschaft, in der er lebte, eine bessere werde. Und das war die in der DDR. Eine andere Welt kannte er nicht. Wollte er das überhaupt, eine andere Welt kennenlernen. Das lässt sich natürlich fragen. Wäre er dazu fähig gewesen, sich irgendwann doch zurechtzufinden in einer Welt, die nie die seine, ihm fremd war?

In meiner Geschichte nun stelle ich mir die Frage, wie sein Leben aussehen könnte, weilte er noch unter uns. Welchen Stoffen würde er sich heutzutage zuwenden? Und würde er es schaffen, im geeinten Deutschland anzukommen, also wieder das Gefühl zu haben, gebraucht zu werden?


 

in
memoriam
Heiner Carow
(1929-1997)

Das Motto dieser Geschichte sei der Song נושמת (Atmung) von Maya Buskila.


Diese Geschichte spielt in den frühen 2000er Jahren und somit lange vor Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes, das behinderten Menschen ein möglichst selbstbestimmtes und damit würdiges Leben garantieren soll.

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„Sterben“, sagte er, „bald sterben“, dann neigte er sich zur Seite und fuhr mit der Hand durchs Wasser, ehe er sich an seine Mutter wandte und erneut sagte: „Sterben, ganz gewiss.“

Dabei deutete er auf sich und verzog das Gesicht – angstvoll, sodass ihn seine Mutter in den Arm nahm, tröstend und zugleich versuchend, seinem schluchzenden Heulen Einhalt zu gebieten. Es war ihr nicht peinlich, dass sich einige der Leute, die mit ihnen im Kahn saßen, umgedreht hatten und sie und ihren Sohn fragend, wenn nicht gar irritiert und missbilligend ansahen und somit gleichsam aus der kahnfahrenden Masse heraushoben. Wohl aber störte es sie, dass all diese Leute Zeuge wurden, wie sich ihr Sohn an ihr barg. Und um sich selbst zu beruhigen, zwang sie sich zu einem Lächeln, das vor allem auch den Schaulustigen galt und ihnen signalisieren sollte, dass nichts sei. Nichts, woran sie sich stören müssten und was ihren Ausflug gefährden würde. Dann senkte sie wieder den Blick, sah auf ihren Sohn hinab, der schniefend an ihrer Brust ruhte, und fuhr ihm mit der Hand über den Kopf, die Wange. Er schnaufte laut, so als sammelte er Kraft, und sie sprach beruhigend auf ihn ein, während sie ihren Blick über die grünen Weiten links und rechts des urtümlich gehaltenen Kanals gleiten ließ. Sich ablenkend. Nun, weniger von den Blicken und dem nun einsetzenden Getuschel, als vielmehr von dem Wissen, dass er diese Worte nicht zum ersten Mal gesagt hatte – und das mit einer Überzeugung, so als wüsste er tatsächlich um seinen baldigen Tod. Unwillkürlich drückte sie ihn fester an sich.

„Mama“, hörte sie ihn da murmeln und er sah sie von unten her an. In seinen Augen erkannte sie Tränen, die ihr, da sie sich zu ihm hinabneigte, die Kehle zuschnürten. Auch sie befürchtete, weinen zu müssen, als sie ihm einen Kuss auf die Stirn ab und ein: „Matthias, alles ist gut“, ins Ohr flüsterte.

Aber es war nicht gut. Das spürte sie. Obwohl er vollkommen gesund war, wie ihr seine Ärztin bescheinigt hatte, wusste sie, dass mit ihm etwas ganz und gar nicht stimmte. Nur sagen konnte er es nicht. Dazu fehlten ihm die Worte. Und malen, wie es der Psychologe versucht hatte, um eine gemeinsame Sprache mit ihm zu finden, wollte auch nicht gelingen.

Wieder ließ sie ihren Blick über das Grün gleiten, das sich so undurchdringlich ausnahm. Eine rätselhafte, ja geradezu verwunschene Landschaft, fand sie.

Matthias hatte nur lustige Gesichter gemalt, zumeist auch sich selbst und sie, zuletzt sogar, wie sie beide zusammen in einem Kahn saßen. Sie musste lächeln, denn gerade durch seine Zeichnungen war sie auf die Idee gekommen, hierher in den Spreewald mit ihm zu fahren – um ihm und auch sich Ruhe zu gönnen, und Abstand vom alltäglichen Stress der allzu lauten Großstadt, die nur eineinhalb Stunden entfernt lag. Für ein paar Tage hatten sie sich hier in einer kleinen Pension eingemietet. Ruhig gelegen und auch nicht allzu teuer war das Zweibettzimmer.

Matthias hatte sich gefreut, als er verstand, was seine Mutter mit ihm vorhatte. Er hatte sie sogar angestrahlt, wie nur er es konnte und sein helltönendes Lachen von sich gegeben.

„Bootfahren“, hatte er dann mühsam hervorgebracht und sich an sie geschmiegt.

„Ja, Bootfahren“, hatte sie ihm zugestimmt und gehofft, dass er hier, so fern der Großstadt, auf andere Gedanken käme, ja, dass ihn der Ort sein Trauma vergessen ließe, zumindest für eine Weile. Denn vor nicht einmal einem Jahr hatte er auf dem Weg zu seiner Arbeit einen Verkehrsunfall miterlebt. Danach hatte er sich nicht mehr allein aus dem Haus getraut, hatte sogar geweint und gebrüllt, wenn ihn sein Pfleger hatte abholen wollen. So hatte sie ihn schließlich jeden Morgen selbst in seine Werkstatt gebacht, ehe sie zu ihrer Arbeit, einer Grundschule in der Nähe. Sie war Lehrerin, jedoch nur in Teilzeit. Er hatte ihr damals nur stockend davon erzählen können, was geschehen war, an diesem Montagmorgen im Frühherbst, um kurz vor 8.

„Auto“, hatte er gestammelt, die Fäuste geballt und sie sich an den Mund gepresst und dann: „Fahrrad kaputt … Mann kaputt ...“ hinzugefügt, obwohl der Radfahrer den Unfall, gleichwohl verletzt und im Krankenhaus liegend, überlebt hatte. Für ihn war er tot. Und das selbst dann noch, als sie den jungen Mann zusammen mit Matthias besucht hatte und der ihm sogar die Hand gereicht und ihm freundlich lächelnd erklärt hatte, dass er nur einen Schock und einen Beinbruch erlitten hätte und wohl deswegen wir tot dagelegen habe.

„Mann ... lebt“, hatte sie es ihm in vereinfachter Sprache zu erklären versucht und dabei immer wieder auf den geduldig ausharrenden Mann gedeutet. „Lebt. Lebt.“

Doch Matthias hatte nur mit dem Kopf geschüttelt. Für ihn war er tot. Am Abend hatte er sogar geweint, wohl aus Trauer um diesen jungen Mann, dessen Hand er doch so bereitwillig geschüttelt hatte. Und dann war ihm zum ersten Mal das Wort storben über die Lippen gekommen.

Damals hatte Simone geglaubt, der Verkehrsunfall habe ihren Sohn so sehr traumatisiert, dass es für ihn gänzlich unvorstellbar war, der Mann könne noch leben und er nun gleichzeitig davon überzeugt sei, in Kürze ebenfalls sterben zu müssen. Es war genau eine Woche nach dem Unfall, und sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen – sie saßen zusammen auf einer Bank im Tiergarten, da sagte er plötzlich und wie aus dem Nichts kommend: „Bald sterben“ und deutete auf sich.

Simone hatte diese Selbstverständlichkeit, mit der er die Worte hervorgebracht hatte, schockiert. Da war kein Fragen in ihnen gewesen, keine Unsicherheit, die nach Vergewisserung suchte, sondern es schien so, als treibe ihn tiefste Überzeugung an, es ihr, seiner Mutter zu sagen, dass er bald sterben werde. Und dann hatte er sie einen Moment lang nur angesehen mit seinen graublauen Augen, ernst, ja tatsächlich wissend, ehe er sein Gesicht verzogen und sich an ihr geborgen hatte, so wie auch jetzt, um sich schluchzend Trost zu holen.

Doch im nächsten Moment, und das überraschte sie, sah er auf und lächelte sie an, so als habe er vergessen.

„Mama lieb“, sagte er.

Auch jetzt, da sie in Lehde, einem alten Spreewalddörfchen, zur Mittagspause anlegten, schien er vergessen zu haben, denn kaum war der Kahn vertäut, sprang er auf und wollte hinaus. In seinem Gesicht ein großes, strahlendes jungenhaftes Lächeln. Und als sie ihn wenig später fragte, ob ihm die Plinsen schmeckten, lachte er laut auf, so laut, dass ihn wieder die Blicke der anderen trafen. Zumal er auch den Kopf in den Nacken warf und mit dem Löffel in der Hand auf den Tisch klopfte, ein helles „Ha ha ha“ hervorbringend. Nur mit Mühe konnte sie ihn beruhigen, indem sie ihn am Ohr berührte. Sofort zuckte er zusammen, zog die Schulter hoch und juchzte.

„Leise“, sagte sie sanft und kitzelte ihn leicht. Er gluckste, zog die Nase kraus. „Leise“, wiederholte sie, „ganz leise.“ Dann strich sie ihm mit den Fingern über die Schläfe, deutete auf ihr eigenes Essen, machte: „Hmmm, lecker.“

„Lecker“, wiederholte er und nickte.

Er hatte verstanden, schmiegte sich einen Moment lang an sie und rieb seinen Kopf an ihr, so, wie es eine Katze tut, ehe er sich seinem eigenen Teller zuwandte und die Häppchen, die sie ihm zuvor geschnitten hatte, mit Hilfe des Zeigefingers auf seinen Löffel schob und sich den dann an den Mund hob. Langsam, ganz langsam, um nichts zu verkleckern, denn das mochte er gar nicht.

Matthias aß mit solchem Appetit, dass es Simone freute. Ihr wurde gar leicht ums Herz, ihn so essen zu sehen, wenn er sie mit vollem Mund zwischen zwei Bissen anlachte und sich dann wieder über seinen Teller beugte, so tief, dass er beinah mit der Nasenspitze ans Essen stieß. Wann immer er dies tat, so wusste, Simone, war er zufrieden – dann existierte kein Wölkchen an seinem Himmel. Und wenn er dazu beim Kauen die Augen schloss, sich dann ruckartig nach hinten lehnte und ein Hmmm ausstieß, war ihm wohlig zumute. Durchdrungen war er von positiven Gefühlen, von wunderbaren Gefühlen, von Gefühle, die sie ihm als Mutter immer wieder wünschte. Und so berührte sie ihn an der Hand, begann ihn zu streicheln. Er öffnete daraufhin die Augen, sah sie an.

„Mama“, sagte er mit seinem leicht verschmierten Mund. Und noch einmal: „Mama.“

Sie lächelte. „Matthias.“ Dann hob sie die Hand, berührte ihn an der Wange. Sie hoffte so sehr, dass es ihm gut ginge, dass er diese Phase überwinden und was immer ihn dazu trieb, so etwas zu sagen, vergessen würde.

Sie presste die Lippen fest aufeinander, griff dann zu ihrem Glas Rhabarbersaftschorle, nahm einen Schluck – all das, ohne ihren Blick von ihrem Sohn zu lassen, der da vor ihr saß und sie anstrahlte mit seinen hellgraublauen Augen, den Augen eines Kindes – ihres Kindes, ihres Sohnes, ihres einzigen.

Später im Kahn – sie saßen nun ganz vorn, ein Mann hatte ihnen den Platz angeboten – schmiegte sich Matthias wieder an sie und sie legte ihren Arm um ihn, hielt ihn ganz fest – so fest sie nur konnte, schloss kurz die Augen, Ja, er war ihr Sohn, ihr Matthias. Ihm durfte nichts Böses geschehen und er sollte keine bösen Gedanken haben, die ihn traurig machten. Sie als eine Mutter würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihn glücklich zu machen.

Und so glitten sie weiter ins Grün hinein, links und rechts von sich Wiesen, auf denen Rinder und Schafe grasten, vorbei an einem uralten Bauernhaus, auf dessen Hof, sich zwei Hühner jagten. Matthias lachte und deutete mit dem Finger auf die beiden Tiere. Es gefiel ihm, denn er lachte noch immer, als sie diese Szene schon längst hinter sich gelassen hatten. Bisweilen kam es ihr so vor, als zeigte sich ihnen all das wie auf einer Drehbühne im Theater – und sie die Zuschauer in ihrem Kahn, nahmen teil an der Schönheit und Anmut, aber auch an der verträumten Urtümlichkeit dieser Landschaft, die die letzte Eiszeit geformt hatte und vom Menschen seit über 700 Jahren bewohnt war. Der Tourismus allerdings setzte erst vor rund 160 Jahren ein. Heute war es eines der bekanntesten Urlaubsgebiete.

Sich diesen Gedanken hingebend, begann sie Matthias zu streicheln, auch küsste sie ihn schließlich auf den Kopf. Sie tat das beinahe schon unbewusst, wurde sich dessen gewahr und küsste ich noch einmal, hob dann den Blick bis hinauf in die tiefgrünen Kronen der uralten Bäume. Wunderbar. Wie wunderbar das war, sich gleiten lassen zu können. Und wenn sich die Menschen um sie herum nicht immer wieder in Gesprächen ergangen wären, hätte Stille auf diesem Kahn geherrscht. Eine tiefe Stille, die vom Land herkommend, sich wie Nebel heranschob und in die sie nun hineinfuhren. Immer mal wieder war es ihr möglich, dieser Stille zu lauschen, dann nämlich, wenn alle schwiegen. Wie frisch, erquickend sie wirkte, diese Stille – einer Quelle gleich, die den Tiefen des Erdbodens entsprungen, nun an die Überfläche trat. Und sie trank, trank mit begierigen Schlucken, ehe sie wieder von Stimmen gestört, die Verbindung verlor.

Eine Fahrt ganz allein – wenn das möglich wäre. Sie begann zu träumen, während sie Matthias, der sich an sie schmiegte, zu streicheln begann. Sie schloss die Augen, holte tief Luft und streckte die Beine aus. Ja, wenn es doch immer so sein könnte – so fern der eigenen Gedanken, im Augenblick ausharrend, nicht wieder wegmüssend und ohne böse Gedanken, die sich wie schwere Wolken am Himmel auftürmten. Simone seufzte leise, dann sah sie auf Matthias hinab. Vielleicht waren seine Worte tatsächlich dem geschuldet, dass er Zeuge eines Verkehrsunfalls geworden war und nun fürchtete, ebenfalls sterben zu müssen. Wenn sie sich recht überlegte, war auch sie als Kind eine Zeitlang davon überzeugt, dass der dritte Weltkrieg beginnen würde. Eine richtige Angst hatte sich in ihr breitgemacht damals. Da hatte sie ganze Nächte lang wachgelegen und auf Geräusche gelauscht, vornehmlich auf die von Flugzeugen, die sie aus kommunistischen Propagandafilmen als Bomber kannte. Schuld daran hatte ihre Lehrerin in der 2. Klasse, die ihnen von der ständigen Bedrohung durch den Westen erzählte. Die da drüben haben die Atombombe, und wenn der rite Knopf gedrückt wird, dann … Dass auch die Sowjets über Atombomben verfügten, hatte sie ihnen verschwiegen. Ja, eine Zeitlang hatte sie Angst, es könne etwas Furchtbares geschehen. Auch zog sie sich, wann immer sie Fluggeräusche vernahm, die Decke über den Kopf und machte sich ganz klein. Vielleicht war es bei Matthias ähnlich?

Am Abend dann, die Fahrt war seit einigen Stunden schon vorbei, saßen sie beide auf der Terrasse des Schlosses Lübbenau. Obwohl Matthias müde war, hatte er noch einmal losgehen wollen und ein Restaurant besuchen. Sie hatte gezögert und schließlich hatte er ihre Hand gepackt und sie in Richtung des Schlosses gezogen. Dazu hatte er sie immer wieder angelächelt. Was hätte sie dem entgegenhalten können? Sie wollte es ihm doch so schön wie möglich machen – und da auch sie hungrig war. Ein kleinwenig essen. So ließ sie sich treiben und spürte wieder diese Leichtigkeit wie zuvor schon im Kahn. Warum nicht schwebend den Moment genießen, da alles in Ordnung zu sein schien? Ja, hatte sie denn kein Recht darauf? Überdies versprach es ein lauer Sommerabend zu werden. Warum denn nicht? Sie lächelte Matthias an, der ihr die Speisekarte hinschob, damit sie sie ihm vorlas. Schon legte sie ihm den Arm um die Schultern, er schmiegte sich an sie und sie begann ihm vorzulesen, bis er plötzlich: „Will ich!“, rief und sie mit großen Augen ansah.

„Was möchtest du?“

„Will ich!“, widerholte er und patschte mit der Hand auf die Karte.

„Ja, was?“

„Fannkuchen … Mittag …“

Sie verstand, dass er das Gleiche wie am Mittag haben wollte. „Also Plinsen?“

„Fannkuchen“, widerholte er und patschte wieder auf die Karte.

Sie lächelte. „Und trinken?“

„Prause“, kam es von ihm. Sie nickte, lächelte erneut, wissend, da es doch sein Lieblingsgetränk war, und wandte sich wieder der Speisekarte zu, sich fragend, ob sie sich eine Suppe oder einen Salat genehmigen sollte.

„Klo“, kam es da plötzlich von ihm und er zuckte hoch. „Klo!“

Auch sie zuckte zusammen, vom Schreck leicht übermannt. „Musst du?“, fragte sie und deutete sich auf den Unterbauch. Er nickte und stieß die Luft geräuschvoll aus. „Muss.“ Auch er deutete sich auf den Hosenbund.

„Muss.“

„Dann gehen wir“, erwiderte sie und wollte sich schon ihre Handtasche greifen, doch er schüttelte den Kopf.

„Allein“, stieß er hervor. „Allein“, und deutete auf das Schloss.

Sie aber schüttelte den Kopf.

„Doch“, beharrte er und zog die Augenbrauen zusammen. „Doch. Klo allein.“ Schon hatte er sich erhoben. „Klo allein“, rief er beinahe, dann wandte er sich zum Gehen.

„Aber du musst fragen, wo das Klo ist“, rief sie ihm hinterher, wollte ihm nach, hielt sich dann jedoch zurück. Er war alt genug, sagte sie sich. Alt genug. Konnte ja auch allein zur Arbeit fahren. Aber wenn er das Klo nun nicht finden würde, wenn er sich verirrte? Manchmal waren es Kleinigkeiten, die ihn ins Straucheln geraten ließen. Beunruhigt sah sie ihm hinterher und so, als hätte sie es geahnt, drang plötzlich ein lauter Schrei aus dem Schloss an ihr Ohr. Sie wusste sofort, dass es sich um Matthias handelte, sprang auf, hastete zur Tür, in der er verschwunden und hörte, wie er rief: „Sterben, bald sterben.“ Er rief es, brüllte es und dann sah sie ihn auf dem Boden des Foyers liegen, sich wälzend und zuckend. Schon hatte sich eine Menschentraube um ihn herum gebildet.

„Das ist mein Sohn“, hörte sie sich wie von ferne sagen. „Das ist mein …“

Sie sah, wie sich ein fremder Mann über Matthias beugte und ihm die Hand auf die Schulter legte.

„Mein Sohn“, schnappte sie unter Herzrasen und drängelte sich an den Umstehenden vorbei.

„Sterben, bald sterben!“, rief er.
 

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Kapitel: 3
Sätze: 177
Wörter: 3.208
Zeichen: 18.527

Kurzbeschreibung

Kolibris sind die kleinsten Vögel dieser Erde, dazu auch wahre Flugkünstler und hochspezialisiert, wie etwa der Schwertschnabel-Kolibri. Er ist so sehr an seine Umwelt angepasst, dass er sterben würde, veränderte sie sich. Matthias ist geistig behindert und davon überzeugt, bald sterben zu müssen. Seine Mutter Simone fragt sich ängstlich nach dem Grund, bis er plötzlich zusammenbricht. In ihrer Verzweiflung sieht sie sich allein, doch da trifft sie Heiner Krumbiegel, einen ambitionierten Filmemacher aus der ehemaligen DDR, der ebenso wie Matthias kein Flugkünstler ist, jedoch auch vom Fliegen träumt. Mit seinem neuen Projekt über Menschen wie Matthias versucht er der Erfüllung dieses Traumes näher zu kommen.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Nachdenkliches auch in den Genres Liebe, Schmerz & Trost, Humor und Familie gelistet.

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