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Mein Name ist Robert Keeling, geboren 1952 in London-Tottenham. Siebenundzwanzig Jahre später eröffnete ich meinen Laden in Berlin-Tiergarten.
Warum Berlin? In den 70ern gingen doch alle nach Berlin, aus den verschiedensten Gründen. Und ich wollte Stadtplaner werden, hatte mich deswegen an der Technischen Universität eingeschrieben... aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls sah man aus dem Fenster eines Seminarraumes in der dritten Etage auf dieses nahezu original erhaltene Gründerzeithaus, ein vierstöckiges Eckhaus, dessen Stuckfassade nur ein paar tiefe Löcher aufwies, bei denen es sich wohl um Spuren des Zweiten Weltkrieg handelte. Zunächst wunderte ich mich, dieses eindrucksvolle Gebäude bisher nicht von der Straße aus gesehen zu haben, dann fielen mir die Holzplatten an der Erdgeschoßfront auf, dahinter lagen anscheinend die Schaufenster eines ungenutzten Ladenlokals. Später entdeckte ich sogar noch einen fast intakten Namenszug über dem Eckeingang, 'Herrenausstatter Thomany' hatte dort residiert. Angesichts der Lage dieses und des Institutsgebäudes am Kopf der Straße, einander und einem der Hauptwege des Tiergartens gegenüber, mußte es sich bei ihnen um repräsentative Zwillingshäuser zur Betonung der Straßenkreuzung gehandelt haben. Das eine durch die Bombardierung Berlins schwer beschädigt und modern wieder aufgebaut, das andere fast unversehrt und anscheinend in den Händen eines investitionsunlustigen Eigentümers.
Häuser des 19. Jahrhunderts hatten mich schon in meiner Kindheit fasziniert, also wollte ich unbedingt einmal einen Blick hinein werfen. Trotz des nieseligen Apriltages drehte ich dann auch eine Runde um das Haus und stellte fest, daß nur der Laden leer stand, es gab Namensschilder an allen Briefkästen, offensichtlich genutzte Mülltonnen im Hinterhof und Kinderstimmen drangen aus einem offenstehenden Fenster.
An einem der Briefkästen stand unterhalb des Namens auch 'Hausmeister', also stieg ich die ausgetretenen, aber sauberen Holzstufen in die erste Etage des Hinterhauses hinauf und klingelte, doch niemand reagierte darauf. Ich wartete ein paar Augenblicke, klingelte noch einmal, doch wieder nichts. Also entschloß ich mich, es an einem anderen Tag noch einmal zu versuchen. Da mich interessante Studieninhalte jedoch zeitweilig ablenkten, vergingen einige Tage, bevor ich noch einmal versuchte, den Hausmeister abzupassen.
Als ich wieder im Hinterhaus stand war es ein sonniger, angenehm warmer Mainachmittag. Eine junge Frau im buntgeblümten, figurbetonenden Kleid und einem dazu passendem Kopftuch fegte dort farbige Papierfetzen zusammen. Als sie schließlich merkte, daß ich sie beobachtete, hielt sie inne und sah mich eine Weile aus dunklen Augen an. "Kann ich ihnen helfen?" fragte sie dann nicht unfreundlich.
Ich verstand deutsch ganz gut, doch meine Aussprache war miserabel, so daß ich wo es ging englisch sprach und folglich viel weniger praktische Übung in der Sprache meines Gastlandes hatte, als angesichts meines inzwischen fast ein Jahr dauernden Aufenthaltes in Westberlin zu erwarten war. Aber ich nahm meinen Mut zusammen und sagte: "Ich bin ein student from London. Ist es möglich, den alten shop im Vorderhaus zu besichtigen?"
"Das Geschäft von Thomany?" vergewisserte sich die junge Frau mit zweifelnd gekräuselten Augenbrauen. Und als ich nickte fuhr sie fort: "Ich nehme an, mein Vater hat einen Schlüssel dafür."
Sie war die Tochter des Hausmeisters der gerade mit Besorgungen beschäftigt war, aber innerhalb der nächsten halben Stunde zurückerwartet wurde. Außerdem erfuhr ich von der dunkeläugigen Schönheit, daß sie Susanne hieß und mit ihren kleinen Geschwistern und einigen anderen Kindern aus dem Haus gerade Bastelarbeiten für den anstehenden Muttertag erledigt hatte. Nun beseitigte sie die letzten Spuren.
Ich erbot mich, beim Verstauen des Klapptisches und der Klappstühle zu helfen. Und als Susanne die grob zusammengezimmerte Brettertür der Remise verschloß, war der Hausmeister wieder da. "Warum wollen sie denn den Laden sehen?" fragte er mich, nachdem ich mein Anliegen noch einmal vorgebracht hatte.
Ja, warum eigentlich? Ich wußte keine Antwort darauf. Ich wollte doch Architektur des 19. Jahrhunderts sehen, da wäre das Treppenhaus des Vorderhauses, vielleicht der Deckenstuck in den Wohnungen interessant, aber eine Ladeneinrichtung, die vermutlich wie der Schriftzug an der Fassade aus den 1930er Jahren stammte?
"Bob studiert Städtebau an der TU", warf Susanne ein und Herr Weinert schrieb mein Zögern anscheinend Sprachproblemen zu, denn er griff schon nach seinem Schlüsselbund und suchte den passenden Schlüssel für die Hintertür des Geschäftes heraus. "Ich kann sie eben herumführen, wenn ihnen das reicht. Eine Viertelstunde kann ich erübrigen."
Ich weiß nicht mehr, was ich erwartete zu sehen, aber kaum betraten wir den Flur, der vom Hinterhof in den Laden führte, fühlte ich mich seltsam heimisch, als hätte ich jahrelang - Tag ein Tag aus - dieses Geschäft betreten. Trotz fehlender künstlicher Beleuchtung war es erstaunlich hell, die Sonnenstrahlen, die zwischen den Holzplatten hindurchfielen, erreichten sogar die Hintertür. Herr Weinert erzählte irgendetwas und öffnete im Vorbeigehen die Türen zu einer recht modern aussehenden Toilette, einer Art Teeküche und einem völlig leeren Lagerraum. Der Boden war staubig, an den Wänden und den tatsächlich stuckgeschmückten Decken hingen dunkle, anscheinend ebenfalls eingestaubte Spinnweben. Der Geschäftsraum war in keinem anderen Zustand, wirkte aber durch die ihn dominierende, L-förmige dunkle Holztheke, die sich vor der dem Schaufenster gegenüberliegenden Wand entlangzog, weniger verlassen. Die Wand hinter der Theke war mit ähnlich dunklem Holz vertäfelt, nein, das war ein deckenhoher Schrank mit Fächern und Schubladen. Einer der einfallenden Lichtstrahlen blendete mich für einen Augenblick und wie eine dadurch ausgelöste Erinnerung sah ich für einen Moment eine altertümliche Registrierkasse am kurzen Ende des Theken-'L's vor der Ausgangstür in der Raumecke, Kleiderständer mit Anzügen, Halterungen mit Seidenkravatten, Hutschachteln auf einem Wandregal, doch dann war alles wieder verlassen und eingestaubt.
"Susanne meint ja, hier spukt es", erzählte Herr Weinert mit einem Lachen, das jedoch nicht ganz so entspannt klang, wie es wohl wirken sollte. "Der alte Herr Thomany ist 1952 hier im Laden gestorben, sein Sohn hatte zwar das Geschäft ein paar Jahre vorher übernommen, aber nach dem Tod seines Vaters das ganze bewegliche Inventar ins Ruhrgebiet umgezogen. Seit über zwanzig Jahren versucht der Eigentümer nun schon, diesen Laden zu vermieten, aber alle Interessenten sind spätestens kurz vor Vertragsunterzeichnung wieder abgesprungen, als wenn diese Räume verflucht wären."
Die Tatsache, daß dieses Gebäude die Bombardierung der Nachbarschaft als eines von wenigen fast unbeschadet überstanden hatte sprach meines Erachtens mehr dafür, daß eine schützende Hand darüber lag.
"Ich glaube, das denkt auch der Eigentümer", fuhr Herr Weinert währenddessen fort, "deswegen ist er mit seinem Mietpreis schon weit unter dem, was sonst hier in der Gegend verlangt wird. Bisher aber ohne den gewünschten Erfolg."
Einen Laden zu haben wäre schön, ging mir da durch den Kopf. Kein Fachgeschäft für Herrenausstattung, eher so einen wie meine Tante Theresa hatte, mit Tüchern, Schmuck und anderem Kunstgewerbe aus der Karibik. In den vergangenen Jahren hatte ich ihr oft geholfen und mit dem Geld auch meinen Auslandsaufenthalt und mein Studium in Berlin finanziert. Allein der Gedanke, Ladenbesitzer zu werden, erfüllte mich plötzlich mit so wohliger Wärme, daß ich nur schwer an mich halten konnte zu fragen, wie hoch die Miete denn sein solle. Statt dessen dankte ich für die Besichtigung und die Informationen und bat um die Erlaubnis, Susanne zum Essen ausführen zu dürfen.
Nur ein paar Häuser die Straße hinunter war ein Wienerwald. Schon auf dem Weg dahin erzählte Susanne von ihrem Anglistik-Studium an der TU, so daß wir während des Essens - für mich ganz entspannt - auf englisch plauderten.
Ja, Susanne war überzeugt davon, daß es im Thomany-Laden spukte. "Hast du die Präsenz denn nicht bemerkt?" fragte sie fast vorwurfsvoll, als ich nicht gleich etwas dazu sagte. "Vielleicht ist es der Geist vom alten Thomany."
"Ja, ich habe etwas gespürt, aber ich glaube eher, daß diese Präsenz weiblich ist", platzte es nach Susannes letzten Worten geradezu aus mir heraus.
"Wie kommst du denn darauf?" fragte Susanne natürlich prompt.
Woher ich diese Überzeugung nahm konnte ich nicht erklären. Vielleicht hatte ich ja ebenso wie Tante Theresa das Talent von meiner jamaikanischen Großmutter geerbt, die angeblich mit den Loas hatte sprechen können. "Es kam mir einfach so vor, die Präsenz war freundlich, warm, so wie eine Mama", versuchte ich es. Susanne akzeptierte meine Antwort mit einem verzückten Lächeln. "Ich wußte doch, da ist etwas!" triumphierte sie.
Da war etwas, und es wollte, daß ich aus dem verlassenen Geschäft wieder einen gut besuchten Laden machte. Aber konnte ich darüber mit einer attraktiven jungen Dame sprechen, die ich gerade einmal eine Stunde kannte? Ich sollte erst einmal Tante Theresa anrufen. "Meinst du, ein Geschäft mit Karibischem Kunstgewerbe könnte hier in der Gegend laufen?" fragte ich aber doch.
Susanne war gerade dabei, sich nun doch ihrem Hähnchen zuzuwenden und sah überrascht wieder auf. "Ich dachte, du studierst hier."
"Ich glaube, meine Pläne wurden gerade geändert", gestand ich.
Nun lachte Susanne. "Ich denke, es wird gut laufen. Und wenn ich darf, würde ich dir gerne helfen."
Ich verabschiedete mich nach dem Essen von Susanne, fuhr mit der U-Bahn zum Zoo und ging zur Post, um Tante Theresa anzurufen. Sie war nicht übermäßig überrascht, das erste Mal seit Weihnachten von mir zu hören, sondern forderte mich auf zu erzählen und hörte interessiert zu. "Denk daran, daß der Loa jeden Tag ein Geschenk will, sonst wird er rachsüchtig", sagte sie dann. "Aber wenn er dich mag, wird dein Laden Erfolg haben."
"Sie", korrigierte ich meine Tante.
Tante Theresa lachte: "Dann schenk ihr Pflanzen, das wird sie lieben." Sie versprach, mir eine Liste ihrer Lieferanten zu schicken und stellte sogar in Aussicht, mich bei der Startfinanzierung zu unterstützen.
Tage später waren Susanne und ich ein Paar, ich exmatrikulierte mich zum Semesterende und unterschrieb den Mietvertrag. Es dauerte aber noch zwei Monate, bis wir die Räume gestrichen und eingerichtet hatten. Susanne entdeckte beim Entfernen der Holzplatten vor den Schaufenstern, daß der Schriftzug 'Herrenausstatter Thomany' aus einzeln befestigten Zinkgußbuchstaben bestand. Wir bauten sie vorsichtig ab und als sie vor uns auf dem Boden lagen, war mir klar, daß mein Geschäft 'Harmony' heißen mußte.
Aber Susanne half mir nicht nur bei den Malerarbeiten und der Schaufensterdekoration, sondern auch bei den täglichen Opfern für die Loa. Und Mitte August eröffnete ich endlich mein Geschäft.
Tante Theresa hatte natürlich Recht gehabt, die Loa verhalf dem Laden zum Erfolg. Tatsächlich beschützt sie mich und den Laden manchmal fast zu eifrig... aber das ist eine andere Geschichte.
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