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Kinder ihrer Eltern

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13.06.21 13:06
16 Ab 16 Jahren
Homosexualität
Fertiggestellt

für Eva

 

Dina gab sich Mühe, die Details zu ignorieren, in denen der Schatten über dem deutlich wurde, was eigentlich ein heiteres Familienessen hätte sein sollen. Sie tat, als spielte es keine Rolle, dass sie nicht mit dem ganz guten Besteck vom ganz guten Porzellangeschirr aßen. Doch es gelang ihr nicht einmal, sich über Omas köstliches Tiramisu zu freuen. Wie gern hätte sie ihren Platz für diesen Abend Luigi überlassen, der nun ein paar Stühle weiter ganz bedröppelt dasaß und kaum wagte, von seinem Teller aufzusehen.

So hatte er sich das ganz sicher nicht vorgestellt. Da war er endlich aus der Haft entlassen worden, zurück im Kreis seiner Lieben, und bekam nicht einmal die Panna cotta zum Dessert, die er vergötterte. Auf die Fragen der anderen, was er die nächsten Tage vorhatte, antwortete er nur einsilbig und ohne den ihm sonst eigenen Enthusiasmus. Den ganzen Abend lang hatte Oma nicht ein einziges Mal das Wort an ihn gerichtet.

Es nagte an Dinas Herz, dass sie ihm nicht mehr Aufmerksamkeit widmen konnte. Im Augenblick war sie vollkommen damit ausgelastet, sich nicht zu einem Kuchengabelduell mit ihrem Neffen Antonio hinreißen zu lassen.

Den Kampf um die Selbstbeherrschung verlor sie. Das Duell gewann sie, wenn auch ganz knapp.

Oma ließ sich mit dem Nachtisch absichtlich viel Zeit, damit das, was Luigi so belastete, noch etwas länger bedrohlich in der Luft hängen blieb. Nachdem auch sie den letzten Krümel Tiramisu verputzt hatte, fiel ihre Gabel klirrend auf den Teller. Die drei Hunde, die bis eben friedlich unter dem Tisch geschlummert hatten, regten sich und winselten fragend.

Für Luigi, der es besser wusste, als es auf die zittrigen Hände einer alten Dame zu schieben, musste es einem Pistolenschuss gleichkommen.

«Ich habe mich so sehr auf eine Geburtstagskarte von dir gefreut, Luigi», sagte Oma mit echter Traurigkeit in der Stimme. «Du schreibst mir immer die schönsten Karten.»

Mit einem eisigen Blick, der von allen außer Dina unbemerkt blieb, stand Beatrice auf und räumte ihr Geschirr zusammen. «Kommt schon, Kinder, wir bringen Tante Fernanda ihr Abendessen.»

Antonio und Sofia rutschten leise von ihren Stühlen und sammelten auf dem Weg nach draußen das benutzte Geschirr ein. Sie wussten, wann sie nicht zu protestieren hatten. Dina war froh, dass sie überhaupt hier sein durften. Beatrice war sonst immer schnell mit irgendwelchen Ausreden zur Stelle, um die Familie nicht sehen zu müssen. Heute hatten die beiden ihren Willen bekommen.

Die schwere Stille dauerte an, bis die Tür zur Küche endgültig ins Schloss gefallen war. Die Blicke, die einander bisher vorsichtig ausgewichen waren, wanderten nun zu dem armen Luigi.

«Oma, ich saß im Knast», verteidigte er sich verzweifelt.

«Die anderen haben mir auch geschrieben», erwiderte Oma mit Bedauern und ein bisschen Trotz. «Leonardo ist sogar um Mitternacht hier gewesen, um mir zu gratulieren und mir ein Küsschen auf die Wange zu geben.»

Dinas Blick sprang von Luigi auf Oma. Davon hatte sie überhaupt nichts gewusst. Leonardo war Omas Liebling, daran änderten auch die leiblichen Enkel und Urenkel nicht viel. Aber nahm er nur deswegen ein solches Risiko auf sich? Wie war er ohne ihr Wissen an die Mittel gelangt, für eine Nacht aus dem Gefängnis und wieder hinein zu kommen?

«Dafür hab ich mir extra Mühe gegeben, um frühzeitig entlassen zu werden. Damit ich zu Weihnachten hier bei dir sein kann.» Sein Anblick brach Dina beinahe das Herz. Nicht nur, dass er sich offensichtlich ernstliche Vorwürfe wegen der nicht vorhandenen Karte machte. Sein rastloser Blick streifte Dina und ihr aufmunterndes Lächeln konnte hoffentlich verhindern, dass er sich zu detailliert ausmalte, was sie ihm alles antun konnte. Zu viel hatte er sicher nicht zu befürchten. Für Fälle wie diesen wandte Oma subtilere Methoden an, um das schlechte Gewissen beliebig lang und quälend aufrecht zu erhalten.

«Das ist lieb von dir, mein Junge.» Oma lächelte und er fing es auf wie ein Stück Brot, das man einem ausgezehrten Mann hinwarf. «Je weniger zu Weihnachten am Tisch fehlen, desto besser.»

Weihnachten in Omas Haus war der Höhepunkt des Jahres. Bis zum Sommer konnte man davon zehren und sich dann aufs nächste freuen. Tante Fernanda, Omas Schwester, die während des Kalten Kriegs zurück nach Italien gegangen war, reiste immer schon im November an, vor Omas Geburtstag. Das allerdings nur, um sich länger darüber beschweren zu können, dass im Haus die männliche Hand fehlte, seit Oma nach dem Tod von Dinas Vater die Familiengeschäfte übernommen hatte. Sie gehörte zu einem anderen Schlag Menschen, nämlich zu dem, dessen Kinder sämtlich noch am Leben waren.

«Was ich auch tun kann, um mich zu entschuldigen, Oma, ich tue alles

«Ich weiß, mein Junge.» Oma hielt Dina ihr leeres Weinglas hin und bedachte sie mit einem warmen Lächeln. «Und ich komme darauf zurück.»

 

Andrea stand am Spülbecken. Wenn es darum ging, hartnäckige Rückstände loszuwerden, war er der Mann der Stunde. Dina trocknete ab, Maria sortierte alles in die Schränke. Luigi saß am Tisch wie ein Häufchen Elend. Nicht einmal die dicken Schneeflocken, die eine kleine Hügellandschaft auf den Fensterscheiben bildeten, und die Weihnachtslieder im Radio schienen ihn aufheitern zu können.

«Hör mal, das ist alles halb so wild.» Dina lehnte sich an die Arbeitsplatte und stopfte das Handtuch in ein Saftglas. «Oma ist nicht übermäßig nachtragend. Wir stellen uns einfach morgen hin und backen was Schönes. Dann freut sie sich, okay?»

Luigi sah zu ihr hoch und schien zu überlegen, ob er ihrer Lockerheit Glauben schenken durfte, ob es wirklich so einfach getan sein konnte. Die Antwort war, dass Dina es nicht wusste. Backwerk überzeugte alle. Vielleicht plünderten die Kinder aber vorher die Dose, das konnte man nie wissen. Die Verstecke, die sie nicht kannten und nicht erreichen konnten, waren schon voll mit Geschenken.

«Hey, kann nicht schaden», warf Maria ein. «Wenn das Schlimmste, was dir passieren kann, ein Blech Lebkuchenmänner ist, gewinnst du so oder so.»

Luigi blies die Backen auf. «Ihr habt ja recht. Soll ich dich ablösen, Dina? Damit ich mir nicht ganz so nutzlos vorkomme.»

«Kopf hoch. An Weihnachten ist alles vergessen.» Sie klopfte ihm auf die Schulter und drückte ihm das Geschirrtuch in die Hand. Genau zum richtigen Zeitpunkt, als Oma die Küche betrat und Dina zu sich heranwinkte.

Andrea, Maria und Luigi wandten sich ab und unterhielten sich leise darüber, welche Zutaten noch einzukaufen waren und ob man sich heute Abend noch eine Runde Poker leisten konnte. In Omas Haus war es wichtig, nur genau das zu hören, was auch für die eigenen Ohren bestimmt war.

«Ich habe eine Bitte, Dina.»

Der Ton ließ schon erahnen, in welche Richtung die Bitte gehen würde, und Dina straffte unweigerlich die Schultern. Sollte sie sich etwa doch in einer Weise mit ihm befassen, die ihnen beiden nicht gefallen würde? Alle wussten, dass es nichts Persönliches war, und doch belastete es das Verhältnis immer wieder nachhaltig.

«Zuerst einmal möchte ich, dass du mich drückst.» Sie ließ sich von Dina fest in den Arm nehmen und hüllte sie in eine Wolke herben Parfümdufts ein. Die drei hinter ihr, deren Bewegungen vorsichtiger geworden waren, entspannten sich wieder.

«Du bist ein gutes Mädchen. Eine aufrichtige junge Dame. Deine Eltern wären stolz auf dich.»

Dina widersprach nicht. Ganz sicher wäre ihr Vater stolz gewesen; vor allem auf das, was aus ihr geworden war. Bei ihm waren die Grenzen ganz klar verlaufen. Was er aus seinen Kindern machen würde und wohin sie dann die Familie brachten, das hatte für ihn stets über der reinen Vaterliebe gestanden. Seine Vorstellungen hatten sich dabei so weit mit denen ihrer Mutter gedeckt, dass die nur selten Einwände gehabt hatte. Geborgenheit hatte es so gut wie ausschließlich bei ihr gegeben, und nun verkörperte Oma beides. Für Oma würde Dina auch noch, wenn sie im nächsten Jahr dreißig wurde, das Mädchen sein, das man beschützen musste. Bis exakt zu ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sie sich immer wieder anhören dürfen, wie groß sie geworden war.

«Und ich bin auch stolz auf dich. Geh mit mir noch ein Stück mit den Hunden, ja? Wir nehmen Beatrice und die Kinder mit.»

«Gern.» Sie würden langsamer machen müssen als gewöhnlich, weil Oma nicht mehr so gut zu Fuß war. Und gleichzeitig würden die Kinder voraus rennen und dann plötzlich so müde werden, dass sie getragen werden wollten. Doch auch das konnte noch nicht Omas Bitte sein.

«Übermorgen ist außerdem die letzte Möglichkeit in diesem Jahr, dass alle ihre Lieben besuchen können. Sei so gut und übernimm die Fahrerei, in Ordnung? Und Luigi, du fährst die andere Route.»

Nervös knetete er das Geschirrtuch. Natürlich war er wenig begeistert, keine ganze Woche nach seiner Entlassung wieder bei einer Haftanstalt auf der Matte zu stehen. Dina sah die stacheldrahtbekränzten Mauern auch am liebsten aus der Ferne. Ihr halbes Leben lang war es einfach ein Gebäude gewesen, in dem ihr Vater ab und zu gewohnt hatte. Unheimlich mit all den Wärtern und den nackten Wänden, hatte aber einfach dazugehört. Vor vierzehn Jahren war es dann der Ort gewesen, an dem sie ihn zum letzten Mal lebend gesehen hatte. Der Gedanke, dass seine letzten Worte an sie nur deswegen liebevolle gewesen waren, war danach viel zu lang in ihrem Kopf stecken geblieben.

Vielleicht auch deswegen versuchte Oma, manchmal wirklich nur Oma zu sein.

«Und grüß Vincenzo von mir.»

 

Die Dame an der Wache war neu und filzte sie zweimal äußerst gründlich, während der Kollege Dina nur zunickte und ihre Personalien aus dem Kopf, wie es schien, in das Besucherformular eintrug. Über die Jahre hatte sie so viele Leute besucht. Zum Greifen nahe und doch unerreichbar hinter Glas hatte sie hier Trost gespendet und dort für Angst gesorgt.

Auf Dinas Lächeln reagierte die Frau nur mit einem grimmigen Gesicht. Ein Kommentar, dass sie sich nicht zum letzten Mal gesehen hatten, war hier wohl nicht angebracht.

Allein saß sie ihrem Bruder in einem absolut kahlen Raum gegenüber. Hier veränderte sich nie etwas, nur die Gesichter. Sie wurden ernster, müder, fahler. Es würde das erste Weihnachten sein, das Vincenzo nicht daheim verbrachte und entsprechend dreckig ging es ihm. Davon würde Dina das Schlimmste abfangen, damit er seiner Familie in besserem Zustand begegnen konnte.

«Grüße von Oma.»

«Du warst lang nicht mehr hier.» Kein Vorwurf in seiner Stimme, nur eine Feststellung. Er wusste ja, dass sie viel zu tun hatte, und seine Aufgaben gleich mit übernehmen durfte, wenn er hier war.

«Es ist immer schwierig für mich.»

«Für mich auch», erwiderte er. Da war der Vorwurf. Natürlich wusste er auch, dass sie für jede Ausrede offen war, um nicht hierher kommen zu müssen. Und natürlich ging es ihm nicht anders. Damals war er elf gewesen. Seitdem versuchte er härter, allen Erwartungen, die sein Vater an ihn gestellt hatte, gerecht zu werden, als gut für ihn war, wodurch er hin und wieder genau dort landete, wo er nicht sein wollte. «Wenigstens musst du nicht hier übernachten.»

«Wessen Schuld ist das?», fragte Dina nur. Sie hatte ihr Bestes getan, auf ihn aufzupassen, doch er hatte es ihr schwer gemacht.

Vincenzo schwieg. Sie waren sich also einig darüber, dass sie die Zeit, die sie hatten, nicht mit Diskussionen über Dinge verschwenden wollten, die nicht zu ändern waren. «Was machen die Setzlinge?», erkundigte er sich stattdessen.

«Gedeihen prächtig», versicherte sie ihm.

«Ich hab überlegt. Vielleicht tut es ihnen nicht gut, so allein in der Wohnung zu sein, die ganze Zeit. Die abgestandene Luft. Und wer weiß, was sich da alles für Ungeziefer herumtreibt … Würdest du sie eine Weile bei dir aufnehmen?»

Sie nickte mit erzwungener Ruhe. Wenn sie ihn richtig verstand, hatten sie ein echtes Problem. «Ich schau, dass ich sie unterkriege.»

«Danke. Lass dir von niemandem einreden, du hättest keinen grünen Daumen. Das ist nicht wahr.»

«Ich weiß, dass manche Leute keine Ahnung haben, kleiner Bruder.» Sie streckte ihm die Zungenspitze heraus. Wenn er so sentimental wurde, musste er echt Angst haben, das ließ sich nicht nur mit Weihnachten erklären. «Wie geht es dir?»

«Ich bin im Knast, was willst du von mir hören? Innerlich gehe ich die Wände hoch und es geht neuerdings persönlicher zu, als ich je wollte. Wenn ich bis Februar nicht ausgerastet bin, können sie mich aber alle mal.»

«Benimm dich.» Je seltener sie herkommen musste, desto besser. «Und pass auf dich auf.»

 

Mit Beatrice hatte Vincenzo offenbar nicht darüber gesprochen. Das war sehr leicht an dem Blick zu erkennen, den sie Dina im Innenspiegel zuwarf, als der Wagen nicht einfach am Straßenrand hielt, sondern in die Auffahrt fuhr. Wenigstens die aufgesetzt freundlichen Worte sparte sie sich. Die Kinder rannten sofort in den Garten. Wenn Schnee lag, waren sie kaum nach drinnen zu bekommen.

Beatrice stieg nicht aus. Sie fragte nicht. Sie saß nur da und musterte Dina skeptisch. Was malte sie sich wohl gerade aus?

«Ich weiß nicht, worüber ihr so gesprochen habt», fing Dina an.

«Über nichts», legte Beatrice los, bevor sie auch nur ein Wort mehr sagen konnte. «Er hat sich nach den Kindern und mir erkundigt, wollte wissen, was wir gerade so machen, und mehr nicht. Er redet nicht über die Dinge, die ihn beschäftigen, wenn sie dabei sind.»

«Er hatte eine Bitte an mich», fuhr Dina unbeeindruckt fort. Beatrice würde früh genug auf hundertachtzig kommen. Das ging erstaunlich schnell, wenn sie sich unterhielten. Dazu musste es nicht einmal um wichtige Dinge gehen. Es reichte, wenn unterschiedlicher Meinung waren, was die Kleidung beim Sonntagsspaziergang anging. «Dir ist also auch aufgefallen, wie nervös er ist. So nervös, dass er mich gebeten hat, auf euch aufzupassen.»

«Tust du das nicht immer?», fragte sie spöttisch, konnte damit aber nicht das Zittern in ihrer Stimme überspielen. Sicher ahnte sie etwas. Natürlich war es nicht an ihr vorbeigegangen. Vielleicht hatte er doch die eine oder andere Andeutung fallen lassen. Die konnte er sich nie verkneifen, auch dann nicht, wenn es besser wäre.

«Ihr werdet zu Oma ziehen. Für ein paar Wochen.» Es brachte nichts, ewig um den heißen Brei herumzureden, also konnte sie Beatrice auch gleich vor vollendete Tatsachen stellen.

Die Reaktion enttäuschte Dinas Erwartung nicht. «Spinnst du?!» Ruckartig zog sie sich an der Kopfstütze des Beifahrersitzes nach vorn. «Auf keinen Fall werde ich in Arianas Haus ziehen, um keinen Preis!»

Dina neigte den Kopf zur Seite. «Du scheinst nicht zu verstehen, dass ich dir hier gerade kein Angebot mache und dich bitte, darüber nachzudenken. Sieh es doch als kleinen Urlaub über die Feiertage. Du musst dich um nichts kümmern. Es wird euch an nichts fehlen.»

«Es wird uns an Privatsphäre fehlen, und zwar gewaltig. Und warum sollte ich überhaupt nicht einfach die Polizei rufen, wenn irgendetwas passiert?»

Einen Moment lang war Dina ob dieses Ausmaßes an Naivität sprachlos. Sie trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad und sah Beatrice einfach schweigend an, um ihr Gelegenheit zu geben, den Denkfehler selbst zu bemerken. «Wie lang seid ihr verheiratet? Sieben, acht Jahre? Und du hältst es für eine Option, die Bullen zu rufen? Es gibt richtige, wirkliche Drecksäcke in diesem Verein und was meinst du, wie viel Privatsphäre du noch hast, wenn die dich in die Finger kriegen? Also überleg dir besser zweimal, wen du wegen was um Hilfe bittest.» Dina war nicht laut geworden, aber das musste sie meist auch nicht, damit Leute auf den Boden der Tatsachen zurückkamen. «Oder willst du lieber das Gästezimmer für mich räumen? Du würdest nicht einmal merken, dass ich da bin.»

«Oh, nein», stellte Beatrice nach einem Moment klar, den sie brauchte, um sich zu sammeln. «Wenn ich schon eine Schlägerin im Haus haben muss, damit sie Probleme löst, die ich ohne sie nicht hätte, will ich wenigstens wissen, wo sie ist.» Sie machte eine Pause, doch Dina ging nicht auf die plumpe Provokation ein. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte es ihr vielleicht Spaß gemacht. «Es reicht, dass einmal jemand mitten in der Nacht einfach im Hausflur stand.»

Sofort saß Dina aufrecht. «Was? Wer? Wann? Warum hast du nichts gesagt?»

«Weil es nur Leonardo war», wehrte Beatrice ab. «In der Nacht auf Arianas Geburtstag. Er meinte, er wolle sich nur nach uns erkundigen, für Vince, und wo er einmal einen Ausflug mache … Ich hab das nicht in Frage gestellt, weil euch einfach alles zuzutrauen ist.» Es gefiel ihr offensichtlich nicht, in die Defensive gedrängt worden zu sein, aber nun saß sie da.

Wenigstens nur Leonardo. Auch wenn es sie ein bisschen wunderte, dass Vince nichts in der Richtung erwähnt hatte. Das hätte er sich doch nicht nehmen lassen, ihr das ganz subtil mitzuteilen. «Und das nächste Mal, wenn es nicht nur ein Freund ist, der mal eben hallo sagt? Was machst du dann? Hattest du die Waffe auf dem Schrank überhaupt mal in der Hand?»

Beatrice sah sie bitterböse aber unfähig zu einer Erwiderung an.

«Du hast bis morgen Nachmittag Zeit, alles zu packen.»

Beatrice hatte den Kindern erzählt, dass sie Oma im Haus unterstützen wollten, wo es doch um Weihnachten immer so turbulent wurde. In Wahrheit hatte Oma alles gut im Griff. Mit Dina, Luigi, Andrea und Maria waren ja bereits genug Leute anwesend, die sie herumkommandieren konnte. Für die beiden war der Grund aber auch gar nicht wirklich wichtig. Für sie zählte nur, dass Dina sie zur Schule brachte, wieder abholte und sie ganz spontan mit den Hunden gehen konnten.

An sonnigen Wintertagen wie diesen schien die halbe Stadt bereits auf dem Rodelhang unterwegs zu sein, als sie ankamen. Die Hunde konnte Dina so nicht von der Leine lassen, aber vorerst sollten Sofia und Antonio ihren Auslauf haben. Sie genossen es, mit anderen Kindern um die Wette zu fahren und sich abwechselnd wieder nach oben zu ziehen. Zwischendurch durfte auch Dina mitfahren, dann kugelte Sofia mit Hunter oder Bino durch den Schnee, während Jelly alles aufmerksam beobachtete und niemanden in die Nähe ließ.

Schwierig wurde es erst, als Dina die Kids dazu überreden musste, weiterzuziehen. Sie verstanden am Ende aber doch, dass die Hunde genauso viel Spaß haben wollten wie sie und man sich dafür etwas weiter zurückziehen musste. Glücklicherweise gab es im Umkreis der Stadt ausreichend Orte, an die man sich zurückziehen konnte.

Ganz verlassen war die Lange Wiese außerhalb der Stadt, wo sie am liebsten hingingen, heute aber nicht. Im wadentiefen Schnee, der im Sonnenlicht blendete, stand eine junge Frau, die sich in einen camelfarbenen Mantel und einen riesigen karierten Schal gewickelt hatte. Mit hochgezogenen Schultern und tief in den Taschen vergrabenen Händen wirkte sie ein bisschen wie ein verlorener Pinguin. Sie hatte sogar ein Küken dabei, ein Kind mit Pinguinmütze, das hingebungsvoll Bahnen in den Schnee stampfte.

Sofia konnte es kaum erwarten, vom Schlitten zu springen und hinzurennen. Antonio war ihr auf den Fersen und natürlich achteten sie darauf, nur auf bereits ausgetretenen Pfaden zu gehen. Es dauerte keine Minute, da waren sie schon voll ins Spiel einbezogen.

Die Dame mit dem Schal wandte sich überrascht um, um zu sehen, woher die beiden Kinder plötzlich gekommen waren. Dina hielt die Hunde ganz kurz, auch wenn die sich ohne anderslautendes Kommando dicht bei ihr hielten. Mehr als Neugierde hatten sie für die anderthalb Fremden auch nicht übrig.

Das Gesicht hinter dem Schal war nur halb zu sehen, mehr als gerötete Wangen und eine schmale Stupsnase erkannte Dina nicht. Unter der türkisfarbenen Wollmütze ragten blonde und dunkelbraune Strähnen in ihre Stirn. Dina war sich ziemlich sicher, sie schon flüchtig vor der Grundschule gesehen zu haben.

«Sorry, stören wir? Problem, wenn ich das Rudel von der Leine lasse?», fragte Dina, als die Frau langsam den Kopf schüttelte. «Der Schnauzer ist Bino, unser lieber alter Opi. Die Kids und diese beiden hier sind schon als Welpen auf ihm herumgeturnt. Der Rottweiler ist Jelly. Die spurt, ohne zu zögern. Frag nicht, Antonio durfte den Namen aussuchen. Und die Fusselnase hier ist Hunter, eine Seele von Hund.» Sie kraulte sein Kinn und drückte ihn an ihre Hüfte. Auch wenn er im Vergleich zu seinen Vorgängern nicht das größte Exemplar war, war er immer noch ein Wolfshund. Deren Ruf mochte besser sein als der von Rottweilern und Dobermännern, aber sie zogen nicht weniger beeindruckte Blicke auf sich. «Aber sag nur, wenn du Angst hast, dann müssen sie eben warten.»

Die junge Dame musterte Dina und die Hunde eingängig, wobei sie es wie selbstverständlich vermied, irgendeinem von ihnen in die Augen zu sehen. Was mussten sie trotz aller Bemühungen, harmlos zu wirken, für einen Eindruck machen? Eine große, breite Frau in einer Lederjacke, drei große, breite Hunde mit Nietenhalsbändern an der Hand, wirkte nicht vertrauenerweckend, bei allen gegenteiligen Beteuerungen. Für gewöhnlich war das genau das Bild, das sie vermitteln wollte. Hier und heute nicht. Vielleicht half es, dass Hunter seinen liebsten Plüschhasen zärtlich im Maul trug.

«Wenn sie mir erstmal nicht zu nahe kommen.» Sie schob sich den Schal vom Gesicht und lächelte vorsichtig.

Dina nahm den dreien langsam die Leinen ab. Sie rührten sich nicht, bis sie zum Aufbruch pfiff. Da hielt zwei von drei Tieren nichts mehr, sie heizten in einem weiten Bogen um die Kinder und die beiden Frauen herum durch den Schnee. Hunter blickte erwartungsvoll zu ihr auf und sie rangelte ein bisschen mit ihm um den Hasen. Schließlich gab er ihn auf und suchte sich einen Stock zum Spielen. Dina setzte das Plüschtier auf den Schlitten.

«Gilt das eigentlich auch für mich?»

«Wäre doch albern, wenn wir uns auf zehn Meter Entfernung unterhalten.» Zögerlich nahm sie die Hände aus den Taschen. «Ich bin Jodie. Das da ist Noah.»

«Dina.» Mit dem Schlitten stapfte sie zu ihr hinüber und schüttelte die dargebotene Hand, die in einem selbstgestrickt erscheinenden Handschuh steckte. «Und die beiden sind Sofia und Antonio.»

«Deine?», wollte Jodie wissen und mummelte sich eilig wieder ganz in ihren Mantel ein. Ihr Blick glitt hinüber zu den Kindern. Gerade wackelten sie im Gänsemarsch mitten durch das Gebilde, dessen Zusammenhänge Dina nur erahnen konnte.

«Nein, nein!» Egal, wie oft sie das gefragt wurde, sie schaffte es nie, dabei nicht defensiv zu klingen. Vincenzos Kinder? Liebte sie über alles, und umgekehrt genauso. Anderer Leute Kinder? Immer gern. Eigene Kinder? Nein. Glücklicherweise lief sie nicht Gefahr, dass ihr eines passierte. «Die von meinem Bruder.»

«Ah, ich wusste doch, dass da eine gewisse Ähnlichkeit ist.» Jodie nickte zufrieden, als hätte sie gerade mittels messerscharfer Kombination ein schwieriges Rätsel gelöst. Dabei sprang die Verwandtschaft ihnen förmlich aus dem Gesicht, denn sowohl Dina als auch Vincenzo hatten die prominente römische Nase ihrer Mutter geerbt, und er hatte sie dem eigenen Nachwuchs weitergegeben. «Und kann das sein, dass du die Tage vor der Schule warst? Mit einem blauen Toyota. Perlmuttlackierung?»

Dinas Herz tat einen kleinen Hüpfer, einfach weil der Wagen ihr aufgefallen war. Nicht, dass sie irgendetwas explizit tat, um Frauen zu beeindrucken, aber es sorgte schon dafür, die Aufmerksamkeit der richtigen Sorte auf sich zu ziehen. «Rheas Werkstatt hinten im Industriegebiet», sagte sie. «Super Service.» Noch immer fühlte sie sich berufen, Werbung für sie zu machen. Nicht nur, weil ihr bester Freund dort arbeitete und sie ab und an mit der Tochter der Chefin schlief, sondern auch, weil es einfach stimmte.

«Ich hab kein Auto.» Jodie klang beinahe entschuldigend. «Aber ich empfehle es gern weiter. Und vielleicht hol ich mir mal wieder eins. Ich kann es ja auch dem städtischen Busunternehmen vorschlagen.» Sie kicherte und zog sich wieder unter den Schal zurück.

Hunter hatte einen passenden Stock gefunden, einen trockenen Ast, und überließ ihn Dina nur widerwillig. Ihn werfen zu dürfen, musste man sich erst verdienen. Kaum hatte er losgelassen, rannte er schon in die Richtung, in der er den Wurf vermutete. Es war genau die, die sie beabsichtigt hatte, weshalb sie sich jetzt für eine andere entschied. Ein paar Meter entfernt, fast schon am Wald, landete er im Schnee. Hunter wetzte hinterher und sprang darum herum. «Wird das eigentlich was bestimmtes, wenn es fertig ist?»

«Wir haben letztens eine Doku über Peru gesehen», erklärte Jodie. «Seitdem malt Noah alles mit Affen und Eidechsen und Spinnen voll. Und das wird gerade ein Lama, Moment.» Sie zog sich einen ihrer selbstgestrickt wirkenden Handschuhe aus und zog einen Zettel aus ihrem Mantel. Wie erwartet die Kinderzeichnung eines Lamas, grob an die Nazca-Linien angelehnt, die in einer anderen Farbe etwas sauberer nachgezeichnet worden war.

«Ja …» Dina ließ den Blick zwischen der Zeichnung und der Wiese hin und her wandern. «Vom Schlitten aus müsstest du es erkennen können, möchtest du?»

Jodie versuchte es erst damit, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, kletterte dann aber doch vorsichtig neben den Plüschhasen. «Sieht gut aus, willst du auch mal?»

Dina setzte den Fuß auf die hölzerne Sitzfläche, aber im selben Moment klingelte ihr Handy. Am liebsten hätte sie es ignoriert, weil es ihnen hier gerade so gut ging und dieser Anruf nur bedeuten konnte, dass sie weg musste. Aber gerade deshalb musste sie ihn annehmen.

Es war Luigi. «Ciao, Dina! Wo seid ihr?» Er war nervös. So nervös, dass er Italienisch sprach. Noch immer, nach fast einer Woche, traute er dem Frieden nicht.

«Auf der Langen Wiese», antwortete sie, ebenfalls auf Italienisch. Wenn das Gespräch in die Richtung führte, die sie vermutete, wäre es früher oder später besser so und wenn sie dann wechselte, würde Jodie vielleicht einen falschen Eindruck gewinnen. «Hier werden gerade Lamas in den Schnee gemalt. Was gibt es denn?»

«Ich hätte da eine Bitte an dich. Ich bin gerade an den Verhandlungen wegen der Brötchenpreise dran und … Wenn du vielleicht Collins übernehmen könntest …» Gegen Ende wurde er so leise, dass sie nur erraten konnte, was er gesagt hatte. Immerhin fiel ihr das nicht schwer. Jackson Collins war ein schwieriger Mann, bei dem es nicht einfach reichte, Oma zu erwähnen. Seit er zu einer Verhandlung einen Vertreter geschickt hatte und die Sache ein unschönes Ende genommen hatte, hielt Luigi sich so weit von ihm fern, wie er konnte. Das waren die Gelegenheiten, zu denen Dina einspringen musste.

Normalerweise war das kein Problem, sie liebte diese Art Job, aber manchmal verdarb es ihr eben den Nachmittag. «Bin unterwegs.»

«Danke, Dina, meine Retterin.» Durch das Telefon warf er ihr einen Luftkuss zu. »Ich schick dir eine Mail. Du hast was gut bei mir.»

«Ciao, Luigi.» Sie legte auf und hoffte, dass er durch ihren Ton nun doch ein bisschen Angst bekommen hatte. «Ich fürchte, wir müssen gehen.»

Jodie, die noch immer auf dem Schlitten stand und direkt über Dinas Kopf hinweg den Kindern zuschaute, versank bis zu den Augenbrauen in ihrem Schal. «Wie schade. Sie haben doch gerade so viel Spaß. Aber wir sind morgen wieder hier, kommt doch auch. Bring die Hunde gern wieder mit. So brav, wie sie sind.»

«Warum nicht?» Dina reichte ihr eine Hand, um ihr zurück auf den Boden zu helfen. «Vielleicht kommt dann ja noch eine Boa dazu.»

Ein einziger Pfiff reichte, damit zwei Kinder und drei Hunde vor ihr Stellung bezogen und sie missmutig ansahen. Jodies Küken hüpfte hintendrein.

«Müssen wir schon gehen?», fragte Sofia mit vorgeschobener Unterlippe.

«Wo es gerade so schön ist?», sprang ihr Bruder ihr bei. Zusammen hatten sie meist leichtes Spiel bei Dina, wenn es um großzügige Auslegung der Schlafenszeit oder größere Portionen Nachtisch ging. Dass der Spaß vorbei war, wenn die Pflicht rief, wussten sie aber auch.

 

«Was machen wir?», fragte Antonio im Auto. Ihm und seiner Schwester war klar, dass es bei dem, was jetzt folgte, kein Wir gab. Dina ihrerseits war klar, dass er die eigentlich verbotene Frage nur stellte, um sie zu nerven; als kleine Rache für den verfrühten Aufbruch.

«Ihr bleibt sitzen und spielt Memory, ich führe ein langweiliges Gespräch.» Aus dem Handschuhfach, das verschlossen war, weil dort unter anderem auch eine Pistole verstaut war, fischte Dina das Memoryset mit quietschbunten Baustellenmotiven. Es war schon ziemlich abgegriffen.

Sofia schüttelte die Schachtel unmotiviert. Jelly legte den Kopf auf die Rückenlehne, weil sie hinter dem Geräusch Leckerlis vermutete. Als sie feststellte, dass sie hereingelegt worden war, schnuffte sie enttäuscht.

«Wenn es langweilig ist, warum machst du es dann?», fragte Antonio spitz.

«Es wäre langweilig für euch», korrigierte Dina sich. «Nicht für mich.» Bei den beiden musste man tierisch aufpassen, was man sagte. Am besten ließ man sich gar nicht erst auf ihre Köder ein.

«Erwachsenenkram», seufzte Antonio und schaute demonstrativ genervt aus dem Fenster. Dabei entdeckte er dummerweise, wo genau sie gehalten hatten. «Wow, kriegen wir Hotdogs?»

«Nein. Es ist vier Uhr nachmittags. Keine Zeit für Hotdogs.» Dina verschloss das Handschuhfach wieder. Die Waffe würde sie hierfür nicht brauchen.

«Es ist immer Zeit für Hotdogs», widersprach Sofia. Schwer, gegen solche Argumente anzugehen.

«Keine Hotdogs», stellte Dina fest. Im Innenspiegel sah sie die Kinder zusammensacken. Jelly stupste Sofias Schläfe zum Trost an. «Wenn ich fertig bin, besuchen wir eure Mama und ich gebe euch eine Heiße Schokolade aus.»

«Und eine Zimtrolle?», fragte Antonio.

«Sonst rutscht uns vielleicht raus, dass du uns zu Erwachsenengeschäften mitnimmst. Obwohl du eigentlich nicht darfst», ergänzte Sofia.

Dina wandte sich im Sitz um und musste sich schwer beherrschen, das Grinsen nicht durchbrechen zu lassen. Diese beiden hatten Großes vor sich. «Hört mal, ihr zwei. Ich hab euch lieb. Darum wäre es besser, wenn eure Mama nichts hiervon erfährt. Sonst lässt sich uns nichts mehr zusammen unternehmen. Das wäre richtig schade, oder?» Sie stieß die Tür auf und atmete tief durch, um wieder ein ernstes Gesicht zu machen. «Ich bleibe in Sichtweite. Ihr macht niemandem die Tür auf. Bin gleich wieder da.»

Seine Flotte an Würstchenwagen kommandierte Jackson Collins von einer Imbissbude am Bahnhof aus. Wie alle ernstzunehmenden Gastronomen in der Stadt bezog er seine Brötchen von Omas Bäckerei. In der Vergangenheit hatte er über ein Ende der Geschäftsbeziehung nachgedacht, doch aus Mangel an Alternativen und wegen der unvergleichlichen Qualität war er geblieben. Nun gehörte er zu den schwierigen Kunden, bei denen man persönlich vorstellig werden musste, wenn die Vertragsbedingungen sich änderten.

Am Verkaufsfenster verdrängte der warme Duft von Fritteusenfett und Würstchen die Kälte. «Jack, alter Kumpel.» Dina stützte die Unterarme auf den Rahmen. «Was macht das Geschäft? Nicht die Zeit für Hotdogs, was?»

«Was willst du hier, Dina?», fragte er barsch. «Du bist nicht zum Essen hier.» Sein Blick wanderte um sie herum, während er die Gegend nach potenziellen Zeugen absuchte, und fiel am Ende wieder auf sie. Er kannte sie lang genug, um zu wissen, dass ihm die Tatsache, dass sie allein war, keine Sicherheit bot. Die Anwesenheit der Kinder schon eher, vor denen musste sie diskret bleiben.

«Auch keine Zeit für Smalltalk, was? Man macht dir eben nichts vor, alter Junge. Also kommen wir zur Sache: Preiserhöhung.»

«Aber erst im Januar.»

Dina schaute ihn voller Mitleid an. «So war das bisher immer, ja. Aber … Wir sind gerade so knapp besetzt und bald ist Weihnachten. Wenn wir unseren Leuten schon nicht den ausgiebigen Urlaub gönnen können, den sie verdienen, sollen sie wenigstens Sonderzahlungen erhalten. Darum wird das Geld für Januar schon nächste Woche fällig. Zusätzlich ein kleiner einmaliger Aufschlag.»

Für einen Moment wurde Collins ganz weiß, ehe die Zornesröte in sein Gesicht stieg. «Das kann nicht dein Ernst sein!»

«Sehe ich aus, als würde ich scherzen?» Dina sah ihm einen Moment in die Augen. «Sei doch froh, dass ich dir eine Woche Zeit lasse und das Geld nicht sofort einfordere. So nett sind wir nur zu unseren langjährigen Partnern.»

Er presste die Kiefer aufeinander. Sein Glück, dass er klug genug war, jede Bemerkung sein zu lassen. «Wie viel soll das sein?»

«Zehn Prozent. Und im Januar weitere zehn. Wie gesagt, wegen Weihnachten.»

«Was!», donnerte er. «Das ist Wucher! Wenn Ariana glaubt, sie kann mich noch mehr aussaugen als …»

«Aber Jack», unterbrach Dina ihn beschwichtigend, bevor ihm eine gefährliche Äußerung herausrutschen konnte. «Gute Brötchen haben ihren Preis. Und es sind die besten Brötchen, oder nicht?» Sie lächelte, als er widerwillig nickte. «Das sind sie, weil wir gute Zutaten verwenden. Stell dir vor, wir könnten uns das Mehl nicht leisten und müssten mit Gips strecken. Stell dir vor, es kämen auch nur Gerüchte auf, dass du minderwertige Ware verkaufst. Du weißt, wie die Leute sind. Sicher weißt du auch, was gutes Personal kostet. Stell dir vor, unsere Leute wären so im Stress, dass sie die Hygienevorschriften vernachlässigen. Und stell dir vor, die Lieferantin, eine sehr tüchtige Frau, du kennst sie ja, erfährt, dass sie ihren Kindern wegen dir kein schönes Weihnachtsfest ausrichten kann. Was auf dem Weg hierher alles passieren kann, Jack. Und stell dir vor …»

«Ist ja gut, hör mir bloß auf!» Sein Kinn bebte vor Wut. «Eines Tages werdet ihr mich noch ruinieren!»

«Nicht doch.» Dina lächelte wohlwollend. «Was hätten wir denn davon, einen wie dich zu verlieren? Die Leute lieben deine Hotdogs. Und wenn du doch einmal Geld brauchst, ein paar liebe Freunde von mir machen gute Konditionen.»

Er sah aus, als wollte er ihr gleich vor die Füße spucken.

«Wann schließt du am Freitag? Neun Uhr abends? Wenn du dich anstrengst, reichen vielleicht sogar die Tageseinnahmen.» Sie stieß sich vom Fenster ab und schob die Hände in die Hosentaschen. «Sollte noch irgendetwas unklar sein, schick doch wieder deinen Kumpel vorbei. Wie war sein Name doch gleich? Frank? Hank?» Mit der aufgeplatzten Lippe und der gebrochenen Nase war er schwer zu verstehen gewesen. Aber damit hätte er rechnen sollen, dass er als zwei Meter großer Kerl, der einem nachts im Hinterhof auflauerte, bedrohlich wirkte. Da klärte Dina lieber zuerst die Hierarchien, ehe sie nachfragte. «War angenehmes Arbeiten mit ihm.»

«Verpiss dich», knurrte er. «Lass dich hier nicht mehr blicken.»

«Bis Freitag, Jack.» Dina schob sich die Mütze zurecht und deutete eine Verbeugung an.

 

«Na, was habt ihr so erlebt?», fragte Beatrice, die ein paar Minuten für sie erübrigen konnte, nachdem sie die Bestellung an den Tisch gebracht hatte. Natürlich sollten die Kinder ihre Zimtschnecken haben, Dina war ja kein Unmensch.

«Wir sind Schlitten gefahren!», verkündete Antonio stolz. «Dann waren wir auf der Langen Wiese, damit die Hunde toben können, und haben eine neue Freundin gefunden. Ihr Name ist Noah. Sie hat gerade ein riesiges Lama in den Schnee gemalt. Wie in …» Hilfesuchend schaute er seine Schwester an, die ungeduldig auskaute.

«Nicht hetzen, Kind, dass du dich nur nicht verschluckst.»

Sofia spülte mit einem großen Schluck Schokolade nach, der einen kleinen Oberlippenbart hinterließ. Damit sah sie fast aus wie ihr Vater. «Nassau?», murmelte sie. «Nee. Mazda!»

«Nazca», korrigierte Dina. «Das ist in Peru.»

«Genau», pflichtete Sofia ihr bei, als hätte sie das die ganze Zeit gewusst. «Wir sind sogar fertig geworden. Man muss aber auf einen Baum klettern, wenn man was erkennen will. Noah ist oft mit ihrer Mutter dort, hat sie gesagt. Nächstes Mal wollen wir eine Eidechse malen.»

«Dann waren wir beim Hotdogstand, haben aber gar keine Hotdogs bekommen», fuhr Antonio fort. Dabei sah er Dina vorwurfsvoll ins Gesicht. «Tante Dina hat nur ewig mit dem Hotdogmann geredet.»

Dina rutschte auf der Bank so weit nach unten, dass sie den Kopf auf die Rückenlehne legen konnte, und wappnete sich für das, was kommen möge.

Vorerst blieb es bei einem vernichtenden Blick, den Beatrice ihr zuwarf und der von mehr kündete. «Das war richtig von ihr. Um die Zeit essen wir keine Hotdogs.» Sie strich den Kindern durch die Haare und stand auf. «Bin gleich wieder da.»

«Hatten wir nicht eine Abmachung?», fragte Dina.

«Wir hätten lieber Hotdogs gehabt.» Antonio hob die Schultern.

Dina sah ihn ernst an, während sie die angebissene Zimtrolle von seinem Teller nahm und mit zwei Bissen verschwinden ließ. Bei diesem Anblick sank der Junge in sich zusammen. Sie hatte das Glück, die Tante zu sein, sich nicht grundlegend mit der Erziehung herumschlagen zu müssen, sich ganz auf den Spaß konzentrieren zu können. Doch alles musste seine Grenzen haben. Dass man sich an Abmachungen hielt und wann Ausnahmen gemacht werden durften, würde sie ihnen früher oder später noch beibringen.

Sofia rupfte für ihren Bruder ein Stück aus der eigenen Zimtrolle und kletterte über ihn hinweg, um sich an Dina lehnen zu können. «Du hast doch keine Angst vor Mama. Du bist größer als sie, sie kann dir doch nicht vorschreiben, was du darfst und was nicht.»

«Aber das macht sie traurig und wir wollen doch nicht, dass sie traurig ist. Versprecht ihr mir, dass ihr mich nicht mehr verratet?» Sie hielt den kleinen Finger hoch. Natürlich hatte sie nicht vor, die beiden regelmäßig mit zu irgendwelchen Geschäftsterminen zu nehmen. Das war nichts für sie, dazu waren sie noch viel zu klein. Außerdem lief es nicht immer so problemlos ab wie heute. Aber manchmal ließ es sich doch nicht vermeiden.

Sofia und Antonio hakten ihre kleinen Finger ein. «Versprochen.»

Ohne Schürze kam Beatrice zurück zum Tisch und betrachtete die sich ihr bietende Dreieinigkeit skeptisch. «Dina, wenn du einen Moment für mich hättest.»

«Sei ihr nicht böse!», rief Antonio ihr hinterher, aber es ja war schon viel zu spät.

«Sie hat nichts Schlimmes gemacht!», sprang Sofia ihm bei. Dass das nicht so ganz stimmte, konnte sie ja nicht wissen.

Dina winkte nur ab und legte sich im Kopf zurecht, was sie sagen konnte, um die Wogen zu glätten. Für den Moment, zumindest. Der Alltag hatte schon etliche Gelegenheiten gebracht, um aneinanderzugeraten, bevor sie im selben Haus gewohnt hatten, und nun wurde es nicht besser.

«Sag mal, was denkst du dir eigentlich?», fuhr Beatrice sie an, kaum dass sie draußen waren und die Tür sich geschlossen hatte. «Wie kannst du im Beisein zweier Grundschulkinder krumme Dinger in der Stadt drehen?»

«Na, hör mal, krumme Dinger! Ich habe ein geschäftliches Gespräch geführt, mehr nicht. Und die Kinder saßen einmal ausnahmsweise im Auto bei den Hunden. Die haben null mitbekommen. Du führst dich auf, als hätte ich sie an der Hand zu einer Gossenschießerei mitgenommen. Krieg dich wieder ein.»

Davon, sich einzukriegen, war Beatrice meilenweit entfernt. Sie zitterte am ganzen Körper, ganz sicher nicht nur, weil sie ohne Jacke in der Kälte stand. «Du sollst auf sie aufpassen, Dina.»

«Das ist genau, was ich tue.» Sie versuchte, mit ruhiger Stimme der Spannung in der Luft entgegenzuwirken. Es wäre als Bonus dazu, eine nervenzehrende Diskussion nicht führen zu müssen, ein kleiner Triumph über Beatrice, wenn sie es dieses Mal schaffte, sich nicht provozieren zu lassen. «Du weißt, dass sie bei mir in Sicherheit sind. Immer.»

Beatrice tat einen tiefen Atemzug und trat einen Schritt auf Dina zu. Der Unwille, ihr zuzustimmen, sprach auch ohne Worte deutlich aus ihr. «Du nimmst. Meine Kinder. Nicht mehr zu irgendwelchen Geschäftsgesprächen, Verhandlungen oder Gossenschießereien mit. Haben wir uns verstanden? Sonst lernst du mich kennen.»

Dina sagte nichts dazu, wie lächerlich diese Drohung war. Sie wollte einfach nur wieder nach drinnen, wo sie wahrscheinlich keinen Rest Schokolade mehr finden würde. «Deine Kinder werden kein verfängliches Wort aus meinem Mund hören. Ich trage in ihrer Gegenwart keine Waffe bei mir und ich nehme sie nicht mit, wenn ich krumme Dinger jedweder Dimension drehe. Ich werde nicht mal rauchen, wenn sie in der Nähe sind.»

«Du rauchst?» Beatrice hob die Brauen.

«Nein. Darum fällt mir das von allem am leichtesten.»

Der Versuch, die Situation ein wenig aufzulockern, gelang einigermaßen. Über Beatrices Lippen zuckte immerhin ein kleines Lächeln, das jedoch auf der Stelle niedergerungen wurde. «Kannst du auch nur ein einziges Mal länger als zehn Minuten ernst bleiben?»

«Schon, aber es ist mir lieber, wenn ich das nicht muss.»

Am Donnerstagnachmittag lehnte Dina an ihrem Wagen und hielt vor der Schule nach Sofia und Antonio Ausschau, und beiläufig auch nach Jodie. Erst, wenn sie schon unterwegs waren, merkte Dina immer, wie sehr sie sich auch darauf freute, sie zu sehen. Selbst wenn das nichts weiter bedeutete, als schweigend nebeneinander zu stehen und den Kindern beim Spielen zuzusehen, bis man vielleicht einmal mitmachen durfte. Man musste den Schnee nutzen, wie er fiel, also hatten sie sich noch einmal am Rodelhang getroffen und einmal an der Langen Wiese. Dort hatte Dina auf die Feststellung hin, dass sie beide mit selbstgebackenen Keksen aufwarten konnten, zum ersten Mal Jodies Kichern gehört und war dem Moment, in dem sie sich so sehr amüsierte, ein bisschen verfallen. Von den Keksen hatten natürlich keine überlebt, nicht mit drei Kindern in Reichweite.

Ein spontanes Treffen schien ihr jedoch nicht vergönnt, stattdessen hielt ein Streifenwagen so dicht hinter ihrem Toyota, dass die Stoßstange beinahe das Nummernschild berührte. Eigentlich hätte Dina nicht hinsehen müssen, um zu wissen, wer es war. Doch sie konnte trotzdem nicht anders, als Gale Crowfield zu betrachten, wie sie die Sonnenbrille abnahm, unter der beinahe ebenso dunkle Augenringe zum Vorschein kamen. Wie sie ausstieg, die Tür lauter zuknallte, als es hätte sein müssen, und ihre dicke Uniformjacke bis zum Kinn schloss. Wenig überraschend sah sie aus, als hätte sie seit einer Woche nicht geschlafen.

«Neuer Heckspoiler, Dina?», fragte sie und strich mit zwei Fingern an der Kante entlang. «Natürlich ganz vorschriftsmäßig und legal?»

«Selbstverständlich, Sergeant.» Dina behielt sie im Auge und erwartete fast, dass sie über die Motorhaube steigen würde. Stattdessen kam sie um Dinas Wagen herum und lehnte sich neben ihr an die Tür. Ihre Oberarme berührten sich dabei. Dina dachte nicht daran, zurückzuweichen. Sie sollte froh sein, dass Gale hier war. Wenn sie davon wusste, was die Kollegen vorhatten, würde sie die Sache so weit wie möglich sabotieren. Zwar war sie keine Frau übermäßig sauberer Methoden, doch das ging selbst ihr zu weit. Hoffentlich.

«Was führt Sie hierher, Officer?» Sie sah Gale nicht an, sondern hin zum Eingang. Die Kleinen würden nicht herkommen, so lang eine Polizistin da war. Hoffentlich dauerte es nicht zu lang, sie wollte nicht ewig hier herumstehen.

«Es ist glatt», antwortete Gale teilnahmslos. «So viele Eltern holen ihre Kinder ab, anstatt sie dem Bus anzuvertrauen. Da dachten wir uns, wir sind lieber vor Ort. Die Leute sind dann plötzlich alle sehr vorsichtig.»

«Kann ich gut verstehen. Wenn ich es mir aussuchen könnte, hätte ich auch lieber nichts mit Ihnen zu tun, Chief.»

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich ein spöttisches Lächeln auf Gales Lippen legte. Es schien das einzige zu sein, zu dem sie fähig war. «Komm schon, Dina. Ich kann dir auf Anhieb fünf Gelegenheiten aufzählen, zu denen du dich sehr bewusst dazu entschieden hast. Das waren noch Zeiten.»

Dina erinnerte sich besser an jede einzelne davon, als ihr lieb war, und noch einige darüber hinaus. Dabei war das alles schon so lang her. Aber es ließ sie einfach nicht los. Dazu war Clarkehaven zu klein. Und Gale hatte zu viel Spaß dabei, immer und immer wieder mit ihren bleichen, kalten, schlanken Fingern in alten Wunden zu stochern. «Sollte ich mal wirklich, wirklich verzweifelt sein, melde ich mich.»

«Ach, da mache ich mir keine Hoffnungen. Jemand wie du kann sich doch vor Angeboten sicher nicht retten.»

Dina schnaubte. Vor allem konnte sie sich vor Andy nicht retten, selbst wenn sie gewollt hätte. Die Beziehung mit ihr mochte ebenfalls aus sein, doch das hieß nicht, dass man nicht weiterhin regelmäßig und spontan miteinander schlafen konnte. Dazu sagte sie jedoch nichts. Weil es Gale nichts anging und weil sie generell nicht mochte, in welche Richtung das Gespräch gegangen war.

«Ist ja auch nicht so, dass ich diese Zeiten zurück möchte. Arianas misstrauische Blicke im Rücken sind ein ganz schöner Abtörner, musst du wissen. Aber ich erinnere mich gern daran.» Sie stieß sich von Dinas Auto und zog ihren Pferdeschwanz fest. «Wie auch immer. Ich wollte nur, dass du weißt, dass wir hier alles im Blick haben.»

 

Seit dem ersten Dezember war die Stadt hell erleuchtet. In einigen Nachbarschaften herrschte regelrechte Konkurrenz darum, wessen Haus am grellsten dekoriert war. In Omas Haus mochte man es gemütlich und etwas dezenter. Am Montag hatten die Kinder mit Luigi zusammen Fensterbilder gebastelt. An den Regenrinnen entlang verlief eine Lichterkette mit künstlichen Eiszapfen. Am Morgen von Mariä Empfängnis hatten die Kinder die Krippe aufstellen dürfen. Vorher waren sie nicht einmal zum Frühstück zu bewegen gewesen. Dina und Andrea tauschten die Kissen und Deckchen im Haus gegen welche mit winterlichen Motiven aus, was einige Zeit in Anspruch nahm. Oma liebte Kissen und Deckchen.

Gerade war Dina im Billardzimmer, als das Diensthandy klingelte. An sich war das nicht verwunderlich, aber umso mehr, dass es Sofias Nummer war, die auf dem Display stand. Für die Kinder war das die Nummer für absolute Notfälle. Ihr war schon nicht wohl damit gewesen, Beatrice allein mit ihnen loszuschicken. Aber es hatte nur die Eisbahn sein sollen und natürlich war es verständlich, dass sie auch etwas Zeit für sich haben wollte.

Bevor sie sich aber ewig darüber fertig machen konnte, dass sie nicht doch Maria ganz unauffällig auf sie angesetzt hatte, oder sich allzu farbenfroh die Dinge ausmalte, die geschehen sein mochten, nahm sie den Anruf einfach an. «Sofia?»

Im ersten Moment hörte sie nur etwas rascheln.

«Dina, ich hab Angst», flüsterte das Mädchen fast unhörbar leise.

Dina feuerte die Kissen auf das Sofa, wie sie waren, und griff sich in die Hosentasche. Der Schnabel ihres Gulls-Anhängers piekste beruhigend in ihre Hand. «Wo bist du, Kleines? Was ist passiert?»

«In meinem Kleiderschrank», piepste Sofia. «Wir haben Oscar nicht mitgenommen und wollten ihn nur schnell holen. Aber dann hat es an der Tür geklingelt und …» Sie schluchzte. «Draußen ist Blaulicht und Mama sagte, wir sollen uns verstecken. Sie klopfen die ganze Zeit an die Tür und sagen, dass wir raus kommen sollen. Erst klangen sie noch nett, aber … Ich hab Angst.»

Auf dem Weg in die Garage konnte Dina die Türen gar nicht so laut knallen, wie sie wollte. Wie konnte Beatrice nur dermaßen dämlich sein? Immerhin schien sie ein letztes bisschen Verstand übrig zu haben, das sie davon abhielt, zu öffnen. «Ich weiß, Liebes. Aber du wirst jetzt ganz tapfer sein. Du nimmst deinen Bruder und deine Mama und ihr versteckt euch im Baumhaus. Und wenn ihr das Signal hört, klettert ihr über den Zaun und rennt zum Spielplatz. Da warte ich auf euch. Okay? Kriegt ihr das hin?»

«Welches Signal?», fragte Sofia schniefend.

So genau wusste Dina das auch noch nicht. Sie würde improvisieren müssen, aber das konnte sie. Irgendetwas ließ sich immer finden. Noch hatte sie nicht mehr als eine vage Ahnung. «Ihr werdet es dann schon erkennen.»

«Okay. Bitte komm ganz schnell.» Sofia klang schon etwas mutiger. Wenn man wusste, was zu tun war, wirkte alles gleich ein bisschen weniger duster. Sich darauf zu konzentrieren, half dabei, die Gedanken daran, was passieren konnte, fernzuhalten.

«Ich bin bald da. Passt auf eure Mama und auf Oscar auf. Ich lege jetzt auf, aber wenn irgendwas ist, ruf mich einfach wieder an. Alles wird gut.»

Mehr Geraschel am anderen Ende. «Ich hab dich lieb, Dina.»

«Ich dich auch.» Sie beendete das Gespräch und trat gegen die Tür zur Werkstatt, dass sie gegen die Werkbank knallte und wieder zufliegen wollte. Mit dem Unterarm hielt sie dagegen. Als nächstes rief sie Luigi an. Was es jetzt brauchte, konnte nur er.

«Ciao, Dina!», rief er gut gelaunt über klirrendes Geschirr und plaudernde Stimmen hinweg. «Was liegt an?»

«Wo bist du?» Sie riss die Fahrertür auf, fiel in den Sitz und schloss das Handschuhfach auf. Man konnte ja nie wissen.

«Am Rathaus.» Plötzlich war er ganz ernst. Sie hörte seinen Stuhl über den Boden kratzen. «Was brauchst du?»

Das Rathaus war ideal. Zentrale Lage, Berufsverkehr. «Ich brauche dich. Du gehst jetzt da raus, suchst dir ein besetztes Taxi und kaperst es.»

Es war still bis auf zögerliche Fußschritte. Nicht einmal Atemgeräusche waren zu hören. Dina war schon drauf und dran zu fragen, ob er sie verstanden hatte. «Was?», tönte es dann brüchig.

«Stell keine Fragen und tu, was ich dir sage! Ein bisschen plötzlich!» Dass er zu feige war, sich um Collins zu kümmern, geschenkt. Aber heute, an diesem Punkt würde sie nicht mit sich reden lassen.

«Aber … Wenn die mich erwischen …»

«Wenn ich dich erwische», fiel sie ihm lauter als beabsichtigt ins Wort, «reiß ich dir die Milz raus und verfüttere sie an die Hunde, während zu zusiehst!» Später würde es ihr leid tun, ihre Wut an ihm ausgelassen zu haben. Wenn den Kindern allerdings etwas zustieß, weil er zu spät war, würde es ihm gewaltig leid tun.

Atemloses Schweigen.

«Du fährst durch die Innenstadt und ziehst so viel Aufmerksamkeit auf dich, wie du kannst. Dann zu Vince.»

«In den Knast?», fragte er mit dünner Stimme.

«Zu seiner Wohnung!» Sie startete den Wagen. Das Garagentor öffnete sich quälend langsam. «Wo er wohnt. Da werden Cops stehen und du wirst so lang um den Block fahren und Radau machen, bis sie dir allesamt folgen. Ist das klar?»

Die Geräusche um ihn herum veränderten sich weg von Stimmen hin zu Straßenlärm. «Aber wie soll ich sie dann loswerden?»

«Dir fällt schon was ein, du bist doch ein findiges Kerlchen.» Damit legte sie auf, ehe sie noch mehr Zeit vergeudeten. Auf dem Weg in die Vorstadt hielt sie sich peinlich genau an die Geschwindigkeitsbegrenzungen, gönnte sich nur das eine oder andere heikle Überholmanöver. Auf ein eigenes Intermezzo mit den Cops konnte sie jetzt wirklich verzichten. Die sollten sich ruhig alle auf Luigi konzentrieren.

Unbehelligt kam sie am Spielplatz an, der in dieser frostig kalten Nacht verlassen da lag. Nicht einmal Jugendliche, wie sie schon seit Generationen zum Ärger der Stadt ihre Abende hier verbrachten, Scherben und Kippen hinterlassend, war da. Um diese Zeit im Jahr rotteten sie sich da zusammen, wo es windgeschützt war, bei den halbherzig vernagelten Pavillons im Park oder in der Bahnhofshalle.

Um nicht beim untätigen Herumstehen nervös zu werden, rief Dina Oma an. «Mach dir keine Sorgen“, war das erste, was sie sagte.

Sinnlos, denn das Ding mit Omas war, dass sie sich immer Sorgen machten. Dinas Oma hatte eine große, weit verstreute Familie und manchmal fragte man sich, wie sie dabei nach außen hin immer die liebe alte Dame sein konnte, die zu jedem Problem immer gleich eine Lösung fand. «Ich wusste doch, dass niemand außer dir die Türen so überenthusiastisch schließt. Was ist denn los, mein Kind?»

Dina tigerte um den abgedeckten Sandkasten und das gesperrte Gerüst herum und gab ihr eine ganz knappe Zusammenfassung darüber, wo sie war und warum sie dort war und was die Nachrichten, die sie garantiert im Radio hören würde, mit Luigi zu tun hatten. Alle Details konnte sie später berichten, wenn sie wieder sicher daheim saßen.

«Du hast alles im Griff, wie ich sehe», sagte Oma zuversichtlich. «Gib nur gut auf euch acht, Liebes. Ich erwarte euch. Mit Keksen.»

Kaum hatten sie aufgelegt, da erklang einen Block weiter ein Hupkonzert. Dazwischen konnte man in der Stille zuschlagende Türen und startende Motoren ausmachen. Dinas Blick heftete sich auf den anderen Eingang des Spielplatzes, der zu einer Sackgasse zwischen den Wohnhäusern führte. Gleichzeitig ließ sie die Straße nicht aus den Augen.

Die Zeit zog sich wie Kaugummi, bis endlich knirschende Schritte sich nährten und aus der Gasse der hüpfende Kegel einer kleinen Taschenlampe auftauchte. Dahinter schälte sich Beatrice aus der Dunkelheit, an jeder Hand ein Kind. Ein paar Schritte entfernt blieb sie stehen, aber die beiden rannten weiter und klammerten sich an Dinas Hosenbund fest. Oscar, der Plüschhund im Nachthemd, Auslöser des ganzen Schlamassels, schaute sie dankbar aus Antonios Rucksack heraus an.

«Es tut uns so leid», quietschte Sofia.

«Nicht doch.» Dina hob sie beide hoch und gab ihnen einen Kuss auf die Stirn. «Ihr seid alle in Sicherheit, Oscar auch. Der Rest ist egal.» Zumindest für den Moment. Beatrice würde nicht so leicht davonkommen und dem Blick, den sie Dina zuwarf, nach zu urteilen, wusste sie das auch. «Wir gehen erstmal heim und ihr bekommt einen großen Becher Kakao. Oma hat Kekse gebacken.»

 

Während der ganzen Fahrt lastete schwere Stille auf ihnen. Beatrice und die Kinder saßen eng umschlungen in Dinas Decke gehüllt auf der Rückbank. Immer wieder trafen sich ihre Blicke im Innenspiegel und Dina hoffte, dass alles, was sie vor den Kleinen nicht laut aussprechen konnte, bei ihrer Schwägerin ankam. Noch war es zu früh, sich zu entspannen, noch kein Zeichen von Luigi. Doch er war nicht erst seit gestern im Geschäft und würde da irgendwie rauskommen. Danach musste er sich jedenfalls keine Sorgen mehr darum machen, dass Oma ihm böse sein könnte.

 

«Geht schon mal rein, ihr zwei. Eure Mama und ich kommen gleich nach.» Dina hielt ihnen die Tür auf. Sofia machte, dass sie weg kam.

Antonio blieb vor Dina stehen den Rucksack fest an sich gedrückt. «Sei Mama bitte nicht böse. Wir konnten Oscar doch nicht allein lassen.»

«Das konntet ihr wirklich nicht», pflichtete Dina ihm bei und schob ihn sanft zur Tür. «Lass Sofia nicht warten, sonst isst sie alle Kekse ganz allein.»

Er ging nur zögerlich, den Blick besorgt auf seine Mutter gerichtet, die ihn bemüht zuversichtlich erwiderte.

Dina öffnete die Tür des Wagens bis zum Anschlag, als er weg war. «Raus.»

Beatrice glitt aus dem Wagen und brachte sofort allen Abstand zwischen sich und Dina, den sie finden konnte. An die Werkbank gepresst, nah bei der Tür, wagte sie es, ihr in die Augen zu sehen. «Lass mich erklären.»

Dina dachte nicht daran. Sie schlug die Tür zu, die letzte für heute, und nahm hin, dass Beatrice zusammenzuckte. «Was willst du mir denn erklären, hm? Dass du jetzt endgültig von allen guten Geistern verlassen bist? Dass dir entfallen ist, dass ihr genau aus diesem Grund aus der Bude raus seid?»

«Woher sollte ich denn wissen, dass sie sofort anrücken? Es sollte doch nur ein ganz kurzer Besuch werden, damit wir Oscar holen, aber dann sind uns noch ein paar Dinge eingefallen … Und gerade, als wir gehen wollten … Ich verstehe aber gar nicht, was die von uns wollen. Wir wissen doch überhaupt nichts.» Darauf hatte sie während all der Jahre geachtet, bloß nichts damit zu tun zu haben, was Vincenzo abseits der Bäckerei so trieb. Als würden die Dinge, die ihr nicht gefielen, nicht passieren, wenn sie nur wegsah.

Dina konnte dieses Ausmaß an Naivität nicht fassen. «Aber Vince weiß etwas.» Es fiel ihr schwer, das Zittern aus ihrer Stimme zu verbannen. «Und wenn ich jemanden wie meinen Bruder zum Reden bringen wollte, wüsste ich genau was ich zu tun hätte.»

Beatrice wurde bleich.

«Du verlangst von mir, deine Kinder nicht in Gefahr zu bringen, aber kaum schau ich eine Minute weg, bringst du sie an den gefährlichsten Ort der Stadt

«Wir reden hier von meiner eigenen Wohnung!», fuhr Beatrice sie an. «Ich bin in meiner eigenen Wohnung nicht mehr sicher und muss meine Kinder vor der Polizei verstecken!» Sie warf Dina die Worte vor die Füße, als wäre das ihre persönliche Schuld, als hätte sie ihren Bruder eigenhändig auf die schiefe Bahn geschleift, ganz plötzlich vor einer Woche, und als wäre sie, Beatrice, gänzlich zufällig und unwissend mitten hineingeraten. Dabei musste auch sie es besser wissen.

«Ja!» Dina breitete die Arme aus und registrierte sehr wohl, dass Beatrices Hand suchend über die Werkbank wanderte. «Und dafür bist du auf die Hilfe einer Schlägerin angewiesen, weil du nicht selbst in der Lage bist, sie zu beschützen. Das mag dir alles nicht gefallen, aber es ist so und nicht erst seit gestern.»

Beatrice sah aus, als wollte sie etwas erwidern, doch sie schwieg. Natürlich war Vincenzo nicht mit der Tür ins Haus gefallen, aber er hatte ihr lange vor der Hochzeit gesagt, was Sache war. Bei aller Scheiße, die er gern baute und aus der Dina ihn herausholen durfte, war er doch ein guter Kerl, der die Frau, die er liebte, nicht darüber belog, was er für einer war.

«Aber du dachtest natürlich, du könntest ihn ändern», fuhr Dina fort. Wenn sie einmal dabei waren, Offensichtlichkeiten auszusprechen, konnten sie auch gleich zum Kern der Sache kommen. «In deiner Vorstellung hätte deine zarte, unschuldige Liebe ihn aus dem Sumpf gezogen und zu dem braven Bäckergesellen gemacht, den du gern in ihm sehen würdest. Aber wir sind genauso seine Familie wie du und die Kids. Mittlerweile könntest du begriffen haben, dass ihn niemand dorthin gezwungen hat, wo er jetzt ist.» In den Knast schon, natürlich, aber nicht zu dem, was ihn in den Knast gebracht hatte. Schon immer war er voll darin aufgegangen, was – zuerst subtil, später deutlicher – von ihm erwartet worden war. Mit oftmals zu viel Begeisterung hatte er sich in alles gestürzt, was Bestätigung und Anerkennung verhieß, erst von ihren Eltern, dann von Dina. Dabei hatte sie ihre Zuneigung niemals an irgendwelche Bedingungen geknüpft.

«Ich weiß!», schrie Beatrice. «Ich weiß das und bin trotzdem noch hier, oder nicht? Aber wenigstens meine Kinder …»

«Was aus den Kindern wird, ist nicht deine Entscheidung!» Nun wurde Dina doch laut, obwohl sie es hatte vermeiden wollen. «Willst du sie ewig über ihre Familie belügen? Sie sind Martellis und werden als Martellis erzogen. Auch das hast du von Anfang an gewusst.»

In Beatrices Augen standen Tränen. «Dina. Du machst mir Angst.»

Mit einem tiefen Seufzer ließ sie die Schultern hängen und trat einen Schritt zurück. «Nicht doch. Du gehörst zur Familie. Und mach dir keine Sorgen wegen der Kinder», fügte sie an, bevor Beatrice Gelegenheit hatte, anzumerken, dass es nicht automatisch Sicherheit bedeutete, zur Familie zu gehören. «Sie sind noch so klein. Für eine ganze Weile soll ihre einzige Sorge sein, dass ihre Kuscheltiere genug Liebe bekommen und was sie am Wochenende unternehmen.» Nach dem Tod ihrer Eltern war für sie und ihren Bruder alles viel zu schnell gegangen. Eine normale Pubertät war schon beschissen genug. «Du kannst den Schraubenschlüssel übrigens loslassen, der würde dir eh nicht helfen.»

Ertappt zog Beatrice die Hand aus der Schublade, sank zu Boden und fing an, zu weinen.

Dina ließ sie, legte ihr ein Päckchen Taschentücher hin und legte die Decke auf ihrer Rückbank ordentlich zusammen. Als sie damit fertig war, weinte Beatrice immer noch, also setzte Dina sich ihr gegenüber und lehnte sich an die Stoßstange ihres Wagens. «Ich werde Andrea und Rudolpho hinschicken, dass sie sich mal ein Bild von der Lage machen. Falls dir noch etwas einfällt, das ihr vergessen habt, können sie es euch mitbringen. Du fährst keine eigenmächtigen Aktionen mehr. Hast du mich verstanden?»

Beatrice sah sie bitterböse an.

«Sehr schön. Und jetzt sagst du mir, ob dir irgendwas in der Wohnung aufgefallen ist. Kam es dir vor, als wäre jemand dort gewesen?»

Den Blick zur Decke gerichtet schniefte Beatrice in ein Taschentuch. «Nichts. Nicht, dass ich was gesucht hätte, aber auf den ersten Blick, nein. Die Stimmen an der Tür hab ich auch nicht erkannt. Natürlich kenn ich die städtische Polizei nicht so gut wie du. Gale Crowfield war jedenfalls nicht dabei. Aber einen haben sie Callahan genannt.»

Dina war sich nicht sicher, ob sie den Namen schon einmal gehört hatte. Auf jeden Fall hatte sie gerade kein Gesicht dazu vor Augen. Trotzdem, eine Spur war eine Spur. Sie stand auf und hielt Beatrice eine Hand hin. «Wird es gehen?» So oder so war alles besser, als hier länger auf dem kalten Betonboden zu sitzen.

 

Die Kinder, Oma und Oscar hatten es sich am Küchentisch um ein großes Blech Kekse herum gemütlich gemacht. Im Vorbeigehen zog Dina einen Stuhl für Beatrice zurück und schwang sich auf die Arbeitsplatte. Von hier aus hatte man die Einfahrt gut im Blick. Im Moment sah sie nur die Spiegelung des Kühlschranks, aber Scheinwerfer draußen würden ihr sofort auffallen. Jetzt, wo aller Dampf abgelassen war, blieb nur noch die Sorge um Luigi. Sie hätte ihm einen Fluchtplan anbieten sollen. Wäre Leonardo verfügbar, hätte sie die beiden zusammen geschickt. Leonardo hatte ein Talent dafür, sich aus misslichen Lagen zu befreien. Aber er saß im Knast und fehlte.

«Luigi hat angerufen», sagte Oma, die ihr die Gedanken natürlich ansehen konnte. «Maria bringt ihn mit, sie sollten bald da sein. Nimm schon.» Das und das auffordernde Klappern des Blechs waren an Beatrice gerichtet.

«Sollte ich?», fragte die Angesprochene skeptisch.

Die Unterstellung, Oma könnte ihr vergiftete Plätzchen anbieten, brachte Dina fast schon wieder auf die Palme, doch es waren Kinder anwesend. Darum gab sie sich damit zufrieden, weiter aus dem Fenster zu starren und den Rand der Arbeitsplatte zu umklammern.

«Nur nicht zu viele», antwortete Antonio. «Sonst kriegst du doch Bauchweh.»

 

Die Scheinwerfer von Marias Chevrolet tauchten endlich draußen auf. Dina rutschte von ihrem Platz, nahm im Vorbeigehen einen Keks vom Blech und ging zur zweiten Garage hinter dem Haus. Gerade wurde die Tür geöffnet und Luigi trat in den Flur, die sonst immer perfekt sitzende Frisur notdürftig nach hinten gekämmt, die Krawatte gelockert. Er erstarrte mitten in der Bewegung, als er sie sah.

Dina nahm ihn in den Arm, weil kein Danke der Welt ausreichen konnte, und küsste ihn auf die kratzige Wange. Ohne ihn wäre die gesamte Angelegenheit wesentlich komplizierter geworden. Niemanden sonst hätte sie darum bitten können.

«Ich darf meine Milz also behalten.» Er legte zögerlich die Arme um sie. «Wenn du den Rest auch ganz lassen würdest, danke.»

«Gute Arbeit, Mann. Sie ließ etwas lockerer, damit er frei atmen konnte. «Du musst mir alles erzählen und dann hast du dir eine Erklärung verdient. Und einen Keks. Du auch, Maria. Das heißt, wenn in der Küche noch welche übrig sind.»

 

Nach einem Tag wie diesem war Dina froh, den nächsten in der Filiale im Italienischen Viertel verbringen zu können. Die Kinder waren mit ihrer Mutter, Tante Fernanda und Andrea im Naturkundemuseum. Also hatte Dina Zeit, hier und da einen Tisch abzuräumen und Luigi – jetzt vollständig rehabilitiert und wesentlich entspannter – dabei zu helfen, Servietten für irgendeine Weihnachtsfeier zu falten. Zumindest war das der Plan gewesen, doch er hatte es recht bald mit ihr aufgegeben. Ihre Fähigkeiten im feinmotorischen Bereich waren nie sonderlich ausgeprägt gewesen. Darum stand sie auch nicht in der Küche und dekorierte Kuchen.

Stattdessen lieferte sie welche aus. Heute mit einer Rakete, Saturn und lauter Zuckerperlensternen. Es ging zu einer Kindergeburtstagsfeier in einem Reihenhaus. Auf der Treppe vor dem Eingang stand ein kleiner Schneemann mit einem Partyhut. Im Treppenhaus überlagerte der Geruch Dutzender nasser Schuhe den von Bohnerwachs.

Vor der fraglichen Tür im zweiten Stock rückte Dina Krawatte und Hut zurecht. Unter anderem hatte sie die Lieferungen schon immer geliebt, schon damals, als sie noch mit dem Fahrrad durch die Stadt gerast war, weil es Anlass gegeben hatte, sich in Schale zu werfen, ohne ständig gefragt zu werden, ob es einen bestimmten Grund gab. Als Oma noch besser zu Fuß gewesen war, hatte sich öfter etwas ergeben, da waren sie ins Theater gegangen, in die Oper, fast jedes Stück, das gespielt worden war. Heute fand sich viel zu selten jemand, der mit ihr kommen wollte. Andy konnte man mit Kultur jagen und dafür machte Dina ihr nicht einmal einen Vorwurf. Es war ja nicht für jeden etwas. Aber sie vermisste es und allein war es nicht dasselbe.

Sie klingelte und musste einen Moment warten, bis die Tür geöffnet wurde und sie plötzlich Jodie gegenüber stand. Es gab tatsächlich eine Zeit, in der sie keinen Schal trug, und ein Gesicht dahinter, das überrascht zu ihr hoch schaute. Dann wanderte Jodies Blick langsam an ihr herunter und wieder hoch, blieb schließlich an der Kuchenschachtel in ihrer Hand hängen.

Hinter ihr in der Diele standen sieben Paar Stiefel in Kindergrößen. Aus einem angrenzenden Zimmer waren Fußgetrappel und Laserpistolenschüsse zu hören. Sah aus, als wäre sie mitten in eine Raumschlacht hineingeraten.

«Guten Tag, die Dame.» Dina lüpfte mit einer leichten Verbeugung ihren Hut und hielt ihr die Schachtel entgegen. «Sie hatten einen Kuchen bestellt.»

Jodie lehnte sich an den Türrahmen, zog die Hände in die Ärmel ihres bunten Strickpullovers zurück und errötete leicht. Da war sie wieder der aufgeplusterte Pinguin. Nach der Wärme in der Wohnung musste es ihr im Treppenhaus eisig vorkommen. «Du arbeitest für Martelli?»

«Eigentlich nicht, ich hab den Lieferjungen überfallen, um einen Grund zu haben, dich zu besuchen», antwortete Dina aus einem Reflex heraus und fragte sich im selben Moment, ob es nicht zu früh für solche Sprüche war. Nach dem bisschen Smalltalk im Schnee ließ sich unmöglich einschätzen, wie sie damit ankam. Andererseits war das hier die perfekte Gelegenheit, weil sie zur Not immer wieder auf den Kuchen und die Feier zurückkommen konnte.

Jodies Augen wurden groß, dann kam die Erkenntnis und sie zog die Brauen zusammen. «Oh, du! Jetzt hätte ich dir fast geglaubt! Mit dem Anzug und allem siehst du fast aus wie ein Mafioso …» Der Satz hing einen Moment zwischen ihnen. «Also, abgesehen davon, dass es gut aussieht.»

Dinas Wangen wurden heiß, was sie auf das Kompliment schieben konnte, aber mehr mit der anderen Bemerkung zu tun hatte. Dem Klischee zu entsprechen, machte ihr Spaß. «Verzeih, ich hab mich gar nicht richtig vorgestellt. Valentina Martelli, stets zu Diensten, wenn es um Backwerk und Konditorei geht. Das Geschäft gehört meiner Oma und fahre aus, wenn ich die Zeit habe. Im Sommer auch mit der Vespa.»

«Ach? Dann bestelle ich zu meinem Geburtstag im Juni wohl auch einen.»

«Liebend gern. Aber du warst so überrascht. Was dachtest du denn, was ich mache?» Da hatte sie schon die abenteuerlichsten Dinge gehört. Andere Antworten fielen immer wieder.

«Och …» Jodie hob die Schultern. «Zuerst dachte ich so was wie Türsteherin in irgendeinem Club downtown.» Diese zum Beispiel. Das hatte auch Andy damals von ihr gedacht und war ein bisschen enttäuscht gewesen. Genau so lang, bis das Wort Bäckerei gefallen war. «Dann hätte ich mir vorstellen können, dass du für Dox in der Trainingshalle arbeitest. Auf jeden Fall irgendwo, wo ich nie hinkomme, weil du mir sonst schon lange aufgefallen wärst …» Zum Ende hin wurde sie immer leiser, aber Dina konnte unmöglich tun, als hätte sie das nicht gehört. Somit waren sie quitt mit Bemerkungen, die sie nicht bereuen mussten.

«Ins Italienische Viertel kommst du auch nicht? Wir sind auch noch am Rathaus, hinter der Highschool und an der Strandpromenade. Eigentlich bin ich überall mal, und selbst wenn nicht, kannst du immer noch wegen der Waffeln bleiben.»

«Werde ich bestimmt, wenn der Kuchen mich überzeugt. Darf ich?» Vorsichtig öffnete sie den Deckel der Schachtel.

Es grenzte an Magie, wie bestimmte Geräusche, mochten sie auch noch so klein sein, die Leute anlockten. Im Billardzimmer klickte ein Feuerzeug, schon kamen sie aus allen Ecken des Hauses angelaufen, Zigarre in der einen, Queue in der anderen Hand. Genauso verhielt es sich mit Kuchenschachteln, auf deren spezielle Frequenz Kinderohren abgestimmt zu sein schienen. Die Tür am Ende des Flurs öffnete sich und Jodies Kind rannte in einem Pappkartonraumanzug auf sie zu. Nur gerade so prallte es nicht gegen sein Mutter. «Spaaaaace Caaaaaaake!», rief Noah glücklich.

«Na, na, Kleines.» Jodie hob den Kuchen so hoch, dass Noah ihn auf keinen Fall sehen konnte, und schloss den Deckel gleich wieder. Aber der Helm schränkte das Sichtfeld ohnehin ziemlich ein, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, den Kopf in den Nacken zu legen. «Du möchtest dir doch sicher nicht die Überraschung verderben.»

«Aber es dauert so lange!» Noah schob den Zeigefinger in die Gürtelschlaufe an Jodies Jeans und zog daran. «Wir dürfen ja nicht mal Astronautennahrung, weil du sagst, es gibt gleich Kuchen. Aber wann ist gleich?»

Jodie schaute Dina entschuldigend an, die aber nur lächelte. Sie kannte das ja selbst. «Zuerst sagst du danke zu Dina. Die hat uns den Kuchen nämlich gebracht.»

Noah gelang es, sich genau so lang vom Anblick der Schachtel zu lösen, wie es brauchte, um «Dankeschön, Dina» zu sagen.

«Und jetzt landet ihr erstmal ordentlich auf einem Planeten, dann gibt es Kuchen.»

«Du hast fünf Minuten!», verkündete Noah und stolzierte davon.

Jodie unternahm einen zweiten Versuch, sich den Kuchen in Ruhe anzuschauen, und dieser glückte. «Der ist ja wunderschön. Fast zu schön, um ihn anzuschneiden.»

«Lohnt aber», erwiderte Dina. «Schmeckt erfahrungsgemäß noch besser, als es aussieht.» Vor allem besser, als er irgendwann aussah, wenn man ihn nicht aß.

«Würde ich auch behaupten, wenn er von mir käme.» Jodie schloss die Schachtel wieder und griff sich in die Hosentasche. «Aber du hast mein Vertrauen ja schon mit den Hunden nicht enttäuscht, also bin ich hier auch ganz zuversichtlich.»

«Beschwerden nehme ich übrigens auch entgegen.» Von den meisten nur einmal, aber dieser Kommentar war jetzt hundertprozentig unangebracht.

«Dann bräuchte ich ja deine Handynummer.» Sie zog das Handy aus der Tasche, das in einer mit Kinderfotos bedruckten Hülle steckte. Das blasse Licht des Displays spiegelte sich in ihren Augen. «Wenn dir das recht ist.»

Dina gab aus dem Kopf die Nummer ihres Privathandys heraus. Sie kannte alle auswendig. Auch Oma hatte mit ihren fast achtzig Jahren noch alles im Kopf und was dort nicht war, fand sie in ihrem Adressbuch. Zwar sah sie die Vorzüge der modernen Technik, vertraute ihr jedoch nicht ganz. Darum lautete die Devise erst das Gedächtnis, dann das Papier, dann Nullen und Einsen.

Ein paar Sekunden später ertönte ein Toastergeräusch aus ihrer Anzugtasche. Jodie fuhr zusammen und schaute sich um wie jemand, der regelmäßig darauf achten musste, dass nur Dinge in den Toaster geschoben wurden, die dort auch hinein gehörten. Auch Dina fragte sich für einen Augenblick, wer das schon wieder sein konnte, ehe sie das Offensichtliche bemerkte. «Schon die erste Beschwerde?»

«Kannst ja nachher mal reinschauen», antwortete Jodie nur und nahm die Schachtel an sich. «Was kriegst du?»

«Ich hab deine Nummer, was sollte ich noch wollen?» Im Moment schwebte sie sichere zehn Zentimeter über dem Boden. Kein Ort, um über Gesagtes nachzudenken. Ziemlich schnell hatten sie den Punkt erreicht, an dem ihr Bauchgefühl gut das Kommando übernehmen konnte.

«Die hättest du auch ohne den Kuchen bekommen. Also?»

Dina hob die Schultern. Die Lieferung an sich war innerhalb der Stadt kostenlos. Die meisten Leute gaben einen halben oder einen ganzen Dollar. Grundsätzlich erwartete Dina nichts, wobei sie wusste, dass die anderen damit anders umgingen. «Was du übrig hast. Was dir der Service wert war, lautet das offizielle Motto.»

«Na, so viel hab ich gerade nicht zur Hand.» Sie drückte Dina zwei Dollar in die Hand. «Dafür, dass ich heute Nachmittag nicht nur mit Kindern zu tun haben durfte. Aber zu denen muss ich jetzt wirklich langsam zurück. Wir sehen uns bestimmt bald. Und vielen Dank, Dina.»

«Jederzeit.» Sie setzte den Hut auf und verabschiedete sich mit einer Verbeugung. Über ihr klopfendes Herz hinweg hörte sie, wie nach einer halben Etage erst die Wohnungstür geschlossen wurde. Sie nahm immer zwei Stufen abwärts, obwohl sie eigentlich gar nicht so schnell weg wollte, im Gegenteil. Doch irgendwo musste die ganze Energie doch hin. So schnell konnte es gehen, von einer Zufallsbegegnung zur nächsten.

Vor dem Haus, mit der kalten Dezemberluft im Gesicht, kam sie langsam wieder auf dem Boden der Tatsachen an. Das Handy hatte sich natürlich in der Tasche verkeilt und wehrte sich dagegen, aus seiner warmen Umgebung gerissen zu werden. Es brauchte einen Moment, bis sie wieder ausreichend ruhige Hände hatte.

Beschwerde: Dich bei dir auf einen Kaffee einzuladen, wäre witzlos, bei der Konkurrenz awkward.

«Du bist heute Morgen so still Valentina!», befand Tante Fernanda vom anderen Ende des Tisches aus. Es war noch nicht einmal hell draußen und trotzdem saß sie hier in feinster Sonntagskluft. Alle anderen trugen noch Morgenmäntel, sogar Oma, die an der Stirnseite bei Dina und damit ihrer Schwester gegenüber saß. Einziger Grund, warum Dina schon Hosen trug, war, dass sie die Cornetti zum Frühstück geholt hatte.

«Ich rede doch nie wirklich viel», wandte sie ein. Im Kreis der Familie war sie lieber stille Beobachterin, die gern auf andere einging, ansonsten aber einfach die Ausgelassenheit um sich herum genoss. Die stellte sich in Tante Fernandas Anwesenheit allerdings als Herausforderung dar. Ständig spürte man ihren scharfen Blick und erwartete jederzeit einen strengen Kommentar.

«Trotzdem bringst du sonst viel mehr Leben an den Tisch, Kind. Heute wirkst du so in dich gekehrt. Stimmt etwas nicht?» Selbst das konnte sie wie einen Vorwurf klingen lassen, als wäre sie die einzige, die sich um sie sorgte; als würde Oma sie emotional völlig vernachlässigen.

«Lass sie doch, sie hat nur sehr wenig geschlafen in der letzten Nacht.» Oma tätschelte Dinas Unterarm und bedachte sie mit einem fürsorglichen Lächeln. «Wenn dich etwas bedrückt, kannst du jederzeit mit mir über alles sprechen, das weißt du ja.»

Dina winkte ab. Ja, sie hatte wenig geschlafen. So wenig, dass sie erst nach zwei Tassen Kaffee in der Lage gewesen war, das Haus zu verlassen. Der Grund dafür war allerdings ein angenehmer gewesen. Wieder und wieder war die Szene an Jodies Wohnungstür in ihrem Kopf abgelaufen und sie sah das Lächeln, das sie wach gehalten hatte, noch immer vor sich. In einer Nacht zum Sonntag durfte das durchaus einmal sein. «Alles gut. Es ist nur, ich hab jemanden kennen gelernt.»

«Ach, was?» Maria setzte den Becher, aus dem sie gerade hatte trinken wollen, ab und wandte sich Dina höchst interessiert zu. «Und jetzt zerbrichst du dir den Kopf, wie du es ihr sagen sollst?»

«Nein, ach.» Aus dem Alter war sie lange raus. Es war ja auch nicht das erste Mal, dass ihr das passierte, auch wenn ihr seit einer ganzen Weile keine mehr untergekommen war, mit der sie sich mehr als einen One Night Stand hätte vorstellen können. Das war auch vollkommen okay gewesen, aber jetzt genoss sie das Gefühl der Verliebtheit. Eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse von der Langen Wiese bis zum gestrigen Nachmittag zu liefern, machte sie munterer als der Kaffee je gekonnt hätte.

«Clarkehaven ist halt auch nur eine Kleinstadt.» Andrea schwenkte den letzten Rest Kaffee in seiner Tasse.

«Klingt nach einer reizenden jungen Dame», befand Luigi, der gegen Maria gesunken war, um ihr besser zuhören zu können.

«Ich hab den Kuchen gebacken», stellte Maria fest, als hätte sie damit den Pfeil abgeschossen, der sie ins Herz getroffen hatte.

«Hast du eigentlich noch Kontakt zu Andromeda?», fragte Tante Fernanda.

«Ja, natürlich», antwortete Dina verwundert. Wie kam sie denn in diesem Moment auf Andy? «Regelmäßig. Immer, wenn ich Grover besuche. Sie kümmert sich um die Autos. Wir schauen die Spiele der Gulls bei ihr und im Sommer gehen wir immer zusammen an den Hundestrand.» Den Rest ließ sie aus. Über den musste sie sich aber noch Gedanken machen, je nachdem, wohin das mit Jodie noch führte.

Tante Fernanda nickte zufrieden. «Es ist schon schade, dass ihr nicht mehr miteinander geht. Andromeda ist so eine nette junge Frau.»

Alle am Tisch warfen ihr einen skeptischen Blick zu. Andrea hustete, ihm war wohl Saft in die Nase geraten. Es gab vieles, was man über Andy sagen konnte, aber nett war ganz gewiss nicht darunter. Ihrer Beziehung hatte das allerdings nicht im Wege gestanden. Was das anging, war sie sehr unkompliziert gewesen, hatte nichts verlangt, was Dina nicht zu geben bereit gewesen wäre, und alles sehr direkt kommuniziert. Nur mit ihrem Temperament war es auf Dauer schwer auszuhalten gewesen. Seit sie sich einig geworden waren, dass es so nicht weiter funktionieren konnte, und die Sache lockerer angingen, verstanden sie sich prächtig.

«Sie hätte gut zu uns gepasst», beharrte Tante Fernanda. Wie sie das behaupten und sich dabei selbst glauben konnte, war Dina schleierhaft. Ein einziges Mal war Andy hier gewesen, zu Dinas Geburtstag drei Jahre zuvor. Kein anderer Mensch konnte in diesem Haus so fehl am Platze wirken wie sie. Alles an ihrer Ausstrahlung widersprach allem, was dem Haus und der Familie anhaftete. Dabei war es gar nicht unangenehm gewesen, sie war gut mit allen ausgekommen. Außerdem dachte Dina gern daran zurück, wie sie sich ins Billardzimmer geschlichen hatten.

Umgekehrt fügte Dina sich nahtlos in die WG ein, die Andy und ihre Mutter sich mit Dinas Freund Grover und dessen Frau teilten. Dort war Dina schon immer ständiger Gast gewesen, weshalb sie auch an Andys Bewerbungsgespräch auf die freien Zimmer teilgenommen hatte. Hochstart in eine überaus intensive Beziehung, die noch immer nachglühte. «Willst du auf irgendwas Bestimmtes hinaus?» Für Gespräche mit Hintergedanken hatte sie zu wenig Kaffee intus.

«Ich bin nur froh, dass ihr euch noch versteht, das ist alles», antwortete Tante Fernanda in angesäuertem Ton, der verriet, dass das nicht alles war.

Aber Dina ließ es dabei bewenden.

«Du hast sie spätestens, wenn du sie zu uns einlädst und ihr Waffeln spendierst», brachte Andrea das Gespräch dankenswerterweise wieder zum Thema zurück.

«Sie hat sie einfach so, weil sie Dina ist», warf Luigi ein.

«Völlig richtig.» Oma nickte mit einem zuversichtlichen Lächeln. «Sei einfach ganz du selbst, dann ist das Schlimmste, was passieren kann, dass du eine junge Dame anständig behandelt hast. Aber bring sie gern mit ins Café.»

«Aber bloß nicht ins Haus.» Tante Fernanda deutete mit einem angebissenen Hörnchen auf sie.

«Natürlich nicht», versicherte Dina ihr. Wie leicht sich vergessen ließ, dass sie dermaßen anstrengend war, wenn man sie höchstens dreimal im Jahr sah. Schon gar nicht, so lang du hier bist. Noch nie war es gern gesehen gewesen, irgendwelche Leute mit ins Haus zu bringen. Für Damenbesuch hatte sie eine Wohnung in der Stadt gemietet, wo sie sich auch mit Freunden traf, die nichts weiter mit der Familie zu tun hatten. Dorthin setzte die Familie wiederum niemals einen Fuß. Und Gale wusste auch nichts davon.

«Was steht diese Woche denn so alles an?», wollte Maria wissen, bevor sich unangenehme Stille ausbreiten konnte.

«Ich hab da mal was vorbereitet.» Luigi zog aus der Tasche seines Morgenmantels einen Taschenkalender und schlug ihn zwischen Kaffeekanne und Marmelade auf. Mittwoch, Freitag und Samstag waren auf der kleinen Monatsübersicht dick eingerahmt. «Morgen Mittag kommt Cousine Bernadette in Portland an. Bleibt es dabei, dass wir sie abholen, Dina?»

«Klar.» Sie freute sich schon seit Wochen darauf. Weihnachten war die einzige Gelegenheit, zu der sie die Verwandtschaft aus Lyon sahen.

«Sehr schön. Dienstag ist nichts weiter, Mittwoch hat Dina Geburtstag, aber das wusstet ihr sicher schon vorher. Freitag wird Leonardo aus der Haft entlassen und das feiern wir am Samstag zusammen mit Dinas Geburtstag bei Giovanni. Sieht nach einer ruhigen Woche aus.»

«Sag das nur nicht zu laut», meinte Dina dazu. So war es doch immer: Kaum sah es nach ein wenig Entspannung aus, kam irgendwas dazwischen. Mit den Cops, die einem noch dichter im Nacken saßen als eh schon, war das leider gar nicht unwahrscheinlich.

«Wir sind doch immer gut auf alles vorbereitet, ihr Lieben. Genießt heute erstmal nur das schöne Wetter.» Oma lehnte sich im Stuhl zurück und sah sie nacheinander glücklich an. Wie immer wirkte sie ganz sorglos. Sie hatte eben einen Weltkrieg und einen kalten Krieg überlebt und alles gesehen.

 

Dina saß noch am Tisch, als die anderen schon unterwegs waren und Beatrice und die Kinder zum Frühstück kamen. Am Wochenende schliefen sie immer lang, ein Konzept, das Dina völlig unbegreiflich war. Nach sechs hielt sie es einfach nicht mehr im Bett aus, selbst wenn sie dann noch Kaffee brauchte, um funktionstüchtig zu sein.

Die Hunde waren versorgt, die erste Gassirunde war die zur Bäckerei gewesen, und jetzt saß sie hier und wartete. Es war vollkommen unsinnig, aber sie wollte, dass Jodie anrief und vorschlug, sich im Park zu treffen, oder auf der Langen Wiese, und war sich sicher, dass das genau dann passieren würde, wenn sie jetzt irgendetwas anfing.

«Ich hab geträumt, ich wäre tauchen», erzählte Sofia. «Gestern im Museum haben wir nämlich einen Fischsaurier gesehen und der war sooo groß. Hey, mach mal mit.» Mit dem Ellenbogen stieß sie ihren Bruder an, der ihr assistierte. «Na, ja, noch größer, eigentlich. Aber du warst ja bestimmt auch schon da, oder?»

«Ich kenne den Fischsaurier. Und ich war schon sehr, sehr oft im Museum, schon, als ich so alt war wie ihr.» Wie sie das sagte, fühlte sie sich alt, dabei war das doch erst knapp zwanzig Jahre her. «War der Fischsaurier denn auch in deinem Traum?»

Sofia nickte. «Wir sind zusammen getaucht, ganz, ganz tief. Dann bin ich durch ein Loch im Meeresboden gefallen und aufgewacht.»

«Klar, weil du aus deinem Traum in dein Bett gefallen bist.» Antonio sah sie überrascht an. «Genau wie ich! Ich war nämlich in einem alten Tempel und dann war da plötzlich eine Fallgrube, über die ich springen wollte. Aber die ist dann immer größer geworden und war unendlich tief. Meinst du, ich träume heute Nacht weiter?»

«Ganz bestimmt nicht, wenn du wieder so lange liest, obwohl wir eigentlich schon das Licht ausgemacht haben», tadelte Beatrice liebevoll. «Dann hast du ja gar keine Zeit.»

«Aber Mama! Ich konnte so lange überhaupt noch nicht lesen, das muss ich ja alles irgendwann nachholen!»

«Dafür haben wir euch ja vorgelesen.» Dina sprang Beatrice nicht bewusst bei. Sie erinnerte sich nur sehr daran, wie unter Kindern und Erwachsenen immer darüber debattiert wurde, wer dran war, weil alle wollten und sollten. Wobei natürlich völlig außer Frage stand, dass Oma die beste Vorleserin war. Immer gewesen.

«Das war auch schön», gab der Junge zu. «Was hast du eigentlich geträumt, Dina?»

Die ehrliche Antwort, dass sie sich kaum erinnerte, wann sie überhaupt geschlafen hatte, war ziemlich langweilig. «Von einem gemütlichen Tag mit Kuschelpullover», war also ihre halb ehrliche Antwort. Denn dass es Wachträume waren und sie den Pullover nicht selbst getragen hatte, tat nichts zur Sache.

«Wie gut, dass du noch da bist, Dina!» Aus dem Salon kam Tante Fernanda in die Küche, in ihrer großen Handtasche wühlend. «Ich hab doch gestern ein paar Broschüren eingesteckt, weil ich dachte, dich interessiert vielleicht was davon.» Sie reichte ihr einen ganzen Stapel Papier.

«Danke.» Dina schob ihren leeren Teller zur Seite, um die Beute vor sich ausbreiten zu können. Manchmal, wenn sie schon eine Weile da war, vergaß man leicht, dass Tante Fernanda auch sehr lieb sein konnte.

 

Traditionell endete der Sonntagsspaziergang im Café an der Strandpromenade. Im Sommer konnte man sich hier kaum vor Touristen retten, im Winter war viel weniger los als in den anderen Standorten. Nur echte Genießer, Freunde der Familie und Leute mit Hunden interessierten sich bei diesen Außentemperaturen für Eis.

Und Jodie, wie es aussah, die an dem Tisch saß, der normalerweise Personal vorbehalten war. Dina erkannte sie an dem Schal, der nachlässig hingeworfen über der Stuhllehne hing. Er fiel fast herunter, als sie sich auf ein Zeichen von Rudolpho an der Theke hin umwandte. «Hi!», rief sie halblaut und hob zögerlich die Hand, um zu winken.

«Ist sie das?», fragte Maria vergnügt.

«Deutlicher könnte es ja wohl nicht sein.» Luigi hielt die Hand auf, um die Hundeleinen in Empfang zu nehmen.

«Ihr entschuldigt mich.» Dina nahm die behandschuhten Hände, die ihr auf die Schulter klopften, nebenbei wahr, als sie zu Jodies Tisch ging und auf die Bank ihr gegenüber rutschte. «Na?»

«Na?» Jodie zog ihre Tasse Latte macchiato näher zu sich heran, damit Dina Platz hatte. «Ich war im Italienischen Viertel, aber die meinten, sonntags wärst du immer hier. Bin noch gar nicht lang da.»

«Und?» Dina legte Jacke und Handschuhe neben sich und den Hoodie auch gleich dazu. Zum Glück trug sie noch ein T-Shirt darunter. Sonst wäre es in der Hitze ja kaum auszuhalten gewesen. «Wie war der Kuchen?»

«Wegen dem bin ich hier, ich möchte mich nämlich beschweren.» Während sie das sagte, konnte sie kaum ernst bleiben.

Dina auch nicht. «Ist das so?», fragte sie, über den Tisch gebeugt.

«Oh, ja.» Jodie lehnte sich ihr entgegen. «Und zwar hab ich nur ein einziges Stück davon abbekommen. Kannst du dir das vorstellen, nur einen Bissen von etwas Gutem abzubekommen, und dann ist es plötzlich weg?» Sie lehnte sich zurück und schaute sie an, als fände sie das alles unerhört.

«Kenn ich», versicherte Dina ihr. Wie oft war sie schon mit Arbeit von einem viel zu kurzen Frühstück weggeholt worden? «Aber das geht ja nun wirklich nicht. Rudolpho?» Mit zwei Fingern winkte sie ihn von der Theke herüber. «Waffeln für die Dame und das Übliche für mich.»

«Kommt sofort.» Er nahm ihre Sachen mit zur Garderobe. Den Pullover behielt sie allerdings da, den brauchte sie noch.

Jodie wartete, bis sie wieder allein waren, und rückte sich auf dem Stuhl zurecht. «Übrigens hab ich noch eine Beschwerde.»

Dina hob die Brauen.

«Ich kann nie wieder woanders Kaffee trinken.» Sie drehte beiläufig die Tasse auf dem Unterteller.

«Musst du auch nicht», fand Dina. «Du bist hier immer sehr gern gesehen. Wenn du möchtest,  kann ich dir beim nächsten Mal auch eine kleine Backstage-Tour geben. Wir machen alles selbst. Gut, vielleicht bauen wir den Kaffee nicht hier an. Dafür wissen wir aber ganz genau, woher er kommt.» Es musste schon zehn Jahre her sein, dass Oma sie mit nach Kolumbien genommen hatte. Damals hatte Dina ihre erste Verhandlung geführt, und zwar mit dem Leiter der Plantage, der nicht leicht davon zu überzeugen gewesen war, auf die Beschwerden der Arbeiter einzugehen.

Rudolpho brachte Dinas Kaffee und stellte einen großen Teller vor Jodie ab, auf dem sich frische Waffeln, Eis und heiße Kirschen zusammendrängten.

«Ja», sage Jodie nach eingehender Betrachtung. «Das kann ich wohl als Entschädigung für den geringen Kuchenanteil gelten lassen.» Sie schnitt ein Stück aus der obersten Waffel und tunkte es tief in die Kirschen. «Was bietest du mir als Lösung für das Kaffeedilemma an?»

«Die Lösung liegt vor dir.» Dina deutete auf den Tisch. «Wir sitzen hier und trinken Kaffee. Ich hab sogar schon einen Schritt weiter gedacht.» Aus der Bauchtasche des Hoodies holte sie die Museumsbroschüren, die in ihre nähere Auswahl gekommen waren. «Falls dich was hiervon anspricht, können wir vielleicht zusammen hingehen.»

Beim Essen überflog Jodie das Angebot und schob schließlich einen zu Dina zurück. Theaterkonzepte, genau das, worauf sie gehofft hatte. Sie räumte den Rest wieder zusammen. Einiges davon würde sie hoffentlich später ebenfalls besuchen können.

«Wie würde dir Mittwoch passen? Wir können danach auch noch essen gehen.» Das wäre der ideale Geburtstag, Kulturprogramm mit einer schönen Frau und abends zu Giovanni. Wenn sie es richtig anstellte, würde Jodie nicht einmal merken, welchen Tag sie erwischt hatte. Sie kannten sich noch nicht genug, als dass sie auch nur denken sollte, Dina würde ein Geschenk erwarten.

«Das kann ich dir morgen sagen, ist das okay? Dann weiß ich, ob meine Kollegin mit mir die Schicht tauscht. Bisher ging es immer gut, aber ich geh lieber auf Nummer sicher.» Sie lächelte entschuldigend, dabei war das gar nicht nötig.

Das Toastergeräusch aus Dinas Hosentasche ließ sie wieder einen kleinen Satz auf dem Stuhl machen. Sie schaute sich zur Küche um, obwohl die in entgegengesetzter Richtung zur Quelle des Geräusch lag. Erst, als Dina auf ihre Tasche klopfte, atmete sie auf. Zum Glück kamen nicht so oft Nachrichten rein.

«Willst du nicht nachsehen?»

«Später. Du kannst es nicht sein, die Familie sitzt versammelt da drüben.» Zumindest der Teil, der an dieses Handy schreiben würde. «Der Rest kann warten.» Sie vermutete Grover, der etwas zur Planung des gemeinsamen Geburtstags wissen wollte. Seiner war am Freitag und schon seit der Schule feierten sie immer zusammen.

Jodie lächelte und versuchte, sich hinter dem Kaffeebecher zu verstecken. Dina sah trotzdem, wie sie rot wurde.

 

Flughäfen gehörten seit ihrer Kindheit zu Dinas liebsten Orten auf der Welt. Immer wieder aufs Neue spürte sie die Aufregung, die sie vor ihrer ersten Reise nach Rom gepackt hatte. Die war so lang her, dass Vincenzo nicht einmal dabei gewesen war. Auf dem Hinflug zumindest nicht, wie ihre Mutter jedes Jahr zu seinem Geburtstag schmunzelnd erzählt hatte.

An Flughäfen gab es immer etwas Interessantes zu sehen, egal ob der Betrieb erst langsam erwachte und die ersten Maschinen des Tages an ihren Platz gebracht wurden, oder ob man mitten im Trubel stand. Es waren Orte, ganz abgeschnitten vom Rest der Welt, nur miteinander verbunden. Egal, wo man sich befand, es war immer in gewissem Sinne gleich: Herden an Geschäftsleuten, die sich wichtig nahmen, Familien, die eilig zum Gate hasteten, und die, die sich voller Begeisterung auf ihren Urlaub freuten.

Am besten war die Ankunftshalle. Hier fielen die Leute sich zu jeder Zeit in die Arme und zu Weihnachten besonders herzlich.

Cousine Bernadette machte gern aus allem eine Show, deren Hauptdarstellerin sie selbst war. Die Menge, die sich um sie herum teilte, war die Kulisse, der Fliesenboden ihr Laufsteg, Dina, Oma und Luigi ihr Publikum. Den Koffer in der einen, den Mantel in der anderen Hand stolzierte sie auf die drei vor und nahm sie in die Arme. Für den Moment gab es nur krause, dunkle Locken und Kardamonduft.

«Moi ist wieder im Lande», nuschelte sie in Luigis Halsbeuge. «Und der Koffer ist voller Geschenke.» Das konnte sie mit Recht behaupten. Schon immer hatten sie einen voll bestückten Kleiderschrank in Omas Haus gehabt, dessen Inhalt sie über die Besuche hinweg sporadisch wechselte. Dadurch blieb genug Platz für Bücher und Malutensilien und theoretisch sogar das seltsame Stofftier namens Munkus, das auf ihrer Schulter lag und alle grimmig anguckte. Ein bisschen sah es aus, als hätte jemand einen Gargoyle zu einem Archaeopteryx ummodelliert.

Zusammen mit dem Inhalt ihrer monströsen Handtasche deckte all das ihren halben Hausstand ab.

«Hast du gegessen?», fragte Oma, die sich vorsichtig aus dem Knäuel löste, um sie von oben bis unten betrachten zu können. «Du warst so lang unterwegs und die haben doch im Flugzeug nichts Vernünftiges anzubieten. Wohin möchtest du?»

«An die frische Luft, vor allem. Wie ist das Wetter, sollte ich etwas überziehen?»

«Den Mantel würde ich dir schon empfehlen.» Luigi schüttelte sich und damit auch Dina und Bernadette. «Sind zwar nur minus fünf Grad, aber der Wind ist eisig.»

«Im Gegensatz zu den französischen Alpen ist das ja fast sommerlich. Aber gut, damit ich das Ding nicht umsonst eingepackt habe. Danke, du bist ein Schatz.» Sie lächelte Dina an, die ihr Munkus und den Koffer abnahm, dann Luigi, der ihr in den Mantel half.

Dina legte das Stofftier auf ihren Unterarm, ein Platz, der wie für es gemacht erschien. Vor ein paar Jahren hatte Bernadette den kleinen Kerl plötzlich mitgebracht. Er sah nach Marke Eigenbau aus, aber auf Fragen zu seiner Entstehungsgeschichte antwortete sie immer nur, er sei ihr ins Gesicht geklatscht. Seitdem war er eben ihr ständiger Begleiter.

Mit flinken Fingern schloss sie die Knopfleiste des Mantels. Wadenlang, schwarz und mit silbernem Besatz. Offen flatterte er wahrscheinlich episch im Wind.

«Es wäre aber auch nicht verkehrt, eine Kleinigkeit zu essen, was sagt ihr?» Sie streckte eine Hand nach Dina aus, die ihr jedoch nur Munkus zurückgab und ihr einen Arm anbot, anstatt sie den Koffer selbst tragen zu lassen. Augenrollend hakte sie sich bei ihr ein, auf der anderen Seite bei Oma.

«Dann würde ich vorschlagen, dass wir zum Park fahren.» Luigi ging voraus, breitete die Arme aus, als befehle er damit den Türflügeln, sich zu öffnen. «Das ist ein netter Spaziergang zu Rachel. Sie hat diese Woche so leckere Gemüsepfanne im Angebot.»

«Vorzügliche Idee.» Bernadette tat einen tiefen Atemzug, als sie ins Freie trat. «Hach, fühlt sich gut an, mal wieder hier zu sein.»

«Ist auch sehr schön, dich wieder hier zu haben.» Oma tätschelte ihren Arm. «In diesem Jahr ist das Zimmer, wo du sonst schläfst, belegt. Beatrice und ihre Kinder wohnen für eine Weile bei uns. Aber wir haben dir das Klavierzimmer zurechtgemacht.»

«Oh, dann kann moi euch ja die ganze Nacht mit schiefen Tönen wach halten!» Sie kicherte.

«Die Hunde werden begeistert sein.» Luigi öffnete den beiden Damen die Türen von Omas altem Mercedes und die Kofferraumklappe, damit Dina das Gepäck verstauen konnte. «Sie können dich ja mit Gesang begleiten.»

«Vielleicht auch lieber nicht.« Bernadette raffte ihren Mantel und rutschte in den Wagen. Oma ließ sich von Luigi hinein helfen. Dina nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Das war sie so gar nicht gewohnt. Die Straße sah von hier vollkommen anders aus. Seltsamer war es nur gewesen, als Andy einmal mit dem Toyota hatte fahren wollen.

Während der Fahrt brachten Oma und Cousine Bernadette sich gegenseitig auf den neuesten Stand, wie es hier und drüben in Frankreich lief. Dort versorgte Bernadettes Bäckerei ein ganzes Stadtviertel von Lyon im Alleingang mit Baguette und Croissants.

«Was hast du denn zu deinem Geburtstag vor, Dina?», fragte sie, als sie auf dem Parkplatz des Zoos ausstiegen. Von hier war es eine angenehme kurze Strecke durch den Stadtpark zum Serviervorschlag.

«In der Kunsthalle zeigen sie gerade Theaterrequisiten und Konzepte. Mit allem drum und dran, das wollte ich mir ansehen. Möchtest du mitkommen?», fragte sie ganz selbstverständlich. Dabei würde Jodie es vielleicht falsch verstehen, wenn sie nicht allein zu einem Date kam. Aber Bernadette liebte Skizzen und Kostüme, ganz zu schweigen von all dem Zusatzmaterial. Die Gelegenheit für eine gemeinsame Unternehmung war perfekt, weil Dinas Geburtstag der einzige Tag im Jahr war, an dem sie wirklich frei und Zeit für sich hatte. Damit da etwas dazwischenkam, musste die Luft schon echt brennen.

«Aber wolltest du nicht mit Jodie gehen?», fragte Luigi, der mit Oma ein Stück hinter den beiden ging.

«Wir gehen doch danach noch zusammen essen, allein», gab sie zurück. «Ich werde sie vorher einfach fragen.»

Zuerst hob Bernadette fragend die Brauen, schien sich den Kern der Sache dann aber selbst zusammenreimen zu können. «Oh, keine Sorge. Ihr werdet gar nicht merken, dass moi da ist, durch die Gänge wandelt, gegen das Bedürfnis ankämpft, dieses oder jenes Kostüm zu stibitzen. Ihr habt euch. Moi wird euch sogar einladen, wenn du möchtest.»

«Ich darf nicht hoffen, dass du dafür auf ein anderes Geschenk verzichtest?» Jedes Jahr versuchte sie, ihr die Schenkerei auszureden, nie hatte sie bisher damit Erfolg gehabt.

«Auf keinen Fall!», bestätigte sie Dinas Befürchtung grinsend. Sie übertrieb einfach zu gern. Einmal hatte kommentarlos ein gigantischer Karton vor Omas Tür gestanden, darin ein relaxoförmiger Sitzsack. Anfangs hatten Dina und Vincenzo zusammen darauf Platz gehabt, sich später darum gestritten, und nun lag er in Dinas Wohnung und wurde von Andy in Beschlag genommen, wann immer die zu Besuch war. Mit diesem Kaliber musste sie dieses Jahr hoffentlich nicht rechnen.

 

Am Nachmittag, nachdem sie die Kinder aus der Schule geholt und nach Hause gebracht hatte, beschloss Dina, den Rest des Tages in der Filiale an der Highschool zu verbringen. Gerade stand sie dort vor der Tür, als sie eine SMS bekam.

Beschwerde: Ich bin hier und du nicht.

Sie huschte hinein, um nicht länger im Weg zu stehen. Während der Schultage bestand die Kundschaft hier hauptsächlich aus ein paar Lehrern und Schulkids, die Hausaufgaben machten und lernten oder sich einfach die Zeit vertrieben. Dazwischen war Jodie leicht auszumachen, die mit einer Sporttasche zu ihren Füßen ganz in der Nähe des Eingangs saß und sie im selben Moment sah.

Mit ausgebreiteten Armen ging Dina zu ihr. «Auch diese Beschwerde hat sich erledigt, nehme ich an?»

«Wie immer sofort.» Jodie umarmte sie flüchtig und noch mal etwas länger, nachdem sie die kalte Jacke ausgezogen hatte. «Nervt es dich, mit den Beschwerden?»

«Bisher nicht.» Dina rutschte neben Jodie auf die Bank und warf ihre Jacke über einen Stuhl, bevor sie die Arme auf der Rückenlehne ausbreitete. «So lang du Spaß dran hast.»

Erleichtert lehnte Jodie sich zurück und ließ die Berührung zu. «Sag aber, wenn es so weit ist, okay? Wenn mir nicht vorher die Ideen ausgehen. Bisher passte es immer so gut, auch wenn ich dich auch gern einfach so sehe, ohne Grund … Oh, ich fasele schon wieder. Was ich eigentlich nur sagen wollte, ja, ich habe am Mittwoch den ganzen Nachmittag und Abend Zeit für dich, aber dafür morgen nicht. Wegen des Treffpunkts und des Zeitraums ruf ich dich aber morgen noch mal an. Wohin gehen wir denn essen?»

«Wäre doch langweilig, wenn du schon alles wüsstest.»

 

Dinas Geburtstag begann mit Oma, die Punkt Mitternacht an ihre Zimmertür klopfte und ihr mit vielen lieben Worten gratulierte. Normalerweise wurde sie immer von Leonardo und Vincenzo begleitet, die ja leider verhindert waren. Um drei Uhr morgens wurde sie von einer Nachricht aus dem Schlaf gerissen. Daran hing ein Foto von Andy, Grover und Gwen, auf dem sie ihr die Zunge herausstreckten und eine große Torte in den Händen hielten. Auf dich! Die essen wir heute allein, du bekommst am Freitag deine eigene. Genieß die 29, ehe du auch eine langweilige Erwachsene wirst.

Um fünf Uhr morgen war an Schlaf nicht mehr zu denken. Wie lang war Dina nicht mehr so aufgeregt gewesen, nur wegen ihres Geburtstags? Das hatte noch vor dem Tod ihrer Eltern aufgehört. Aber gerade fiel es ihr ausgesprochen schwer, stillzuhalten. Ihr Bauch, ihr ganzer Körper schien von einem Ameisenvolk regiert zu werden, das genauso überdreht war wie sie selbst.

Um sieben lag sie nach einer sehr ausgiebigen Einheit Frühsport quer auf ihrem Bett ausgebreitet. Das Kunststoffauge eines Plüschhunds drückte gegen ihre Rippen. Sie wartete auf die Kinder. Nur ungern wollte sie im Bad von ihnen heimgesucht werden, doch genau das würde passieren, wenn sie Dina hier nicht fanden. Alles vorgekommen.

Dabei war es ja der beste Moment eines Tages, der nur aus guten Momenten bestehen sollte, als die Tür aufgerissen wurde und zwei schreiende kleine Menschen hereingestürmt kamen. «Dina! Dina, Dina, Dina, DINA!»

Sie hatte nur Zeit, sich auf die Ellenbogen aufzurichten, bevor die beiden links und rechts von ihr auf die Matratze sprangen. «Buon giorno, mi amici. Könnt es wohl gar nicht erwarten, in die Schule zu kommen?»

«Nicht ablenken!» Sofia setzte ihr eine Papierkrone auf den Kopf und nahm ihre eine Hand, Antonio die andere. «Du musst mitkommen! Los, raus aus den Federn!» Sie übersahen großzügig, dass Dina im Gegensatz zu ihnen schon angezogen war, und versuchten gemeinsam, sie auf die Beine zu holen. Stattdessen zog sie die beiden nach unten und drückte sie fest an sich.

«Alles Gute!», riefen sie etwas zu nah an ihren Ohren, entschädigten sie aber mit je einem kleinen Wangenküsschen. «Du musst aber trotzdem aufstehen», erklärte Antonio. «Mama hat Frühstück gemacht.»

Seufzend rutschte Dina vom Bett, ohne die Kinder loszulassen, und trug sie nach unten in die Küche. Ihr Geburtstag und der von Beatrice waren immerhin die einzigen Tage im Jahr, an denen zwischen ihnen wirklich Frieden herrschte. Davon wollte sie so viel wie möglich genießen.

Cousine Bernadette ging nicht ohne Notizbuch und Federmäppchen aus dem Haus, beides immer griffbereit separat in ihrer Handtasche untergebracht. Munkus lag obenauf in einer Kuhle, die von Gewohnheit zeugte, und Dina hätte meinen könnte, er nagte an den Trägern.

«Dürfte ich dich um etwas bitten?», fragte Dina unterwegs im Auto. Sie wollten sich vor dem Museum mit Jodie treffen. Obwohl sie das Tempolimit wie immer voll ausreizte, kam es ihr vor, als kämen sie überhaupt nicht voran.

«Alles, was in mois Macht liegt.» Cousine Bernadette lächelte schelmisch. «Also alles.»

«Jodie muss nicht erfahren, dass heute mein Geburtstag ist. Sonst ärgert sie sich, dass sie kein Geschenk hat oder so. Aber sie soll sich nicht ärgern. Verstehst du?»

Mit ernstem Gesicht zog Bernadette einen imaginären Reißverschluss zwischen ihren Lippen zu, knipste den Schiebegriff ab und schob es sich in den Ausschnitt.

 

Dina entdeckte Jodie mit hellem Wollkleid über schwarzem Pullover und Leggings im Museumsshop, gab aber zuerst ihre und Bernadettes Sachen an der Garderobe ab. Mit nichts als ihrem Telefon zur Hand trat sie neben Jodie und kam nicht umhin, die leichte Spur blumigen Parfüms zu registrieren. Sie hatte sich einen französischen Zopf geflochten, der durch die dunklen und hellen Haarsträhnen marmoriert wirkte und bis zu den Ellenbogen fiel. Bisher hatte sie die Haare immer unter der Mütze verborgen gehabt, zu Noahs Geburtstag waren sie zu einem lockeren Dutt gebunden gewesen. Die Stirnfransen fielen ihr bis zum Kinn. Sie trug Stiefel mit nicht zu verachtenden Absätzen, was sie etwas näher an Dinas Augenhöhe heran brachte. Langsam und konzentriert blätterte sie im Ausstellungskatalog. Irgendetwas hatte die Bewegung, mit der sie an der einen oder anderen Seite entlang strich, an sich, das Dina einen Moment schweigend neben ihr ausharren ließ.

«Wartest du schon lang?»

Jodie fuhr zusammen und wich ein Stück zur Seite aus. Wie ein aufgeschrecktes Kaninchen sah sie zu Dina hoch. «Nicht zu lang. Aber schleichst du dich eigentlich immer so an die Leute an?»

«Kommt vor.» Genau genommen passierte es meist einfach, ohne dass sie es darauf anlegte. «Wenn dich der Katalog aber schon so einnimmt, werden die Originale dir bestimmt gefallen. Sieht gut aus.» Dabei schaute sie in Jodies Gesicht, hatte die Seite mit den Stoffproben und der Szenenskizze nur beiläufig wahrgenommen.

«Es ist wunderschön», befand Jodie und schlug den dicken Band behutsam zu, ohne noch einen Blick darauf zu werfen. «Ausgezeichnete Idee, herzukommen. Wo ist denn deine Cousine?»

«Schon zur Stelle!», tönte es von der Kasse aus, so laut, dass es gerade eben nicht als Ruhestörung galt. Bernadette kam mit zwei hoch erhobenen Eintrittskarten auf sie zu und hielt sich dabei mit eisernem Willen davon ab, nach links oder rechts zu schauen. «Jetzt husch, ihr Lieben, genießt die Kunst! Moi geht ihre eigenen Wege. Am Schluss treffen wir uns wieder hier und vielleicht schafft moi es sogar, nicht alles zu kaufen.» Sie kicherte, als wäre die Wahrscheinlichkeit dafür gleich null, uns ging mit wiegenden Hüften zum Start des Rundgangs.

Leicht verdutzt sah Jodie auf das Ticket in ihrer Hand und hinter Bernadette her, dann schließlich in Dinas Gesicht. «Danke … Aber das wäre doch nicht nötig gewesen.»

«Nein, aber es ist passiert. Komm schon, wenn wir uns zu viel Zeit lassen, räumt sie wirklich den Laden aus.» Dina bot ihr einen Arm zum Einhaken an.

 

Dina gefiel, wie die Kostüme von Aufführungen, die sie selbst gesehen hatte, die Erinnerungen an die jeweiligen Abende hervorriefen. Hauptsächlich war sie aber wegen des Prozesses hier. Sie liebte es, wenn sie eine Idee von der Entstehung bis zur Ausführung verfolgen konnte. Wenn Bernadette da war, ergab sich immer mindestens ein Abend, an dem sie mit im Billardzimmer saß, wenn die Truppe Pool oder Karten spielte. Dann gab Dina ihr den Ansatz vor und am Ende würde daraus ein Bild geworden sein.

Jodie genoss es anscheinend genauso sehr wie sie. Von einigen Szenenbildern konnte sie sich kaum losreißen, andere stammten aus Stücken, die sie gern noch sehen wollte. Dina notierte sie sich im Geiste.

Es fiel Dina schwer, sich ganz auf die Ausstellung zu konzentrieren, vor allem dann, wenn Jodie ihre Hand nahm, um ihr etwas zu zeigen, das ihr besonders gut gefiel oder zu dem sie anderweitig einen Kommentar abzugeben hatte. Irgendwann zwischendrin hörten sie auf, einander loszulassen.

Aus Gewohnheit behielt sie aber auch immer ein Auge auf Cousine Bernadette. Das war nicht schwer, sie stand lange vor den einzelnen Stücken, las die Erklärungstexte und zeichnete dies und das routiniert in ihr Skizzenbüchlein. War sie unterwegs, untermalte das Rascheln ihrer weiten Hosen das Schweigen. Wenn sie so weitermachte, hatte sie bald ihren eigenen Katalog. Vielleicht war genau das sogar ihr Ziel.

Trotzdem ging sie am Ende noch einmal in den Shop und kam glücklich wieder heraus, den offiziellen an die Brust gedrückt. «Das war wundervoll, meine Lieben, findet ihr nicht? Und weil das moi ohne euch entgangen wäre, hier ein Vorschlag: eine Zeichnung von euch in diesem reizenden Theaterskizzenstil. Was haltet ihr davon?»

«Unbedingt», sagte Dina sofort.

Jodie wurde rot und strich sich über die Haare. «Sehr gern, wenn Sie das für uns tun würden …» Sie legte sich den Zopf über die Schulter und lehnte sich an Dina. «Wie hätten wir es denn gern?»

Dina legte ihr einen Arm um die Schultern und sah ihr in die Augen. So ohne jegliche Distanz zwischen ihnen musste Jodie doch ihr klopfendes Herz spüren. Die Nähe fühlte sich an wie die Zufriedenheit nach einer heißen Schokolade an einem kalten Tag.

Jodie legte einen Arm um Dinas Hüften und schob ihr den Daumen in die Gürtelschlaufe. «Heute siehst du eher nach einem echten Gentleman aus als nach einem Mafioso», flüsterte sie.

Bernadette kicherte und kramte ausführlicher als nötig in ihrer Tasche. «Perfekt!», kommentierte sie über den gezückten Skizzenblock hinweg. «Moi wirft nur eine flinke Skizze hin, ausgearbeitet wird daheim in Ruhe. Bleibt so. Aber dafür braucht ihr keine Aufforderung, nicht wahr?» Schmunzelnd ließ sie den Blick zwischen den beiden Frauen und dem Papier hin und her springen. Ihr Bleistift kratzte unablässig über das Papier.

 

Maria war gekommen, um Bernadette abzuholen, damit Dina den Rest des Abends ganz entspannt verbringen konnte. Nicht, dass diese Frau wehrlos war, im Gegenteil, doch außerhalb ihres gewohnten Viertels, abseits der routinierten Wege, war ihr Orientierungssinn quasi nicht vorhanden.

«Ich hoffe, du magst Italienisch», sagte Dina, als sie auf Giovannis Parkplatz einbog. Zwar ging sie nie ohne Plan B aus dem Haus und auch Plan C bis H ließen sich leicht auftreiben, doch Giovanni war immer ihre erste Wahl. Bei ihm wurde noch nach den traditionellen Rezepten gekocht, nicht nach den von amerikanischen Geschmacksverirrungen verwaschenen. Außerdem war er ein guter Freund der Familie.

«Ich esse viel zu selten Italienisch …» Jodie sah nach draußen auf die Neonreklame. «Und dann auch noch in so einem teuren Restaurant, das kann ich mir doch gar nicht leisten.» Unsicher verharrte ihre Hand auf dem Gurt.

«Darüber machst du dir heute Abend keine Gedanken.» Dina stieg aus und ging um den Wagen, um ihr die Tür aufzuhalten. «Lass mich dich einladen.»

«Womit hab ich das denn alles verdient?» Jodie stieg aus, blieb ganz dicht vor Dina stehen und richtete ihr Kleid. «Wurde mein Geburtstag umdatiert und niemand hat mir was davon gesagt?»

So ähnlich, hätte Dina fast gesagt. Doch sie kannte sich mit Geheimnissen aus und da war jede Andeutung eine zu viel.

 

Ohne Reservierung zu Giovanni zu gehen, war aussichtslos. Selbst unter der Woche waren in der Regel alle Tische belegt, wenn man nicht pünktlich zur Öffnungszeit auf der Matte stand. Auch an diesem Abend war es voll. Stimmengewirr und der Duft von Kerzen und feinsten Speisen erfüllten die Luft.

Giovanni stand am Pult mit dem Kalender nahe des Eingangs und sah auf, als er die Tür hörte. Der Ausdruck routinierten Bedauerns, mit dem er die Neuankömmlinge ob der wenig vielversprechenden Lage abweisen wollte, wich einem breiten Lächeln, als er sie erkannte. «Dina! Was für eine Überraschung, ich hatte doch erst am Samstag mit euch gerechnet! Wie geht es Ariana?»

«Ausgezeichnet», antwortete Dina und umarmte ihn flüchtig. «Bis auf die Kälte, die ihren Knochen zu schaffen macht.»

«Das Alter verschont niemanden.» Er deutete auf den Gehstock, der am Pult lehnte und den er seit einigen Jahren benötigte, wenn er vor die Tür ging. «Dann wollen wir doch mal sehen, ob wir für dich und die junge Dame noch einen Tisch finden. Wenn die Damen einen Moment Geduld haben …» Sein Lächeln streifte Jodie, während er sich abwandte und sich zwischen den Tischen durch den Raum schlängelte.

«Ich weiß nicht», flüsterte Jodie ihr zu. «Sieht nicht aus, als hätten wir viele Chancen.»

«Nur keine Sorge, meine Liebe.» Dina half ihr aus dem Mantel und wurde auch ihre eigene Jacke los. «Ein Tisch für zwei findet sich immer noch irgendwo.»

Giovanni erwies perfektes Timing, als er sie genau in diesem Moment mit großer Geste zu sich heranwinkte. Dina nahm Jodies Hand und führte sie vorbei an zwei jungen Leuten mit leicht angesäuerten Mienen, zu ihrem Stammplatz.

«Filipe!», rief Giovanni zur Bar hinüber. «Deck den Tisch für Valentina neu!»

Sofort kam der Angesprochene mit frischer Tischdecke und glänzendem Besteck herbeigeeilt. Mit geübter Hand richtete er alles her, bevor er sich mit der alten Garnitur wieder davonmachte.

Giovanni zog ihnen beiden die Stühle zurück und nahm Dina die Jacken ab. «Macht es euch gemütlich. Habt ihr schon einen Wunsch?»

«Einen Kaffee. Du weißt, wie ich ihn mag.» Sie sah Jodie an, die aber nur den Kopf schüttelte. Irgendetwas hatte sie auf dem Herzen.

«Uno momento.» Er zog sich zurück.

Jodie sah ihm nachdenklich hinterher. «War das wirklich nötig, die Leute von ihrem Platz zu vertreiben?»

«Ist es nötig, hier ewig sitzen zu bleiben, wo man schon lange mit dem Essen fertig ist? Alle wissen, wie gefragt der Laden ist.»

Jodie sah aus, als wollte sie darauf etwas erwidern, doch ihr kam Elena dazwischen, Giovannis Tochter, die Dina ihren Kaffee hinstellte. «Der geht aufs Haus», sagte sie mit einem warmen Lächeln. «Als kleines Geburtstagsgeschenk.»

Dina ließ sich im Stuhl zurücksinken, und wandte den Blick kurz zur Decke, fing sich aber gleich wieder und nahm lächelnd die Speisekarte entgegen. Damit war die Katze also aus dem Sack. Daran, dem Personal hier zu Bescheid zu sagen, hatte sie natürlich nicht gedacht. Irgendwas war immer.

Jodie, ganz das liebe Herz, das sie war, wartete, bis Elena weg war, bevor sie Dina ungläubig ansah. «Du hast Geburtstag und das hat mir niemand gesagt? Ich hätte dir doch ein Geschenk mitgebracht!»

«Genau darum nicht.» Vorsichtig schob Dina die Finger in Jodies Hände, die verkrampft auf der aufgeschlagenen Karte lagen. «Du solltest dich nicht zu irgendetwas verpflichtet fühlen. Einfach nur einen Tag mit dir genießen, mehr wollte ich nicht. Und da sind wir ja noch mitten dabei.» Langsam hob sie Jodies Hände an und hauchte ihr zur Entschuldigung einen Kuss auf die Knöchel.

Jodie streckte ihr nur die Zunge heraus. «So leicht kommst du mir nicht davon», murmelte sie. «Aber okay, lass uns doch mal sehen. Kannst du mir etwas empfehlen?»

«Kommt ganz drauf an, ob du Pizza oder Pasta magst. Oder was ganz anderes? Was hältst du von Wein?»

«Zu einem Gläschen sag ich nicht nein.» Sie ließ Dinas eine Hand los, damit sie blättern konnte. Ihr Blick glitt über die Seiten und blieb sichtlich erzwungen von der Preisspalte fern. «Ich glaube, ich nehme Pasta. Pizza bestellen wir ständig.»

Dina nahm einen Schluck Kaffee, um sich einen Kommentar zu den Pizzen zu verkneifen, die man bei den meisten Lieferdiensten der Stadt so bekam. Lieber sah sie Jodie zu, betrachtete ihre dunklen Wimpern. «Wenn du gern scharf isst, dann nimm die Spaghetti Arrabiata. Falls nicht und du Fisch magst sind die Tagliatelle al salmone genau dein Ding.»

«Scharf? Nur, wenn du mich weinen sehen willst. Aber Lachs find ich gut. Die Tagliatelle sollen es sein.» Zufrieden schlug sie die Karte wieder zu und schob die Hand in Dinas.

«Dann nehm ich eine Pizza und wenn du möchtest, können wir auch teilen.»

«Oh, ja!» Jodie richtete sich im Sitzen auf und lehnte sich ihr entgegen. «Du teilst auch immer mit den Kindern, kann das sein?»

«In meiner gesamten Familie bedeuten Portionen nichts», antwortete Dina ernst. «Wir bestellen alle was anderes, bedienen uns querbeet und sind am Ende satt und glücklich.» Auch das war ein Grund, warum Andy in der Familie niemals langfristig funktioniert hätte. Andy verteidigte ihr Essen bis aufs Blut.

«Gutes Konzept», befand Jodie anerkennend. «Vielleicht schlag ich das Noah auch mal vor. Eine ganze Weile hab ich ja ganz gut davon gelebt, was sie so übrig gelassen hat, aber das wurde mit der Zeit irgendwie immer weniger.»

Dina nickte. Ganz ähnlich war es ihrem Bruder mit seinen Kindern ja auch gegangen.

«Darf ich dich außerdem um etwas bitten? Würde es dir etwas ausmachen, für mich zu bestellen? Ich höre es furchtbar gern, wenn du Italienisch sprichst.» Ihr Daumen strich über Dinas Knöchel. «Auch wenn ich kein Wort verstehe.»

Diese Bemerkung und die Berührung ließen in ihrem Bauch einen entfernten Verwandten von Munkus wüten, der sich auch mit Kaffee nicht zufriedenstellen ließ. «Wenn das dein Wunsch ist, schöne Frau.»

Ein paar Worte musste sie doch verstehen, denn sie wurde rot. «Vielen Dank.»

Auch Elena beherrschte ihr Timing und stellte ein Tablett mit einer Wasserkaraffe und zwei Gläsern in die Mitte des Tischs. «Was darf es denn sein, ihr zwei?»

«Für die Dame die Tagliatelle al salmone und ich nehme die Pizza al quattro stagione. Dazu einen guten Wein. Überrasch mich.»

Lächelnd schob Elena sich den Stift in den Dutt und setzte ihre Runde um die Tische fort.

Jodie seufzte glücklich und Dina gefiel es unverhältnismäßig gut, dass sie sich über solche Kleinigkeiten freute. «Komm mal mit, ich muss dir was zeigen.» Sie stand auf und zog Jodie sanft mit sich. «So sah es hier aus, bevor Giovanni den Laden vor ein paar Jahren übernommen hat. War richtig runtergekommen.» An der Wand neben der Theke hingen Fotos von der Toskana, von Giovannis Eltern und eine kleine Strecke von der Übernahme bis zur Eröffnung.

«Da hat sich ja richtig viel getan.» Bewundernd schaute sie sich im Raum um und beugte sich dann nach vorn, um die alten Aufnahmen genau betrachten zu können. «Aber sag mal, bist du das?» Sie lehnte sich wieder zurück und wandte sich dann halb Dina zu, um zu vergleichen, was sie sah.

Über den Unglauben in ihrer Stimme musste Dina lachen. «Gut erkannt, das bin ich.» Die kleine Dina, lang und schmal, mitten in der Pubertät und im Trauerjahr. Ein halbes Leben her. «Oma und Giovanni waren schon daheim in Italien liebe Freunde. Sie hat ihm geholfen, hier alles herzurichten.» Nicht nur hatte sie ihm finanziell unter die Arme gegriffen, sie hatten auch für gute Konditionen gesorgt, indem sie anhand des Vorbesitzers ein Exempel für all jene statuiert hatten, die es für eine gute Idee hielten, sich mit der Familie anzulegen.

«Bist du eigentlich in den Staaten geboren oder in Italien?», fragte Jodie. «Also, wenn es dir zu persönlich ist, musst du es nicht sagen.»

Die Frage war Dina lieber als eine über das Kleid, Omas Schleier oder wo ihre Eltern waren. «In den Staaten. Hier, im katholischen Krankenhaus. Mein Vater auch. Omas Eltern sind noch in der Diktatur aus Italien eingewandert und sie ist praktisch hier aufgewachsen. Aber sie war schon immer viel in Italien, mein Vater hat meine Mutter auch in Rom kennen gelernt. Wir sind immer noch jedes Jahr mindestens sechs Wochen in Ligurien. Es ist daheim, weil es für Oma daheim ist.»

«Ich bin schon ewig nicht mehr aus der Stadt rausgekommen …» Jodies Blick hing an einem Foto, das einen felsigen Strandabschnitt zeigte. «Meine Großeltern kommen aus Toronto und wir waren oft dort, als ich noch klein war.»

«Du bist ja noch jung, es gibt sicher genug Gelegenheit für dich …» Sie verstummte, als Jodie erstarrte und sich an die Hosentasche griff. Im nächsten Moment klingelte ihr Telefon. Das Lied war aus dem Digimonsoundtrack.

«Entschuldige, das ist Noah. Da muss ich rangehen.»

«Kein Ding. Da hinten bei den Toiletten ist ein Wickelraum, da hast du deine Ruhe.» Dina strich ihr über den Rücken und behielt sie im Auge, bis sie um die Ecke verschwunden war.

Elena hatte ihr gerade den zweiten Kaffee gebracht, als Jodie schon zurückkam. Noch bevor sie sich setzte, nahm sie einen tiefen Zug aus dem Wasserglas. Dina hob fragend die Brauen.

«Alles gut», stellte Jodie fest und sank auf ihren Stuhl. «Noah war nur tief bestürzt, dass Susan – das ist die Freundin meines Exmanns – die Fritten nicht abgezählt hat. Es ist okay, weil ich vorgeschlagen habe, dass Susan ihre teilt, damit es wieder aufgeht. Noah besteht darauf, dass alles auf dem Teller durch drei teilbar ist.» Ihre Hand fand zurück in Dinas.

«Spaghetti müssen ein Albtraum sein.» Sie konnte sich über so etwas einfach amüsieren, weil solche Probleme an den Eltern hängen blieben. Alles, was Dina hin und wieder zu tun hatte, war irgendwelche Geschichten zu erfinden, um die Kleinen zum Essen zu animieren.

«Da hab ich verhandeln können, dass nur die Fleischbällchen gelten.»

Elena, die gerade mit dem Wein an den Tisch trat, sah sie unauffällig schief an, verkniff sich aber jeden Kommentar. Bei Giovanni war man noch rigoroser was die Amerikanisierung von Rezepten anging, als Dina es von daheim gewohnt war. Oma sah die Dinge nicht so eng, so lang es schmeckte und Knoblauch beinhaltete.

Dina sah streng zu ihr hoch, doch da war sie schon wieder ganz professionell und schenkte ihnen ein.

Während des Essens sprachen sie wenig, weil sie damit beschäftigt waren, zu genießen. Dina genoss neben dem Essen auch die absolute Zufriedenheit in Jodies Gesicht. Am Ende waren beide Teller leer und es dauerte gar nicht lang, bis Filipe abräumte.

«Noch ein Dessert?», bot er an. «Wir haben noch genau zwei Portionen Tiramisu.»

«Die nehmen wir», sagte Dina sofort und Filipes Grinsen beseitigte jeden Zweifel, dass er diese Antwort erstens erwartet hatte und diese Portionen nur deswegen noch da waren. Selbst wenn Jodie keines davon wollte, Dina schon. Für eines oder zwei Desserts war schließlich immer noch Platz.

«Ich lebe für Tiramisu!» Jodie nahm Dinas Hände, kaum dass der Tisch wieder etwas freier war. Jedes Mal aufs Neue löste ihre Berührung eine kleine Hitzewelle aus, die bis in Dinas Zehenspitzen reichte.

«Ach, ja? Dann musst du mich mal besuchen kommen, dann mach ich dir selbst welches. Das hier ist richtig gut, aber es geht doch nichts über die heimische Küche.»

«Liebend gern.» Jodie spielte beiläufig mit dem Ring an Dinas Daumen. «Aber vielleicht muss ich das auch so und nicht nur wegen des Essens.»

 

Einige Häuser waren auch über Nacht weihnachtlich beleuchtet. Je näher sie dem Haus kamen, in dem Jodie wohnte, desto dunkler wurde es allerdings. Dort angekommen seufzte Jodie tief.

«Dieses Haus und all seine Bewohner sind äußerst hellhörig», erklärte sie mit auf ihre Knie gesenkten Blick. «Ich werde mich jetzt also ganz, ganz leise die Treppe nach oben schleichen und stillschweigend ins Bett verkriechen müssen, wenn ich mich nicht morgen mit etlichen neugierigen Blicken und Fragen konfrontiert sehen will.»

Dina überlegte, ob sie vorschlagen sollte, zu sich zu fahren und ob Jodie sich das vielleicht sogar von ihr erhoffte. Doch in ihrer Wohnung war nichts vorbereitet, sie ging nicht als bewohnt durch. Vielleicht war Jodie auch noch nicht bereit für diesen Grad an Intimität und das würde Dina akzeptieren. Auch wenn sie nichts dagegen hatte, wenn Leute es eilig hatten, so wie Andy, die es wirklich, wirklich eilig gehabt hatte, ließ sie die Dinge gern langsam angehen.

«Es war ein wunderschöner Tag.» Mit sichtlicher Überwindung löste Jodie den Gurt und schob ein Bein unter das andere, um sich Dina zuzuwenden. Allein ihre Haltung machte, dass Dina nichts von der Kälte spürte, die sich langsam das Auto zurückerobern wollte. «Aber eine Beschwerde habe ich noch. Es ist dann wirklich meine letzte.»

«Lass hören.» Dina umfasste die Kopfstütze und beugte sich zu ihr hinüber, um noch etwas von diesem Duft mitnehmen zu können.

«Es ist ja wirklich nicht zu verantworten …» Jodie rutschte noch etwas näher zu ihr und lehnte den Kopf an Dinas Unterarm. «… dass du mich immer noch nicht geküsst hast.»

Wenn doch nur alle Beschwerden, die sie sich in ihrem Leben anhören musste, so leicht aus der Welt zu schaffen wären wie diese. Sie legte die Hand in Jodies Nacken und ließ die letzte Distanz zwischen ihnen verschwinden. Der Kuss schmeckte nach Rotwein und einem Hauch Lippenstift und war so kurz, dass sie sofort den nächsten folgen ließen.

Jodies Hände wanderten an der Knopfleiste von Dinas Hemd hinauf, glitten am Kragen entlang und hielten schließlich ihr Gesicht fest, als fürchteten sie, dass der Moment zu schnell vorbei ging. Dabei konnte er Dinas Meinung nach gar nicht lang genug dauern. Ihr Nacken war da vielleicht anderer Meinung, aber der Rest von ihr wollte gern bis zum Morgen hier sitzen. Dass das Auto in der Zwischenzeit kalt werden würde, war ja nur ein Grund, enger zusammenzurücken. Wäre es nur nicht so eng, dann könnte sie Jodie auf sich ziehen, ohne ein Hupkonzert auszulösen, und sie beide hätten es bequemer.

Jodies Gedanken schienen in eine ähnliche Richtung zu gehen. Sie wand sich unschlüssig im Sitz und zog Dina noch das letzte mögliche Stückchen zu sich heran. Morgen würde ihr alles wehtun, wenn das so weiterging, aber das war es wert.

Irgendwann, es konnte alles zwischen zehn Minuten und einer Stunde vergangen sein, sank Jodie mit der Stirn gegen sie und grummelte etwas in sich hinein. Ihre eine Hand spielte mit Dinas Haaren, die andere öffnete die obersten vier Knöpfe ihres Hemds. Es war eine Wohltat, kühle Freiheit und kühle Finger, die sich unter den Kragen ihrs T-Shirts schoben. Gänsehaut breitete sich auf ihrem ganzen Körper aus, aber die Wirkung ging auch tiefer.

«Weil ich die Schicht getauscht hab, muss ich morgen wirklich richtig früh raus», murmelte Jodie und ließ ihre Fingernägel Kreise über Dinas Haut ziehen.

Mit dem Zeigefinger hob Dina Jodies Kinn an und küsste sie, weil sie davon nichts hören wollte. Das hier sollte nicht enden, bevor es nicht unausweichlich musste.

Jodie schien das ähnlich zu sehen. Der Widerwillen war ihr anzumerken, als sie die Hand zurückzog. «Wir setzen das bei nächster Gelegenheit fort, in Ordnung?»

Dina küsste Jodies Lippen, ihre Wangen, ihre Fingerknöchel, und stieß dabei sanft die Autotür auf. Eisige Luft kroch sofort in den Innenraum. Es kostete sie einige Überwindung, sich von Jodie zu lösen, auch wenn es nur so lang war, wie sie brauchte, um das Auto zu umrunden und ihr die Tür zu öffnen.

Kaum war Jodie aus dem Auto gestiegen, schob sie fröstelnd die Arme unter Dinas Jacke und drückte sie an sich. «Ich sollte jetzt wirklich hoch», nuschelte sie, ohne sich zu bewegen. Im Gegenteil, sie schob die Nase in Dinas offenes Hemd.

Also blieb der schwere Part an ihr hängen. Nicht gleich, vorher wollte sie die Berührung noch etwas auskosten, doch dann hob sie sie hoch, setzte sie auf der Treppe ab und nahm sich vor, dass der Kuss, der nun folgte, der letzte sein sollte.

Natürlich war er es nicht. Noch während Jodie in ihrer Jackentasche nach ihrem Schlüssel fischte, hielt sie Dinas Kinn fest und ihre Lippen kamen nicht voneinander los.

«Am liebsten würde ich ja dafür sorgen, dass wir beide heute Nacht überhaupt keinen Schlaf bekommen.» Dina stieg die Stufen nach oben, wobei sie Jodie sanft zurückdrängte. «Aber ich hab morgen einen langen Tag vor mir.» Zum Jahresende hin besuchte Oma gern noch einmal ihre Geschäftspartner, die freiwilligen wie die unfreiwilligen, und bei diesen Terminen war Dina schon seit guten zehn Jahren fest eingeplant. Momentan könnte ihr Bruder sie ja auch nicht einmal vertreten, wenn er gewollt hätte. Da half alles nichts, auch wenn man aus diesen großen, dunklen Augen angesehen wurde.

«Wir sehen uns», hauchte Jodie, strich ihr federleicht an der Kieferlinie entlang und huschte in den Hausflur.

Dina wandte sich um und setzte sich sofort ans Steuer, um bloß keinem unvernünftigen Impuls nachzugeben. Erst, als sie in Jodies Wohnung das Licht angehen sah, startete sie den Wagen.

Vielleicht achtete sie auf dem Heimweg nicht ganz so penibel auf das Tempo wie sonst. Am liebsten wäre sie gelaufen, um das Adrenalin loszuwerden. Sie wusste nicht, wohin mit sich. Warum hatte sie nicht einfach doch ihre Wohnung vorgeschlagen? Sie wären zu viel miteinander beschäftigt gewesen, als dass Jodie irgendetwas bemerkt hätte.

Aus dem Nichts tauchte der Gedanke auf, zu Andy zu fahren, weil die ganz genau wissen würde, wohin mit sich und ihr. Noch bevor das zu Ende gedacht war, fühlte sie sich mies dafür. Jodie und sie waren über den Punkt hinaus, an dem sie mit Andy darüber sprechen musste, was ab jetzt noch ging und was nicht.

Die Lichter der Stadt verschwanden und hinter dicken Schneeflocken, die vom Himmel fielen, lag nur das Schwarz der Nacht.

Bis aus einer Parkbucht ein Streifenwagen hinter ihr einbog. Dina atmete tief ein und setzte den Blinker. Die zwei Gläser Wein waren nichts gewesen. Wegen so etwas musste sie keine Verfolgungsjagd anzetteln, auch wenn es sie schon ein bisschen reizte. Egal, was dann kam, konnte ihr nur noch den Abend verderben.

Darum spulte sie lieber das Standardprogramm ab: Hände auf zehn nach zwei, niemandem in die Augen schauen und kein Wort sagen.

Im Außenspiegel sah sie eine leider nicht zu verwechselnde hochgewachsene Gestalt auf sich zukommen. Sie schaltete den Motor aus.

Der blendende Schein einer Taschenlampe, den sie erwartet hatte, blieb aus. «Raus aus dem Wagen», forderte die derbe Stimme. Dina entspannte sich. Dass Gale zu Spielchen aufgelegt war, hieß, dass sie sich um den Wein und die Geschwindigkeit keine Sorgen machen musste. Angenehm war die Aussicht dennoch nicht, und wenn sie sich auf diesem Wege an Dina richtete, konnte das nichts Gutes bedeuten.

Sie stieg aus. Gale wich nicht zurück, um ihr Platz zu machen. Obwohl sie ein Strich in der Landschaft war, verstand sie sich darauf, einen gewissen Raum einzunehmen.

«Oh, Dina, ist das ein Angebot?», fragte sie und zupfte an Dinas Hemdkragen.

Kaum ein Mensch außer Gale Crowfield konnte Dina so spielend leicht in Rage versetzen. Das Dumme war, dass das auch noch zu ihren Hobbys gehörte. Es kostete so viel Energie, sich nicht auf ihre Provokationen einzulassen.

«Was wollen Sie von mir, Deputy?», fragte Dina. Sie sah an Gale vorbei ins Nichts und war froh, dass sie heutzutage nur noch sauer wurde und nicht mehr darauf ansprang. Später hätte sie sich dafür gehasst, vor allem nach einem Tag wie diesem.

Gale schaute auf die Uhr, ohne wirklich auf die Zeit zu achten. «Ich will dir nur gratulieren, Dina. Du hattest bis vor einer Stunde Geburtstag. Und zu der Kleinen, die ist ja wirklich süß.» Ihre Hände spielten mit Dinas Hemd, schienen sich nicht entscheiden zu können, ob sie es weiter öffnen oder lieber schließen wollten.

«Willst du so dringend aufs Maul?» Sie nahm Gales Hand, um sie endlich loszuwerden, bevor die Berührung doch noch unwillkommene Dinge mit ihr anstellen konnte. Sie wollte auch nicht, dass Gale über Jodie sprach.

Gale erlaubte sich ein spöttisches Lächeln. «So bist du nicht, Dina, dafür kenne ich dich gut genug. Du organisierst Taxientführungen als Ablenkungsmanöver, aber du würdest mir hier nicht ohne Anlass eine langen. Und du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass ich nur aus purer Nettigkeit hier draußen in der Kälte stehe, anstatt mit einer Tasse heißem Kaffee in einem lauschigen Verhörzimmer zu sitzen.» Ihre Stimme wurde weich, was bei Dina auf der Stelle alle Alarmglocken schrillen ließ. «Du musst nämlich wissen, dass unser Revier am Dienstag auf Betriebausflug geht. Wir waren uns echt lang unsicher, wo wir den Nachmittag verbringen wollten, aber dann hat Callahan gesagt: Hey, warum nicht zu Martelli? Die haben die besten Hörnchen der Stadt! Aber leider hab ich vergessen, für welche Location genau sie sich jetzt entschieden haben. Ist ja auch schön, wenn eine kleine Überraschung dabei ist, oder?»

Dina biss die Zähne zusammen und sank gegen den Rahmen ihres Autos. Sie sah in Gales blassblaue Augen, die nur in den allerwenigsten Momenten etwas anderes als Desinteresse ausdrückten. «Verfickte Scheiße noch mal.»

«Verdammt, ja, ich steh drauf, wenn du dreckig wirst.»

Dina hob die Hand, ehe Gale auch nur dazu ansetzen konnte, sie wieder anzufassen. Es reichte ihr. Die gute Stimmung war restlos verflogen. Die Nacht würde wirklich eine schlaflose sein, aber von der schlechten Sorte. Hätte sie Jodie doch einfach auf der Rückbank … «Sie sind wirklich zu gütig in Ihrer grenzenlosen Hilfsbereitschaft, Lieutenant, aber wenn das jetzt alles ist …»

Gale seufzte theatralisch und schwankte ein wenig, als wollte sie vollkommen erschöpft gegen Dina sinken. Zum Glück ließ sie es. «Ach, Dina, Schätzchen …» Mit einem Anflug echter oder verdammt gut geschauspielerter Nostalgie sah sie nach hinten zu dem Wagen, dessen Blaulicht noch immer in Schüben die Nacht erhellte. «Wann haben wir aufgehört, uns heimlich unter Highwaybrücken zu treffen und uns auf der Motorhaube meines Streifenwagens zu lieben?»

Wie sie das so sagte, klang es beinahe nach einer guten Zeit. Es war auch irgendwie eine gewesen, ein kleines Abenteuer unter ihnen beiden. Damals hatten die Uniform und Gales Art, die Leute mittels ungenierter Unfreundlichkeit auf Distanz zu halten, mächtig Eindruck auf sie gemacht. Dina war an dem Punkt gewesen, an dem sie nicht länger das Kind hatte sein wollen, auf das man Rücksicht nehmen musste. Gale Crowfield nahm auf niemanden Rücksicht.

Dann hatte Oma davon erfahren, weil sie irgendwann alles erfuhr, und daraus war eine Beziehung geworden, von der Dina etwas hatte. Informationen. Zugedrückte Augen. Dina wollte nichts von einer Beziehung haben außer einer Beziehung. Es sollte um die Leute gehen, nicht die Vorteile, die man eventuell aus der Verbindung zu ihnen ziehen konnte. Vielleicht war sie da zu naiv. Vielleicht musste sie froh sein, dass Oma ihr keine gute Partie andrehen wollte. Tante Fernanda würde sich noch aus dem Grab heraus in die privaten Angelegenheiten ihrer Urenkel einmischen, da war Dina sicher.

Mit der Heimlichkeit war auch der Reiz an der ganzen Geschichte verflogen. Dann war Andy in Grovers WG aufgetaucht, wie ein Wirbelsturm in ihre Gedanken geprescht und hatte sofort alles für sich eingenommen. Zurückgelassen hatte sie riesige Unordnung, aber von der guten Sorte.

Zu Gales höchstens für Leute, die sie nicht kannten, überzeugendem erwartungsvollen Blick hob sie nur die Schultern. «Als du anstrengender wurdest, als der Bettel wert war, schätze ich.»

Falls Gale verletzt war, ließ sie es sich nicht anmerken. Dina rechnete allerdings nicht damit. Sie wusste schließlich, dass sie anstrengend war, und zelebrierte es. «Direkt wie eh und je.» Sie wandte sich um und ließ auf dem Weg zum Streifenwagen den Schlüsselbund um den Finger kreisen. «Süße Träume, Liebes. Und leg mir eins von den Hörnchen zurück. Wir sehen uns Dienstag.»

Dina blieb stehen, bis die Rücklichter im Schneetreiben verschwunden waren, und hasste alles. Sie hasste, dass Gale sie immer wieder mit spielerischer Leichtigkeit auf die Palme bringen konnte. Sie hasste, dass die letzte Erinnerung an ihren Geburtstag nicht Jodies Lächeln sein würde, und sie hasste, dass sie Oma am Morgen mit so einer Information wecken musste.

Vielleicht sollte sie doch zu Andy fahren. An Andy konnte sie sich abreagieren. Andy würde dafür sorgen, dass ihr Kopf zumindest bis zum Morgen frei von jeglichen Sorgen war. Frei von allem, um genau zu sein. Vielleicht war auch Jo bei ihr und Dina konnte ihr den Wunsch, den sie immer ausgeschlagen hatte, doch noch erfüllen. Wäre das nicht der ultimative Höhepunkt für eine Nacht wie diese?

Es erschien genau so lang plausibel, bis sie wieder hinter dem Steuer saß und Jodies Parfümduft einatmete. Sie war es doch, zu der sie sich jetzt eigentlich flüchten wollte. Doch es war gerade noch etwas unmöglicher geworden.

Sie saß so lange da und starrte auf den leeren Beifahrersitz, bis sie die Hände wieder in ihrem Nacken zu spüren glaubte, dann noch eine Weile länger, bis sie sich sicher war, dass sie zur richtigen Adresse fahren würde.

Niemals hatte Dina Kaffee so sehr gebraucht wie an diesem Morgen. Die kleine, rote LED und das vielversprechende Brodeln und Zischen der Maschine waren alles, was ihr in der Dunkelheit der Küche Gesellschaft leistete. Das Licht reichte gerade so bis zu ihrer Hand, die abwartend auf der Granitplatte lag. Alles würde klarer werden, wenn sie erst einen Kaffee intus hatte. Oma würde wissen was, zu tun war, wie sie es immer wusste. In ein paar Stunden.

Leise Schritte und Stoffgeraschel ließen sie von der Kaffeemaschine aufblicken. Der Bewegungsmelder im Flur sprang an und beleuchtete Cousine Bernadette, die in diesem Moment im Türrahmen angekommen war, wie ein Batsymbol.

«Mon dieu!» Sie betrat die Küche mit etwas weniger Elan, als sie sonst an den Tag legte. «Welch seltsame Kreaturen bevölkern diese finstere, unwirtliche Welt?»

Dina sah an sich hinunter, fand aber, dass sie an anderen Tagen schon schlimmer ausgesehen hatte. «Na, Munkus schon mal nicht, wie es aussieht.» Mit einer unbestimmten Geste deutete sie auf Cousine Bernadettes unbelegte Schulter. Das Fehlen des Tierchens fiel unmittelbar auf.

«Der wartet nur darauf, dass ich weg bin, damit er sich tief unter den warmen Decken vergraben kann. Moi ist nur aus einem Traum aufgewacht und hat Kaffee gerochen. Ist wohl noch eine Tasse übrig?» Mit wiegenden Hüften glitt sie über die Fliesen.

Zur Antwort holte Dina ihr einen extragroßen Becher aus dem Schrank. Bernadette war es damals gewesen, die sie mit der Welt des guten Kaffees vertraut gemacht. Sie teilten sich die bevorzugte Mischung und es war wirklich angenehm, wenn die Kommentare, ob der Löffel nicht bald stand, einmal ausblieben.

«Du bist ein Herz. Aber diese Uhrzeit ist selbst für dich ein wenig früh, Liebes. Hast du schlecht geträumt?»

«Dazu hätte ich schlafen müssen», murmelte Dina.

Bernadette breitete die Arme aus und hüllte Dina in die Decke, die sie sich um die Schulter gelegt hatte wie ein Cape. «War es gestern nicht schön?», fragte sie besorgt. «Seid ihr im Streit auseinander gegangen? Du musst moi nichts erzählen, aber wenn du möchtest, lass alles raus.»

Dankbar legte Dina die Arme um sie und genoss die Wärme. «Im Gegenteil. Wir sind kaum voneinander losgekommen. Aber wir waren zu vernünftig, um uns einfach die Nacht um die Ohren zu schlagen.» Vielleicht war es aber auch gut, dass Jodie beim Gespräch mit Gale nicht in Reichweite gewesen war. Aus Prinzip nahm Gale auf niemanden Rücksicht, auch nicht auf unbedarfte Ohren.

Seufzend streichelte Cousine Bernadette ihren Rücken. «Lass dir von einer Expertin, und moi ist zufällig eine, sagen, dass es in solchen Augenblicken immer am besten ist, das Unvernünftigste zu tun.»

«Ich werde deinen Rat beherzigen. Beim nächsten Mal.» Und das würde ganz ohne Frage kommen. Dann würde sie wissen, was zu tun war.

«Ihr versteht euch doch prächtig, Liebes. Ihr werdet noch so viel Zeit haben, die ihr zusammen genießen könnt.»

Der Kaffee war fertig. Dina goss ihnen blind ein. «Wenn es doch nur das wäre.»

 

Man konnte sich darauf verlassen, dass Oma eine Lösung für jedes noch so schrecklich erscheinende Problem parat hatte. Nach dem Tod ihres Sohnes hatte sie nahtlos alle seine Geschäfte übernommen. Selbst die schwersten Entscheidungen traf sie ohne zu zögern. Dass ihnen eine Razzia der Geschäftsräume ins Haus stand, brachte sie nicht einmal ins Schwitzen. Am Frühstückstisch kraulte sie nachdenklich Jellys Hals.

«Warum bringen wir nicht einfach alles zu Vince?», schlug Luigi vor. «Da ist doch gerade niemand.»

Tante Fernanda sah ihn an, als hätte er gerade ihre Unterwäsche als Zwischenlager ins Spiel gebracht. «Die Wohnung, die auf der besonderen Überwachungsliste der Polizei steht? Aus der du selbst eine nette Auswahl an Überwachungstechnik geborgen hast? Die lauern doch nur darauf, dass dort wieder irgendjemand aufläuft, und das sollte sicher niemand sein, der irgendwelche kompromittierenden Dokumente in der Tasche hat.»

Luigi sank ein bisschen auf seinem Stuhl zusammen. Dina schenkte ihm Saft nach und stupste ihn aufmunternd an.

«Hier?», fragte Andrea, selbst nicht sonderlich von seinem Vorschlag überzeugt.

«Nein», antwortete Oma entschieden. «Wir wohnen hier, mein Junge. Hier muss alles absolut sauber sein.»

«Meine Wohnung», warf Dina ein. Ihr erster Gedanke war Grovers WG gewesen, doch das konnte sie dem armen Kerl nicht antun. Zwar würde er nichts merken, doch sie hatte vor, die Leute so weit herauszuhalten, wie sie konnte. Dass sie Andy damals mit zu den Rennen genommen hatte, die der ganze Stolz ihres Bruders gewesen waren, war ein Fehler gewesen und sie hatten Glück gehabt, dass er ohne weitere Konsequenzen geblieben war. Wenn man von einer gemeinsamen Leiche im Keller absah. «Von der weiß nicht mal Gale und ich hatte mir vorgenommen, demnächst öfter mit Jodie dort zu sein.»

«Wenn du dort sichere Aufbewahrung garantieren kannst.» Oma hielt Luigi ihre leere Kaffeetasse hin, die von ihm hastig aufgefüllt wurde.

«Da sind Verstecke, die sind so geheim, dass ich sie nicht einmal euch verraten hab.»

Oma nickte zufrieden. «Schafft über die nächsten Tage alles weg, was falsch aussehen könnte, bringt es in die Garage. Dina kümmert sich um den Rest.»

 

Kaffee, Streicheleinheiten von Cousine Bernadette und Lösungsansätze hatten den Start in den Tag weniger anstrengend gemacht als befürchtet. In den folgenden Stunden hatte sie auch überhaupt keine Zeit, sich um irgendwelche wichtigen Angelegenheiten Gedanken zu machen. Mit Andrea und Cousine Bernadette die gesammelten Weihnachtseinkäufe der Familie zu erledigen, war ein Erlebnis. Zwar waren die Wunschlisten kurz und um die schwierig zu beschaffenden Dinge hatten sie sich im Vorfeld gekümmert, trotzdem blieb das Getümmel derer, die ihre Touren ebenfalls bis zur Woche vor Weihnachten aufgeschoben hatten.

Am Ende waren sie heilfroh, wieder in der Filiale an der Promenade angekommen zu sein, wo die Leute alle Zeit der Welt hatten und überall freundlich dreinblickende Hunde unter den Tischen lagen. Cousine nutzte die Zeit, um herunterzukommen, indem sie ihren Block aus der Tasche zog und sich dem Bild aus dem Museum widmete. Im Prinzip bestand es aus ein paar Flecken Aquarellfarben, auf denen sie gerade mit einem hauchdünnen Fineliner Muster einzeichnete. Dina schaute ihr über die Schulter, fasziniert davon, wie viel ein paar Linien ausmachen konnten. Es brauchte so wenig, um ein Bild in den Köpfen entstehen zu lassen.

Gerade, als sie Gefahr lief, müde zu werden, rief Rudolpho von der Theke aus nach ihr. Augenzwinkernd deutete er eine Bewegung zur Tür hin an.

Jodie huschte herein und schüttelte sich wie ein Vogel, der gerade ein Sandbad genommen hatte. Dina sah ihr aus der Ferne dabei zu, wie sie Mütze und Schal abnahm, bevor sie zu ihr ging und sie – ganz Bernadettes Vorschlag folgend – in den Arm nahm, obwohl ihr Mantel nass und kalt war.

Jodie erwiderte die Umarmung ebenso stürmisch. «Ha, erster Versuch!», verkündete sie und legte Dina den Schal um den Nacken, um sie zu sich herunterziehen zu können. Aus nächster Nähe sah sie total fertig aus. Ganz wach schienen Eltern kleiner Kinder nie zu sein, aber Jodie hatte Augenringe, die etwas früher im Jahr gut als Teil eines Halloweenkostüms durchgegangen wären.

Dina küsste sie kurz und lotste sie dann ganz nach hinten in den wärmsten und gemütlichsten Bereich des Cafés. «Du brauchst einen Kaffee», stellte sie fest, gerade als Rudolpho an den Tisch getreten war. «Wir brauchen einen Kaffee.»

Er schaute Jodie fragend an, um sich zu vergewissern, doch sie hob nur die Schultern und er ging.

«Ich hab heute Nacht kein Auge zugemacht», erklärte Jodie. «Dabei wäre ich lieber von dir wach gehalten worden als von meinen Vorwürfen darüber, dass ich nicht von dir … Na … du weißt ja sicher, wohin das jetzt führt. Und dann hatten wir heute eine Firmenweihnachtsfeier zum Brunch. Ich arbeite in CCs Steakhouse, das hab ich dir gar nicht erzählt, oder?»

Dina schüttelte den Kopf. «Da war ich schon länger nicht mehr.» Andy hatte sie öfters dorthin eingeladen. Caroline und Rhea hatten eine Art Kooperation am Laufen, weil die Trucker, die durch die Stadt kamen, sowohl Steaks als auch eine Werkstatt gut gebrauchen konnten. Doch das Restaurant lag am anderen Ende und es hatten sich in letzter Zeit kaum Gelegenheiten ergeben.

«Ich glaube auch nicht, dass ihr in diesem Jahr noch einen Tisch bekämt. Wir sind so straff ausgebucht, dass die Leute eigentlich im Akkord kauen müssten.»

Dina sagte nichts dazu, dass sich theoretisch auch dazu eine Möglichkeit finden ließe. «Dann brauchst du den Kaffee wirklich

Francesco stellte ihnen zwei große Becher fünffachen Espresso hin und eilte davon, um sich um Bernadette und Andrea zu kümmern.

Jodie sah skeptisch auf die dunkle Oberfläche hinunter. Dina prostete ihr zu und nippte an ihrem Becher. Amüsiert konnte sie zuschauen, wie Jodie es ihr nachtat und ihr Gesicht ganz lang wurde. Es ließ sich förmlich beobachten, wie das Koffein zu wirken begann.

«Oh, Gott.» Sie stellte den Becher wieder hin und hielt ihn zwischen den Händen, als müsste sie fürchten, dass er sich selbstständig machte, wenn sie ihn losließ. «Das trinkst du wirklich?»

«Ja.» Dina legte ihre Hände auf den Rand von Jodies Becher. «Wenn du willst, trink ich den auch noch und wir bestellen dir was anderes.»

«Nein.» Jodie löste Dinas Finger von ihrem Kaffee und behielt sie in ihren. «Du hattest recht, ich brauche den sehr. Danke dafür. Und übrigens, weil gestern kein Atemzug mehr dafür übrig war …» Sie beugte sich vor und strich sich die Haare aus dem Gesicht, damit sie nicht in den Kaffee gerieten. «Ich hab mich voll in dich verknallt», flüsterte sie. «So ungefähr in dem Moment, als du in diesem umwerfenden Anzug mit einem Kuchen vor meiner Tür standest. Vielleicht auch schon, als du am Telefon mit irgendwem Italienisch gesprochen hast. Irgendwo dazwischen.»

Es gab Dinge, die man spürte und wusste und doch trafen sie einen mitten in die Magengrube, wenn man sie hörte. Plötzlich waren sogar die paar Zentimeter Tisch zwischen ihnen zu viel. «Ich fand ja echt mutig, dass du gleich mehrere Beschwerden an mich gerichtet hast. Das trauen sich die allerwenigsten. Und ich steh voll auf mutige Frauen, musst du wissen.»

Jodie seufzte und sank um ihren Kaffeebecher herum zusammen. Sie küsste Dinas Fingerspitzen. «Du hast alle meine Probleme umgehend zu meiner vollsten Zufriedenheit gelöst. Super Service, gerne wieder.»

«Wann haben wir denn Zeit, da weiterzumachen, wo wir aufgehört haben?»

Unter ihren dichten Wimpern hervor sah Jodie zu ihr hoch. Ihre Finger wanderten an Dinas Hand entlang und schoben sich in ihren Pulloverärmel. Verträumt strichen sie über die Gänsehaut, für die sie selbst verantwortlich waren. «Ich weiß nicht. Den Rest der Woche muss ich abends arbeiten. Aber ich melde mich, sobald ich genug Luft habe, damit wir das auch richtig genießen können.»

 

Am Freitag begleitete Dina Luigi zu Collins, um wie vereinbart das Geld einzutreiben. Er hatte eine Menge farbenfroher Worte für sie übrig, aber niemanden dabei, der den Preis drücken wollte. Fast fand Dina das ja schade, aber sie konnte es auch verstehen. Bald war Weihnachten, wer wollte da schon mit gebrochenem Kiefer an der Festtafel sitzen?

Kaum, dass sie wieder im Auto saßen, rief Grover an, weil sein Timing exzellent war. «Jo, Dina! Spiel heute Abend, zu mir oder zu dir?»

«Zu ihr!», dröhnte Andys Stimme im Hintergrund. Es klang, als hätte er sie mitten in einer Auseinandersetzung darüber angerufen.

«Aber dann muss ich mich wieder anziehen», jammerte er. Sie war nicht sicher, ob das an Andy gerichtet war oder an sie, um ihre Entscheidung zu beeinflussen. Zu schade, dass er so oder so verlieren würde.

Mit den beiden mal wieder einen Abend in ihrer Wohnung zu verbringen, kam ihr gerade sehr gelegen. So würde es nicht ganz und gar unbewohnt aussehen, wenn Jodie sie demnächst dort besuchte. «Aber doch nicht wegen mir», sagte sie nur. «Du kannst dich ganz wie zu Hause fühlen.»

Grover stöhnte gequält. «Ich hätte wissen müssen, dass du auf ihrer Seite bist. Aber mach dir nichts vor, sie hat dich immer nur wegen des Relaxos in deiner Bude geliebt.»

«Erzähl keinen Scheiß, Junge!» Andys schwere Schritte durchquerten den Raum. Dina musste das Handy auf Abstand halten, während die beiden um das Telefon rangelten. Gwen verdiente allen Respekt der Welt dafür, dass sie das auf Dauer aushielt. Andy war eine großartige Freundin, auf die man sich jederzeit verlassen konnte, doch sie zeigte ihre Zuneigung auf sehr unkonventionelle Weise. Nur Gwen gegenüber war sie sanfter.

«Du weißt natürlich, dass du mich von Anfang an komplett umgehauen hast. Relaxo ist nur eine nette Beigabe. Und auch zu zweit ziemlich bequem.» Im Gegensatz zu Grover hatte Andy offensichtlich glänzende Laune.

«Ich weiß.» Dina musste grinsen und übersah Luigis fragenden Blick absichtlich. «Ich hab dich auch immer mehr als Relaxo geliebt.»

«Das will ich doch meinen! Also, was hältst du von halb acht? Wir bringen Knabberkram mit. Setz Kaffee auf. Viel davon.»

Dina legte auf und rutschte im Sitz nach unten. «Problem, wenn ich heute Abend nicht nach Hause komme?»

«Leonardo wird sicher traurig sein, wenn du nicht da bist.»

«Meinst du? Ich glaube eher, dass er froh ist, weil wir uns das Essen morgen Abend ja schon teilen. Danach haben wir ja auch noch so viel Zeit, uns zu unterhalten. Richte ihm auf jeden Fall liebe Grüße von mir aus, in Ordnung?»

 

Seit einer ganzen Weile war Dina nicht mehr wirklich in der Wohnung gewesen. Einmal die Woche schaute sie vorbei, wischte Staub und heizte durch. Ansonsten kam sie nur mit Damenbesuch her, in den letzten Jahren genauer gesagt hauptsächlich mit Andy. Andere Dates hatten sich eher spontan ergeben. Mit Jodie würde sie vielleicht öfter hier sein, wenn es lief wie erhofft.

Bis die beiden auf der Matte standen, hatte sie noch genug Zeit, das Material aus den Büros vernünftig unterzubringen und sicherzustellen, dass keine Spur mehr davon übrig blieb, wo die Verstecke waren. Danach verteilte sie Decken auf dem Sofa, wusch Geschirr ab und setzte Nudeln auf. Tante Fernanda hatte mit Beatrice und den Kindern einen ganzen Tag lang in der Küche verbracht und genug Bolognese für den Rest des Jahres eingefroren. Einen nicht gerade geringen Anteil hatte sie Dina förmlich aufgeschwatzt, als die von ihrer Abendplanung berichtet hatte.

Nichts davon hatte auch nur den Hauch einer Chance, den morgigen Tag zu erleben.

Nur der Tisch war noch nicht gedeckt, da hämmerte es schon an der Tür, als wäre es der Tod persönlich. Dina ließ sich Zeit, wusch sich die Hände und hängte die Schürze an den Haken, ehe sie öffnete. «Schön, euch zu sehen! Ihr kommt gerade richtig, um mir noch kurz zur Hand zu gehen.»

«Ich hab doch gesagt, wir sind zu früh dran!» Andy schob Grover beiseite und drängte Dina mittels einer festen Umarmung in die Wohnung. Kurz verlor sie den Boden unter den Füßen. Andy machte keine halben Sachen.

«Das war Absicht.» Grover schloss leise die Tür hinter sich und umarmte Dina von der anderen Seite. Beide rochen sie nach Seife, die tapfer einen aussichtslosen Kampf gegen Motoröl führte, und trugen T-Shirts der Gulls, genau wie Dina.

«Dann macht euren Scheiß allein, ihr wisst ja, wo ihr mich findet.» Andy klopfte ihr einmal kräftig auf den Rücken, löste sich aus dem Knäuel und nahm Grover im Vorbeigehen die Umhängetasche ab.

Dina und Grover blieben noch einen Moment auf dem Flur stehen, um die Ruhe zu genießen. Echte Entspannung stellte sich jedoch erst ein, als das Knirschen des Sitzsacks von der vorläufigen Sicherheit der Nudeln kündete.

«Alles Gute zum Geburtstag.» Dina wuschelte ihm durch die Haare, die einfach immer dazu einluden. «Ist Gwen gut in Toronto angekommen?»

«Ganz ohne Stress. Sie bleibt noch übers Wochenende, dann bringt sie Trish und Elle mit. Meinst du, Silvester wird was?»

So weit hatte Dina noch gar nicht vorausgeplant. Im Prinzip stand nichts dagegen. Die Weihnachtstage gehörten der Familie, der Jahreswechsel den Freunden, so hielten sie es schon seit einer ganzen Weile. In diesem Jahr könnte sie Jodie fragen, wie deren Pläne aussahen. Je nachdem, was sie mit Noah vorhatte, konnten sie ja auch mit ihnen mitkommen. Das wäre ideal, weil sie dann auf niemanden würde verzichten müssen.

«Ich kläre das die Tage.» Sie nahm ihm die Jacke ab. «Aber jetzt decken wir erstmal den Tisch, damit wir dann essen können.»

Andy lag quer über Relaxo und sah tief zufrieden aus. «Immer, wenn ich dich besuchen komme, riecht deine Bude nach Nudeln. Gib es zu, du liebst mich immer noch.»

«Ich hab dich so lieb, wie man einen eins neunzig großen, wütenden Tasmanischen Teufel nur haben kann», gab sie zurück. «Aber mein Geheimnis ist: Ich esse immer Nudeln.» Es stimmte nicht ganz, aber schon, dass sie immer welche machte, wenn Andy angemeldet hereinschneite. Den Gästen ihr Lieblingsessen anzubieten, gehörte sich eben einfach, fand sie.

 

Mit Andy Eishockey zu schauen, war aufregend, weil sie gleichzeitig mit auf dem Eis war und alles ausdrucksstark kommentierte, was vor sich ging. Dina saß mit Grover auf dem Sofa, wo ohne Gwen eine spürbare Lücke blieb, und erreichte sie gerade so, um ihr den Kopf zu kraulen, wenn es wieder heiß herging. Wie sie es schaffte, nach dem Spiel nicht völlig heiser zu sein, gehörte zu den ungelösten Rätseln der Menschheit. Relaxo sah hingegen ziemlich zerknautscht aus, als sie aufsprang. «Okay, Kinder, das müssen wir feiern. Ich lade euch ein.»

«Bin dabei.» Dina streckte sich, dass die Gelenke knackten. «Wohin soll’s gehen?»

«Dahin, wo alle hingehen, nehme ich an?» Grover lehnte sich über Dina hinweg und angelte nach seiner Tasche. «Wenn es nicht schon total überfüllt ist.»

Andy schob sie ihm mit dem Fuß zu. «Wenn ihr mit mir unterwegs seid, kommt ihr überall rein.» Sie breitete die Arme aus, als erwarte sie dafür tosenden Beifall. Es stimmte schon, dass sie die großen Nummern von Clarkehavens überschaubarer Clubszene gut kannte. Schließlich fuhren die alle dicke Schlitten und wer außer ihr sollte sich angemessen um die kümmern? Dina hatte dafür ihre eigenen Kontakte, auch wenn McFinley’s Bar & Grill nun gerade nicht dazu gehörte.

Was Andy bekam, war Grovers Shirt in ihrem Gesicht. «Weiß deine Frau davon, dass du mir solche Avancen machst?» Sie schüttelte es aus. Chipskrümel flogen durch die Luft und gesellten sich zu ihren Kameraden auf den Teppich.

«Vielleicht kommen sie ja eigentlich von ihr?», warf Dina ein und erntete dafür skeptische Blicke. Grover hielt kurz darin inne, seinen Binder zu schließen, und schüttelte sich wie ein Hund, der gerade ein Bad genommen hatte.

«Nein, entschuldigt. Gwen hat ja Geschmack.»

«Das war ein Schuss ins eigene Knie, Schätzchen.» Andy beugte sich über sie, um ihr einen derben Kuss auf die Schläfe zu geben.

 

Irgendwann waren Dina und Grover dazu übergegangen, die Spiele der Gulls auf dem gemütlichen Sofa zu schauen anstatt bei McFinley, umgeben von etlichen Fremden, die alle durcheinander brüllten. Zu einem gewissen Anteil lag der Rückzug auch darin begründet, dass Dina dazu tendierte, mit denen aneinander zu geraten.

Nach dem Spiel herzukommen, war viel entspannter. Dann war die Stimmung einheitlich, man lag einander entweder glücklich in den Armen und sang zusammen oder tröstete alle, die einem über den Weg liefen.

An diesem Abend herrschte lockere Stimmung und es war nicht brechend voll. Bei diesem Wetter blieben einige Leute einfach daheim, anstatt sich nachts noch durch die ungemütliche Kälte zu kämpfen. Man konnte sich bewegen, ohne jemandes Ellenbogen in die Nieren zu bekommen, das war viel wert.

Grover steuerte zielstrebig das verlassene Ende einer langen Tafel an. Dina hielt aus Gewohnheit die Menge im Blick, entdeckte aber weder jemanden, wegen dem man sich gleich wieder verziehen sollte, noch jemanden, dem man sich anschließen konnte. Andy, deren Blick den Raum ebenso flüchtig überflog, legte ihr einen Arm um die Schultern. «Hey, die Kleine da an der Bar», raunte sie, die Nase in Dinas Haaren. Diese Stimme und der Atem so nah an ihrem Ohr lösten immer noch einen Hauch angenehmen Kribbelns in ihr aus. «Wäre die nicht was für dich?»

Am Ende des Fingerzeigs stand Jodie hinter dem Tresen, die Haare zu einem unordentlichen Dutt im Nacken zusammengebunden und goss gerade routiniert Whiskey in ein Glas. Das war tatsächlich eine Überraschung, wenn auch eine gute.

«Ich bin dir weit voraus, meine Liebe. Mit der Kleinen war ich am Mittwoch im Museum, bei Giovanni essen und dann haben wir in meinem Auto geknutscht.» Es fühlte sich gut an, das zu erzählen, wie so eine kitschige Teenagerromanze.

«Das ist mein Mädchen!» Andy boxte ihr gegen die Schulter. «Aber mehr war nicht?»

Dina legte einen Arm um Andys Taille und schob ihr den Daumen in den Hosenbund. «Weißt du, nicht alle Leute wollen sich auf der Stelle gegenseitig an die Wäsche gehen.»

«Komm schon, das hat dir gefallen!» Andy bedachte sie mit demselben Lächeln wie damals bei ihrem ersten Treffen in Grovers Wohnzimmer.

«Genau so wollte ich es haben. Aber das hier ist anders.» Erst an der Bar löste sich Dina von Andy, während sie darauf warteten, bis Jodie einen anderen Gast fertig bedient hatte. Das bedeutete nicht, dass Andy von ihr abließ, und schließlich verschränkten sie die Finger einfach lose.

Jodie wandte sich zu ihnen um und man konnte genau verfolgen, wie sie zuerst zwei weitere beliebige Eishockeyfans erwartete und dann Dina erkannte. «Hey! Du hier?»

«Gerade angekommen. Wir haben das Spiel gesehen und wollten ein bisschen unter die Leute gehen, um zu feiern. Jodie, das hier ist Andy.» Mit einem kleinen Nicken deutete sie zur Seite. «Und irgendwo da hinten ist mein Kumpel Grover.»

«Hi.» Andy stützte sich auf den Tresen. «Eine Runde Virgin Mary für uns. Bringst du sie mit? Ich will den Guten nicht so lang allein lassen.» Sie gab Dina einen liebevollen Klaps auf den Hintern und verschwand in der Menge.

«Sehr umsichtig von dir!», rief Dina ihr hinterher. All die Leute machten ihn leicht nervös. Hier beschränkten sich die Interaktionen mit Fremden meist darauf, sich mit allen, die Merch trugen, abzuklatschen, das half.

Sie sah Jodie dabei zu, wie sie die Cocktails mixte. Ganz offensichtlich stand sie nicht erst seit gestern hier. «Ich dachte, du arbeitest für CC.»

«Auch», antwortete Jodie milde lächelnd. «Wenn Noah bei meinem Ex ist, weil ich dann tagsüber mehr Zeit hab. Bitte.» Sie schob die Gläser über den Tresen.

Ihre Finger berührten sich einen Moment, als Dina ihr das Geld hinlegte. «Wann machst die Feierabend? Bock, danach noch mit zu mir zu kommen? Ohne die beiden, wenn du möchtest.»

Jodie sah sich nach ihrem Kollegen um, der aber gerade voll ausgelastet war. «Ja. Lass uns heute Nacht mal so richtig unvernünftig sein. Um eins bin ich fertig, warte dann einfach auf mich. Ich brauch nicht lang.»

Mit den Gläsern in der Hand schlängelte Dina sich zwischen den Gästegrüppchen entlang, stieß willkürlich mit ihnen an und ließ sich von flüchtig Bekannten auf die Schulter klopfen. Grover und Andy unterhielten sich gerade darüber, was der beste Moment des Spiels gewesen war, und wurden sich nicht einig.

Offenbar konnte Andy selbst nicht so genau sagen, ob sie Dawn Harringtons Ellenbogen in jemandes Gesicht war oder Dawn Harringtons Ehrenrunde mit ihrer Frau, Kapitänin des Cheerleaderteams, auf der Schulter mehr feiern sollte.

So sahen Andys Prioritäten aus und Grover teilte sie nicht. Dina konnte sich immer wieder darüber amüsieren, wie er zu ihren Ausführungen eine Augenbraue nach oben zog. Er konnte sich viel mehr dafür begeistern, wenn irgendein geschickter Spielzug zum Torerfolg führte, und auch davon gab es viele.

«Ihr seht das falsch, ganz falsch.» Dina setzte sich ihnen gegenüber. «Ruby van Birnbaum, wie sie den Puck in allerletzter Sekunde auffängt.»

«Ja!» Grover lehnte sich zurück und deutete mit beiden Zeigefingern auf sie. «Jedes Mal fühlst du dich wie ein Ninja.»

«Was weißt du denn? Hast du mal gespielt, oder was? Du warst so ein Lauch, als wir uns kennen gelernt haben.» Sie musterte ihn eingängig, als könne sie sich ein Bild des Kindes vor Augen rufen, dick in Schoner eingepackt, wenn sie nur lang genug starrte.

«Auch lauchige Kinder durften bei den Küken mitmachen. Ich war ja auch da.» Dina wäre auch dort geblieben, war irgendwann aber zu sehr in die Familiengeschäfte involviert gewesen, um der Mannschaft mit allem drum und dran ausreichend Zeit zu widmen. Sie hätte vielleicht mit Dawn Harrington dort auf dem Eis stehen können, doch Opfer mussten gebracht werden. Dieses war verhältnismäßig klein gewesen.

«Aber aus euch ist ja dann noch was geworden.» Andy legte einen Arm um Grover und drückte ihn an sich.

Dina tätschelte ihre Hand. Wenn sie jetzt einmal dabei waren, sentimental zu werden, wollte sie auch ihren Teil beitragen. «Und das haben wir auch dir zu verdanken.» Das war gar nicht mal weit hergeholt. Wenn irgendjemand dafür sorgen konnte, dass man auch an den faulsten Tagen den Arsch hochbekam, dann Andy. «Leute, wäre es ein Problem für euch, wenn ich euch verlasse, wenn hier dicht ist?»

«Na, hör mal.» Andy grinste gönnerhaft. «Wir sind dir schon dankbar, dass du uns nicht gleich sitzen lässt, nur weil deine Kleine auffällig oft um dich herumschleicht.»

Dass Jodie bei jedem Weg, den sie zu erledigen hatte, an ihr vorbei ging und jede Gelegenheit, zu der sie jemandem ausweichen musste, nutzte, um sie flüchtig zu berühren, war Dina auch aufgefallen. Sie streiften sich kaum mit Blicken, hingen aber doch irgendwie aneinander fest.

Grover, der nichts davon mitbekommen hatte, was an der Bar gesprochen worden war, blickte sie nur fragend an.

Zu dieser Gelegenheit erzählte Dina die ganze Geschichte, natürlich abzüglich des Teils mit Vincenzos Sorgen wegen der Polizei. Wenn sie einmal dabei war, sollte sie vielleicht auch mit Andy klären, was das für sie beide bedeutete.

Andy, deren Gedanken selbstverständlich dieselbe Richtung eingeschlagen hatten, beugte sich über den Tisch zu ihr. «Du kannst trotzdem jederzeit auf mich zukommen, falls du es mal ein bisschen härter willst, als die Kleine dir geben kann.»

Grover verbarg das Gesicht in den Händen.

Dina seufzte. «Das Angebot ist wirklich lieb von dir, aber du sollst dir nicht wie zweite Wahl vorkommen und ich glaube nicht …»

«Meinst du, sie hat ein Problem damit? Wollen wir sie fragen, ob sie mitmachen will?“ Sie lehnte sich zur Seite und hielt nach Jodie Ausschau.

Weil man bei Andy nie sicher sein konnte, ob sie das ernst meinte oder scherzte, wohl eher nicht, schob Dina sie wieder in eine aufrechte Position. «Bloß nicht! Dafür ist es doch noch viel zu früh.»

«Also wärst du von dir aus dabei?» Andy grinste siegessicher, als hätte sie Dina gerade in eine Falle gelockt. Vielleicht hatte sie das auch, denn noch dachte sie ernsthaft darüber nach und es würde sie wohl auch noch eine ganze Weile nicht loslassen. Seit Jahren hatte Andy ihr immer wieder angeboten, Jo oder Rachel mitzubringen, mit denen sie immer noch eine glückliche Dreieinigkeit bildete. Mit den beiden war Dina nie weiter involviert gewesen, weil es nicht ihr Ding war. Aber mit Andy und Jodie? Vielleicht? Zumindest fragen konnte sie irgendwann.

«Mit zwei heißen Ladies im Bett, warum sollte ich das wollen?» Sie streckte Andy die Zunge heraus. «Hör mal, ich kann nichts versprechen. Aber ich werde sie mal drauf ansprechen, wenn es passt. Was dauern kann. Wir kennen uns noch nicht mal zwei Wochen.» Gleichzeitig kam es ihr länger und kürzer vor, weil sich alles so frisch anfühlte und trotzdem als hätten sie schon so viel mehr getan als einhellig auf einer zugeschneiten Wiese zu stehen.

«Dina, ich erinnere mich noch gut daran, was wir sehen durften, als ich mit Gwen und Rhea zurück ins Wohnzimmer gekommen bin.» Grover hatte die Finger weit genug gespreizt, damit er sie durch die Lücke ansehen konnte. «Und ich will nicht wissen, was wir vorgefunden hätten, wären wir länger weg geblieben.»

Sie musste lachen, weil er recht hatte und dabei ein bisschen gequält klang. Dabei hatte er doch damals selbst im Vorfeld gesagt, Andy würde ihr sicher gefallen. «Ja, aber das hier ist vollkommen anders. Es war nicht so ein Knall, es hat sich angeschlichen.»

«Sie klingt auf jeden Fall nach einer reizenden jungen Dame.» Grover richtete sich wieder auf. «Ich glaub übrigens, dass Gwen das Bild gern sehen würde, an dem Cousine Bernadette gerade arbeitet.»

«Ich schick dir ein Foto davon, wenn es fertig ist. Ich glaube, die Schatten müssen noch drauf.» Das Original würde sie Jodie zu Weihnachten schenken.

 

Weil Jodie weder Andy noch Grover kannte, hatte sie bei dem Gedanken Mitleid, die beiden durch die Nacht nach Hause laufen zu lassen. Also brachte Dina sie zur WG zurück und machte mit ihnen aus, sich am nächsten Abend nach dem Essen mit ihrer Familie wieder zu treffen.

Als sie zurück bei der Bar war, wartete Jodie schon und glitt mit einer geschmeidigen Bewegung in den vorgewärmten Wagen. «Ich bin so erledigt.»

«Soll ich dich lieber heim bringen? Wie kommst du eigentlich normalerweise hier weg?» Um diese Zeit fuhr der Bus nur stündlich und zwar so, dass sie ihn bei pünktlichem Arbeitsende knapp verpasste. Der Gedanke, dass sie so lange warten musste, nachts, in der Kälte, gefiel Dina überhaupt nicht.

Jodie kuschelte sich in den Sitz und lächelte Dina müde an. «Morrison fährt mich, mein Kollege. Er wohnt nur einen Block weiter. Und wenn du möchtest, können wir auch zu mir fahren. Aber da herrscht gerade Chaos. Ich war heute nur kurz da, um zu duschen und mich umzuziehen. Zu dir wäre mir also lieber.» Auf dem Schaltknüppel verschränkten sich ihre Finger mit Dinas.

 

Die Wohnung war nicht ganz aufgeräumt, weil Andy überall, wo sie sich auch nur für einen Moment aufhielt, Chaos verbreitete. Dagegen kamen auch Dina und Grover mit geballter Ordnungsliebe nicht so einfach an. Es wäre Jodie aber wohl auch nicht aufgefallen, wenn eine Bombe eingeschlagen wäre. Sie schalteten nicht einmal das Licht an, hatten auf dem Weg ins Schlafzimmer nur Augen füreinander. Auf dem Boden blieb eine Spur aus Kleidung zurück, an deren Ende Dina sich aufs Bett fallen ließ.

Mit einer aufreizend langsamen Bewegung zog Jodie sich zuletzt das Shirt mit dem Logo der Bar über den Kopf, nur beleuchtet von den blassgelben Ziffern des Radioweckers. Sie kniete sich über Dina, nahm ihre Hände und ließ endgültig alle Müdigkeit verschwinden. Während der nächsten Stunde wurde Dinas Welt ganz und gar von ihr beherrscht.

 

«Wie hellhörig ist es hier eigentlich?», fragte Jodie im Flüsterton und schaltete die Nachttischlampe ein. Zerzauste Haarsträhnen fielen ihr über die Schulter, als sie sich nach unten beugte, um Dinas Eishockeyshirt vom Boden aufzuheben. Mit nichts weiter am Leib stand sie auf und ging auf leisen Sohlen die Regale ab.

Die Frage kam reichlich spät, aber natürlich hatten sie zuvor andere Dinge im Kopf gehabt. Auch jetzt fiel es Dina noch schwer, den Blick von Jodies Rundungen zu lösen, die sich unter dem etwas zu weiten Oberteil abzeichneten. Sie setzte sich auf und angelte mit dem Fuß nach ihren Boxershorts. «Nicht sehr, würde ich sagen. Hier sind schon ganz andere Dinge gelaufen, von denen niemand etwas mitbekommen hat.»

Mit einer Auswahl CDs in der Hand wandte Jodie sich zu ihr um und schaute sie an, als könnte sie sich gut vorstellen, was das für Dinge waren. Ganz weit weg von der Wahrheit bewegte sie sich damit nicht. Schließlich war Andy sehr oft hier und so laut in jeder Lebenslage, da bildete Sex keine Ausnahme. «Ach, ja? Will ich diese Geschichten hören?»

«Manche davon», antwortete Dina, zog die Unterwäsche hoch und ging ins Bad. «Andere ganz bestimmt nicht.» Zum ersten Mal war sie mit ihrem Vater hier gewesen, als die Wohnung noch ihm gehört hatte und für andere Dinge genutzt worden war. Es war eine Lektion für sie gewesen, ein erster Schritt in die Welt, die ihre hatte werden sollen. Das war schon über ein halbes Leben her, damals war sie dreizehn gewesen. Bis sie unbelastet wieder hatte herkommen können, hatte es Jahre gedauert. Ohne umfassende Umbaumaßnahmen wäre es nicht gegangen. Darum verwendete sie die Räume jetzt auch ganz bewusst zu einem vollkommen anderen Zweck. Für Nächte wie diese hier.

Der Ton war Dina wohl zu ernst geraten. Zwischen ihr am Waschbecken und Jodie im Schlafzimmer breitete sich ein Abgrund des Schweigens aus. Für eine Weile war es unangenehm, während sie sich die Zähne putzte.

«Ich dachte nur …» Jodie schlich sich von hinten an sie heran und schob sie sanft an der Hüfte zur Seite. Da blieb ihre eine Hand auch, während die andere nachdenklich über dem Becher mit frischen Zahnbürsten schwebte. «Wir müssen noch nicht schlafen, oder? Ob wir noch ein bisschen Musik anmachen?»

Dina hob die Schultern. Sie hatte den Teil ihrer Sammlung hierher verfrachtet, dessen sie irgendwann überdrüssig geworden war. Die Alben, mit denen das nicht passierte, waren in Omas Haus geblieben. Nun warteten die hier darauf, dass es sie wieder einmal packte. Was konnte ein besserer Zeitpunkt dafür sein als eine Nacht wie diese? Sie spuckte aus und wusch sich den Mund unterm Wasserhahn. «Irgendeinen besonderen Wunsch, die Dame?»

Jodie nickte und deutete in Richtung Tür. Sie ließ Dina aber nicht los, erst, als die ihr einen Kuss auf die Schläfe gegeben hatte.

Auf der Stereoanlange lag Born To Die. Sie legte die CD ein, drehte die Anlage so laut, dass Jodie im Bad noch etwas hören konnte und setzte sich auf das Sofa. Die Arme auf der Rückenlehne ausgebreitet und den Kopf in den Nacken gelegt genoss sie, dass für den Augenblick alles gut war.

Es wurde sogar noch besser, als Jodie in den Raum getanzt kam, sich auf ihren Schoß sinken ließ und sie für die gesamte Dauer eines Instrumentalparts küsste. Dann sang sie stumm mit. Dabei stellte sie sicher, dass Dina verstand, dass sie mit You are my one true love gemeint war.

«Es ist gut, dass du hier bist», sagte Dina im Übergang zu Blue Jeans. Der Satz hätte eigentlich weitergehen sollen, war prinzipiell aber auch an dieser Stelle komplett.

«Find ich auch.» Jodie wiegte sich sanft im Rhythmus hin und her, wobei sie sich an Dinas Schultern festhielt.

«Ich wollte dich außerdem was fragen. Hättest du Lust, mit uns, also mir, Grover, Andy und ein paar anderen Leuten Silvester zu verbringen? Falls du nicht schon andere Pläne hast oder generell kein Interesse.»

Jodies Hände wanderten an Dinas Armen nach unten, während sie an die finstere Decke sah und Daten vor sich hin murmelte. «Kommt drauf an. Wer ist da alles? Was habt ihr vor? Kann ich Noah mitbringen? Das wird das erste Silvester ohne feste Schlafenszeit.» Natürlich war sie vorsichtig, aber Dina hörte heraus, wie gern sie ihr eine Zusage geben wollte.

«Andys Ma, Grovers Frau Gwen, zwei liebe Freundinnen, die bei ihnen zu Besuch sind … Ich denke, Andy bringt ein Date mit, aber wenn, dann Jo.»

«Jo aus dem Serviervorschlag?», fragte Jodie, weil es keinen Menschen in Clarkehaven gab, der noch nie dort gewesen war.

«Ja», antwortete Dina schlicht. Sie zählte alle noch mal an Jodies Fingerknöcheln ab. «Oh, und vielleicht bringt sie Rachel auch mit. Ziemlich sicher sogar.»

«Auch als Date?» In Jodies Frage schwang schon mit, dass sie die Antwort kannte.

«Andy nimmt es gern mit mehreren auf einmal auf.» So hatte sie es damals auch Dina eröffnet. Sie hatten sich noch etwas ausführlicher darüber unterhalten, aber im Prinzip war das alles, was man über Andy wissen musste.

«So sieht sie auch aus.» Sie meinte es lieb und Dina war dankbar dafür. Und es war ja auch nicht zu bestreiten.

«Was ich jedenfalls nur sagen wollte: Du wirst so schnell keine Truppe finden, der du ein Kind sorgloser anvertrauen kannst.» Rhea hatte schließlich Andy erzogen, die war immer wie ausgewechselt, wenn Kinder anwesend waren und kam super mit ihnen klar. Gwen und Grover wollten irgendwann demnächst eigene haben, wenn sie sich über das Wie einig geworden waren. Dina würde dann Patentante werden. Bei den anderen musste man sich erst recht keine Sorgen machen. «Der Abend würde mit einem Film und gutem Essen beginnen. Dann gehen wir meistens zum Nachtrodeln und sehen uns dann das städtische Feuerwerk an. Ein ganz gemütlicher Abend. Du musst dich ja auch nicht jetzt gleich entscheiden. Ich wollte dir das Angebot nur schon gemacht haben.»

Jodie streichelte Dinas Daumenknöchel. «Vielleicht finden wir ja eine Gelegenheit, dass ich sie mal kennen lerne? Du könntest mir gerade alles erzählen und ich würde es dir glauben, während du mich so ansiehst.»

Liebend gern überließ Dina Leonardo das Feld. Im Mittelpunkt zu stehen, war gar nicht ihr Ding, auch nicht zu Anlässen wie ihrem Geburtstag. Außerdem war sie so froh, dass er wieder da war. Das Haus war ein ganzes Stück leerer ohne ihn. Darum konnte er sich, nachdem auf sie beide angestoßen worden war, vor lauter Gesprächsstoff nicht retten und Dina hatte Gelegenheit, sich mit Luigi zu beschäftigen. Die spürbaren Unterschiede zu seinem Willkommensessen setzten ihm zu. Entsprechend freute er sich darüber, dass er sich bei ihr nach dem Spiel erkundigen konnte, auch wenn er mit Eishockey wenig am Hut hatte. Als Dawn ihr zwei Karten zu ihrem allerersten Spiel in der Mannschaft geschickt hatte, war er sogar mitgekommen. Spaß hatte er damals sicher gehabt, doch die große Begeisterung war an ihm vorbeigegangen. Trotzdem hörte er sich gern alles an, was sie ihm erzählen wollte.

Wenn Familie Martelli hier feierte, herrschte geschlossene Gesellschaft. Außer auf die Kinder, deren Ohren auch für das, was sie auf keinen Fall hören sollte, besonders empfänglich schienen, mussten sie auf niemanden Rücksicht nehmen und konnten frei sprechen.

«Wie ist es dir ergangen?», fragte Cousine Bernadette. «Waren sie gut zu dir?»

«Kann mich nicht beklagen.» Er lächelte.

Luigi sah zu ihm hinüber, als wollte er etwas dazu sagen, ließ es aber doch. Er baute beeindruckende Häuser aus Untersetzern und fing mit Engelsgeduld von vorn an, wann immer Sofia oder Antonio das Gebilde kichernd zu Fall brachten. Wieder und wieder. Falls sie mal nicht mit Gebäudeeinstürzen beschäftigt waren, widmeten sie sich den Malbüchern, die Giovanni zusammen mit einem ganzen Kasten voller Buntstifte an den Tisch gebracht hatte.

Wenn einer aus dem Gefängnis kam und sich nicht beklagen konnte, war das aber in der Tat seltsam. Vor allem mit Blick auf die Andeutungen, die Vincenzo gemacht hatte.

Vielleicht sagte er das aber auch nur, um die Stimmung am Tisch nicht zu trüben. Oder gerade weil er nicht darüber sprechen wollte, wie mit ihm umgegangen worden war.

«Wie lief es hier? Irgendetwas Weltbewegendes?», erkundigte er sich direkt an Oma gewandt. «Außer, dass wir jetzt ein junges … drei junge Gesichter mehr im Hause haben.» Er zwinkerte Beatrice zu, die ihn jedoch gar nicht beachtete. Für sie endete der Tisch jenseits von Luigi.

«Für Dienstag ist hoher Besuch angekündigt», berichtete Dina ihm.

«Oh, stimmt, an der Promenade, nicht wahr?» Er sah nicht besorgt aus, nicht einmal überrascht. Erst, als sich alle Blicke auf ihn richteten, weiteten sich seine Augen.

«So genau konnte Gale es mir nicht sagen.» Dina sah zu, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. So lang war er doch gar nicht weg gewesen, dass er die simpelsten Beschönigungen vergessen haben konnte.

«Ach, diese Art Besuch.» Sein Lächeln zuckte nervös. «Ich dachte an die Weihnachtsfeier des Rathauses. Da hätte es sich ja angeboten, weil da gerade so wenig Besucher kommen …»

Dina wollte ihm sehr gern glauben, doch es fiel ihr nicht leicht. Für große Gruppen war das Café an der Strandpromenade im Winter denkbar ungeeignet, weil die meisten Plätze sich draußen auf der Terrasse befanden. Drinnen gab es nicht mal genug Tische, um sie zu einer ausreichend langen Tafel zusammenzustellen. Vom reinen Fassungsvermögen des Raums an sich ganz zu schweigen.

«Auf jeden Fall ist alles vorbereitet», fuhr sie fort. «Und ich denke mal, ich gehe jetzt. Andy wartet nicht gern.»

 

Auch außerhalb der Saison und an Abenden ohne Spiel war es bei McFinley nicht eben leer. Andy und Grover warteten an der Tür, hatten sich aber schon Plätze ausgesucht. Es war ein einzelner Tisch ganz in der Nähe des Tresens, an den Andy sie zog, während Grover die erste Runde holte.

Andy hielt nach bekannten Gesichtern Ausschau, fand jedoch nicht einmal Jodie. Erst nach einer ganzen Weile tauchte sie einfach in der Menge auf. Bei Andy wirkte alles immer sehr spontan entschieden, doch sie hatte ein gutes Gespür für ideale Plätze, wenn es darum ging, beiläufige Berührungen und Blickkontakt möglich zu machen. «Ich will sie», raunte sie Dina ins Ohr. Ihr Ton konnte genauso gut Ich will dich bedeuten und brachte sie beinahe so weit, dass sie auch gern gewollt hätte. Anziehung dieser Art verschwand nicht mal eben auf die Schnelle. Und Andy spielte sehr gern solche Spielchen, wenn sie jemanden fand, der mitmachte.

«Damit wendest du dich besser direkt an sie», gab Dina zurück.

Andy wuschelte ihr durch die Haare und verpasste ihr dabei eine kleine Kopfnuss. «Ich will sie zu Silvester dabei haben, meine ich. Aber das Angebot behalte ich mir auch gern im Hinterkopf.»

Mit einer Hand schob Dina sich ein Stück von sich, mit der anderen fuhr sie sich durch die Haare, um sie wieder halbwegs in Ordnung zu bringen. «Wieder bin ich schon einen Schritt weiter. Gerade versuche ich, sie davon überzeugen, dass es absolut sicher ist, dich in die Nähe ihrer Tochter zu lassen. Wenn Gwen und die anderen wieder da sind, können wir ja alle zusammen irgendwas unternehmen. Zum Beschnuppern, sozusagen.»

«Wisst ihr eigentlich, dass wir diesen Winter noch gar nicht zusammen auf dem Eis waren?» Grover ließ sich auf den Stuhl an Dinas anderer Seite fallen. «Ist das nicht irgendwie ein Unding?»

Noch am selben Abend bekam Dina eine Zusage für einen Nachmittag mit Jodie, Noah, deren Vater und Susan. Alles lief prächtig.

Bis die Stimmung kippte.

Eigentlich wollte Dina nur nach Jodie rufen, um eine neue Runde zu bestellen. Gerade kam sie mit dem Tablett voller leerer Gläser aus dem hinteren Bereich der Bar, die mit einer kleinen Treppe vom Rest abgesetzt war. Der Ruf musste sie abgelenkt haben, vielleicht wurde sie auch angerempelt, auf jeden Fall kam sie aus dem Gleichgewicht.

Was dann passierte, erkannte sie nicht genau, aber sie meinte, eine Hand an ihrem Hintern zu sehen, die nicht nötig war, um den Sturz aufzuhalten. Nach Jodies routiniertem Seitenschritt weg von dem Kerl, zu der sie gehörte, ließ der nicht etwa von ihr ab, sondern griff ihren Arm.

Dina reichte es.

«Was?», setzte Andy an, als sie aufstand, doch sie brauchte dann selbst nur einen Moment, um die Lage zu erfassen.

Dina wartete nicht, sondern war schon dabei, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Sie reagierte auch nicht auf Grovers nervöses Oh, oh!, weil ihr Verstand schon dabei war, sich zu verabschieden.

Er war gerade noch lang genug anwesend, um den Typen nur von Jodie wegzureißen, anstatt ihm auf der Stelle den Kiefer zu brechen. «Lass die Finger von der Lady.»

«Bitte nicht», flüsterte Jodie hinter ihr. «Das passiert ständig, du musst doch deswegen jetzt nicht …»

«Ja, Mann!», rief der Kerl lauter, als er in der plötzlichen Stille gemusst hätte, und warf sich überheblich grinsend in die Brust. «Ich werde ja ein bisschen Dankbarkeit für die Hilfe erwarten können!»

Die Geste, die er sich an ihr vorbei erlaubte, sorgte dafür, dass sie ihm ganz ohne schlechtes Gewissen die Finger brach. Wie oft sie das Geräusch auch noch hören würde, es hatte irgendwie etwas Befriedigendes an sich. Im Gegensatz zu dem Wimmern, das darauf immer folgte, und Jodies erschrockenem kleinen Aufschrei.

Mit einem Fluch auf den Lippen wollte sich einer seiner Kumpels auf sie stürzen, doch Andy tacklete ihn und drehte ihm den Arm auf den Rücken. Einer rammte Dina von der Seite und trennte sie dadurch von seinem Kameraden, aber ihn selbst warf sie über ihre Schulter. Sie nagelte ihn mit dem Stiefel am Boden fest. Automatismen, die man einfach nicht loswurde.

«Dina!», schrie Jodie schrill. «Es reicht jetzt! Was ist denn nur in dich gefahren?!» Sie packte Dinas Unterarm und wollte sie von dem Kerl am Boden weg ziehen. «Lass ihn gehen, sofort!»

«Wenn der Kunde sich nicht entschuldigt!» Eigentlich wollte sie Jodie gegenüber nicht laut werden, aber es war gerade nicht leicht, sich im Zaum zu halten.

Von einer Entschuldigung schien er gerade weit entfernt, die gesunde Faust erhoben und mit ihr in Richtung ihres Kiefers ausholend. Dafür brach sie ihm seinen jetzt doch.

Bevor sie sich von ihrem eigenen Schwung erholen konnte, riss Grover sie fort. Die Überraschung war auf seiner Seite, wohl auch Andy gegenüber, die er an der anderen Hand mit sich in Richtung Ausgang zog. «Ihr dreht wohl komplett frei!», fauchte er.

Die eisige Nacht war effektiver, als jeder Schlag ins Gesicht hätte sein können. Dina riss sich von ihm los und trat gegen einen Schneehaufen an der Straßenecke.

Auch Andy löste sich von ihm, packte ihn aber sogleich am Kragen und rammte ihn gegen die Wand. «Sag mal, was glaubst du eigentlich, was du hier tust?»

«Ich bewahre dich davor, die Nacht in einer Zelle zu verbringen», presste er hervor. Seine Finger umschlossen ihre Handgelenke. «Andy. Lass. Mich. Los.»

Weil nicht damit zu rechnen war, dass sie der Aufforderung demnächst nachkam, trennte Dina die beiden mit etwas Mühe. Zwischen ihnen musste es jetzt nicht auch noch zu Streit kommen. «Scheiße, Mann, warum hast du nichts gemacht?» Es mochte nicht okay sein, jetzt ihm die Verantwortung in die Schuhe schieben zu wollen, aber selbstreflektiertes Denken war noch nicht wieder verfügbar.

«Weil kein Mensch so schnell schalten kann, wie euch beiden Knalltüten die Sicherungen durchbrennen!», erwiderte er gereizt und richtete sich den Pullover.

Das Geräusch der Tür zog ihre Aufmerksamkeit von ihm ab. Vor dem Eingang stand Jodie, bebend vor Aufregung, und starrte sie an. «Haut ab.»

Dina ertrug es kaum, sie anzuschauen. Alles andere funktionierte gerade so, der Kopf auf keinen Fall. Es hätte ohnehin nichts gegeben, was sie jetzt sagen konnte. Was für ein grandioser Eindruck …

«Haut ab!», wiederholte Jodie lauter. «Ich weiß nicht, warum ich noch nicht die Polizei gerufen habe, aber ich werde es tun, wenn ihr nicht gleich verschwindet! Und kommt nicht wieder!» Sie sah Dina an, als wollte sie ihr eine knallen, stürmte jedoch unverrichteter Dinge wieder nach drinnen. Hätte sie es doch nur getan, verdient wäre es in jedem Fall.

In dem Schneehaufen war ein vereister Kern, der erst nach ein paar Tritten nachgab. Sie hob den Brocken auf und schleuderte ihn gegen die Backsteinwand. Nicht, dass das irgendetwas half, aber lieber das Eis als jemandes Kopf.

Grover nahm sie in den Arm und drückte sie, so fest er konnte. Normalerweise beruhigte es sie immer, wenn er ihre Haare streichelte, aber gerade war sie zu aufgewühlt. Wären es doch nur Jodies Hände, aber für die nächste Zeit hatte sich das wohl erledigt.

Sobald die Wogen sich etwas geglättet hatten, musste sie um Verzeihung bitten.

Andy ließ die Hände mit ordentlicher Wucht auf Dinas Schultern fallen. «Ich weiß ganz genau, was du jetzt brauchst.»

 

Für bestimmte Leute stand die Sporthalle am Rande der Stadt auch nach Mitternacht offen. Für die machte Dox sogar eine Ausnahme, wenn sie nichts dabei hatten und barfuß in Jeans und T-Shirt dastanden. Er wusste, wann Not am Mann war und vor allem, wann man sich Andy besser nicht in den Weg stellte. Dina hatte in der Grundschule damit angefangen, regelmäßig herzukommen. Ihre Mutter hatte sie zum Kickboxen angemeldet, noch bevor sie alt genug gewesen war, zu wissen, wozu es außer der Selbstverteidigung noch nützlich werden sollte. Mit Andy war sie zu MMA übergegangen.

Dox stellte keine Fragen. Er schaltete einfach das Licht ein und zog sich für den Rest der Zeit in sein Büro zurück.

Grover legte sich der Länge lang auf den kalten Boden und breitete die Arme aus. «Wir waren uns doch eigentlich einig, was solche Aktionen angeht.»

«Ich hab mit ihm gesprochen, okay?», wandte Dina ein. Noch vor ein paar Jahren hätte sie keine Zeit damit verschwendet. Sie ließ ihr Hemd neben ihn fallen.

Mit skeptischem Blick faltete er es behelfsmäßig zusammen und schob es sich unter den Nacken. «Und du hast ziemlich schnell wieder damit aufgehört.»

«Weil er nicht aufgehört hat, scheiße zu sein.» Sie wurde sein Grinsen nicht los, da half es auch nichts, dass es später zu einer schmerzverzerrten Grimasse geworden war.

«Hör mal», fing er an, wurde aber von einem kleinen Beben unterbrochen, als Andy auf die Matte sprang, einfach, weil sie es konnte.

«Ruhe auf den billigen Plätzen.» Sie ließ die Halswirbel knacken und schlug vorfreudig die Fäuste gegeneinander. «Hier wird nicht gequatscht, hier gibt es aufs Maul. Wenn du nicht mitmachen willst, hältst du den Schnabel.» Mit einer albernen Geste aus allen Kampfszenen der Geschichte winkte sie Dina zu sich heran.

So gern sie austeilte, so sehr hasste Andy es, einzustecken. Heute ließ sie jedoch einiges über sich ergehen. Dina wusste das zu schätzen, irgendwann wurde es aber langweilig. Nachdem sie das gesagt hatte, wendete sich das Blatt und es dauerte nicht lang, bis sie beide ganz schön am Ende waren. Dinas Kopf war angenehm leer, wenn man von den Schmerzen absah. Die verschwanden jedoch während einer heißen Dusche.

Kaum war sie zurück in der Umkleidekabine, klingelte das Telefon.

Jodie weinte. Sie weinte so sehr, dass sie kaum richtig Luft bekam.

«Zähl beim Einatmen langsam bis drei und beim Ausatmen weiter bis sechs», sagte Dina ruhig. Noch so ein Automatismus, aber wenigstens einer, der nichts kaputt machte.

«Jetzt kommst du mir so?», fauchte Jodie, nachdem sie den Rat befolgt hatte. «Nachdem ich wegen dir meinen Job verloren hab, machst du jetzt einen auf fürsorglich? Ich fass es nicht!»

«Du hast was?» Die Leere in Dinas Kopf verschob sich und wurde zu einem Abgrund. «Die haben dich rausgeworfen? Dich? Deswegen?!» Das war nicht zu fassen. Jodie hatte nichts gemacht. Sie hatte versucht, Dina zurückzuhalten. Dafür verdiente sie es nicht, vor die Tür gesetzt zu werden.

«Ich hab meinem Chef gesagt, dass du mir ja eigentlich nur helfen wolltest. Und da meinte mein Chef, dass er es nicht brauchen kann, wenn ihm die Kundschaft reihenweise vergrault wird, weil du meinst, auf mich aufpassen zu müssen.»

Dina hätte liebend gern angemerkt, dass man auf solche Kundschaft verzichten konnte, doch die Implikationen in dieser Erklärung machten sie gerade sprachlos.

In dieses Schweigen hinein legte Jodie auf.

Mit sanfter Gewalt nahm Andy ihr das Telefon aus der Hand, weil sie wohl spürte, dass es sonst Gefahr lief, gegen die Wand zu fliegen, und ließ sich schwer neben ihr auf die Bank fallen.

Dina kippte gegen sie und störte sich nicht an den nassen Haaren in ihrem Gesicht. «Die Säcke haben sie rausgeschmissen», murmelte sie. «Wegen so eines Bastards, der die Finger nicht bei sich belten konnte, und wegen mir …»

«Du musst nur ein Wort sagen», flüsterte Andy rau und küsste ihre Schläfe. «Dann gehen wir zurück und machen da weiter, wo wir aufgehört haben.»

Niemand konnte solche Worte dermaßen verführerisch klingen lassen wie Andy. Dina fielen auch einige Dinge ein, die sie jetzt liebend gern getan hätte, aber es brauchte nicht einmal Grovers Vernunft, die für drei Leute reichte, damit ihr klar war, dass nichts davon als gute Idee durchging. Nichts davon würde Jodie helfen, im Gegenteil. «Nein, weißt du, ich schlafe vielleicht einfach eine Nacht drüber und dann regelt sich schon alles. Irgendwie geht es immer weiter.»

«Wie du meinst.» Andy drückte sie an sich. «Aber wenn du mich brauchst, egal für was, melde dich einfach und ich bin dabei.»

 

Am Sonntag hörte Dina kein Wort von Jodie und machte ihr deswegen auch keine Vorwürfe. Die machte sie sich stattdessen selbst, den ganzen Morgen lang. Das Problem war, dass man in den Kreisen, in denen sie sich bewegte – seien es die heimischen oder alle, die mit Andy zu tun hatten –, diese Angelegenheiten auf ganz simple Art regelte. Aber Jodie war kein Teil davon. Für sie funktionierten die Dinge anders. Wenn man die Leute nur bis zu einem gewissen Punkt an sich heran ließ, mochte das okay sein, aber über den war Jodie schon hinaus. Dina wollte sie nicht aufhalten, aber dann musste sie sich etwas einfallen lassen.

Immerhin hatte sie zu tun, und zwar mit den Kindern und den Vorbereitungen für die Stofftierweihnachtsfeier. Es fiel schwer, traurig zu sein, wenn man von lauter lächelnden Tigern und Bären und einem grimmig guckenden Munkus umgeben war, der genauso gern dabei sein wollte wie alle anderen. Cousine Bernadette beteiligte sie sich wie in jedem Jahr federführend an der Planung und sorgte ganz nebenbei dafür, dass Dinas Gedanken den Raum nicht verließen. Sie fragte nicht. Dina liebte sie sehr dafür.

Es half. Viel von dem, was gestern noch plausible Optionen gewesen zu sein schienen, war verschwunden. Aber nicht alles. Es ging nicht, sie konnte das nicht einfach auf sich beruhen lassen, ohne ihren Standpunkt ganz klar gemacht zu haben.

Außerdem wollte sie Jodie ein Angebot machen, das die hoffentlich nicht ablehnen würde. Das würde ihr tatsächlich helfen.

Die anderen verzogen sich nach dem Abendessen zu einer Kartenrunde. Dina und Oma blieben am Esstisch zurück.

«Es bricht mir das Herz, dich so zu sehen, mein liebes Kind.» Oma legte ihre kühle, weiche Hand, die immer nach Creme duftete, auf Dinas. «Du weißt, du kannst mit deiner Omi alles besprechen, was du auf dem Herzen hast.»

Dina nickte, wusste allerdings nicht, ob sie das in diesem Fall wollte. Omas Standpunkt in der Sache, die zu der ganzen Misere geführt hatte, war sehr deutlich. Darum war es nicht nötig, sie mit Details zu belasten, die sie nur aufregen würden. «Ich hab Scheiße gebaut, Oma. Richtig große. Und ich hab jemanden mit reingeritten. Ob ich es wieder geradebiegen kann, weiß ich nicht, aber ich muss dich um zwei Dinge bitten.»

Oma lächelte zuversichtlich. «Sprich, mein Liebes. Für die Familie mach ich doch alles.»

«Können wir Jodie einstellen? Sie ist eine gute Kellnerin und hat Erfahrung, aber sie arbeitet viel zu viel und für die falschen Leute.» Ob sie nun die richtigen Leute waren, darüber ließ sich streiten. Was die Arbeitsbedingungen anging, waren sie zu ihren Angestellten aber immerhin besser als McFinley. «Nur … Können wir sie einfach einstellen und sonst nichts? Bitte?»

Omas Lächeln wurde ein bisschen traurig. Sie streichelte Dinas Handrücken. «Ich weiß, wie das ist, wenn wir unsere Lieben von allem Unbill der Welt fernhalten wollen. Aber wir sind, wer wir sind, Dina, und ich kann dir nichts versprechen.»

«Von mir kannst du alles verlangen, das weißt du. Aber sie hat einfach nur verdient, glücklich zu sein.» Es gab nicht einmal etwas, mit dem Jodie der Familie irgendwie nützlich sein konnte. Sie war eine viel zu gute Seele für alles, was sie über die Arbeit in den Cafés hinaus erwartete.

Oma sah ihr so ernst in die Augen wie schon lange nicht mehr, weil sie keine Widerworte von Dina gewohnt war. «Dinge müssen getan werden, mein Kind. Aber wenn sie für uns arbeiten möchte, wird es ihr gut gehen.»

«Danke.» Das musste ihr reichen. Um den Rest würde sie sich einfach selbst kümmern, damit es nicht an Jodie hängen blieb. «Und dann wäre da noch etwas … Dürfte ich mir Maria und Luigi für heute Nacht ausleihen?»

 

Es wäre nicht in Ordnung, Andy noch weiter in diese Sache hineinzuziehen. Zwar hatte sie sich angeboten und das, was Dina vorhatte, würde ihr auch richtig gut gefallen, von den Geschehnissen in dieser Nacht würde sie aber erst in den Lokalnachrichten erfahren und sich ärgern.

Marias Wagen ging in die Knie, als Dina die Sporttasche auf den Rücksitz warf.

«Was hast du da drin, Steine?», fragte Luigi mit skeptischem Blick.

«Möglicherweise.» Dina stieg ein. Es war lieb von den beiden, dass sie ohne weitere Fragen zugesagt hatten, nun verdienten sie eine Erklärung.

«Versenken wir jemanden?», wollte Maria halb im Scherz wissen. «Wohin soll es denn gehen, Boss?»

«Wir versenken niemanden», versicherte Dina ihr. Das wäre in diesem Fall doch etwas überzogen. «Heute schmeißen wir ein paar Scheiben ein, bei McFinley.»

Marias Blick begegnete ihrem im Innenspiegel. «Sind die schuld an deiner miesen Laune heute? Warst du nicht immer ganz gern dort?»

«Manchmal schaut man eben genauer hin und erkennt, dass etwas gewaltig schief läuft.» So knapp wie möglich fasste sie die Ereignisse des letzten Abends zusammen und konnte doch nicht verhindern, dass sie sich schon wieder in Rage redete.

«Drecksverein», kommentierte Luigi. «Ich hör so was auch nicht zum ersten Mal. Was machen wir sonst noch? Die Gasleitung aufdrehen? Hättest du doch nur früher was gesagt, dann hätte ich ein paar Möwen organisiert …»

Darum mochte Dina den Mann, weil er Ideen hatte. Vor allem, wenn es darum ging, Chaos zu stiften.

«In dem Haus wohnen Leute», entgegnete Maria. «Da wird kein offenes Feuer riskiert, dass das klar ist.»

«Was sie sagt.» Die Idee war Dina auch gekommen, aber aus diesem exakten Grund sogleich wieder verworfen worden. Egal, welche Scheiße passierte, es mussten keine Unbeteiligten zu Schaden kommen. Das würde Oma nicht gefallen. «Ein bisschen was können wir aber vielleicht noch anrichten.»

Maria parkte einen Block weiter. Alle drei ganz in Grau gekleidet, huschten sie abseits der Lichtkegel durch die verlassenen Straßen. Nach halb zwei in einer Winternacht war hier nichts mehr. Nur all die Spuren im Schnee deuteten an, dass hier tagsüber reger Betrieb herrschte.

Luigi ließ sich zurückfallen und zündete sich eine Zigarette an.

Es war still. Bis auf Marias vor Aufregung zitternde Atemzüge war kaum etwas zu hören. Selbst das Öffnen des Reißverschlusses an der Tasche klang unnatürlich laut. Es blieb so leise, während die beiden Frauen mit weißer Farbe große Buchstaben auf die Schaufenster warfen. Im Sommer hatten sie immer hier gesessen, wenn sie weit geöffnet waren, um die angenehme Brise hereinzulassen. Das Gelächter und Gemurmel all der Stimmen erfüllte dann die ganze Straße.

Nun wurde die Nacht vom Scheppern und Klirren zerbrechenden Glases zerrissen. Nach dem ersten Stein nagten noch Zweifel an Dina, ob das so gut war, aber mit dem zweiten flog das mulmige Gefühl davon. Manchmal ging es einfach darum, ein Zeichen zu setzen, mochten die Details auch etwas unsauber sein. Die Steine hatte Dina vor einigen Monaten von einer Baustelle mitgehen lassen, für Fälle wie diesen. Gründe, einfache Botschaften zu vermitteln, fanden sich immer.

Ganz vorsichtig huschte sie zwischen den Scherben nach drinnen. Irgendwie schade um den Alkohol, der jetzt ebenfalls Bekanntschaft mit dem Boden machte, aber besser ruinierte er das Parkett als das Leben irgendwelcher Leute. Maria rettete, was sie konnte. Auf dem Weg nach draußen achteten sie darauf, nicht in die Pfützen zu treten. Dieser bestialische Gestank sollte nicht mehr an ihnen hängen bleiben, so weit es sich vermeiden ließ.

Luigi, der aufgepasst hatte, nahm einen anderen Weg als Dina und Maria. Die beiden machten sich durch die Gassen davon. Irgendwo über ihnen ging ein Licht an und ein Fenster wurde geöffnet.

Dina tauschte einen Blick mit Maria, umfasste ihre Hüften und drängte sie gegen die nächstbeste Wand. Während unzähliger Gelegenheiten hatten sie es perfektioniert, als liebestolles Pärchen durchzugehen, das sich auch für die ungemütlichste Umgebung nicht zu schade war. Die meisten Leute wandten sich dann schnell voller Scham ab, aber sie konnten es auch ganz schön weit treiben, falls doch mal jemand Voyeur spielen wollte.

Heute bestand dazu keine Notwendigkeit. «Nehmt euch ein Zimmer, ihr Punks!», tönte es von oben und das Fenster wurde abrupt zugeschlagen. Kichernd rutschte Maria, die ihre Beine um Dinas Hüften geschlungen hatte, wieder zu Boden.

 

Natürlich fiel es Oma nicht schwer, die Verbindung zwischen Dinas Laune am Vortag, ihrer Bitte, was Jodie, Luigi und Maria anging, und dem Vorfall, der die Titelseite der Morgenzeitung einnahm, herzustellen. Nachdem alle am Frühstückstisch auf den Stand der Dinge gebracht worden waren, ließ Tante Fernanda sich die Zeitung geben und blickte grübelnd auf das Foto, das die vollkommen zerstörte Front zeigte.

«Der schöne Alkohol», seufzte Cousine Bernadette.

«Ein paar Flaschen hab ich mitgehen lassen. Fällt ja auch nicht mehr auf.» Maria hob lächelnd die Schultern.

«Da könnte noch mehr für uns bei herausspringen», sagte Tante Fernanda und blickte Oma ernst über den Tisch hinweg an. Als wäre sie es, die alle Ideen hätte, und als würde Oma überhaupt nicht ans Geschäft denken.

«Die Überlegung kam mir auch gerade …» Oma tupfte mit dem Finger auf ihrem Teller herum, um Krümel aufzusammeln. «Die Bar hat einen ordentlichen Gewinn abgeworfen. McFinley wird ein gewisses Interesse daran haben, sie schnellstmöglich wieder eröffnen zu können. Ich finde, wir sollten ihm dabei etwas unter die Arme greifen. Dann wird er sichergehen wollen, dass so etwas nicht wieder passiert. Auch da könnten wir ihm unsere Hilfe anbieten. Mit anderen Clubbesitzern der Stadt arbeiten wir ja auch äußerst produktiv zusammen.»

In diese Richtung hatte Dina überhaupt nicht gedacht, aber wenn sie so alles zusammenfügte, umso besser.

 

Dina schaltete das Radio aus, als auf der anderen Straßenseite ein Streifenwagen hielt. Wieder Gale, die jedoch nicht zu ihr herüberkam. Sie lächelte nur eines ihrer allermiesesten Lächeln – und die Auswahl war riesig. Natürlich erkannte sie Dinas Handschrift an der Sache, aber sie hatte Verständnis.

So sehr war sie damit beschäftigt, Gale mit allem gebotenen Ernst anzuschauen, dass sie vom eigenen Handy überrascht wurde und zusammenzuckte. Es war eine SMS von Jodie. Wo kann ich dich heute treffen?

Dina schrieb ihr zurück. Als sie aufsah, stand Gale doch neben ihrem Wagen und bedeutete ihr, die Seitenscheibe herunterzulassen.

«Dina, Dina, Dina …»

«Gibt es ein Problem Detective?» Sie schob das Handy zurück in die Innentasche. «Wie Sie sehen können, ist der Motor aus und ich stehe auf dem Parkplatz.»

Gale beugte sich nach vorn und stützte sich auf den Fensterrahmen. Die Uniform machte sie immer noch ein bisschen heiß, wie Dina leider zugeben musste. Da war aber kein weiteres Bedürfnis als sie einfach anzusehen. Und da kam sie momentan wohl schwer drum herum. «Vorbildlich, ehrlich. Aber ich dachte, für den anderen Scheiß seiest du langsam ein bisschen zu alt.»

«Tja, Chief, man sollte sich sein inneres Kind bewahren, oder nicht? Aber Sie haben schon recht, ich unterlasse die Kindereien wohl in Zukunft.»

«Brav.» Gale hob den Daumen. Ihre Nägel waren noch immer so lang wie früher, als sie Dinas Rücken beinahe regelmäßig blutig gekratzt hatten. Die Finger sahen dadurch noch länger und dünner aus. Gale sprach immer von der kalten Hand des Todes, dabei konnte sie den Leuten damit sehr effektiv demonstrieren, wie lebendig sie waren. «So ein kleines Puzzle zum Wochenstart ist ja eigentlich auch mal was Feines, wir haben den ganzen Vormittag dran gesessen. Aber wenn das noch mal vorkommt, muss ich mich an deine Erziehungsberechtigten wenden und das möchten wir doch beide nicht.»

«Wenn das dann alles war, Deputy, wünsche ich ihnen noch viel Spaß beim Rätseln.» Dina hatte die Kinder entdeckt, die am Eingang standen und sich nicht näher heran trauten, weil eine Polizistin am Auto stand. Sie trauten Gale genauso wenig wie allen anderen und das war auch gut so.

«Bis morgen, Dina. Dann können wir uns ja noch ein bisschen ausführlicher darüber unterhalten. Du hast mich ja ehrlich neugierig gemacht.»

 

Lange saß Jodie ihr nur schweigend gegenüber, hielt mit aller Macht die Tränen zurück und rührte das Stück Obstkuchen auf ihrem Teller nicht an. Sie hatten sich zur Begrüßung nicht umarmt, obwohl alles an Dina sie festhalten wollte, bis die Welt wieder besser aussah.

«Ich habe Mist gebaut», sagte sie in die Stille hinein. Es brachte nichts, sich zu rechtfertigen, das war eine ganz simple Tatsache.

«Das kann man wohl sagen. Und letzte Nacht hast du dafür gesorgt, dass ich da nie wieder auftauchen kann, von neu anfangen ganz zu schweigen.»

«Hättest du das gewollt?»

Jodie antwortete nicht gleich. Sie sah Dina mit etwas an, das Trotz sein konnte. «Denkst du denn, dass es irgendwo anders ist? Es ist überall dasselbe. Und ich brauche den zweiten Job nun mal.»

«Nein.» Dina schob die Tasse zur Seite und verschränkte die Finger auf dem Tisch. «Was du brauchst, ist ein Job, und der muss gut sein. Ich hab mit Oma gesprochen. Wenn du möchtest, kannst du hier anfangen. Gleich morgen.»

Jodies Augen weiteten sich.

«Du müsstest dir keine Gedanken mehr um solche Vorfälle machen. Oder um Geld. Über Arbeitszeiten lässt sich reden. Besonders, wenn Noah bei dir wohnt.»

«Und was verlangst du dafür?», fragte Jodie und nahm zögerlich einen Schluck Kaffee.

«Nichts.» Dina bettete das Kinn auf den Händen. «Du musst mir nicht mal verzeihen, es wäre verständlich, wenn du es lässt.» Trotz allem war sie nach wie vor der Meinung, dass der Kerl es verdient hatte, aber das behielt sie lieber für sich. «Ich hab dir alles versaut und versuch jetzt, das irgendwie wieder zu richten. Und es einfach Omas Ding, Leuten zu helfen, die gerade Hilfe brauchen. Sie sucht immer gutes Personal.»

«Weißt du eigentlich, wie komisch es wirkt, wenn du zwei Tage nach so was plötzlich mit einem Angebot wie diesem ankommst? Wenn ich es nicht besser wüsste …» Mit gerunzelter Stirn sah sie auf Dina hinab.

«Du weißt doch, wir klären die Dinge sofort.» Dina setzte sich wieder auf. Jodies Blick blieb auf ihren Händen.

Offenbar war es für diesen Kommentar zu früh gewesen, denn Jodie seufzte nur. «Schon, und das war bisher auch immer sehr schön, aber … Was die Art angeht …» Sie zupfte an Dinas Fingern. «Ich war so erschrocken. Du bist die ganze Zeit so eine liebe, sanfte Person gewesen, und da hab ich dich einfach gar nicht mehr wiedererkannt. Dazu noch die Nachrichten heute …»

«Wenn ich mich recht erinnere, warst du es, die mich für einen Türsteher hielt. Und das ist genau, was Türsteher tun, oder nicht?» Sie traute sich, Jodies Hand ganz locker in ihre zu nehmen, und wurde nicht zurückgewiesen.

Jodie lächelte sogar. «Aber auch nur da, wo es ihr Job ist», sagte sie leise.

«Wenn du Müll auf der Straße liegen siehst, hebst du ihn auch auf, obwohl die Stadt Leute dafür bezahlt, dass sie ihn wegräumen.»

Jodie öffnete den Mund, sackte aber sogleich wieder in sich zusammen. «Ach, Dina.»

«Bei manchen Dingen kann ich einfach nicht wegschauen.» Und sie hatte nicht vor, damit anzufangen. Es gab schon genug, das sie geschehen lassen musste, weil es für Oma so nützlicher war. Aber alles hatte seine Grenzen.

«Ach, Dina», wiederholte Jodie. Sie hob den Blick und schaute ihr jetzt in die Augen. «Kannst du mir eine Sache versprechen? Du versuchst nicht mehr, mir zu helfen, indem du Leuten wehtust, okay?»

Das Problem war, dass Gale ihr nicht gesagt hatte, wann sie auftauchen wollten. Darum hatte Dina Jodie schon vor neun an die Promenade bestellt, um ihr alles zu zeigen. Hier konnte sie sich erst einmal einleben, ehe sie sich ins Getümmel stürzte. Heute sollte sie alle Filialen kennen lernen und sehen, wie es lief.

Sie war schon oft genug hier gewesen, um sich ein bisschen auszukennen, und die Abläufe waren ja doch überall ähnlich. Maria zeigte ihr das Kassensystem und die Küche.

«Da ist noch eine Sache.» Jodie lehnte sich an den Tresen und zog Dina am Saum ihres Pullovers zu sich heran. «Und sei ehrlich zu mir. Auf keinen Fall möchte ich irgendeine Sonderbehandlung, nur weil wir …» Anstatt den Satz zu beenden, hauchte sie Dina einen Kuss auf den Mundwinkel.

«Weil ich mir jeden vorknöpfe, der dich nicht so gut behandelt, wie du es verdienst?» Sie musste über Jodies tadelnden Blick lächeln. «Der Witz ist, dass ich hier praktisch Türsteher bin. Und zwar für alle.»

«Habt ihr damit Probleme?», fragte Jodie ungläubig. «Hier?»

«Momentan nicht.» Dina setzte sie auf den Tresen und küsste sie. «Weil ich meinen Job gut mache. Zwar hatten wir mal Ärger mit ein paar Gangs, aber denen haben wir schnell beigebracht, dass man nicht einfach herkommt und sich benimmt, als gehöre einem die Stadt.» Die gehörte Oma und die hatte nicht vor, auch nur einen Teil davon herzugeben. Dann waren da noch ein paar einzelne Touristen, die im Sommer zu oft meinten, sie könnten sich alles erlauben, weil sie nach zwei Wochen ohnehin auf Nimmerwiedersehen verschwanden. «Aber von all dem wirst du nicht das Geringste merken.»

 

Mit missbilligendem Blick stellte Beatrice ihr einen Kaffee hin. «Leute um ihren Job bringen und sie in ein Abhängigkeitsverhältnis locken. Oma muss mächtig stolz auf dich sein, Dina.»

Es saß tief, auch wenn es von ihr kam, aber Dina nahm nach außen hin ungerührt einen Schluck aus der Tasse. Für das, was kam, würde sie alle Selbstbeherrschung brauchen. «Erzähl keinen Blödsinn. Das ist sicher das letzte, woran ich in den letzten Tagen gedacht habe. Sie ist Kellnerin hier, mehr nicht.»

«Das glaube ich dir sogar», gab Beatrice trocken zurück. «Weil ich ja weiß, dass du nie besonders weit vorausdenkst.» Beatrice zog die Schürze aus. «Und ich hoffe ja ehrlich für euch beide, dass das alles war, was sie von deiner anderen Seite mitbekommen musste.»

«Wenn du nicht an eine Kolonne Polizeiautos geraten willst, solltest du dich jetzt vom Acker machen.» Dina sah auf die Uhr. Sie hatten alle nach Hause geschickt, nur Maria und sie würden hier sein, wenn sie kamen. «Soll ich Andrea anrufen?»

«Der ist doch eh nie mehr als drei Autos hinter mir», erwiderte Beatrice bitte. «Ich muss mich von der Mafia beschatten lassen, weil die Polizei hinter mir her ist. Wenn es nicht so traurig wäre, würde ich lachen.»

 

Vier Streifenwagen parkten kreuz und quer auf der Straße. «Wenigstens kommen sie kurz vor Ladenschluss und halten nicht den ganzen Betrieb auf», murmelte Maria und tauchte hinter der Theke ab, um Gläser im Schrank zu verstauen.

«Problem, wenn ich dir das überlasse?» Dina war in alles, was im Büro und in der Küche vor sich ging, nicht wirklich involviert. Darum kümmerte sich ihr Bruder, wenn er nicht gerade einsaß. Maria kannte sich da wesentlich besser aus. Außerdem würde Gale ihre gesamte Aufmerksamkeit fordern. «Hast auch was gut bei mir.»

Maria winkte ab. «Als wäre dein Wort hier nicht eh Gesetz.»

Gale betrat das Café als Erste und wirkte dabei, als gehöre ihr alles hier. Mit dem selbstgefälligsten Grinsen aus ihrer Sammlung baute sie sich vor Dina auf und schob ihr einen Durchsuchungsbefehl zu. «Meine Jungs und Mädels würden sich hier gern ein bisschen umsehen. Keine Sorge, eure Familienrezepte interessieren uns nicht. Wenn man weiß, was drin ist, schmeckt es manchmal gar nicht mehr so gut, kennt ihr das auch?»

Maria überflog das Dokument mit gehobenen Brauen. «Ich weiß nicht, was das soll, aber sicher, kommen Sie …»

Gale winkte ihre Kollegen durch und schaute weiterhin nur Dina an. «Wir zwei plaudern ein bisschen, was hältst du davon?»

Rein gar nichts, aber manchmal musste man eben auch Dinge tun, die einem nicht gefielen, um ans Ziel zu kommen. «Ganz, wie Sie wünschen, Lieutenant. Kann ich Ihnen etwas anbieten?» Aus dem Kühlschrank holte sie das Hörnchen, das sie für Gale aufgehoben hatte. Warum genau sie ihrer Bitte nachgekommen war, konnte sie sich auch nicht erklären. Vielleicht als kleines Dankeschön für die Vorwarnung.

«Wie zuvorkommend. Dazu hätte ich noch gern eine heiße Schokolade. Problem, wenn ich mich setze? Ich war den ganzen Tag auf den Beinen.»

Schweigend wies Dina auf den Tisch direkt neben der Kasse. Gale zog die Jacke aus und fläzte sich breitbeinig auf den Stuhl. Halbherzig interessiert schaute sie zu Maria hinüber, die sich professionell unbedarft mit den anderen Beamten unterhielt.

Mit dem Hauch eines ehrlichen Lächelns – auch das existierte durchaus in ihrem Repertoire – bedankte sie sich für das Hörnchen und das Getränk. «Ich muss ja ehrlich sagen», begann sie und riss mit spitzen Fingern das Gebäck auseinander. Sicher genoss sie den Gedanken an all die Leute, die enttäuscht waren, keines mehr zu bekommen, weil es nur für sie zurückgehalten wurde. «Ein bisschen steh ich immer noch auf deine … Ausbrüche. Du warst damals so glatt, so wohlerzogen … also, in den Augen deiner Oma natürlich, so brav. Aber wenn man dir nicht genau vorgibt, was du tun sollst, neigst du zu herrlich hitzköpfigen Unternehmungen.»

«Wollen Sie auf etwas Bestimmtes hinaus, Inspector?» Dina ertrug Gales diebische Freude nicht. Sie wollte nicht daran erinnert werden, wie einfach es damals gewesen war, sie zu provozieren, jedes Mal. Sie war nicht mehr dieselbe wie damals. Vor acht Jahren hätte sie nach einem Vorfall wie diesem wirklich überstürzt gehandelt. Nichts, dem man nachtrauern musste.

«Ich meine nur, die Welt dreht sich weiter, Leute verändern sich. Wir sind beide anderweitig untergebracht. Und das ist okay. Aber eigentlich wollte ich ja hören, wie dein Wochenende war. Los. Befriedige meine Neugierde.»

Dina wartete, bis Maria mit den anderen nach hinten ins Büro gegangen war. «Es gibt außer dir noch ein paar Dinge, die ich beim besten Willen nicht abkann. Zwei davon sind am Wochenende geschehen.»

Nickend schwenkte Gale ihre Tasse. «Lass mich raten, das eine hat mit einem jungen Mann zu tun, der in der Nacht zum Sonntag betrunken und mit diversen Knochenbrüchen in der Notaufnahme erschienen ist, das andere mit einer personellen Veränderung, die Folge daraus war. Du hast deine Sicht darauf sehr deutlich gemacht. Deutlicher, als mit Backsteinen Scheiben zu zerschmettern, auf die du vorher RAPE CULTURE geschmiert hast, geht es kaum. Ich stehe dabei voll hinter dir. Ich wäre sogar ziemlich gern dabei gewesen. Aber dann hätte ich dich wohl verhaften müssen. Und auch, wenn wir in der Gewahrsamszelle wirklich viel Spaß miteinander hatten …»

Dazu sagte Dina nichts, weil sie Gale aus Prinzip nicht zustimmen wollte. «Jetzt mal zu was anderem. Du hast erwähnt, ein gewisser Callahan hätte diese Location für eure Party vorgeschlagen. Was ist der für einer?»

Gale sah hinüber zur Küche. «Weiß, achtundvierzig Jahre alt, dunkle Haare und Koteletten. Einer von denen, die zu viel im Phrasenkalender blättern und wünschten, sie wären noch in den Achtzigern. Hab gehört, er sei ganz wild darauf, sich deine Jungs vorzunehmen. Wittert vielleicht eine Beförderung, wenn er nah genug an die Martellis rankommt. Ha, wenn der wüsste …»

Dina überging das Zwinkern, das leichte Übelkeit in ihr aufsteigen ließ, und konzentrierte sich auf die Aussage an sich. Das musste der Kerl sein, der ihren Bruder bedroht hatte. Er war bei der Wohnung gewesen. «Du willst mir sagen, wir haben eine undichte Stelle.»

«Das kommt in den besten Familien vor.» Hochkonzentriert sammelte Gale die letzten Krümel von ihrem Teller. «Und davon ist deine weit entfernt.»

Kurzentschlossen nahm Dina die Tasse und trank sie leer. Dabei achtete sie darauf, an der anderen Seite des Randes anzusetzen. Ihre Lippen sollten sich nicht einmal mehr indirekt berühren. «Pass auf, was du sagst, Officer.»

Gale zog reflexartig den Teller zu sich, als wäre darauf noch irgendetwas, das sich zu klauen lohnte. «Dina, Liebes, das würdest du doch nicht, mit all meinen Kolleginnen da drin … Oh, du würdest natürlich. Wenn es an die Familie geht, setzt es bei dir immer besonders schnell aus, und jetzt mit einer Eröffnung wie dieser … Das ist sicher nicht die Art Weihnachtsüberraschung, die du dir gewünscht hast.»

«Wer?», fragte Dina nur. Ihre Gedanken rasten durch die lange Liste derer, die gerade im Bau saßen. Wem von denen konnte sie zutrauen, mit den Cops gemeinsame Sache zu machen? Wer von denen wusste überhaupt genug, um ihnen nützlich zu sein?

«Ich weiß mit Sicherheit, dass es nicht Vince ist, ansonsten kann ich dir leider nicht weiterhelfen. Geh doch zu Callahan und frag ihn. Ich bezweifle nur, dass er dir antworten würde. So dämlich ist er nicht. Du würdest ihm ja auch nie verraten, dass ich mich noch immer ganz gern von deinem jugendlichen Leichtsinn hinreißen lasse. Oder?»

«Selbstverständlich nicht, Chief, dafür genieße ich unsere Plaudereien viel zu sehr.»

 

Es gab nur eine Möglichkeit und die war gleichzeitig vollkommen ausgeschlossen. Alles deutete auf Leonardo hin, aber er konnte unmöglich die undichte Stelle sein. Dina wollte nicht, dass es so war. Er gehörte zur Familie. Er war der beste Freund ihrer Eltern gewesen. Vincenzos Patenonkel.

Ja, darum wusste er ja so viel.

Er hatte sich nach Beatrice erkundigt.

Ja, und dabei wahrscheinlich sonst was in ihrer Wohnung hinterlassen. Rudolpho hatte nicht lang gebraucht, um eine Wanze der Art zu finden, wie die Polizei sie standardmäßig einsetzte. Und das war nur eine erste Durchsuchung gewesen. Bevor die Bude wieder bezogen werden konnte, würde eine Großreinigung nötig sein. Zuvor mussten sie aber sicherstellen, dass die drei außer Gefahr waren.

Wie, wenn nicht mit Hilfe der Bullen, hätte er auch sonst für eine Nacht aus dem Knast kommen können? Aber er hatte es für Oma getan. Er war ihr Liebling, wie könnte er sie je verraten? Früher war er für Dina der Onkel gewesen, der ihr durchs Haar gewuschelt hatte, wo von ihrem Vater nur ein anerkennender Klaps auf die Schulter gekommen war.

Es durfte nicht Leonardo sein.

Noch hatte sie eine Chance. Noch konnte sie beweisen, dass er es nicht war. Ohne jeden Beweis konnte sie über ihren Verdacht, der eigentlich vollkommen unsinnig war, nicht zu Oma gehen. Sie sollte mit niemandem darüber reden, bevor sie irgendwas in der Hand hatte außer Mutmaßungen. Alle mochten Leonardo.

Sie musste das klären, am besten noch, bevor die Woche zu Ende war. Wie sonst sollten sie in Ruhe Weihnachten feiern können?

Für heute hatte sie aber genug Ärger hinter sich. Momentan wollte sie nichts weiter, als mit Jodie einen gemütlichen Abend zu zweit zu verbringen. Zum Ende ihrer Runde mit den Hunden ging sie bei ihr vorbei.

Jodie fiel ihr förmlich entgegen, weil die Stufen vor dem Haus so voller Schnee waren, dass man kaum den Fuß aufsetzen konnte. Etwas Absicht musste aber auch dabei sein, denn sie lächelte, als sie den Schal vom Mund zog und den Schwung ausnutzte, um Dina fest zu umarmen. Erst dann ließ sie sich von den Hunden beschnuppern und kraulte sie mit Hingabe.

«Du siehst ziemlich erledigt aus.» Sie strich Dina unter der Mütze die Haare aus dem Gesicht und richtete ihr den Kragen des Mantels.

«Vorweihnachtszeit», antwortete sie nur. Das war eine gute Ausrede, weil gerade alle im Stress waren und Verständnis dafür hatten. Dabei kam Dina meist gut durch, ließ sich von der Vorfreude der Kinder mitreißen und verriet ihnen doch nicht, was sie wissen wollten. Omas Haus bot unzählige Verstecke, die sie niemals erreichen konnten, auch nicht mit den besten Geschenkespürnasen der Stadt. «Wie war dein erster Arbeitstag?» Sie hielt die Manteltasche auf, in der noch genug Platz für Jodies Hand war.

Die Einladung wurde dankend angenommen. Jodie schmiegte sich an sie. «Es wird mir gefallen. Aber alles ging so schnell … Das Wochenende kommt mir vor, als wäre es schon ewig weit weg. Es ist …» Anstatt den Satz zu beenden, zog sie sich wieder in bester Pinguinmanier unter den Schal zurück. «Caroline war auch ehrlich traurig über meine Kündigung. Wir haben uns immer sehr gut verstanden.»

Dina sagte nichts dazu, dass ein Schuppen wie CCs Steakhouse die Leute eigentlich anständig bezahlen können sollte, damit sie keinen zweiten Job benötigten. Wenn das Personal einem so wichtig war. «Clarkehaven ist so ein Nest, du bist doch nicht aus der Welt. Wenn du möchtest, können wir nächstes Jahr mal dort essen gehen.»

«Vielleicht kann ich dich dann endlich einmal einladen.» Jodie drückte ihre Hand. «Aber heute Abend wollen wir erstmal einfach entspannen. Ich hab einen Film mit.»

 

Es kam nur selten vor, dass Dina die Hunde mit in die Wohnung brachte. Es war alles da, um sie zu versorgen, nur reichte der Platz nicht langfristig aus, damit sie sich angemessen ausbreiten konnten. Es war schon eine ganze Weile her, darum hatte Dina eine Decke von zu Hause mitgebracht. Als Bezugspunkt schienen sie die aber nicht zu brauchten. Die drei verstanden sich ausgezeichnet mit Andy, darum war es nur natürlich, dass Relaxo jetzt, wo sie nicht anwesend war, ihnen gehörte.

Jodie, die dieses Mal nicht ganz so spontan hier war wie zuvor, nutzte die Gelegenheit, um sich auch außerhalb des Schlafzimmers etwas umzusehen. Eine ganze Weile verbrachte sie vor der fast überhaupt nicht kitschigen Fotowand, der Andy, Grover und sie sporadisch neuer Bilder hinzufügten. Am Ende stand sie mit ratloser Miene vor dem Sitzsack, nur im Kuschelpullover und dicken Socken. «Ist das ein Pokémon?»

Dina verharrte einen Augenblick schweigend neben der Couch und versuchte, zu ergründen, ob das ein Scherz gewesen sein sollte. Aber nein, im Gegenteil: In Jodies Gesicht konnte man die Erkenntnis verfolgen, dass sie gerade in ein Fettnäpfchen getreten war. Doch es hätte schlimmer kommen können, sie hätte es für ein Digimon halten können. Überhaupt waren die Zeiten, in denen Dina das als persönlichen Angriff und echte Hürde für den weiteren Verlauf des Abends gewertet hätte, lange vorbei.

Den Blick weiter auf Jodie gerichtet, um ihre Furcht, einen Fehler gemacht zu haben, noch etwas in die Länge zu ziehen, schüttelte Dina die flauschige Decke, die immer über der Lehne hing, aus und ließ sich aufs Polster fallen. «Ja», sagte sie langsam. «Das ist ein Pokémon. Komm doch her und setz dich. Möchten wir was bestellen, bevor wir mit dem Film loslegen?»

Jodie bewegte sich zögerlich durch den Raum, als hätte sie Angst, irgendetwas zu berühren und vielleicht noch mehr falsch zu machen. «Möchten wir.» Sie ließ sich neben Dina auf die Couch sinken und legte ein Bein über sie. «Aber was machen wir denn, bis das Essen da ist?» Drei Finger ihrer rechten Hand schoben sich in Dinas Knopfleiste und kraulten ihren Bauch.

«Da fällt uns doch sicher etwas ein.» Sie fischte ihr Handy aus der Hosentasche, doch Jodie nahm es ihr ab, schob es auf den Tisch und legte Dinas Hand auf ihre Hüfte. Ehrlich gesagt fand Dina ebenfalls, dass das eine viel bessere Position war. Darum war sie dankbar für den Sprachassistenten, mit dem sie Das Übliche beim Jadedrachen bestellen konnte. Die wussten, dass sie sich Zeit lassen konnten, wenn Dina nicht anrief.

 

Im ersten Moment fragte Dina sich, wann sie ihren Weckerton gewechselt hatte. Erst mit einem Blick auf die Uhr, die gerade einmal halb drei zeigte, fiel ihr auf, dass es ein Anruf war. Einer von der Sorte, die man unmöglich ignorieren konnte.

Die Erkenntnis machte sie schlagartig wach. Sie ließ Jodie los, die sich träge regte, und rollte sich zur Seite, um das Telefon zu erreichen. Die Displaybeleuchtung brannte in ihren Augen.

«Was ist los?», fragte Jodie, ebenfalls hellwach.

Dina legte ihr nur einen Finger auf die Lippen.

Es war Luigi. «Dina, du musst auf der Stelle herkommen», sagte er gepresst. «Die Party ist größer, als wir erwartet hatten. Und die Musik ist scheiße.»

Sie brauchte einen Moment, bis sich in ihrem Kopf alles zusammengefügt hatte. Luigi war zusammen mit Rudolpho unterwegs, um einen Drogendeal zu sprengen. Oma bemühte sich, dass die Stadt clean blieb, was den Straßengangs nicht passte, deren Haupteinnahmequelle der Handel mit Stoff aus Südamerika war. Mit diesen Operationen hatte Dina normalerweise nichts am Hut, sie wurde nur dazugerufen, wenn wirklich Not am Mann war.

Trotzdem versuchte sie, nicht zu besorgt zu klingen, um Jodie nicht zusätzlich zu verunsichern. «Bin unterwegs. Selbe Stelle, selbe Welle? Macht keine Dummheiten. Und ruf Andrea an.» Heute Nacht hatte sie das besonders miese Gefühl, dass seine Fähigkeiten zur Spurenbeseitigung gefragt sein würden.

«Wir rühren uns nicht vom Fleck. Mein Gott, Dina, beeil dich.» Luigi legte auf. Die Spannung blieb jedoch in der Luft hängen.

Sie war auch Jodie nicht entgangen, die ganz eng an Dina herangerutscht war und ihr langsam über die Arme streichelte. Ihr müdes Gesicht sah im Halblicht nahezu gespenstisch aus. «Ist was Schlimmes passiert?»

Nur ungern löste Dina sich von ihr. Sie wollte die Wärme und das gute Gefühl nicht hier lassen, aber wann richtete sich schon einmal etwas nach ihr? «Ich muss weg, aber ich bin bald wieder da. Versuch, weiterzuschlafen. Oder bedien dich an allem, wozu du Lust hast.» Sie küsste Jodie, drückte sie sanft wieder in die Laken und hätte sich am liebsten wieder dazu gelegt.

Stattdessen musste sie aufstehen und Trainingshosen und einen alten Hoodie anziehen. An den Waffenschrank konnte sie nicht, so lang Jodie im Raum war. Alles darin war legal und absolut im Rahmen aller Vorschriften aufbewahrt. Trotzdem würde das bloße Vorhandensein großer Kaliber ihr wohl nicht gefallen. Dann musste sie sich eben mit dem Handschuhfach begnügen.

«Mach niemandem die Tür auf. Ich lasse dir Hunter hier.» Fertig angezogen beugte sie sich noch einmal über Jodie und küsste sie. Sie ließ sich sogar noch einen Moment festhalten, bevor sie wieder aufstand. «Mach dir keine Gedanken.»

Jodie schnaubte. «Pah, natürlich nicht, du haust ja nur mitten in der Nacht hektisch ab, sicher musst du nur noch irgendein Weihnachtsgeschenk besorgen, das du vergessen hast.» Sie richtete sich hastig auf die Knie auf, zog Dina zu sich und küsste sie. «Pass auf dich auf.»

Die Hunde wussten genau, was Dinas entschlossenes Auftreten für sie bedeutete. Das dunkle Knäuel auf dem Relaxo löste sich auf, Krallen schrammten über den Fußboden.

«Hunter, nein.»

Einer der Schatten hielt abrupt inne und fiepte empört, weil ihm der nächtliche Ausflug verwehrt bleiben sollte. Wenn der gute Hund doch nur wüsste, wie gern Dina gerade mit ihm getauscht hätte.

 

Es wäre insgesamt keine große Sache, Gale von einer Übergabe zu berichten, sobald sie Wind davon bekamen. Oma fand es jedoch rentabler, wenn sie den Stoff selbst einbehielten und bei nächster Gelegenheit gewinnbringend an einen ihrer Kontakte außerhalb des Counties veräußerten. Darum hatte sie bisher auch jede Möglichkeit ungenutzt verstreichen lassen, den Warenstrom in die Stadt gänzlich trocken zu legen, anstatt ihn wieder nach außerhalb umzuleiten. Dina war nicht glücklich damit, auch wenn ein Teil des Geldes, das die Familie damit machte, immerhin in Präventions- und Suchthilfeprogramme floss. Für den Rest konnte sie sorgen, wenn sie selbst irgendwann den Laden leitete, was hoffentlich noch eine ganze Weile dauerte.

Es gab einige Orte, die sich für eine Übergabe anboten, bis die Polizei sie fand und neue gesucht werden mussten. Der meistfrequentierte war der Containerhafen. Im Sommer kam sie sehr gern auf ihrer morgendlichen Laufrunde mit den Hunden vorbei, wenn die Sonne sich über den bunten Flickenteppich erhob und der Betrieb langsam in Gang kam. Früher waren sie oft mit ihrer Mutter hergekommen, um zuzusehen, wie die riesigen Frachter beladen wurden. Vincenzo hatte ständig gefragt, was da gerade unterwegs war, und bereitwillig alles geglaubt, was sie ihm vorgeschlagen hatten.

Heute Nacht gab es hier nur lauter Ecken, hinter denen jemand lauern konnte, während sie mit den Hunden dicht bei sich und der Waffe im Anschlag durch die endlosen Reihen eilte. Alles sah gleich aus. Nur die Spannung in der Luft stieg immer weiter an, je näher sie dem üblichen Treffpunkt kam.

Sie erreichte ihren Höhepunkt, als ein Schuss ertönte, der die Hunde erschreckte, gefolgt von einem dumpfen Aufprall. Rufe. Mehr Schüsse. Eine Menge Schritte, die sich entfernten, durcheinander stoben, von überall gleichzeitig zu kommen schienen.

Dina rannte, obwohl sie wusste, dass sie nur noch zu spät kommen konnte. Der Geruch von Blut stieg ihr in die Nase, der aber genauso gut ihrer eigenen Erwartung entspringen konnte. Auf einem freien Stellplatz inmitten des Stahllabyrinths lag wie ein Haufen zerknitterter Lumpen eine reglose Gestalt im Schnee, der sich um sie herum langsam dunkel färbte. Dina hätte im Licht der Laterne sicher erkennen können, wer es war, doch sie zwang sich, nicht zu genau hinzusehen. Eisern richtete sie ihr gesamtes Bewusstsein auf den Rest der Szene, die sich ihr bot.

Vielleicht fünf Schritte entfernt an der Ecke des Platzes stand ein hagerer Junge in engen Hosen und einer dunklen Lederjacke. Er schrak zusammen, als Dina aus der Gasse zwischen den Containern gerannt kam, wandte sich um und floh in die entgegen gesetzte Richtung. Rutschte auf dem matschigen, zertrampelten Schnee aus, behielt jedoch die Balance und verschwand im Schatten.

«Jelly, fass.» Dina stieg über die leblose Gestalt am Boden hinweg, den Blick krampfhaft geradeaus gerichtet. Sie konnte nicht riskieren, sich jetzt durch irgendetwas aus der Fassung bringen zu lassen. Für alles Persönliche war später Zeit, zuerst musste diese Sache beendet werden.

Bino trottete still hinter ihr her.

Der Flüchtige konnte nicht weit gekommen sein, als die Rottweilerhündin knurrte und jemand zu Boden fiel. Und schrie. Und schrie und wimmerte und nicht damit aufhörte.

Dina ließ sich Zeit. Sie behielt ihre Umgebung genau im Auge, konnte jedoch kein Zeichen für ungebetene Gesellschaft erkennen. Sie fand Jelly vor, die den Kerl in die Wade gebissen und zu Boden gerissen hatte. Die Waffe hatte er fallen lassen, sie lag ein gutes Stück außerhalb seiner Reichweite. Die Spuren im Schnee verrieten, dass er zuerst versucht hatte, sie zu erreichen, nun aber dazu übergegangen war, nach Jelly zu treten. Dadurch machte er sie nur noch wütender. Sie und Dina.

«Jelly, nein», sagte Dina laut.

Die Hündin zog sich auf der Stelle von ihm zurück, doch Dina trat an ihre Stelle, bevor der Typ auch nur auf die Idee kommen konnte, sie hätte ihm einen Gefallen getan. Mit dem Stiefel auf seiner Brust nagelte sie ihn an den kalten Betonboden und presste ihm die Luft aus den Lungen. Fast noch ein Kind, allerhöchstens Anfang zwanzig. Auf der neuen, aber gewollt mitgenommenen Jacke stand Demons. Das war eine der Gangs, die vor ein paar Jahren mit zu hohen Erwartungen nach Clarkehaven gekommen waren. Zusammen mit den Raptors und den Vipers hatten Dinas Eltern sie aus der Stadt vertrieben, doch nun trauten sie sich wohl wieder her. Großer Fehler.

Hatten sie ihn von der Straße aufgesammelt? Nein. Er sah eher wie ein Junge aus, den man mit großen Versprechen von Abenteuern aus einem behüteten Elternhaus gelockt hatte. Das hier war sicher nicht, was er sich darunter vorgestellt hatte. Den flehenden Wortfetzen und erbärmlichen Flüchen nach zu urteilen, für die er seine letzten Atemzüge verschwendete.

Dina jagte ihm eine Kugel genau zwischen die Augen. So ging es wenigstens schnell, das war mehr, als er verdient hatte. Den schlaffen Körper hievte sie sich auf die Schultern und brachte ihn zurück zum Ort des Geschehens.

Über der anderen Leiche stand Andrea, den Blick gesenkt und den Hut an die Brust gedrückt. Bino trabte zu ihm und schmiegte sich an sein Bein, bis er gekrault wurde.

Dina ließ den Jungen zu Boden gleiten, wischte sich die blutigen Hände notdürftig an der Hose ab und ging zu ihm, um den Blick zu wagen. Für einen Moment schwankte sie, als sie in Rudolphos wächsernes Gesicht blickte. Andrea hatte ihn auf den Rücken gedreht und ihm die Augen geschlossen.

Sie bekreuzigte sich und stellte mit Bitterkeit fest, dass sie erleichtert war, dass es nicht Luigi war. Rudolpho war ein guter Mann gewesen. Auch er verdiente dieses Ende nicht. Er hatte die Familie stets geachtet, sich aber abseits der Arbeit im Café und der Jobs, die er für Oma erledigte, lieber ins Private zurückgezogen.

«Sind deine Leute unterwegs?», fragte sie, als Andrea ihr die Hand auf die Schulter legte. Für die Geste war sie dankbar, doch sie wollte praktisch denken, so lang sie konnte. Noch waren sie hier nicht fertig. Mit dem Danach würden sie sich noch früh genug befassen müssen.

Nickend betrachtete er sie von der Seite. «Und du, bist du okay?»

«Einigermaßen», antwortete sie schnell, bevor sie weiter darüber nachdachte. «Äußerlich unversehrt. Ginge mir besser, wenn ich wüsste, wo Luigi ist.» Sie beide in einer Nacht zu verlieren, wäre zu viel. Dass es bisher kein Zeichen von ihm gegeben hatte, war im Grunde nicht besorgniserregend. Wenn er es sich aussuchen konnte, zog er es vor, auf Schusswaffen und alles, was unnötigen Lärm verursachte, zu verzichten. Die Ungewissheit nagte dennoch an ihr. Ihre Augen fingen an, zu brennen.

«Hier!», rief es aus einer Gasse heraus. Im nächsten Moment stand er am Rand des Lichtkegels, im blutüberströmten Trainingsanzug und mit verklebten Haaren. «Scheiße, es tut mir so leid, Bruder …» Sich den Ellenbogen haltend wankte er auf sie zu. «Es tut mir so leid, ich hab es versucht, aber …»

«Hast du sie erwischt?», fragte Dina und nahm ihn in den Arm. Gut, dass er lebte. «Hast du den Stoff?»

Zur Antwort winkte er kraftlos in die Richtung, aus der er gekommen war und lehnte sich an sie. «Alles da. Zwei von ihnen sind erledigt. Einer ist abgehauen, aber der weiß nicht, mit wem er es zu tun hatte.» Er trat einen Schritt zurück und packte Dinas Schultern. «Es hätte alles ganz anders laufen sollen. Wir haben uns im Hintergrund gehalten und wollten die ganze Sache erstmal nur beobachten. Wie immer. Aber diese Kerle sind plötzlich zu dritt aufgetaucht. Da ist die Lage plötzlich eskaliert. Es tut mir so leid, dass ich nichts tun konnte.»

«Schon gut.» Sich Vorwürfe zu machen, brachte sie nicht weiter. Wäre sie nur ein paar Sekunden früher aufgetaucht, hätte sie vielleicht alles verhindern können, aber was half es, sich in Wenn und Hätte zu verirren? «Es ist nicht deine Schuld. Es ist seine.» Sie deutete auf den toten Jungen, der mit leerem Blick in den schwarzen Himmel starrte.

 

Dina schlich durch die Wohnung ohne Umwege ins Bad. Sie hatte die Hunde nach Hause gebracht, das Blut notdürftig abgewaschen und sich umgezogen. Jetzt brauchte sie eine Dusche. Insgesamt war es aber aussichtslos. Mochten die äußerlichen Spuren sich verflüchtigen, der Geruch würde wie immer für Tage in ihrer Nase bleiben.

Die weißen Badfliesen waren wie der Schnee, in dem Rudolphos dampfendes Blut versickert war. Wann hatte sie zuletzt ein Wort mit ihm gewechselt? Am Samstag, bei Giovanni. Er war mit seiner Frau da gewesen, sie hatten sich über die Ausstellung unterhalten. Sein Sohn war nicht dabei gewesen. Mit dreizehn war er gerade in dem Alter, in dem Familienbesuche lästig waren, bevor man sie irgendwann wieder zu schätzen wusste.

In ein paar Stunden würde er erfahren, was ihm bevorstand. Welches Erbe er anzutreten hatte.

Mit an die glatte, kalte Wand gepresster Stirn ließ Dina sich heißes Wasser über den Rücken laufen. Vermischt mit Blut und Tränen bildete esin der Duschwanne blasse Rinnsale, die zum Abfluss liefen. Langsam ebbte das Adrenalin ab und ließ ihre Knie weich werden. Sie zitterte am ganzen Körper und hatte das Gefühl, nicht genug Tränen zu haben. Ihr Vater hatte immer hart gewirkt, distanziert, während ihre Mutter ihr beigebracht hatte, nicht alles in sich hineinzufressen, sondern den Gefühlen freien Lauf zu lassen. Momentan wirkte beides unerträglich. Alles war unerträglich.

Die Badtür wurde langsam aufgestoßen und Jodie stand im Rahmen, als wartete sie nur darauf, weggeschickt zu werden.

Um ehrlich zu sein wusste Dina nicht, was sie mit ihr anfangen sollte. Im Auto hatte sie sich eine Erklärung überlegt, die keine echte Lüge war, die brenzligen Details jedoch ausließ. Hätte sie allein sein wollen, hätte sie sich in ihrem Zimmer in Omas Haus verkrochen. Natürlich wollte sie sich viel lieber in Jodies Armen verkriechen. Aber sie fand es falsch, sich von ihr trösten zu lassen wie jemand, der ganz ohne Schuld in irgendeine Misere geraten war.

Aber sie wollte an irgendetwas anderes denken als Rudolphos fahles Gesicht, und sei es nur für den Rest der Nacht. Also drehte Dina sich um und bedachte Jodie mit etwas, das hoffentlich ein Lächeln war und keine gequälte Grimasse.

Sie war dankbar dafür, wie langsam Jodie das Shirt und den Slip abstreifte, um ihr Zeit zu geben, doch noch Einspruch zu erheben. Ebenso dankbar war sie für die sanfte Umarmung und den kleinen Kuss auf den Oberarm. Für das Schweigen, das ganz ohne Erwartungen auskam.

Wie gern sie diese Dankbarkeit irgendwie ausgedrückt hätte, aber in ihr herrschte gerade nur weißes Rauschen. Sie konnte nicht einmal aufhören, zu weinen, während sie in das schönste müde, besorgte Gesicht blickte, das ihr je untergekommen war. Wie konnte sie hier stehen und geliebt werden, während Rudolpho niemals wieder zu seiner Familie zurückkehren konnte? Er war nicht der Erste, den sie verloren hatte, und er würde nicht der Letzte sein, aber es führte immer wieder in die Mühle aus den ewig gleichen Gedanken darüber, was hätte sein sollen. So sinnlos das war, es ließ sich nicht einfach abstellen.

Und das so kurz vor Weihnachten.

Jodie strich ihr die nassen Haare aus dem Gesicht und hauchte ihr einen Kuss aufs Kinn. «Ich möchte dich nicht zu irgendetwas drängen», sagte sie so leise, dass es unter dem Prasseln des Wassers beinahe unterging. «Aber wenn du darüber reden möchtest. Wenn ich irgendetwas für dich tun kann. Oder wenn ich dich lieber allein lassen soll …»

«Nein.» Bei näherer Betrachtung wäre es ein Fehler, jetzt mit sich selbst und ihrem Kopf allein zu sein. «Wenn du mich für den Moment bitte einfach nur festhältst.» Sie legte die Arme um Jodie und drückte sie an sich. Sie sicher und hier bei sich zu wissen, war gerade furchtbar wichtig für sie.

«Okay.» Jodie drückte zurück und schmiegte sich an sie. «Vielleicht hab ich deine Musik ein bisschen durcheinander gebracht, weil ich nicht genau aufgepasst hast, wie sie geordnet war. Und vielleicht hab ich auch dafür gesorgt, dass Netflix dir demnächst komische Sachen vorschlägt.» Sie lächelte entschuldigend.

«Kein Ding.» Dina legte die Wange auf ihren Scheitel. Alltagssorgen waren genau das, womit sie ihren Kopf jetzt beschäftigen wollte. Mit der Vorstellung, wie Jodie es auf der Couch gemütlich hatte und sich die Zeit vertrieb, als warte sie darauf, dass Dina von irgendeinem stinknormalen Job nach Hause kam. Alltagsgedanken, die mit Andy oder Gale vollkommen absurd erschienen waren, funktionierten mit Jodie prächtig. «Hab es dir ja angeboten. Nur, was hast du dir denn angeschaut?»

«Nichts Bestimmtes», antwortete sie. «Hab mich so durch dies und das geklickt, konnte mich aber nicht so wirklich auf irgendwas davon konzentrieren … Ist das Blut?» Sie löste sich von Dina, um ihren Kopf zur Seite zu drehen, und wischte unter ihrem Ohr entlang.

«Nicht meins», wehrte Dina sofort ab. Irgendeine Stelle war es immer. Schlimm waren auch die Fingernägel. «Es ist nur … Ich wollte nur ein paar Freunde von mir von einer Party abholen und sie sind an so ein paar Typen von irgendwelchen Gangs geraten …» Sie hatte überlegt, ob sie das entscheidende Details ebenfalls preisgeben sollte, sich dann aber dagegen entschieden. Alle Tränen waren geweint worden, von Luigi, Andrea und ihr. «Vielleicht ist es ein bisschen eskaliert.»

«Oh», machte Jodie langgezogen und wusch sich das bisschen Blut gründlich von der Hand. «Habt ihr die Polizei gerufen? Wollen die noch irgendwas von dir, eine Aussage oder so?»

Seufzend sank Dina gegen die Wand. Sie hätte gar nicht davon anfangen sollen. Aber es hatte raus gemusst, irgendwie. «Es ist schon alles geregelt, okay? Mach dir keine Gedanken.» Sie zog Jodie an den Hüften zu sich heran und ließ den skeptischen Blick mit einem Kuss verschwinden.

Es blieb nicht bei dem einen. Aber während Jodie die Hände an Dinas Armen hinab gleiten ließ und ihren Hals küsste, ihr Schlüsselbein, da kamen ihr nur noch mehr Stellen in den Sinn, an denen sie noch auf Reste von Blut stoßen konnte. Es war überall, wenn man half, vier Tote von einem Tatort zu entfernen. Diese Gedanken waren gerade äußerst unwillkommen, setzten sich aber fest.

Schweren Herzens nahm sie die Hände von Jodies Hintern und schob sie vorsichtig ein Stück auf Abstand. «Versteh mich nicht falsch. Es liegt nicht an dir, du bist genauso heiß wie immer, aber im Moment … Lass mir einen Moment, um fertig zu duschen, okay?»

«Sicher.» Obwohl sie es sich nicht anmerken lassen wollte, sank Jodie ein bisschen in sich zusammen und trat mit einem weiten Storchenschritt aus der Dusche. Sie hüllte sich in ein Handtuch und rubbelte sich hingebungsvoll trocken. «Wollen wir vielleicht lieber nicht auf die Eisbahn?»

«Doch.» Dina beugte sich vor, um sich die Haare auszuspülen. Beim ersten Mal hatte sie sich so lang geschrubbt, bis ihre Haut ganz rot und aufgescheuert war, aber das hatte auch nicht geholfen. «Wir gehen und wir werden es genießen. Besser, als die ganze Zeit nur den düsteren Gedanken nachzuhängen.»

«Wie du meinst.» Jodie setzte sich auf den Toilettendeckel, um sich die Beine abzutrocknen, und hob das T-Shirt auf. Anstatt es anzuziehen, behielt sie es allerdings nur in der Hand und schaute zu Dina hoch. «Ach, ja … Vielleicht sollte ich dir auch beichten, dass ich den Hund mit ins Schlafzimmer genommen hab …»

Hunter war keiner von denen, die sofort auf einen zu gerannt kamen, wenn man die Wohnung betrat, darum hatte sie sich nichts dabei gedacht. War aber trotzdem gut zu wissen, welche Moden sie ihm hier gestattete. «Da ist man einmal nicht da und du verwöhnst ihn. Normalerweise ist das Schlafzimmer für das Rudel Sperrgebiet.»

«Huch.» Jodie wurde rot und vergrub das Gesicht im Handtuch. «Hab mich schon gewundert, dass er nicht gleich aufs Bett wollte. Aber wenn man schon Tiere hat, warum verzichtet man dann zur kuscheligsten Zeit des Tages auf sie?»

Dina stieg aus der Dusche und nahm sich ein zweites Handtuch von der Heizung. «Hast du eine Ahnung, wie wenig Platz in einem Bett ist, das du dir mit diesen drei Hunden teilst.» Dina wusste es ziemlich genau. Man erfuhr es automatisch, wenn man es ihnen als Welpen gestattete und die Angewohnheit dann nicht schnell genug wieder los wurde. Darum hatte das mit Bino aufgehört.

Darauf antwortete Jodie mit einem vielsagenden Lächeln. «Och, das geht schon, wenn man ganz eng zusammenrückt.» Sie stand auf und demonstrierte Dina, wie sie sich das vorstellte. Selbst der Kuss konnte es gar nicht mehr näher werden lassen.

«Wir brauchen eigentlich nicht einmal den Hund als Ausrede.» Sie schlüpfte in ihre Boxershorts und hob Jodie hoch. «Dass du nur weißt, wie gut es tut, dich hier zu haben.» Vielleicht musste sie sich einfach eine Weile Zeit geben, damit morgen wieder alles weitergehen konnte.

Es bedurfte nicht vieler Worte. Man konnte förmlich zusehen, wie der Fakt, dass Dina und Luigi vor ihrer Tür standen, sich an den reihte, dass ihr Mann in der letzten Nacht nicht nach Hause gekommen war, und wie das Schweigen ihr den Rest gab.

Das war alles, was Dina in der folgenden halben Stunde tat: zusehen. Es war Luigi, bei dem Constance Halt suchte, der ihr von den Ereignissen der Nacht berichtete, bis sie ihn bat, aufzuhören, und der sie wissen ließ, wie jetzt alles weiterging.

Abgesehen von einer Sache. «Kommst du zurecht?», fragte Dina in die anschließende schwere Stille hinein.

Constance schaute sie an, als wüsste sie nicht so recht, was von ihr zu halten war. Sie war lang genug mit Rudolpho verheiratet gewesen, um zu wissen, was Dinas Anwesenheit bedeutete. Dass sie nicht nur als emotionaler Beistand hier saß. «Was bleibt mir denn anderes übrig? Seit Jahren gehe ich alle Eventualitäten durch. Dass wir nicht ewig Glück haben konnten, war mir klar, aber trotzdem …» Ihre Stimme erstarb.

«Ich möchte, dass du DJ anrufst. Es gibt Dinge zu besprechen.»

Nervös wanderte ihr Blick zur Wanduhr. «Er sitzt gerade in einer wichtigen Klassenarbeit. In einer Stunde kann ich ihn wieder erreichen, nicht eher. Aber Dina, ich habe gerade meinen Mann verloren und jetzt willst du mir auch noch meinen Sohn nehmen?» Hilfesuchend wandte sie sich an Luigi, doch als er ihrem Blick nur mit Bedauern begegnete, löste sie sich von ihm.

«Niemand nimmt dir deinen Jungen», versicherte Dina ihr. «Aber DJ ist nicht dumm. Er weiß, wie es läuft. Und du weißt, dass Rudolphos Platz neu besetzt werden muss.» Er war pflichtbewusst genug gewesen, Frau und Kind nicht wehrlos zurückzulassen. Er hatte ihnen beigebracht, wie man eine Waffe verwendete. Wann. Und wann nicht.

«Aber er ist dreizehn!», rief Constance. Wo die Tränen gerade erst versiegt waren, liefen sie nun erneut an ihren Wangen hinab.

«Und?», fragte Dina eine Spur schärfer als beabsichtigt. «Das sagst du mir? Hat jemand mich und meinen Bruder gefragt, wie alt wir waren, als die Realität uns eingeholt hat? Niemand von uns kann sich aussuchen, wann er aufhört, Kind zu sein.»

«Aber …» Constance starrte auf ihre weißen Fingerknöchel. Sie sah den Jungen wohl schon neben seinem Vater liegen.

Es wäre Dina lieber gewesen, gar keinen Grund zu haben, um hier zu sein, oder ihr wenigstens bedingungslos den Beistand geben zu können, den sie sich erhoffte. Doch die Dinge ließen sich nun einmal nicht ändern. Wieder einmal war sie es, die die Leute daran erinnern musste, dass die Familie Martelli kein Wohltätigkeitsverein war. «Wo wärst du heute ohne uns?», fragte sie. «Du warst sehr froh, die Familie im Rücken zu haben, vor was? Acht? Neun Jahren?» Sie beugte sich vor und verschränkte die Finger. «Was hätte passieren müssen, bis die Cops dir geholfen hätten? Habe ich nicht selbst dafür gesorgt, dass du keine Angst mehr haben musst, wenn das Telefon klingelt? Du warst erleichtert, als du in der Stadt nicht mehr darauf achten musstest, nicht verfolgt zu werden. Hast du damals die Frage nach dem Wie gestellt?» Dina erinnerte sich noch genau daran, an den Ausdruck im Gesicht dieses jungen Mannes, der einem auf der Straße gar nicht weiter auffiel, wenn man an ihm vorbei ging. Sie hatte sichergestellt, dass er verstand, mit wem er sich angelegt hatte, auch wenn sie sofort danach dafür gesorgt hatte, dass es ihm nichts mehr nutzen würde. Es war ein gefährlicher Moment gewesen, zu diesem Schluss war sie später gekommen, ein viel zu guter. Daran, wie sie sich an diesem Tag gefühlt hatte, dachte sie noch immer mit gemischten Gefühlen zurück.

Luigi bedachte sie mit einem ernsten Blick. Ausgerechnet jetzt, wenn sie schon am Boden war, diese alte Geschichte wieder auszugraben, war vielleicht nicht die sensibelste Art und Weise. Aber es wirkte.

«Oma hat immer viel für euch getan, oder nicht? Familie funktioniert nur, wenn alle aufeinander aufpassen.»

Constance hatte aufgegeben. Sie war in sich zusammengesunken und rang nach Worten. «Kannst du mir wenigstens versprechen, dass ihr ihn nicht sofort auf irgendein Himmelfahrtskommando schickt?», fragte sie kraftlos.

Versöhnlich hielt Dina ihr die Hände entgegen. «Was hätten wir schon davon, unsere Leute zu verheizen? Aber auch du weißt, wie es ist. Alles, was getan werden muss.»

 

Wie sich herausstellte, war DJ wesentlich heißer auf die Idee, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, als seiner Mutter lieb war. Für die kinofilmverwöhnten Ohren eines Teenagers mochte das alles nach einem actionreichen Abenteuer klingen, aber Dina würde ihn schon am Boden der Tatsachen halten.

Vorerst war sie aber froh, den Nachmittag mit Jodie, Andy, Grover und den anderen auf dem Eis verbringen zu können. Ganz ausgelassen war sie aber doch nicht. Da half es auch wenig, dass sie Sofia und Antonio mitgebracht hatten, um die Familienverträglichkeit zu demonstrieren. Die beiden klebten abwechselnd an Dina und an Grover. Manchmal bekam auch Andy sie zu fassen und vollführte mit ihnen Manöver, die bei Beatrice selbst auf eine Meile Abstand noch Herzrasen und Schweißausbrüche verursachen dürften.

Dina erwischte sich dabei, wie schlechtes Gewissen an ihr nagte, weil sie hier war und Spaß hatte. Dabei war alles gesagt, getan und geregelt worden und von den hier Anwesenden hatten nicht einmal die Kinder ihn näher gekannt denn als einen, der ihnen im Café Eis und Kuchen brachte. Was für Dina normalerweise so leicht zu trennen war, floss gerade ineinander. Vielleicht lag es an der Vorweihnachtszeit und dem Stress der letzten Wochen, dass sie gerade so übertrieben emotional war.

Dabei gab es um sie herum so viele Gründe, sich zu freuen: Jodie unterhielt sich mit Gwen, während beide gemächlich ihre Bahnen zogen und sich prächtig zu verstehen schienen. Nach über einem halben Jahr sah sie Trish und Elle wieder, die gerade Grover flankierten. Antonio stand nach kurzer Eingewöhnung schon viel sicherer auf den Kufen als im letzten Winter und forderte seine Schwester wagemutig zu kleinen Rennen auf.

Andy war nirgends zu sehen.

Dummerweise war es in dem Moment, da man dessen gewahr wurde, meist schon zu spät. Instinktiv spannte Dina alle Muskeln an und legte eine Hundertachtziggradwende hin. Genau zur rechten Zeit, um Andy immerhin auf sich zukommen zu sehen, auch wenn an ausweichen nicht mehr zu denken war. Die Wucht, mit der sie gegen Dina prallte und sie an der Hüfte mitriss, konnte sie auch nicht mindern, sodass sie mit dem Rücken gegen die Bande knallte.

«So abwesend?», fragte Andy rau, so nah an Dinas Ohr, dass es ihr die Nackenhärchen aufstellte. Sie roch nach Tannengrün und Motoröl, wie immer, und dazu noch nach einer Note Kokos, die sicher daher rührte, dass sie sich mit Jo getroffen hatte.

«Ich hatte eine absolut beschissene Nacht. Nein, nicht wegen ihr», fügte sie an, weil sie Andys Gesicht nicht sehen musste, um zu wissen, was sie hatte sagen wollen. Allerdings wollte sie sich die weiteren Details sparen. Über eine Schlägerei mit irgendwelchen Gangstern würde Andy mehr wissen wollen, als Dina sich auf die Schnelle aus den Fingern saugen konnte. «Jodie war das Einzige daran, was nicht beschissen war. Im Gegenteil.»

«Na, siehste.» Andy schob die Hände in Dinas Hosentaschen. «Dann scheiß doch einfach auf den Rest und entspann dich.»

Dafür hatte Dina nicht einmal eine Erwiderung übrig. Ginge das so einfach auf Kommando, müsste sie sich mit weitaus weniger Altlasten herumschlagen.

«So beschissen?» Andy lehnte sich zurück, um Dina ins Gesicht sehen zu können. «Dann müssen wir dich halt auf andere Gedanken bringen. Und da die althergebrachte Methode ja nicht mehr aktuell ist …» Wie um ihr zu zeigen, was sie verpasste, glitt sie einen weiten Schritt zurück und zog Dina mit so viel Kraft zu sich, dass sie wieder gegeneinanderprallten. Lächelnd schnappte sie mit den Zähnen nach Dinas herausgestreckter Zunge. «Eben mit Hilfe einer der reizenden Damen, mit denen wir umgeben sind? Warum nicht mit der einen, die eh schon die ganze Zeit herüberschaut, während sie mit Gwen plaudert? Ich finde, du solltest dich den beiden anschließen.»

Dina machte einen Schritt zur Seite und zog Andy an den Händen zu sich heran, sodass sie sich langsam umeinander drehten. «Danke übrigens, dass du dich von deiner besten Seite zeigst.»

Andy schnaubte empört. «Ich zeige mich von meiner schlimmsten Seite», erwiderte sie. «Erwarte an Silvester bloß keine vornehme Zurückhaltung von mir, Schätzchen. Ich bring Rachel und Jo mit, was sollen die beiden von mir denken?»

«Ich erwarte nicht, dass du dich komplett verstellst.» Dina vollführte eine Drehung, die sie mit dem Rücken zu Andy in deren Armen landen ließ, und wieder zurück. «Es wäre mir nur lieb, wenn du ihr nicht auf die falsche Art Angst machst.» Ihr war klar, dass Andy das meist nicht mit Absicht tat. Es war einfach ihre Art, doch Leute, die sie nicht kannten, verschreckte sie damit sehr leicht. Was Jodie bisher von ihr erlebt hatte, war nicht gerade eine Glanzleistung gewesen. Das hier schon eher.

«Meinst du, mir Grundlegendes über Höflichkeit beibringen zu müssen?»

Einen Moment schwiegen sie sich nur an.

«Bereit?», fragte Andy dann, nur um nicht zu riskieren, dass Dina doch noch auf die Frage antworten wollte.

«Ich bin bereit.» Dina brachte sich in Position. Zusammen nahmen sie Fahrt auf, bis Andy Dina fest an den Hüften packte und in die Höhe riss. Nur im ersten Moment war ihr etwas mulmig dabei, dass sie den Boden unter den Füßen verlor. Sie hatten das schon so oft gemacht, auch in vertauschten Rollen, dass sie einfach für einen Moment den Anblick der Köpfe von oben genießen und den Kindern winken konnte.

«Ich stell das mal hier ab, wenn es recht ist.» Auf Höhe von Jodie und Gwen ließ Andy sie zu Boden gleiten und jagte dann den Kindern hinterher, die auch so hoch hinaus wollten.

«Ladies.» Sie hakte sich bei den beiden ein. «Wenn ihr nichts dagegen habt, begleite ich euch ein Stück.»

«Gern.» Gwen stellte die Füße parallel, um sich von ihr ziehen zu lassen.

«Mit Freuden.» Jodie schmiegte sich an ihren Arm. «Alles gut?»

«Sicher. Und bei euch?»

«Bestens», antwortete Jodie. «Wir haben gerade über Toronto gesprochen. Meine Großeltern kommen von da. Als ich noch ein Kind war, haben wir sie oft besucht. Das Restaurant, wo wir damals immer gegessen haben, ist jetzt eine Kunstgalerie mit Café.»

«Ein richtig Gutes», ergänzte Gwen. «Elle hat da im nächsten Jahr eine Ausstellung. Wir wollen sie im Frühjahr besuchen, vielleicht kommt ihr mit?» Im Vorbeifahren hielt sie Grovers Hand, was Elle mit leisem Kichern kommentierte. Niemand, den Dina sonst kannte, klebte nach all den Jahren immer noch dermaßen aneinander.

«Wir sehen, was sich machen lässt.» Dina vermied es nach Möglichkeit zu weit voraus zu planen, weil man nie wissen konnte. Sie verließ die Stadt auch nur selten für längere Zeit. Nicht, dass Oma sie davon abhielt, es war eher der Gedanke, dass in der Zwischenzeit etwas Weltbewegendes geschehen konnte, der sie meist davon abhielt. Doch der Gedanke, mit Elle zwischen ihren eigenen Werken entlang zu wandern und sich hier und da etwas zu den Hintergründen, hatte zweifelsfrei seinen Reiz. Ganz zu schweigen davon, Jodie glücklich zu machen.

Wenn Vincenzo wieder auf freiem Fuß war, würde sie auch gebührend vertreten, dann konnte sie darüber nachdenken.

Bis zum Ende des Jahres standen aber noch so viele Dinge an, die zu erledigen und zu erleben waren, dass sie kaum wagte, darüber hinaus zu denken. Mehr, als dass sie an Neujahr vermutlich erst sehr spät und in Jodies Armen aufwachen würde, musste vorerst nicht zählen.

 

An diesem Abend fiel das Pokerface niemandem schwer. Zu Ehren von Rudolpho saß Dina mit Luigi, Maria, Leonardo, Andrea und DJ im Billardzimmer und gab die Karten. Alle gaben sie eine kleine Anekdote mit Rudolpho zum Besten und hoben die Gläser dazu. Sie erzählten DJ davon, was für ein guter Mann sein Vater gewesen war, und der Junge bedankte sich mit einem stummen Nicken.

Dann brachten sie ihm Poker bei. Es war eine willkommene Aufgabe, für sie alle wie auch für ihn, weil er sich ganz auf das Spiel konzentrieren musste.

«Wie herum halten Fledermäuse eigentlich ihre Spielkarten?», fragte Cousine Bernadette mitten in eine längere Phase des Schweigens. Sie hatte sich mit dem Zeichenblock auf dem Sofa drapiert, sodass sie eigentlich selbst ein Gemälde wert war, und ließ im Allgemeinen nur wenig von sich hören. Was nun ihr nächstes Projekt nach der Zeichnung von ihr und Jodie darstellte, konnte Dina von ihrer Warte aus nicht erkennen. Leider konnte sie nicht einmal unauffällig Munkus fragen, der auf ihrer Schulter lag und den besten Ausblick hatte.

«Kopfüber natürlich», antwortete Luigi in einem Ton, als verstünde er nicht, wie man diese Frage ernsthaft stellen konnte.

Misstrauisch drehte Andrea sein Blatt hin und her. «Ist ja alles Unfug. Wie willst du Spielkarten denn auf dem Kopf halten?»

«Na, ja, wenn du vier Asse hast …» Mit diesem trockenen Kommentar breitete Luigi sie genüsslich auf dem Tisch aus. Die anderen warfen hin und grummelten vor sich hin. Dina klopfte ihm anerkennend auf die Schulter, während sie die Karten zusammensammelte.

DJ starrte den Filzbezug mit zusammengebissenen Zähnen an. Dina sah sich selbst dort sitzen. Sie wusste genau, was in ihm vorging. Wie konnte die Welt sich einfach weiter drehen? Wie konnten die Leute sich an einem Tag wie diesem mit Belanglosigkeiten befassen? Du konntest versuchen, dich selbst in irgendwelche Kleinigkeiten zu flüchten, aber irgendwann holte es dich wieder ein.

Wie konnte jemand, der so lange selbstverständlich Teil deines Lebens gewesen war, plötzlich einfach aufhören, zu existieren?

«Sehen Fledermäuse überhaupt gut genug, um zu erkennen, was sie auf der Hand haben?», fragte Leonardo in die neue, leicht angesäuerte Stille hinein. «Aber, Freunde, ich fürchte, das werde ich nicht mehr mit euch ergründen können. Ich muss mich auf den Weg machen, schließlich werde ich heute Abend noch erwartet.»

«Uh», machte Maria und stupste Dina mit dem Ellenbogen an, einfach weil die neben ihr stand. «Wer ist es denn?»

«Eine heimliche Liebschaft, die treu gewartet hat, bis du endlich wieder aus dem Bau kommst?», säuselte Luigi.

Das war auch Dinas Vermutung, auch wenn sie sich aus Plenumsdiskussionen über die Freizeitgestaltung der Leute lieber heraus hielt. Es wäre auf jeden Fall nicht unwahrscheinlich. Bei in Frage kommenden Damen und Herren war Leonardo beliebt, ihm haftete der Hauch eines Gentlemans an, der gewisse Geheimnisse hatte. Die langsam ergrauenden Schläfen trugen ihren gewissen Teil zur Attraktivität noch bei, konnte Dina sich vorstellen.

«Jemand, den wir kennen?», hakte Maria nach.

«Das ist ein Geheimnis.» Mit verschwörerischem Lächeln wandte er sich zum Gehen und ließ sie alle mit ihren Mutmaßungen zurück.

Der Moment, als er an Bernadette vorbei ging, ohne trotz der idealen Gelegenheit auch nur einen heimlichen Seitenblick auf ihre Zeichnung zu werfen, war der Moment, in dem Dina misstrauisch wurde. Selbst eine Nebensächlichkeit wie diese genügte, um die kleinen Zweifel wieder auf den Plan zu rufen, die von den jüngsten Ereignissen in den Hintergrund gedrängt worden waren.

Lange genug, um nicht aufzufallen, brachte sie damit zu, die Karten in die dafür vorgesehene Schublade im Tisch zu verstauen. «Hey, DJ. Wird langsam Zeit, dass du nach Hause kommst. Ich fahre dich.» Constance mochte ihn vom Unterricht befreit haben, aber Dina hielt es für besser, wenn er nicht ewig von Zuhause fort blieb. Außerdem brauchte sie eine Ausrede, um zu verschwinden.

Der Gedanke schien ihm nicht gerade zu gefallen. Er gab jedoch keine Widerworte und erhob sich wie einer, der sich zu jeder Bewegung zwingen musste. Als sie stehen blieb, um wenigstens einen kleinen Blick auf die Skizze zu werfen, ehe sie fertig war, ging er an ihr vorbei und blieb erst an der Tür stehen.

Tatsächlich waren auf dem Blatt Fledermäuse, die an einer Lampe hingen und miteinander Karten spielten. Ein wenig erinnerte es an das bekannte Gemälde mit den Hunden, war aber deutlich an den heutigen Abend angelehnt. Alle trugen Krawatten und große Sonnenbrillen.

«Für Oma», flüsterte Bernadette und hielt Dinas Blick, bis die sich einen Finger auf die Lippen legte. Dann erst konnte Dina sich ihr entziehen und DJ in die Garage bringen.

Wie erwartet stand Leonardos Alfa Romeo nicht mehr da. Genug, um sich vorher frisch zu machen, schien ihm an diesem Date also nicht zu liegen.

Beim Anblick der frischen Reifenspuren im Schnee fand sie es beinahe schade, dass sie ihm nicht sofort folgen konnte. Zwar konnte sie ihn ganz simpel über GPS orten – Oma wusste gern, wo ihre Leute waren – und hatte auch eine grobe Ahnung, wohin es ihn gezogen haben könnte, trotzdem war es eine Schande, die Gelegenheit nicht zu nutzen.

«Lass mich mitkommen.» DJ sah sie nicht an, während er diese Bitte aussprach.

«Was? Es wäre ja irgendwie sinnfrei, dich nicht mit zu dir nach Hause zu nehmen, findest du nicht auch?»

«Hinter Leo her», sagte er mit Nachdruck. «Du musst mich nicht anlügen und du musst mich nicht als Ausrede missbrauchen. Nimm mich mit.» Er sprach in den weiten Kragen seines Hoodies, aber es war still genug im Wagen, um über das allgegenwärtige Brummen des Motors jedes Wort zu verstehen.

«Kommt gar nicht in Frage.» Leugnen war an dieser Stelle vollkommen überflüssig. Er hatte den Abend damit verbracht, auf Details zu achten, die die anderen, vollkommen in ihr Spiel vertieft und mit den Gedanken bei anderen Gesten und Blicken, einfach hingenommen hatten. «Vollkommen egal, was heute Nacht noch passiert, du hast nichts damit zu tun. Ist das klar?»

«Ich dachte, ich soll lernen. Also. Bring mir was bei.»

«Nicht heute, nicht jetzt, nicht so.» Die Bullen sollten sein Gesicht nicht schon kennen, bevor seine kriminelle Karriere überhaupt begonnen hatte.

«Du verlierst nur Zeit, wenn du einen Riesenumweg fahren musst.» Jetzt sah er sie an. «Ich muss irgendwas machen, Dina. Wenn ich jetzt nur daheim sitze und Löcher in die Wand starre, dreh ich durch.»

«Ich weiß.» Oma hatte ihnen die Zeit gelassen, die sie nötig gehabt hatten, sie aber bald voll eingebunden. Mit dem Haushalt, mit den Hunden, mit der Arbeit. Nicht lange später auch mit den Familiengeschäften. Dass das hier eine gute Idee war, davon war sie noch immer nicht überzeugt, aber an dem Punkt mit der verlorenen Zeit war was dran.

«Wird es irgendwann gehen?»

«Es gibt ein paar sehr wichtige Regeln.» Nur ungern wich Dina ihm ausgerechnet an dieser Stelle aus, aber es war der falsche Zeitpunkt für diese Gespräche. Er konnte nur eines haben. Später würde sie ihm ein Ohr leihen, wenn er sich aussprechen wollte, und ihm erzählen, was ihm vielleicht helfen konnte. «Du tust, was man dir sagt. Vor allem und besonders im konkreten Fall heißt das, dass du tust, was ich dir sage. Du stellst keine Fragen und du gibst keine Widerworte. Capisce?»

«Verstanden …», murmelte der Junge.

«Gut, dann mach das Handschuhfach auf. Der Code lautet null vier zwei acht. Gib mir die Waffe und dann das Magazin.» Dinas Vermutung hatte sich bestätigt. Leonardos Auto stand unter der Freewaybrücke nicht weit außerhalb der Stadt. Hier hatte sie sich öfter mit Gale getroffen. Hinter einem kleinen Wall ging es hinunter zum Flussbett, wo man praktisch nicht gesehen werden konnte.

«Was ist das für ein Datum?», wollte DJ wissen, weil die Leute den Teil mit Stell keine Fragen immer ignorierten.

«Ein wichtiges.» Sie zog das Handy aus der Tasche und schaltete die Sprachaufnahme ein. An Leonardos Gespräch mit wem auch immer würde sie nicht nahe genug herankommen, aber vielleicht ergaben sich andere Unterhaltungen, bei denen es nützlich wäre, sie auf Band zu haben. An so eine Aufgabe ging man nicht unvorbereitet heran.

Vorsichtig reichte DJ ihr die Waffe. Erst, als er losgelassen hatte, griff er nach dem Magazin. Er wollte cool tun, aber dass er sich damit absolut nicht wohl fühlte, konnte er nur schlecht verbergen.

«Du bleibst sitzen», stellte Dina fest. «Vollkommen egal, was du siehst und hörst. Falls es echten Stress gibt oder ich in einer Stunde nicht wieder hier bin, rufst du Oma an. Du erklärst, wo wir sind und dass wir Ärger mit den Bullen haben.»

Die Aussicht, jetzt hier mit Warterei abserviert zu haben, gefiel ihm offensichtlich nicht, doch er nickte und rutschte mit finsterer Miene tiefer in den Sitz.

«Braver Junge.» Dina stieg aus und schloss die Tür ganz leise. Über ihr zog ein nicht enden wollender Strom aus Autos vorbei, dessen Lärm ihre Schritte, aber hoffentlich nicht das Gespräch übertönen würde, das sie belauschen wollte. Im Schatten des massiven, mit Graffiti beschmierten Brückenpfeilers schlich sie auf den Wall.

Unten am Fluss bot sich ihr das erwartete Bild: Ein Streifenwagen stand mit Blaulicht auf dem betonierten Weg, in seinem Flackern waren Leonardo und ein Polizist auszumachen. Mehr als die groben Umrisse erkannte sie nicht eindeutig, ohne geblendet zu werden.

«… aber gar nichts?!», ertönte die gereizte Stimme des Polizisten. «Das war ja schon fast zu sauber!»

«Kann ich mir auch nicht erklären», erwiderte Leonardo. «Von mir haben sie nichts.»

So ganz stimmte das ja nicht. Das Wo war schließlich ihm herausgerutscht, auch wenn das nicht viel am Ausgang der Razzia geändert hätte.

«Wir haben von dir bisher auch gar nichts», stellte Callahan aalglatt fest. «Weder die Kinder noch die versprochenen ach so brisanten Dokumente. Vielleicht sollte ich doch noch mal …»

«Nein!», fiel Leonardo ihm fast panisch ins Wort. Womit konnte dieser Kerl so viel Druck auf ihn ausüben? Wenn sie ihn auf irgendeine Weise zwangen, dann musste sie nur den Grund dafür beseitigen und sie konnten die Zusammenarbeit beenden. Vielleicht konnten sie den Spieß dann sogar umdrehen. «Ja, an mir ist eine Menge vorbeigegangen, weil ich im Bau saß. Aber jetzt, wo ich wieder draußen bin …» Er zögerte. «Ich weiß, dass Oma kürzlich in den Besitz einer beachtlichen Menge Heroin und Crystal Meth gelangt ist. Sobald ich herausfinde, an wen es weiterverkauft werden soll, und wann, dann wirst du es erfahren. Du würdest nicht nur sie drankriegen sondern auch die anderen. Sie hat so einige Kontakte in ganz Neuengland verstreut.»

Dina wurde kalt. Alles, was sie gerade eben noch gedacht hatte, darüber, ihm zu helfen, wurde mit einem Schlag nichtig. Leonardo wollte Oma persönlich ans Messer liefern? Wie konnte er nur? Er gehörte zur Familie! Dinas Mutter hatte ihn aus dem Straßengraben aufgesammelt, ihm ein Zuhause gegeben und ihn zu einem Mann von Ehre gemacht. Zumindest hatte Dina ihn bis eben für einen gehalten.

Ein paar Herzschläge lang herrschte Schweigen, dann stieg Callahan wortlos in den Streifenwagen und fuhr davon.

Dina wartete, lauschte auf Leonardos Schritte im harschigen Schnee. Kälte schloss sich um ihr Inneres wie eine dünne Eisschicht. Sie zwang sich, ganz ruhig zu atmen, zählte mit, so wie sie es Jodie geraten hatte. Nicht ganz einfach bei dem, was sie nun zu tun hatte. Dass er ihr so nahe stand, machte alles nur schlimmer. Früher war ihr Vater ihr oft unnahbar erschienen. Damals hatte sie nie so werden wollen wie er. Aber vielleicht musste man das sein, um das alles zu ertragen.

Sie war gespannt wie eine Bogensehne, als er auf ihre Höhe ankam und beim Anblick eines zweiten Wagens hinter seinem stockte. Noch bevor er sich Gedanken darüber machen konnte, was für einer es war und warum er hier stand, packte sie ihren alten Kameraden am Kragen.

Seine Reflexe übernahmen die Kontrolle und sie rangen miteinander, doch die Überraschung war auf Dinas Seite. Sie war ein bisschen erschrocken, wie leicht es war. Er keuchte schmerzerfüllt, als der Beton des Pfeilers in seinem Rücken ihm die Luft aus den Lungen presste. Sein Geruch nach Zigarren und demselben Aftershave wie schon vor zwanzig Jahren hatte sich früher immer wie Zuhause angefühlt und machte nun, dass ihr schlecht wurde.

Erst jetzt erkannte er sie im schwachen Licht der Laternen an der Straße. Er sah sie an, als sei sie der Sensenmann persönlich.

«Ciao, Leonardo», sagte sie so leise, dass es im Verkehrsrauschen über ihnen beinahe unterging. Die kleine Auseinandersetzung hatte ihr geholfen, zur Ruhe zu kommen.

«Dina …», presste er hervor. «Was machst du denn hier?»

«Ich wollte Dolphs Jungen heim bringen», antwortete sie im Plauderton. «Da hab ich deinen Alfa hier stehen sehen und mir Sorgen gemacht. Schon ein seltsamer Ort für ein Date.» Tatsächlich eignete er sich eigentlich nur dann, wenn man sich mit jemandem wie Gale Crowfield traf.

«Ha, ha … Ja. Echt lieb von dir, dass du dir Sorgen machst, aber vollkommen unnötig. Ich wollte gerade wieder heim kommen. Du kannst mich also wieder loslassen …» Er versuchte so sehr, locker zu wirken, dass sie es ihm auch nicht abgekauft hätte, ohne vorher alles mitbekommen zu haben.

Stattdessen schob sie ihn ein Stück an der Wand nach oben. «Ziemlich ungemütlich hier, was? Darum ist Callahan ja auch so schnell abgehauen, nicht wahr?»

Seine Augen weiteten sich, was aber auch mit ihren Fäusten an seiner Kehle zu tun haben konnte. «Dina, das ist alles ganz anders …» Da er an dieser Stelle Gale nicht ansprach, ging sie davon aus, dass sie das Spielchen mit dem Date jetzt aufgeben und zur Sache kommen konnten.

«Es klang ziemlich eindeutig, als er von den Kindern und den Dokumenten gesprochen hat. Du hast die Wohnung verwanzt, als du Beatrice besucht hast.»

«Sie sollte mich gar nicht sehen», sagte er. «Aber sie stand plötzlich im Flur und da musste ich ihr ja irgendwas erzählen. Wenn Vince einfach geredet hätte …» Er verstummte, als er einsah, dass er sich damit keinen Gefallen tat.

Weil sie nicht fassen konnte, dass er sich jetzt auch noch rechtfertigte, legte sie ihm eine Hand um den Hals und ließ mit der anderen seinen Kragen los. «Die Bullen wollen eine Frau und zwei kleine Kinder entführen und du hilfst ihnen natürlich dabei.»

Zur Antwort bekam sie nur ein hilfloses Gurgeln.

Dina winkte in Richtung des Wagens. Das war gerade genau die Art Lektion, die der Junge jetzt brauchen konnte. Erst, als sie die Autotür zuschlagen hörte und die Schritte des Jungen ein Stück weit hinter ihr verstummten, nahm sie etwas Druck von Leonardos Hals. Langsam, damit er es bloß deutlich mitbekam, zog sie ihre Waffe.

Er legte die Hände um ihr Handgelenk und sein glasiger Blick huschte zwischen Dina und DJ hin und her. Wie schnell er plötzlich so aus der Fassung geraten war. «Wir können doch sicher über alles reden. Du würdest doch nicht vor dem armen Jungen …»

«Sieh mich an», forderte sie. «Du kannst gern reden, aber nur mit mir. Lass uns zum Beispiel darüber sprechen, warum zur Hölle und mit diesem Schmierlappen gemeinsame Sache machst.»

Leonardos Fingernägel drückten sich in ihre Haut. «Du hast ja nicht den Hauch einer Ahnung, wie es im Knast zugeht», keuchte er. «Was da für Gestalten einsitzen. Wie die Wärter mit dir umgehen. Und erst recht, wenn du in Verdacht stehst, Verbindungen zur Mafia zu haben.»

Damit hatte er nicht ganz Unrecht. Aus erster Hand wusste sie es nicht. Alles über die eine oder andere Nacht in der Gewahrsamszelle, wo nur Gale äußerst unsanft mit ihr umgesprungen war, war ihr bisher erspart geblieben – nicht ganz ohne Hilfe von Gales Seite. Das bedeutete aber nicht, dass sie nicht über die Jahre alles mitbekommen hatte, was den anderen widerfahren war. «Pass auf, Kleiner, das ist auch so eine sehr wichtige Regel. Wir halten dicht. Alle halten dicht. Und zwar um jeden Preis. Sieh dir Luigi an. Vince. Meine Mutter. Meine Mutter wusste alles und hat es für sich behalten. Dein Dad hat die schlimmsten Dinge durchgemacht, von denen du nicht einmal etwas weißt. Sie haben nichts aus ihm herausgekriegt. Und weißt du, warum?» Dina hob die Waffe und schüttelte sie leicht.

Schweigen. Erwartungsvoll und zugleich entsetzt.

«Weil es wirklich sehr schlecht für die Gesundheit ist, die Familie zu enttäuschen.» Sie wandte sich um und feuerte einen Schuss in die grobe Richtung von Leonardos Wagen ab. Mit einem Schrei, wie er nur mitten im Stimmbruch klingen konnte, zuckte DJ zusammen. Man hätte meinen können, sie hätte auf ihn gezielt. Im Stillen bat sie Andy, Maria und alle anderen, denen viel an diesem Auto lag, um Verzeihung. Sicher ging es ihnen gerade durch und durch und sie wussten nicht, warum.

«Aber ich will mal nicht so sein.» Den heißen Lauf drückte sie Leonardo unters Kinn. Er versuchte wohl wirklich, sich zusammenzureißen, aber ein Wimmern konnte er nicht unterdrücken. Der Geruch verbrannter Haut stieg Dina in die Nase. Hinter sich hörte sie es im Schnee knirschen, als der Junge zurückwich. «Muss ja schließlich zugeben, dass es wirklich clever von dir war, ihm Oma anzubieten, um deine eigene Haut zu retten. Ich will ja nicht mal von dir wissen, was er gegen dich in der Hand hat, dass du so tief sinkst. Aber dafür werde ich dir sagen, was du jetzt machen wirst.»

In Leonardos Augen standen Tränen, die er nicht mehr lange würde zurückhalten können. Bisher hatte sie ihn nur einmal weinen sehen, nämlich auf der Beerdigung ihrer Eltern. Damals hatten alle geweint. Alle, die ihnen die Treue geschworen hatten. Hiermit hatte er sie und alles, wofür sie standen, verraten.

«Dina, bitte …»

Wie weit war es mit ihnen gekommen, wenn sie dem Mann, zu dem sie ihr Leben lang aufgesehen hatte und der bis vor einer Weile noch eine ebenso große beruhigende Konstante gewesen war, solche Höhen entlocken konnte? Ihre Eltern wären wirklich stolz auf sie.

«Du musst jetzt überhaupt nicht um dein Leben winseln, Leo.» Lächelnd drückte sie ihm den Lauf tiefer in die Lymphknoten. «Ich kann dich doch nicht einfach jetzt und hier umlegen, ohne Omas Meinung dazu gehört zu haben. Vorher habe ich ja auch noch was mit dir vor.»

«Alles.» Er drehte den Kopf zur Seite, um der Waffe zu entkommen, aber sie folgte der Bewegung einfach.

«Am Freitag wirst du dich mit Callahan in Verbindung setzen und ihm brühwarm berichten, dass Oma sich am neunundzwanzigsten Dezember mit Alvarez in seinem Casino in Portland trifft. Wegen der Drogen. Er sollte gleich ein paar Kollegen von da anheuern. Schließlich wird das eine Riesensache. Machst du das für mich?»

«Am Freitag», wiederholte er angestrengt. «Und der neunundzwanzigste. Mit dem Mexikaner. In Portland. Im Casino.»

«Guter Mann.» Dina sicherte die Waffe und steckte sie sich in den Gürtel, bevor sie Leonardo fallen ließ.

Hustend griff er sich an den Hals und öffnete die obersten zwei Knöpfe seines Hemds. «Er wird sauer sein, wenn ich ihn schon wieder ins Leere laufen lasse.»

Dina klopfte ihm versöhnlich auf die Schultern und strich seine Jacke glatt. «Ach, darum musst du dir dann keine Gedanken mehr machen. Oma regelt das alles. Fahr jetzt nach Hause und verhalte dich ruhig. Lass dich trösten, weil es ein echt mieses Date war. Und reib dir die Wunde ein, dann ist die schnell wieder heile.» Sie lächelte, aber er erwiderte es nicht. Stattdessen sah er einfach nur fertig aus. Wer konnte es ihm schon verdenken? «Ach, Leo, du hättest dir so viel Ärger ersparen können wärst du einfach nur früher damit auf uns zugekommen. Oma hat für alles eine Lösung, das weißt du doch.»

 

Im Licht der kleinen Lampe über dem Innenspiegel sah DJ bleich aus. Er konnte gar nicht weit genug von der Klappe wegkommen, als Dina das Magazin aus der Waffe nahm und beides wieder im Handschuhfach verstaute. Danach blieb sein Blick daran hängen.

«Wenn du kotzen musst, sag Bescheid, dann fahr ich rechts ran.» Wenigstens waren die Straßen leer genug, um ein Auge auf ihn haben zu können. Dabei war noch nicht einmal etwas passiert, das ihm so hätte zusetzen können. Das würde ein weiter Weg.

«Fahr mich bitte einfach nach Hause, okay?» Seine Stimme klang hohl.

Sie sparte sich den Kommentar, dass das von Anfang an ihr Plan gewesen war. «Es stimmt übrigens nicht ganz», sagte sie stattdessen. «Die anderen schweigen, weil sie Ehre im Leib haben. Weil ihnen was an der Familie liegt. Ich dachte ja, bei Leo wäre das genauso, aber anscheinend ändern sich die Zeiten. Jedenfalls war dein Vater ein guter Mann, DJ. Bis zuletzt.»

Er sah sie noch immer nicht an und sagte nichts dazu. Für den Rest der Fahrt störten nur seine leisen Schluchzer die Stille im Wagen.

Bevor sie nach Hause fuhr, rief sie Gale an. Es war beinahe Mitternacht, aber darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. Dazu bestand wahrscheinlich auch kein Anlass, wenn Gales Schlafrhythmus noch immer so in Scherben lag wie damals.

Es dauerte eine ganze Weile, aber dann wurde doch abgehoben.

«Fass dich kurz, Dina, ich ficke gerade meine Freundin», war die Begrüßung und ihr Ton ließ keinen Zweifel an der Begründung zu. Wäre es nicht um eine dermaßen wichtige Sache gegangen, hätte Dina am liebsten umgehend wieder aufgelegt.

Sie gab sich damit zufrieden, das aufkommende Würgen nicht zu unterdrücken. Mit wem Gale momentan zusammen war, wusste sie nicht und es war ihr auch eigentlich egal. Sie wusste nur eines, die Frau tat ihr leid. «Warum redest du dann mit mir?»

Die Antwort brauchte eine Weile und der Grund war so offensichtlich, dass unwillkommene Bilder in Dinas Kopf entstanden.

«Wenn du dich dazu überwindest, mich anzurufen … muss es wirklich wichtig sein. Dann muss ich natürlich für dich da sein, selbst wenn meine Finger gerade tief in ihrer …» Sie wurde von etwas zum Schweigen gebracht, das hoffentlich, aber wahrscheinlich nicht wirklich eine Hand war.

Dafür war Dina unendlich dankbar. Gale sollte sich die Freizeit vertreiben, wie und mit wem sie mochte, aber sie musste einsehen, dass im Kopf anderer Leute das Konzept Privatsphäre existierte. Auch mit Andy war sie darüber hier und da aneinandergeraten, nur nicht in dieser Situation. Da hätte der Präsident anrufen können und sie hätte ihn eiskalt ignoriert.

«Bitte erzähl mir absolut nichts davon, was deine Lippen, Finger und Zunge gerade tun. Oder ihre.»

Decken raschelten und Dina hielt den Hörer vorsorglich ein ganzes Stück von ihrem Ohr entfernt. Das war eine Art Ablenkung, auf die sie trotz der ganzen Misere gern verzichten wollte.

«Lieber nicht, sonst willst du vielleicht noch herkommen und mitmachen.» Gale lachte, um Dina die Möglichkeit zu nehmen, das zu kommentieren. «Aber Telefonsex wäre doch eine geniale Idee, wenn du mal wieder für länger aus der Stadt bist, Liebes.»Sie kehrte zum Telefon zurück. «Danke für die Anregung, Dina. Aber jetzt zu dir, was hast du denn auf dem Herzen? Du kannst ganz frei sprechen, Miss Gray ist das alles herzlich egal.» Noch in der letzten Silbe fanden Gales Lippen irgendetwas.

Vielleicht musste Dina ihre Meinung zu Miss Gray doch revidieren. Wenn ihr hierbei die Lust nicht verging, hatten die beiden sich absolut verdient.

«Es geht um Callahan», fing sie an, um das Gespräch endlich über die Bühne zu bringen. «Meinst du, die Dienstaufsicht kann ihm Stress machen? In der Wohnung meines Bruders findet sich polizeiliche Überwachungstechnik, die ganz sicher nicht auf dem offiziellen Wege dort gelandet ist.»

«Du willst, dass die lieben Krümel keine Angst mehr vor uns haben müssen? Also, mehr als sonst, natürlich. Die Sache mit Callahan kann ich regeln, gar kein Ding. Wundert mich, dass du damit nicht schon viel früher gekommen bist.»

«Apropos kommen», sagte die andere Stimme. Sie klang ein bisschen heiser aber insgesamt angenehmer als die von Gale. Eigentlich wollte Dina sich keine weiterführenden Gedanken machen, wer das sein konnte, weil es dadurch nur schlimmer wurde. Das Handy wurde ihr dankenswerterweise aus der Hand genommen und nur ganz leises Stöhnen war zu vernehmen. Dina versuchte, sich ganz und gar auf die Flocken zu konzentrieren, die sich langsam auf die Windschutzscheibe sinken ließen. Lautlos. Ohne irgendwelche Hintergedanken.

«Mach dir keine Sorgen», sagte Gale nach einer Pause und leckte sich hoffentlich nicht nebenbei die Finger ab. «Wenn es darum geht, Leuten das Leben schwer zu machen, kannst du dich völlig auf mich verlassen.» Stöhnend veränderte sie ihre Position. Insgesamt konnte Dina sich viel zu genau vorstellen, was da gerade ablief. «Und jetzt entschuldige mich bitte, ich werde gleich …»

Dina legte auf.

 

Sollte sie Gale jemals aus der Fassung bringen wollen, würde sie ihr nur erzählen müssen, was sich im Traum dieser Nacht vor ihren Augen abgespielt hatte. Der Versuch, die Bilder in Kaffee zu ertränken, gelang nur langsam. Mit Luigi, der ihre finstere Miene noch immer den Ereignissen der vorletzten Nacht zuschrieb, saß sie in der Küche und haderte mit sich selbst.

Die Gefahr durch die Polizei würde bald verschwinden, dann konnte Beatrice wieder nach Hause. Bis ins neue Jahr blieben sie aber sicher noch, zwischen den Jahren brauchte niemand zusätzlichen Stress. Die Kinder würden im Haus sehr fehlen, aber es war natürlich gut, dass sie dann wieder sicher in ihren eigenen Betten schlafen konnten.

Leonardo? Im Prinzip waren die Grundsteine gelegt, um nach diesem kleinen Ausrutscher weiterzumachen wie bisher. Niemand musste erfahren, dass er dafür verantwortlich gewesen war. Irgendwie würden sie das alles schon erklären können.

Aber er hatte angeboten, Oma auszuliefern. Wie sollte Dina ihm das jemals verzeihen? Vollkommen undenkbar, jemals wieder genauso unbeschwert mit ihm umzugehen wie zuvor. Konnte man einem vertrauen, der drauf und dran gewesen war Hochverrat zu begehen? Es lag ja nicht einmal an ihr, über sein weiteres Schicksal zu entscheiden. Oma musste davon erfahren, und Dina würde ihr Urteil akzeptieren müssen.

«Wenn du reden möchtest …», begann Luigi zögerlich und legte ihr einen Arm um die Schultern. «Oder weinen. Oder wenn ich dir irgendwelche vollkommen bescheuerten Geschichten erzählen soll, um dich abzulenken, du musst es nur sagen.»

Dina lehnte sich an ihn, nahm den Blick aber nicht von der tiefschwarzen Oberfläche ihres Kaffees. «Möchtest du irgendwas davon?»

Mit einem unentschlossenen Brummen neigte er den Kopf nach hinten, den Blick an die Decke gerichtet. Er hatte Oma wegen einer Grußkarte traurig gemacht und deswegen tagelang Panik geschoben. Heute wäre Dina froh, wenn das ihre einzige Sorge wäre.

«Wie sollen wir dieses Jahr nur Weihnachten feiern?», fragte sie irgendwann in die Stille hinein.

Luigi seufzte, weil er natürlich wusste, was alles in dieser Frage steckte. «Genau wie in jedem Jahr», antwortete er schlicht. «Im Kreis unserer Lieben und mit einem leeren Stuhl für die, die nicht da sein können.»

 

Sie saßen noch immer da, als Beatrice kam, um die letzten Brote des Jahres für die Kinder zu schmieren. Zwei Wochen zuvor hatte Dina den Fehler gemacht, sie zu fragen, ob sie ihr zur Hand gehen könnte. Anhand der Reaktion hätte man meinen können, sie hätte impliziert, Messer und kleine Beutelchen mit Kokain zwischen den Scheiben zu verstecken. Daraufhin hatte sie es unterlassen und darauf geachtet, weg zu sein, wenn ihre Schwägerin aufstand. Heute ignorierte Beatrice sie einfach.

Der Kaffee hatte sie mittlerweile wach gemacht, aber damit auch dafür gesorgt, dass die Gedanken wiederkamen, die in derselben Endlosschleife umeinander rotierten wie in der letzten Nacht.

Erst, als Sofia und Antonio in die Küche gewatschelt kamen, war sie wirklich gezwungen, umzuschalten. Allein, um gegen diese beiden verschlafenen Gesichter anzukommen, musste sie alles an guter Laune nach außen tragen, was sie gerade aufbieten konnte. Wenn man sie einigermaßen stressfrei aus dem Haus befördern wollte, durfte man sich unter keinen Umständen auf sie einlassen. Schule war super spannend und da waren all ihre Freunde, aber das frühe Aufstehen.

Darum ging sie auch nicht auf die Fragen ein, die sich hinterrücks und heimlich anschlichen. Traditionell gehörte der erste Ferientag ihnen. Dass sie sich in diesem Monat wesentlich öfter gesehen hatten als in jedem anderen Dezember bisher, war für niemanden von ihnen ein Grund, davon abzurücken. Nicht einmal für Beatrice, die von Dina als Friedensangebot in die Planungen einbezogen worden war.

 

Den Vormittag verbrachte Dina in der Filiale am Rathaus, wo sich hauptsächlich Weihnachtseinkäufer herumtrieben, die einen Moment der Ruhe zwischen dem Getümmel in den Geschäften genossen. Es war angenehm, nur unbeteiligte Beobachterin zu sein. Sie war extra nicht zur Promenade gegangen, um nicht die ganze Zeit bei Jodie herumzuhängen und bei ihr doch noch den Eindruck zu hinterlassen, das wäre ein Grund für das Jobangebot gewesen. Hier konnte sie immerhin die Tische abräumen.

Constance, die hergekommen war, obwohl sie eigentlich frei hatte, hielt Dinas Blick jedes Mal etwas länger fest, wenn sie an ihr vorbei ging oder wenn gerade keine Schlange an der Verkaufstheke wartete.

Jodie fragte per SMS an, ob sie zusammen zu Mittag essen wollten. Dina antwortete nur, dass sie sich melden würde, wenn sie Zeit hatte. So offensichtlich, wie Constance mit ihr sprechen wollte, konnte sie jetzt nicht einfach abhauen.

Zwischen der Frühstücks- und der Mittagspause der Stadtverwaltung gab es eine ruhige Phase, in der es vertretbar war, eine einzelne Person für eine Weile allein die Theke hüten zu lassen. Mit zitternden Fingern nahm Constance Dina die Tasse ab. «Hättest du mal einen Moment für mich?»

Dina deutete auf den Stuhl gegenüber. «Setz dich nur.»

Constance sah darauf hinab. «Wenn es dir recht ist … Können wir lieber in den Hinterhof gehen? Ich brauche ein bisschen frische Luft.»

«Sicher.» Dina ging voraus und hielt ihr die Tür auf. «Was hast du auf dem Herzen?»

Constance huschte an ihr vorbei nach draußen und atmete tief durch. «Ich möchte dich um etwas bitten.»

Eine Pause entstand, während der Dina sich dazu entschied, nicht nachzufragen, sondern einfach abzuwarten.

«Nimm mich», platzte es Constance dann plötzlich heraus. «Ich tu alles, was ihr verlangt, so lang ihr meinen Jungen aus dem Spiel lasst.» Sie klang, als hätte sie DJ höchstpersönlich am Wickel gehabt, anstatt dass er nur zugesehen hatte.

«Du weißt hoffentlich besser, was auf dich zukommt.»

«Wenn ich eins begriffen habe, dann dass man sich da nie sicher sein kann. Aber ich bin bereit zu allem, was nötig ist.»

Dina hob die Schultern. Constance hatte immerhin eine gewisse Erfahrung mit der Arbeit der Familie. Verpflichtungen, die aus Verzweiflung resultierten, waren nicht Omas bevorzugte Methode, aber man nahm, was man kriegen konnte. «Dir muss aber auch klar sein, dass es kein Zurück gibt.» Und dass Omas Pläne den Jungen betreffend noch ändern konnten. Aber voraussichtlich nicht so bald.

«Wir gehören Oma doch eh schon mit Leib und Seele.» In ihrer Stimme klang kaum Bitterkeit mit. Es hörte sich eher nach etwas an, mit dem sie sich eben irgendwann abgefunden hatte. Das war der Preis, wenn man unkompliziert aus der Hölle entkommen wollte, durch die sie gegangen war.

Gale war ihr sauer gewesen. Liebend gern hätte sie sich selbst um ihn gekümmert, hatte sie gesagt. Auf dem semioffiziellen Weg. Ob er Glück oder Pech damit gehabt hatte, dass es nicht dazu gekommen war, ließ sich nicht sagen, spielte mittlerweile aber auch keine Rolle mehr. Damals hatte ihr noch zu viel an Gale gelegen, um sie Gefahr laufen zu lassen, ihren Job zu verlieren. Heute wusste sie, dass die Polizistin ihre Grenzen ganz genau einschätzen konnte.

«Ich komme Anfang des Jahres auf dich zu. Bis dahin wird eh nicht viel passieren. Ihr braucht die Zeit erstmal für euch.» Heute war Oma unterwegs, um sich mit irgendeinem Kontakt zu treffen, an den sie die Drogen möglichst schnell loswurde. Morgen war Rudolphos Beerdigung, zu der Dina natürlich gehen würde. Danach würde sie mit den Kindern zu einem kleinen Abentuer aufbrechen.

Constance vergrub die Hände in den Taschen ihres Rocks. «Wie sollen wir dieses Jahr nur Weihnachten feiern?»

Dina schnaubte und ließ damit ein Dampfwölkchen zwischen ihnen aufsteigen. «Wie jedes Jahr. Mit den Gedanken bei denen, die ihr liebt. Und wenn es euch in den eigenen vier Wänden zu eng wird, an Omas Tisch ist immer noch Platz.»

 

Jodies vorbehaltlos lächelndes Gesicht war eine Wohltat. Mit einer großen Schachtel Fritten mitten auf dem Tisch saßen sie im Serviervorschlag und griffen so oft nach derselben Fritte, dass Jodie irgendwann die eine Hälfte hierhin und die andere dorthin schob. Von da an bedienten sie sich auf der jeweils gegenüberliegenden Seite, was ihr einen kleinen Kicheranfall bescherte.

«Die Weihnachtsfeiertage verbringe ich bei Noah meinem Ex», erklärte sie. «Du feierst bestimmt mit der Familie?»

Dina nickte. Gegen nichts in der Welt würde sie das Menü eintauschen, das Oma und Tante Fernanda auf den Tisch brachten. Ihre gesamte Kindheit war die Küche während der Vorbereitungen Sperrgebiet gewesen. Vor ein paar Jahren war der Schleier des Geheimnisses zuerst für Dina und dann für Vincenzo gelüftet worden, wenn auch nicht ganz. Noch durften sie nur aushelfen, aber irgendwann – hoffentlich dauerte es bis dahin noch Jahre – würden sie selbst dafür verantwortlich sein. «Also sehen wir uns dann zu Silvester wieder.»

«Ich ruf dich mal an», versprach Jodie. Sie steckte sich eine Fritte zwischen die Lippen wie eine Zigarette und lehnte sich lässig in ihrem Stuhl zurück. Dina kam sich ein bisschen vor wie in einer verspäteten Teenager-Romanze. Diese Momente gehörten zu den besten.

«Nur, wenn du Zeit hast. Du sollst dir wegen mir nicht noch zusätzlichen Stress aufbürden.» Sie würde selbst genug damit zu tun haben, die Kinder an Heiligabend zu bespaßen, nach der Bescherung alle Geschenke mit ihnen auszuprobieren und nebenbei auch noch die Hunde und die Erwachsenen nicht zu kurz kommen zu lassen. Dazwischen einen Augenblick für Jodie zu haben, wäre schon nicht verkehrt.

«Ach, die nehm ich mir einfach. Irgendwann muss man ja auch mal entspannen und dann möchte ich dazu gern deine Stimme hören.»

«Lässt sich einrichten.» Sie zog das Tablett näher zu sich heran, damit Jodie weiter über den Tisch greifen musste und sie ihre Hand nehmen konnte. In einer großen Geste hauchte sie einen kleinen, salzigen Kuss darauf.

 

Am Frühstückstisch war es so ruhig wie seit Vincenzos Verhaftung nicht mehr. Ganz in Schwarz saßen sie alle da, aßen wenig, sprachen noch weniger und suchten in ihren Kaffeetassen nach den Antworten auf die unangenehmen Fragen des Lebens.

Dinas Blick glitt immer wieder zu Leonardo. Nach dem Tod seines guten alten Kameraden fiel er natürlich nicht damit auf, still und nervös zu sein. Seit dem Treffen mit Callahan hatte er das Haus nur verlassen, um sie auf der Gassirunde zu begleiten. Um ganz sicher zu gehen, hatte sie seine Autoschlüssel kassiert.

Gale behielt für sie die Kollegen im Auge. Nun musste sie nur noch mit Oma sprechen. Dina hatte für eine Weile tatsächlich überlegt, das nur zwischen ihm und ihr selbst auszumachen, aber dieses letzte Angebot am Flussufer ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Er hatte nicht einmal versucht, es ihr gegenüber als Bluff zu verkaufen.

Beim Aufstehen sah er kurz zu ihr herüber. Sie nickten sich knapp zu. Was für die anderen aussah wie ein Gruß, war die Bestätigung ihrer Übereinkunft. Er würde Callahan auf einen vielversprechenden Großeinsatz schicken. Finden würde die Polizei genau gar nichts. Dina wusste nicht einmal, ob das Casino zwischen den Jahren geöffnet hatte. Mit Glück platzten sie in irgendwelche anderen krummen Machenschaften. Mit den meisten Dingen, die da unten in Portland so getrieben wurden, hatte Oma überhaupt nichts zu tun. Das sollte alles nicht ihr Problem sein.

Zusammen mit dem, was Gale sich so einfallen ließ, sollte das reichen, damit seine Karriere gelaufen war.

 

Sofia und Antonio empfingen sie bereits in ihren bunten Schneeanzügen und zählten ihr auf dem Weg vom Auto hinauf in ihr Zimmer alles auf, was sie für ihr großes Abenteuer eingepackt hatten. Sie brachte es nicht über sich, die beiden zu unterbrechen und vor die Tür zu bitten, während sie sich umzog. Das Geplapper tat ihr gut. Auf ihren Wangen kribbelte die Spur aus getrockneten Tränen noch immer, bis sie das Gesicht unter den Wasserhahn hielt.

Das entging den Kindern nicht. Sie sprachen schneller und lauter, um Dinas Aufmerksamkeit ganz bei sich zu wissen. Wie dankbar sie ihnen dafür war, konnte sie ihnen unmöglich zeigen.

 

Am ersten Tag der Ferien konnte eine kleine Skitour durch den Wald eine Expedition in die Tundra sein. Halb verwehte Schneelamas stellten sich als Zeugnisse längst vergangener Kulturen heraus. Dina gab sich Mühe, mit den Gedanken im Hier und jetzt zu bleiben, sich irgendwelche Geschichten zu diesem Baum auszudenken und in jenem Felsen zu sehen, was die Kinder sahen. Erst ganz zum Schluss fiel ihr auf, dass sie von einem vier Meter großen Eisbären verfolgt wurden und am besten wieder zum Basislager zurückkehren sollten.

Unterwegs sammelten sie Leonardo ein, der ihr wieder nur zunickte und sich für den Rest der Fahrt vollkommen erledigt, aber hochinteressiert zuhörte, wie Antonio ihm farbenfroh von ihrem Nachmittag erzählte.

 

Oma hörte sich alles ganz geduldig an und unterbrach Dina kein einziges Mal. Zum Schluss sah sie von der Mütze, die sie gerade strickte, zu Dina hoch und machte ein ernstes Gesicht. «Und du bist dir ganz sicher?»

«Du kannst es dir selbst anhören.» Sie legte das Handy auf den Tisch, das jetzt Wort zwischen ihm und ihr am Brückenpfeiler aufgenommen hatte.

Oma schüttelte den Kopf. Ihre Augen glänzten im Schein der Schreibtischlampe. Ob es die Anstrengung beim Stricken oder der Stich in ihrem Herzen war, war schwer zu sagen. «Es wäre mir nur lieber gewesen, du hättest das nicht im Alleingang gemacht. Was alles hätte passieren können …»

«Mir ist nichts passiert», erwiderte Dina, bevor Oma sich zu sehr in Vorstellungen davon verlieren konnte, wie Dina im Fluss oder unter Leonardos Reifen landete. «Ich konnte es ja selbst kaum glauben, darum wollte ich ganz sicher gehen. Und da war die Möglichkeit einmal da …» Sie war froh, sie ergriffen und alles in seine Bahnen gelenkt zu haben. Viel zu oft verzögerte der offizielle Weg die Dinge einfach nur, ohne einen echten Mehrwert zu bringen.

Oma lächelte traurig und legte die Stricknadeln beiseite. «Komm mal her, liebes Kind.»

Dina ging um den Schreibtisch herum, auf dem lauter Fotos standen: von ihr und Vincenzo, von seiner Familie, von ihnen allen, als ihre Eltern und sogar Opa Sebastiano noch am Leben gewesen waren. Dina erinnerte sich nur noch ganz schwach an ihn, war sich nicht einmal sicher, was von den Bildern in ihrem Kopf von ihr selbst kam und was sie sich nur zu all den Erzählungen gedacht hatte.

Dazwischen fand sich die Geburtstagskarte, die Luigi nachgereicht hatte. Ein Strauß filigran ausgeschnittener Glanzpapierblumen. Im Gefängnis hätte er so etwas niemals zustande bekommen.

Auf der Ecke dieses Schreibtischs hatte sie schon gesessen, bevor ihr klar gewesen war, welche Art Geschäfte hier besprochen worden waren. Damals hatte sie die Beine baumeln lassen können. Heute kippte sie einfach dagegen und legte ihre Hände in Omas.

«Du hast das gut gemacht, mein Kind. Es war richtig von dir, wie du mit ihm umgegangen bist. Gerade, weil ich weiß, wie lieb du ihn hast. Genau wie ich. Aber ich fasse das alles einfach nicht.»

«Ich auch nicht», antwortete Dina leise. Vielleicht bekamen sie zusammen mehr aus ihm heraus. Einen Moment lang sehnte sie sich nach der Ruhe, die sie immer bei ihrer Oma fand. Von der gab es jedoch im Moment keine Spur. Es passierte selten, dass es ein Problem im so engen Umfeld gab.

«Was ist mit Callahan?», fragte Oma nachdenklich. Ihr Blick wanderte von Dinas Händen zu den Fotos. Da waren auch welche von Luigi, Maria und Andrea, im Café, in Italien und eines davon, wie sie Oma die Torte zu ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag präsentierten. Da Leonardo die meisten davon geschossen hatte, gab es keines von ihm. Bis er sich im Sommer von seiner Lebensgefährtin getrennt hatte, hatte es eines gegeben. Nicht einmal auf dem aktuellen Weihnachtsfamilienfoto war er zu sehen, da war er noch in Haft gewesen.

Sein Fledermauspendant, das Oma noch nicht einmal kannte, konnte man auch leicht auf Vincenzo umdeuten, wenn man wollte. Wenn es nötig wurde.

Konnte man diese Sache irgendwie anders lösen?

Wollte man?

«Die Medien werden sich auf seinen nächsten Einsatz stürzen, da bin ich mir sicher. Um den Rest kümmert Gale sich.» Dina erwischte sich dabei, neugierig zu sein. Dumm nur, dass sie sich nicht sicher sein konnte, ob sie erfahren konnte, was in der Dienststelle vor sich ging. Einerseits labte Gale sich an den Details ihrer eigenen Erzählungen. Andererseits hätte sie auch so ihren Spaß daran, Dina mit Stillschweigen zu quälen. Es war ein Glücksspiel. Wie alles an ihr. Wichtig war aber, dass die Dinge erledigt wurden, und darauf konnte man sich bei ihr verlassen.

«Immer wieder eine Überraschung, dass selbst jemand mit nichts weiter als einem Mindestmaß an Manieren doch auch Anstand im Leib hat.»

Dina schnaubte über diese radikale Beschönigung. Dieses Mindestmaß brauchte Gale vollständig für Leute auf, bei denen es nicht anders ging.

«Richte ihr doch bitte einen lieben Gruß von mir aus, wenn ihr euch das nächste Mal seht. Und nun entschuldige mich bitte. Ich muss in Ruhe darüber nachdenken, wie wir diesen Schlamassel lösen können.»

Dina küsste Omas Fingerknöchel und ließ sich ein flüchtiges Küsschen auf die Wange geben, ehe sie sich vom Tisch abstieß und das Arbeitszimmer verließ. Oma würde die richtige Entscheidung treffen. Vielleicht würde sie Dina nicht gefallen, aber zuerst mussten sie immer an die Familie denken. Leonardo hätte das auch tun sollen.

 

Der alte, handgefertigte Schlüssel drehte sich vernehmlich im Schloss. Das Geräusch des ausfahrenden Schließkolbens ließ Leonardo zusammenzucken. Für ihn schien es sich anhören, als hielte Dina ihm schon die Waffe an den Kopf und zöge den Hahn zurück.

Zu solch übertriebener Dramatik bestand aber überhaupt kein Anlass. So leichtsinnig war er nicht, dass er hier auch nur eine falsche Bewegung machen würde. Es reicht vollkommen, dass Hunter in scheinbarer Teilnahmslosigkeit neben Omas Schreibtisch lag und Dina hinter dem Besucherstuhl Stellung bezog, auf dem er ganz aufrecht saß.

Oma streichelte die bunte Bommel der fertigen Mütze auf dem Schreibtisch und schaute Leonardo zunächst nur an. Sie war die Meisterin des schlechten Gewissens. Nicht gerade verwunderlich als jüngstes von sechs Geschwistern, das zusätzlich später Erziehungsarbeit für zweieinhalb Generationen geleistet hatte. Den ganzen Morgen hatte sie ihn immer nur mit dem Blick gestreift, abwesend geklungen, wenn sie doch einmal ein Wort mit ihm zu wechseln gehabt hatte, und am Frühstückstisch mit Luigi darüber gesprochen, wie sehr sie sich freute, dass wenigstens er über den Jahreswechsel da war. Armer Vincenzo, durfte nicht einmal zu Weihnachten nach Hause, wo das doch ein Fest war, das man mit der Familie verbringen sollte.

«War ich nicht immer gut zu dir?», fragte Oma und es war gar nicht leicht zu sagen, ob die Traurigkeit in ihrer Stimme echt war.

«Ja, Oma», antwortete Leonardo. Gestandener Mann, der er war, klang er gerade ein wie ein ungehorsames Kind.

«Hat die Familie dir nicht immer alles bedeutet? War meine liebe Giulia, Gott hab sie selig, nicht deine beste Freundin? Du konntest selbst in deinen schwersten Zeiten immer auf uns zählen. Du warst immer ein guter Mann, Leonardo. Dafür bin ich dir dankbar. Umso mehr tut es weh, was ich gestern Abend von Valentina erfahren musste.» Mit einem Schlag wurde ihre Stimme so kalt vor Enttäuschung, dass es auch Dina einen kleinen Schauer über den Rücken jagte. Dabei war sie gar nicht gemeint, doch ihren vollen Namen hatte sie aus Omas Mund immer nur dann gehört, wenn sie etwas ausgefressen hatte.

Sie ließ die Halswirbel knacken.

Leonardo zog den Kopf ein, als fürchtete er, dass seine als nächstes dran waren, doch er wandte den Blick nicht von Oma ab. Er sagte auch nichts.

«Wie konntest du mich so hintergehen? Bedeutet die Familie dir denn gar nichts?»

«So ist das nicht!» Nun wagte er es, sich etwas nach vorn zu beugen. «Ich hatte keine Wahl! Sie haben mir die Hölle angedroht! Da sitzen Leute ein, die sich noch ganz genau an mich erinnern!»

Auch beim zweiten Mal beeindruckte das Dina kein bisschen. So ging es ihnen allen. Er war nicht wehrlos. Er war nicht einmal allein. Vincenzo und die anderen wären ihm selbstverständlich zur Seite gesprungen.

«Warum hast du nichts davon gesagt?», ergriff sie das Wort. Keine Einwände von Oma. «Du hattest so viele Gelegenheiten! Wir hätten sicher Mittel und Wege gefunden, um dir zu helfen.» Auch von draußen ließ sich Druck auf die Insassen machen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Sogar die Polizei schien mittlerweile auf den Trichter gekommen zu sein, auch wenn es nicht gerade zu deren offiziellem Vorgehen gehören sollte.

«Ich verstehe natürlich, dass du Angst hattest», wandte Oma ein, nun wieder ohne jede Härte in der Stimme. «Eine Haftanstalt ist nun einmal kein schöner Ort.» Sie senkte den Blick und wickelte sich das Ende des Wollknäuels um den Finger. «Es ist wirklich traurig, weißt du. Wir haben dir vertraut.»

«Ich mach es wieder gut!», bot er hastig an, weil er wohl Angst vor dem hatte, was Oma als nächstes sagen könnte. «Ich habe mit Callahan gesprochen, er hat mir die Geschichte mit Alvarez abgenommen. Ihr werdet sehen. Mit ihm werdet ihr so schnell keine Probleme mehr bekommen.» Es war schmerzhaft, ihn so verzweifelt zu erleben.

«Mit dem Vertrauen ist das nur leider so eine Sache», sagte Dina leise. «Wenn es zerbrochen ist, lässt es sich nicht so einfach wieder reparieren.»

«Ich mache alles!», rief er. «Verlangt von mir, was auch immer ihr wollt, wenn ich damit meine Loyalität beweisen kann. Es tut mir so leid, dass ich dumm genug war, mich auf sie einzulassen.» Er begann, zu weinen.

Es zerriss Dina beinahe das Herz, ihn so am Boden zu sehen und gleichzeitig sein Worte noch überdeutlich im Kopf zu haben. Sie hätte ihn gern zum Trost in den Arm genommen und konnte ihm doch nicht einmal ein Taschentuch anbieten.

«Nicht doch, mein lieber Junge.» Oma lächelte, und für jemanden, der sie nicht so gut kannte wie Dina und Leonardo, mochte das wirken wie die Geste einer weichherzigen alten Dame. Doch die beiden wussten es besser.

Dennoch klammerte er sich an dieses Bröckchen Hoffnung, das sie ihm hingeworfen hatte. Ebenso hatte Dina sich noch vor ein paar Tagen an den Wunsch geklammert, er möge kein Verräter sein. Die Realität hatte sie schnell eingeholt, doch Oma schien den kritischen Moment mittels sanfter Worte noch etwas hinauszögern zu wollen.

«Zum Glück ist ja niemandem etwas Schlimmes passiert», sagte sie. «Wie gut, dass ich mich immer auf meine Dina verlassen kann. Darum geht es schließlich in einer Familie. Und auch du hast uns viele Jahre lang gute Dienste erwiesen, Leonardo, das wollen wir nicht vergessen.»

Dinas Herz schlug schwer gegen ihre Rippen. Sie legte die Hand auf die Rückenlehne des Stuhls, den Blick fest auf Oma gerichtet. Zu oft hatte sie Ansprachen wie diese gehört, als dass sie nicht wüsste, was nun kam.

Ganz starr saß Leonardo da, als wolle er sich nicht von der Möglichkeit verabschieden, dass alles gut werden konnte. Unmöglich durfte sie ihm jetzt auch nur einen vagen Eindruck vermitteln, auf seiner Seite zu stehen. Das wäre nicht in Ordnung, wo doch das Gegenteil der Fall war.

Oma hob den Blick und sah über ihn hinweg. «Dina, mein Liebes, ich habe eine Idee. Du wolltest doch mit den Hunden in den Wald gehen und uns einen schönen, großen Weihnachtsbaum schlagen. Warum nimmst du Leonardo nicht mit?»

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Aurinko Am 12.01.2019 um 21:50 Uhr
(2) Ich werde jetzt glaube ich nicht zu jeder einzelnen Figur etwas sagen, ich hoffe, du verzeihst mir das, das würde ich glaube ich nicht angemessen schaffen. Aber zu ein paar Leuten möchte ich mich doch noch kurz äußern.

First of all: Die Oma! Oh mein Gott! *packt Fähnchen aus* Sie ist eine großartige Mischung aus Großmuttertraum und knallhart-Patin. Ich liebe sie. Über alles. Und gerade als ich dachte, dass ich diese Figur in all ihren Facetten nicht noch toller finden könnte, kommst du mit dem letzten Kapitel her, reißt ihren Heiligenschein herunter und machst aus der lieben, alten Frau endgültig die kalte, berechnende, alles für’s Geschäft tuende Patin. Es war großartig – sie ist großartig. Auch, wie du es geschafft hast, dass sie – ganz im Sinne einer Patin – halt immer irgendwie da war, obwohl sie so oft ja gar nicht selbst vorkommt, aber man immer das Gefühl hatte, sie sei präsent, war großartig. Ich konnte mir so gut vorstellen, wie sie in diesem Büro sitzt, diese Krisensitzung abhält und dann entscheidet, dass sie ihrer Enkelin jetzt den Mordauftrag gibt, weil es einfach so sein muss, weil das die Regeln sind. Sogar die – sorry – abgedroschensten Klischee-Mafiosi-Sätze haben bei ihr irgendwie stimmig gewirkt. Ich mag das wirklich sehr. Ich würde ja jetzt fast sagen, ich hätte sie gerne noch mehr in Action erlebt, aber irgendwie war ja andererseits alles, was passiert ist, irgendwie von ihr gesteuert – und wenn das nur darüber passierte, dass sie eben die Regeln vorgegeben hat, an die sich alle zu halten hatten. Irgendwie hätte ich noch so gerne mehr von ihrer Vorgeschichte erfahren: Wie war das, als ihr Mann noch gelebt hat, welche Rolle hatte sie da? Nach welchen Kriterien, außer denen, die wir kennen lernen, führt sie den Laden? War sie schon immer so knallhart, wie sie da am Ende wirkt oder hat sich das mit der Zeit entwickelt? Ich weiß, dass du auf all diese Fragen eine Antwort hast und ach…ich glaube, noch lieber als ein Dina/Jodie-Sequel hätte ich ein „The becoming of Omi!“- Prequel. Sie ist badass und liebevoll und eine tolle Patin und wahrscheinlich eine noch viel tollere Oma und wenn du wirklich mit dem Gedanken einer Fortsetzung spielst, will ich mehr Screentime für sie.

Mit Dina hatte ich gerade am Anfang wirklich meine Probleme. Sie wirkte mir zu lange etwas wie der „Kerl der Geschichte“ mit ihren multiplen Frauengeschichten, ihrer Toughness, dem Hang, Dinge mit Gewalt und den Fäusten zu lösen. Aber vielleicht muss man so sein, wenn man in einem Mafia-Clan eine hohe Position bekleidet. Die Szene unter der Dusche, wo man merkt, dass das alles eben doch nicht so spurlos an ihr vorbeigeht, war für mich unglaublich wichtig, weil man da gemerkt hat, dass es ihr eben doch nachhängt, sie berührt, etwas mit ihr macht. (Zwar nur, bis sie dann in den Wald geht, aber wie gesagt, das ist dann vielleicht einfach „Das Business“) Da hatte ich irgendwie das Gefühl, dass ich ihr mal nahe komme. Zwar konnte man aus ihren Frauengeschichten auch einiges über sie erfahren – besonders weil ich davon ausgehe, dass sie auch für verschiedene Phasen in ihrem Leben stehen, in denen ihr verschiedene Dinge wichtig waren. Das mit Jodi jetzt ist ja schon fast eine Art Familienphase, denn immerhin hat sie sich mit ihr bewusst jemanden ausgesucht, der ein Kind hat und der damit ja auch für eine gewisse Form der Sicherheit steht, nach die sie sich vielleicht auch sehnt, gerade in diesem kriminellen Umfeld, in dem sie aufgewachsen und seitdem ja auch nicht mehr wirklich rausgekommen ist. Was ich auch toll an ihr fand war, dass du die ganzen Klischeedramen, die sich bei ihr ja Zuhauf angeboten hätten (Tote Eltern, offensichtlich Bindungsprobleme, tötet Menschen, Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung) nicht als solche ausgeschlachtet hast, sondern sie einfach Teil dessen sind, was sie ist. Sehr gut gemacht, don’t feed the Dramalama. Und auch, wenn sich das zum Ende hin nochmal ein bisschen geändert hat, so ganz warm geworden bin ich mit ihr noch nicht. Aber ich glaube, sie ist mir einfach ein bisschen zu sehr Macho.

Generell mochte ich es, wie die Mafia-Handlung bei dir zwar immer der rahmengebende Handlungsstrang war, an dem sich alles entlanghangelte, aber nie der Quell für unnötiges Drama oder zu dominant wurde. Du hast immer genug Platz gelassen, für all die tollen kleinen Szenen (die Kinder im Schnee, die Sache mit der Pommes, hach, ich bin fast dahingeschmolzen!) die einem das Herz erwärmt und deine Figuren so menschlich, so nah und alles so real gemacht haben. Das war sehr, sehr schön und auch ein Grund, warum ich das heute alles in einem Rutsch durchgelesen habe, danke dafür. Und dann das Ende, so böse, so beiläufig, so konsequent, so perfekt. Wie es sein muss.

Dann…bleibt mir wohl nichts anderes übrig als nochmal zu sagen, wie gern ich das hier gelesen habe und zu hoffen, deinem Wunsch hiermit entsprochen zu haben. Ich las deinen Scheiß.
Heippä hei
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Aurinkos Profilbild
Aurinko Am 12.01.2019 um 21:38 Uhr
Moi,
ja, ich bin deiner Aufforderung also nachgekommen und hab deinen ‚Scheiß‘ gelesen. Und jetzt hab ich mir hier sogar einen Account zugelegt. Look what you do to me.

Anyway. Auf geht’s. Ich hab ja schon sporadisch auf Twitter immer wieder was mitgekriegt, hab dann aber als ich anfing zu lesen, doch etwas gebraucht, bis ich durch das Thema – und vor allem die vielen Figuren! – durchgestiegen war. Ich weiß ich sage das immer, aber in den Seminaren sagt man uns immer, dass man positives Feedback wiederholen soll, also mach ich das jetzt, in der Hoffnung, dass du mir immernoch glaubst, dass ich das nach wie vor ernst meine: Deine Figurenarbeit. Es in diesem Geflecht mit so vielen unterschiedlichen Charakteren, die ja aber dohc alle hauptsächlich durch ihre Zugehörigkeit zur Familie ausgezeichnet werden, zu schaffen, dass man sie alle als unterschiedliche Charaktere wahrnimmt, das ist wirklich eine Leistung, vor der ich den Hut ziehen möchte. Ja, ok, ich bin zwischendrin auch mal durcheinander gekommen, wer jetzt wer war und welche Aufgaben hatte und gerade das erste Kapitel lang war ich wirklich überfordert , aber…wie immer bei dir, machte dieses…ich will es nicht Namedropping nennen, weil das so negativ konnotiert ist und den Kern des Ganzen ja auch nicht trifft, deswegen…sagen wir Figurenfülle. Diese Figurenfülle macht total Sinn, weil jeder für irgendwas gebraucht wurde, jeder hat seinen Zweck gehabt, um die Story voranzubringen, auch Bernadette, bei der ich ziemlich lang gerätselt habe „was die da eigentlich sollte“. Ich hab’s verstanden und das ist das, was ich an deinen Geschichten so sehr liebe: Es hat alles einen Sinn. Nichts und niemand passiert ohne Grund, auch hier nicht, ich wusste bei jeder Szene, warum du sie gebracht hast, was sie mir sagen sollte.

Das geht ja schon mit dieser tollen, kleinen Sequenz los, in der Dina und Jodie sich zum ersten Mal begegnen. Das ist alles so toll und beiläufig eingefädelt, dass es halt wirklich so passieren könnte und überhaupt nicht erzwungen wird. Es ist nicht dieses klassische „Prota und Loveinterest treffen sich“-Ding, da sind keine Funken in ihren Augen und obwohl wir draußen sind, singen nicht plötzlich die Vögel. Und trotzdem spürt man als Leser sofort, dass da was ist zwischen den beiden. Eine Anziehung, eine Sympathie, irgendwas. Und all das drückst du so wunderbar in diesem kleinen Dialog aus, indem Jodie ihre Angst vor den Hunden äußert und Dina sie daraufhin zurückhält (schon allein: DIE HUNDE! Diese Doppeldeutigkeit des exernalisierten Abwehrmechanismus, den Dina dann für sie zurückschraubt, ach. Ganz großes Kino, ganz groß.) … man will sofort mehr von den beiden lesen. Man will, dass sie sich wieder treffen, mehr Zeit miteinander verbringen, sich besser kennenlernen. Dementsprechend glücklich war ich, als Dina ihr dann den Kuchen vorbeigebracht hat. Ich fand, man hat da gemerkt, dass da wirklich was ist zwischen denen, etwas, dass über diese erste Anziehung hinausgeht. Das fand ich sehr, sehr schön. Und auch, wenn du den beiden meiner Meinung nach auch gerne mehr Screentime hättest geben könne, prinzipiell finde ich gut, wie die miteinander umgehen. Man merkt, dass die was aneinander haben, da ist Chemie, das finde ich gut. Auch, wie sich das immer wieder in so Kleinigkeiten äußert, etwa wenn Dina erst versucht, sie vor dem neuen Job zu schützen, weil sie Angst um sie hat, ist einfach wunderbar. Ich persönlich fand das zum Beispiel viel beeindruckender, als die Alpha-Male-ich-verprügel-jeden-der-mein-Mädel-anfasst!-Kiste. Das war mir ein bisschen too much – hat aber natürlich auch die Impulsivität und gewissermaßen ja auch die Gewaltbereitschaft herausgestellt, die Dina innewohnt. Also ich kann total verstehen, warum du das gemacht hast, den Punkt, wie wichtig Jodie für Dina ist, fand ich aber an anderer Stelle besser gemacht. Prinzipiell würde es mich schon interessieren, wo das mit den beiden jetzt noch hingeht, wie das wird, wenn Jodie dann da arbeitet und ob sie dann immer noch so unterstützend Dina gegenüber ist, wie jetzt, wenn sie vielleicht mal live mitkriegt, wie die ihre „Geschäfte“ regelt. Aber du hast auf jeden Fall genug Anhaltspunkte geliefert, dass man sich das auch schön zusammenreimen kann.
(Es gibt hier ne Zeichenbegrenzung für Reviews?! Ok....cool...Teil zwei kommt.)
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Sephigruen (Autor)Am 14.01.2019 um 7:35 Uhr
Guten Morgen!
Superschwellige Werbung funktioniert halt :D Zuerst: DANKE. Dass du es in einem Rutsch gelesen hast, ist das größte Kompliment ever. Und es ist nicht einmal das einzige.
Es gehört auch zu den besten Gefühlen, wenn alles so bei den Leuten ankommt, wie es sollte, und das hier war wohl ein Volltreffer, so weit ich sehe. Die ganzen Klischeesätze sind natürlich Absicht.
Wobei ich lustig fand, dass du dir mehr Screentime wünschst, wo ich beim Schreiben die ganze Zeit Sorge hatte, dass sie zu sehr in den Vordergrund rücken. Insgesamt sollten es halt lauter Dinge sein, die nebeneinander passieren, keine Liebesgeschichte vor Mafiahintergrund oder so. Für Backsteinnächte hab ich dasselbe vor, aber da wird es vor allem am Anfang hauptsächlich um sie und Jodie gehen.
Was sie von den Figuren, gerade von Dina halten, soll natürlich allen selbst überlassen sein, es ist immer nervig, wenn die Protas trotz allem, was sie eventuell falsch machen, nur gefeiert werden.
Die Idee zum Prequel kam auch auf, aber dagegen hab ich mich ein bisschen gewehrt, weil ich Respekt davor habe, Trauer zu schreiben. Ein Freund der Familie ist was anderes als die Eltern. Aber die spontane Liste der wichtigen Punkte ist lang und nun war dein Wunsch das Zünglein an der Waage. (Wie gut, dass ich hier schon Grundsteine (ahahahaha) für die weiteren Geschichten gelegt hab, wenn auch eher unbewusst.)
Freu dich auf Mafia Ommi Origins: The Becoming of Omi.
Am liebsten würde ich auf jeden deiner Sätze antworten, aber meistens wäre das nur "Ja, jaaaa, jaa!", "Das muss so" und Gequietsche, darum spare ich uns das mal. Kannn aber passieren, dass du die eine oder andere enthusiastische DM bekommst …

Liebe Grüße und noch einmal vielen Dank

Sephi
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Autor

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Statistik

Kapitel: 10
Sätze: 3.855
Wörter: 50.806
Zeichen: 292.228

Kurzbeschreibung

Nach dem Tod ihrer Eltern bei einem missglückten Gefängnisausbruch leben Dina und ihr Bruder Vince bei ihrer Oma. Sie kümmern sich um die Hunde und das Geschäft. Die Familie geht über alles. Das scheint jedoch nicht jeder so zu sehen.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Freundschaft auch in den Genres Liebe, Familie gelistet.