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Kapitel: | 6 | |
Sätze: | 536 | |
Wörter: | 14.768 | |
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Vier Tage hatte er jetzt schon in seinem Bett geschlafen, an seinem Schreibtisch gesessen und in seinem Sessel und eins von seinen Büchern gelesen und trotzdem fühlte sich alle total fremd an und er war sich sicher, dass es niemals anders werden würde. Dafür hasste er dieses Zimmer zu sehr, er hasste diese verdammte Dachschräge auf der einen Seite und auf der anderen diesen verdammten holzverkleideten Vorsprung, der aus irgendeinem Grund ins Zimmer ragte und diese Ecke unbenutzbar machte. Außer für den Traumfänger, den seine Mutter da aufgehangen hatte, „damit er endlich besser schlief“. Natürlich hatte er nicht geholfen, im Gegenteil, er hatte irgendwann angefangen auch ihn zu hassen. Und dem Ganzen setzte der Ausblick aus dem Fenster die Krone auf: Wald, Wald, Wald soweit das Auge reichte. Zum Kotzen.
„Stehst du schon wieder hier im Flur?“ Natürlich war er seine Mutter. Immer musste sie in solchen Moment, in denen er einfach nur allein sein wollte, auftauchen, als würde ihr jemand ein Zeichen geben. Wobei, wenn man sie fragen würde, dann würde sie sicher aus voller Überzeugung behaupten, dass es auch tatsächlich so war. Ihre Hände schlossen sich um seine Schultern und er biss die Zähne zusammen um nicht auszurasten. Dabei konnte er aber nicht verhindern, einmal tief aufzuseufzen.
Sie drückte seine Schultern. „Ach Clemmi, das wird schon. Du musst einfach das Alte gehen lassen und in deiner Seele Platz für das Neue machen. Du wirst sehen, dann fällt es dir auch ganz leicht, dass hier alles so toll zu finden, wie wir!“
Das war jetzt das vierte Mal, dass sie ihm diesen Vortrag gehalten hatte und drei Mal war es Clemens gelungen, ruhig zu bleiben, aber jetzt ging es einfach nicht mehr. Er befreite sich brüsk aus ihrer Umklammerung, drehte sich um und trat einen Schritt zurück ins Zimmer während er gleichzeitig versuchte, sich zusammenzureißen um nicht das zu tun, wonach ihm grade absolut der Sinn stand: hemmungslos loszubrüllen.
Es gelang ihm mit zitternder aber kontrollierter Stimme zu sagen: „Nenn mir eine Grund, wieso ich es hier toll finden soll! Weil ihr mich, ohne dass ich es wollte, von meinen Freunden weggerissen habt und aus der Schule, ein Jahr vor dem Abschluss um mich in diese völlig tote Einöde zu verschleppen?! Soll ich das toll finden?“ Er streckte den Arm aus und wies anklagend auf das Fenster. „Soll ich diese tausend Bäume da vor dem Fenster toll finden? Oder die Fahrradfahrer, die einen auf der Straße fast totfahren? Oder dass es hier absolut gar nichts gibt, noch nicht einmal einen Supermarkt?!“ Er konnte es jetzt doch nicht mehr verhindern, dass seine Stimme immer lauter geworden war und er wusste, dass er nach dem letzten Satz verloren hatte.
Seine Mutter hob beide Hände. „Gut Liebling, ich sehe du steckst voller Wut und das ist nicht gut. Du kennst doch die Atemübungen, die ich dir in so einem Fall empfohlen habe. Komm, wir machen sie zusammen.“
Clemens hatte den Kampf gegen seine Wut inzwischen komplett verloren und nachdem er sie jetzt drei Tage versucht hatte, zu unterdrücken, genoss er es grade unglaublich, sie endlich rauszulassen. „Ich scheiß auf deine verdammten Atemübungen,“ schrie er und das schockierte Gesicht seiner Mutter, das ihm in diesem Moment ein unglaublich gutes Gefühl gab, war das letzte, was er sah, bevor er seine Zimmertür hinter sich zuschlug und den Schlüssel im Schloss umdrehte.
Und während seine Mutter gegen das Holz der Tür klopfte und seinen Namen und „Lass dir doch helfen, Liebling,“ sagte, hatte Clemens sich bereits eine Strickjacke gegriffen und das Fenster geöffnet. Er hatte schon am ersten Tag herausgefunden, dass er ohne Probleme dank der vielen Vorsprünge, die dieses komische verwinkelte Haus besaß, an der Fassade rauf- und runterklettern konnte, ohne, dass es von außen jemand mitbekam. Genau diesen Weg nahm er jetzt auch und er machte sich gar nicht die Mühe, den letzten Vorsprung auch noch mitzunehmen, sondern sprang das letzte Stück, überquerte den schmalen Weg dahinter mit einem großen Schritt und ging zwischen den Bäumen hindurch, die er grade noch mit Hassgefühlen bedacht hatte.
Wenn er sie mit zum großen Ganzen zusammenfasste, Umzug aus der Großstadt in dieses tote Kaff, dann hasste er sie. Wenn er sie aber als Einzelnes betrachtete, dann gefiel es ihm unglaublich gut, zwischen den Bäumen hindurch zu wandern und das Laub unter seinen Füßen knacken zu hören. Vorgestern hatte er sogar einen kleinen Bach entdeckt und auf einem Stein zu sitzen und ihm zuzusehen hatte etwas ziemlich Beruhigendes, was er jetzt definitiv brauchte. Das und keine völlig bescheuerten Atemübungen, die noch nie irgendetwas gebracht hatten, außer ihn nur noch wütender zu machen. Aber auf einem Stein zu sitzen dem Rauschen des Baches zuzuhören war etwas ganz anderes und heute konnte er sogar zwei Eichhörnchen dabei zusehen, die sich einen ziemlich dicken Baumstamm hochjagten.
Als sie in der Baumkrone verschwunden waren, streckte Clemens die Beine von sich, starrte aufs Wasser und seufzte einmal tief. Anstatt an einem Samstag im Wald zu hocken und auf einen Bach zu starren würde er jetzt mit den anderen Billard im Jugendzentrum spielen oder bei Jakob vor der Konsole hängen und abends würde dann bei irgendwem, dessen Eltern nicht zuhause waren, eine Party anstehen. Clemens war wirklich zufrieden mit seinem Leben gewesen – bis seine Eltern sich entschlossen hatte, ihn einfach da rauszureißen und in dieses furchtbare asymmetrische Zimmer mitten in der Einöde zu sperren.
Natürlich könnte er seine Freunde noch jedes Wochenende sehen, wenn er das wollte, er müsste dann ja nur drei Stunden hin und zurück mit dem Zug fahren und sein ganzes Taschengeld für den Monat für die Zugfahrkarten opfern. Natürlich würde er definitiv zurück nach Hause fahren, egal, was seine Eltern dazu sagen würde, nur eben nicht jedes Wochenende und trotzdem wäre es natürlich nicht das Gleiche. Er würde die anderen dann nicht am nächsten Montag in der Klasse wiedersehen, sondern er würde zurück in die Einöde fahren, wo er keinen Menschen kannte und er hatte ehrlich gesagt auch nicht wirklich vor, das zu ändern.
Die Leute in seinem Alter, die er gesehen hatte, als seine Eltern ihn dazu gezwungen hatten, sie und seine Schwester auf einem Rundgang durchs Dorf zu begleiten, hatten ihn angeglotzt, als wäre er ein Außerirdischer und auf solche Menschen hatte er absolut kein Bock. Und ihm graute es schon vor dem neuen Schuljahr wenn er in einer neuen Klasse klarkommen musste, die sicher voll von denen war.
Ein großer kalter Regentropfen der ihm mitten auf den Kopf klatschte, holte ihn aus seinen düsteren Gedanken zurück. Und dieser Tropfen bekam sehr schnell Gesellschaft als er aufstand und er fing an zu rennen, um nicht ganz so nass zu werden. Was aber nicht klappte, denn als er aus dem Wald wieder auf den Weg kam, fiel der Regen dicht wie ein Vorhang vom grauen Himmel und binnen Sekunden war er völlig durchnässt.
Den gleichen Weg zurück zu gehen kam jetzt natürlich nicht in Frage und weil Clemens seinen Haustürschlüssel vergessen hatte, musste er klingeln. Er rechnete damit, dass seine Mutter ihm öffnen würde und war sehr erleichtert, als es dann doch sein Vater war.
An dem Blick, mit dem er Clemens ansah, wusste der zwar sofort, dass das, was jetzt kommen würde, auch nicht besonders toll werden würde, aber es würde definitiv immer noch besser sein, als das, was ihn bei seiner Mutter erwartet hatte.
„Ich muss dir ja nicht sagen, dass wir uns ziemlich Sorgen um dich gemacht haben, nicht wahr?“ meinte sein Vater vorwurfsvoll, während er dabei zusah, wie Clemens die Matte im Flur volltropfte.
„Nein, musst du nicht,“ erwiderte Clemens während er seinem ebenfalls vorwurfsvollem Blick erwiderte und versuchte, nicht genervt zu klingen.
Sein Vater nickte. „Gut. Dann geh dich mal abtrocknen und komm danach bitte ins Arbeitszimmer. Ich muss mit dir reden!“
„Mach ich,“ erwiderte Clemens und er rollte erst mit den Augen, als sein Vater ihm den Rücken zugedreht hatte.
Langsam stieg er danach die Treppe hoch. Selbstverständlich wusste er, was ihn erwartete, es war nicht das erste Mal, dass er so ein Gespräch mit seinem Vater führte und er wusste deswegen auch schon genau, wie er sich verhalten musste, um da schnell wieder rauszukommen. Trotzdem ließ er sich Zeit, sich trockene Sachen anzuziehen.
Das Arbeitszimmer befand sich unterm Dach und war genau so eingerichtet, wie in ihrem alten Haus und deswegen wusste Clemens auch sofort, wo er sich hinsetzen sollte.
„Das hat ja lange gedauert,“ empfing ihn sein Vater und Clemens murmelte etwas Unverständliches, während er sich auf den alten Hocker sinken ließ.
Sein Vater, der vor ihm in seinem Schreibtischstuhl saß, verschränkte die Hände im Schoß. „Ich muss ja eigentlich nichts mehr zu all dem sagen, oder?“
„Nein, musst du nicht,“ entgegnete Clemens und bemühte sich immer noch, seine Stimme völlig neutral klingen zu lassen.
„Und dass deine Mutter und ich nicht möchten, dass du uns gegenüber solche Kraftausdrücke wie vorhin benutzt, muss ich auch nicht mehr betonen, oder?“
„Nein, musst du nicht,“ wiederholte Clemens.
„Gut,“ sagte sein Vater und überraschte Clemens, der den üblichen halbstündigen Vortrag erwartet hatte, damit komplett. Es gelang ihm auch nicht, diese Überraschung vor seinem Vater zu verbergen und der grinste einmal schief. „Meinst du ich habe Lust, dir immer und immer wieder das Gleiche zu sagen? Du bist jetzt schließlich fünfzehn, so langsam denke ich, kann ich bei dir etwas gesunden Menschenverstand voraussetzen. Und außerdem hast du im Moment noch so etwas wie... Welpenschutz. Ich weiß ja, wie schwer der Umzug für dich gewesen ist. Und da es für mich so aussieht, als wärst du grade etwas sehr unausgelastet, was sicher der Hauptgrund ist, wieso du so mies drauf bist, habe ich mal ein wenig schlau gemacht. Es gibt einen Schwimmverein in der Stadt, die bieten einen Probetag an. Wie wärs? Wird zwar nicht wie früher sein, aber immerhin kommst du mal raus und machst etwas, was du liebst.“
Das Erste, an das Clemens denken musste, war, von Leuten seines Alters beglotzt zu werden und er hörte es schon förmlich, wie hinter seinem Rücken über ihn getuschelt wurde. Aber er sah auch das Schwimmbecken vor seinem inneren Auge und wie er vom Startblock sprang und ins Wasser eintauchte und dann einfach nur schwamm und schwamm und es juckte ihm in den Fingern, das sofort umzusetzen. „Klingt gut,“ sagte er deswegen. „Wann soll dieser Tag denn sein?“
Sein Vater nahm ein Blatt Papier von seinem Schreibtisch und warf einen Blick drauf. „Nächsten Dienstag um drei Uhr. Soll ich dir helfen, nachzusehen, wie du hinkommst?“
„Nein danke,“ erwiderte Clemens fest. „Das kann ich auch alleine.“
„Gut,“ sagte sein Vater wieder und die Miene, mit der er Clemens ansah, wurde wieder ernst. „Und jetzt möchte ich, dass du zu deiner Mutter gehst und dich bei ihr entschuldigst.“
Jetzt war immerhin etwas eingetreten, mit dem Clemens die ganze Zeit gerechnet hatte. „Mach ich,“ sagte er und erhob sich schwerfällig vom Hocker.
Er fand seine Mutter im Wohnzimmer, wo sie vor der großen Fensterfront zum Garten hin im Lotussitz saß und vermutlich mal wieder eine von ihren Meditationsübungen machte. Clemens wusste, dass sie eigentlich wollte, dass man sie währenddessen nicht ansprach, aber er hatte auch absolut keine Lust jetzt wirklich nicht hier sitzen bis sie endlich fertig wurde.
Er räusperte sich deswegen einmal laut und sagte „Mama“ und wartete ungeduldig, bis sie sich wieder gesammelt hatte und sich zu ihm umdrehte. Sie öffnete den Mund, aber Clemens war schneller. „Es tut mir Leid, dass ich vorhin dir gegenüber ein Wort benutzt habe, das ich nicht hätte benutzen sollen,“ leierte er den üblichen Text herunter. „Ich weiß, ich vergifte die Atmosphäre damit und ich werde hart an mir arbeiten, dass es nicht noch einmal passiert!“
„Und denk auch an Marcia, ich möchte nicht, dass sie in ihrem Alter schon mit solchen Worten konfrontiert wird,“ fügte seine Mutter hinzu und Clemens nickte nur wortlos. Natürlich würde er seiner Mutter niemals sagen, dass er Marcia schon mit fünf das erste Mal dabei erwischt hatte, wie sie ,Scheiße' gesagt hatte. Er hatte ihr damals gesagt, dass es für sie das Beste wäre, dieses Wort nie in Gegenwart von ihrer Mutter zu sagen und sie hatte sich seitdem daran gehalten.
Als sie beim Abendessen dann alle zusammen saßen, sah Clemens seine kleine Schwester das erste Mal an diesem Tag und er konnte nicht umhin, sie zu beneiden. Sie war am ersten Tag einfach nach draußen gegangen, hatte irgendwo ein paar spielende Kinder gesehen und sich einfach dazu gesellt und schon hatte sie ein paar Freunde gefunden, mit denen sie heute auch den ganzen Tag unterwegs gewesen war.
Clemens seufzte einmal lautlos und wünschte sich für einen Moment, auch wieder acht Jahre alt zu sein und so ein einfaches Leben zu haben, in dem man sich um nichts Gedanken machen musste.
Denn er konnte nicht verhindern, den Rest des Tages über den Probetag nachzudenken und wie die Leute da so drauf sein könnten. Und, ohne es vor sich selbst zuzugeben, hoffte er auch, dass es vielleicht nicht so ein Geglotze und Getuschel geben würde, wie er es sich vorstellte, sondern, dass da auch ein paar Korrekte dabei waren, mit denen er sich vielleicht anfreunden konnte.
Die Fahrt mit dem Bus in die Stadt dauerte zu Clemens' Überraschung nur 10 Minuten. Gemessen an dem kleinen Kaff, in dem er nun festsaß und den Bäumen, von denen es umrundet war, fühlte es sich an, als wäre die nächste Zivilisation mindestens einen Tagesreise entfernt.. Aber tatsächlich war es dann doch nicht ganz so dramatisch, die Stadt war zwar verglichen mit seiner alten Heimat auch nur ein Städtchen, aber immerhin hatte sie ein Kino und sogar zwei Supermärkte, zumindest zwei, an denen der Bus vorbeifuhr.
Das Schwimmbad war natürlich auch nicht der Rede wert aber Clemens hatte keine Zeit mehr für Vergleiche, denn er war jetzt nur noch erfüllt von prickelnder Vorfreude. Er folgte zwei Mädchen, die mit Taschen über der Schulter in Richtung Eingang gingen und noch bevor er sich selbst die Frage stellen konnte, wo er jetzt hingehen sollte, nachdem er hinter ihnen durch die Tür getreten war, sagte eine Stimme neben ihm: „Ah, da ist da das neue Gesicht.“
Er drehte den Kopf und sah eine Mann in Trainingshosen, einem weißen T-Shirt, dem eine Pfeife um den Hals hing und der ihm jetzt die Hand hinhielt während er ihn anlächelte. „Du bist doch bestimmt Clemens, oder?“ Und nachdem Clemens genickt hatte, „Ich bin Dirk. Freut mich, dass du heute bei uns reinschnuppern willst. Bist du vorher schon einmal im Verein geschwommen, oder ist das heute dein erstes Mal?“
„Nein,“ antwortete Clemens. „Bevor wir umgezogen sind, bin ich auch Wettkämpfe geschwommen.“
Auf Dirks Gesicht erschien ein breites Grinsen. „Wirklich?! Das ist ja super. Welche Technik?“
und nachdem Clemens „Kraulen“ gesagt hatte, leuchteten seine Augen auf. „Na, dann hoffe ich mal, dass es dir heute bei uns gefällt und du dich dazu entscheidest, hier einzutreten. Wir haben nämlich nur einen Krauler und bräuchten dringend noch einen zweiten! Und jetzt komm, ich zeig dir, wo die Umkleidekabinen sind.“
Am Ende der Stunde, die für Clemens Geschmack viel zu schnell vorbei ging, war es für ihn mehr als sonnenklar, dass er hier Mitglied werden würde. Es hatte unglaublich Spaß gemacht, endlich mal wieder zu schwimmen und natürlich auch, Dirk seine Fähigkeiten im Kraulschwimmen vorzuführen und durch dessen anerkennende Worte fühlte Clemens sich gleich zehn Zentimeter größer. Die anderen schienen auch ganz in Ordnung zu sein, Clemens schnappte zwar den ein oder anderen Blick von jemandem auf, aber er war niemals abfällig sondern vermutlich einfach nur der Tatsache geschuldet, dass er der Neue war. Allerdings nahm er diese Blicke eher nebensächlich wahr und Getuschel, wenn es denn welches gegeben hatte, war ihm auch nicht aufgefallen, weil sich alles in ihm nur noch aufs Schwimmen konzentriert hatte.
Als er sich umgezogen und seine Sachen zusammengepackt hatte und mit ein bisschen Wehmut im Herzen, weil er wirklich noch stundenlang so hätte weiterschwimmen können, in Richtung Ausgang ging, hörte er jemanden seinen Namen rufen und als er stehenblieb und sich umdrehte, sah er Dirk auf ihn zulaufen.
„Entschuldige bitte,“ stieß der etwas atemlos hervor. „Ich wollte dich eigentlich schon früher drauf ansprechen, aber ich hab den ganzen Papierkram einfach nicht gefunden.“ Er holte einmal tief Luft. „Weil ich gesehen habe, dass du heute echt Spaß zu haben schienst, hab ich gleich ein Anmeldeformular mitgebracht. Also, wie sieht es aus?“
„Ich bin auf jeden Fall dabei!“ erwiderte Clemens enthusiastisch und Dirk lächelte. „Wunderbar, wunderbar.“ Er hielt Clemens ein Blatt Papier hin. „Das einmal ausfüllen und von deinen Eltern unterschreiben lassen und uns dann wieder zurückschicken, per Post oder per E-Mail, wie ihr es möchtet.“
Clemens nahm das Blatt, sagte „Danke und bis zum nächsten Mal,“ und ging dann los zur Bushaltestelle. Und auf dem Weg dahin merkte er, dass er die ganze Zeit lächelte. Diese Stunde heute hatte ihn schon fast mit dem Umzug versöhnt. Aber nur fast.
Denn als er im Bus nach Hause saß und seinen Gedanken nachhing, musste er wieder an zuhause denken und daran, was Jakob und die anderen jetzt wohl machten. Sie schrieben sich zwar Nachrichten und Jakob schickten ihm auch hin und wieder einmal Fotos, aber das war natürlich nicht das Gleiche. Und so wie früher würde es auch nie wieder werden. Dank seinen Eltern, die meinte, ihn einfach herumschubsen zu können, wie ein Kleinkind.
Als er bei diesem Gedanken angekommen war, ballte Clemens unbewusst die Hand zur Faust und spürte, wie er wütend wurde. Aber wütend zu sein war definitiv falsch, wenn er seine Eltern gleich bitten wollte, das Anmeldeformular zu unterschreiben und sich damit einverstanden zu erklären, dem Verein jährlich Geld zu bezahlen.
Also nutzte er den Rest der Busfahrt dazu, sich wieder abzuregen, indem er an die zurückliegende Stunde dachte und glücklicherweise half es.
In der Sekunde, als er die Haustür aufschloss, kam seine Mutter aus der Küche auf ihn zugestürzt und musterte ihn einmal von oben bis unten. Dann lächelte sie. „Du musst gar nichts sagen, Liebling, ich sehe es dir an deiner Aura an, dass es dir heute gefallen hat. Ich bin wirklich glücklich darüber.“ Sie umarmte ihn und drückte ihn einmal fest an sich.
„Es hat wirklich Spaß gemacht,“ murmelte Clemens an seiner Schulter, aber er hatte keinerlei Interesse dran, ihr mehr darüber zu erzählen denn die Aura-Aussage hatte ihm schon völlig ausgereicht und er hatte wirklich keine Lust noch mehr darüber zu hören, oder über Chakren oder sonstigen esoterischen Kram. Deswegen beeilte er sich auch, auf sein Zimmer zu kommen, nachdem sie ihn losgelassen hatte, um das Formular auszufüllen. Seine Tasche warf er achtlos in die Ecke, darum würde er sich später kümmern.
Mit dem ausgefüllten Formular ging er zu seinem Vater, der im Wohnzimmer auf dem Sofa saß und Tee trank. „Und? Wie wars?“ fragte er, als Clemens sich ihm gegenüber in den Sessel setzte.
„Es war super,“ erwiderte Clemens begeisterter als er es eigentlich geplant hatte und hielt seinem Vater das Formular hin. „Könntest du das vielleicht unterschreiben? Und dann so schnell wie möglich zurückschicken?“
Sein Vater nahm das Papier und warf einen Blick drauf. Dann lächelte er Clemens an. „Freut mich wirklich, dass du da mitmachen willst. Ich dachte schon, ich krieg vielleicht nie wieder die Gelegenheit, bei einem Wettkampf mit dabei zu sein. Die waren immer so aufregend.“ Sie lachte einmal beide, dann nahm sein Vater einen Stift und unterschrieb. Anschließend stand er mit dem Papier in der Hand auf. „Ich werde es jetzt auch gleich zurückschicken.“
In den nächsten Tagen lebte Clemens nur noch für den Mittwoch. Lesen, im Wald spazieren gehen oder zocken, das war bloß, um die Zeit bis dahin zu vertreiben.Allerdings machte er auch an verschiedenen Tagen einen Spaziergang durchs Dorf und hielt unauffällig danach Ausschau, ob er vielleicht jemandem aus dem Schwimmkurs sah. Aber entweder wohnte keiner von ihnen hier oder derjenige war an diesen Tagen nicht da.
Als schließlich die Zusage vom Verein kam, dass Clemens aufgenommen worden war, wurde er nur noch ungeduldiger und die Zeit schien noch langsamer zu vergehen. Er fing sogar an sich zu wünschen, dass die Schule wieder anfing. Natürlich hatte er nicht wirklich Bock auf Unterricht und neue Mitschüler und Hausaufgaben, aber immerhin würde es helfen, dass der Tag schneller herumging. Aber bis es wieder losging waren es immer noch zwei Wochen.
Aber schließlich war er da, der Mittwoch. Voller Vorfreude packte Clemens seine Tasche und machte sich auf den Weg zum Bus. Er war so begierig, loszuschwimmen, dass er während der ganzen Fahrt mit dem Fuß wippte.
Diesmal empfing ihn Dirk nicht am Eingang, aber das war kein Problem, denn Clemens wusste noch, wo er hinmusste. Auf dem Weg dorthin traf er auch schon auf ein paar bekannte Gesichter, die ihm zunickten oder ,Hallo' sagte.
In der Schwimmhalle angekommen, bemerkte Clemens überrascht, dass heute viel mehr Leute da waren, als beim letzten Mal. Und obwohl er Dirk eigentlich ganz nett fand, war es wirklich nicht so toll von ihm, ihn noch einmal extra zu begrüßen und zu sagen, wie unglaublich supe er es fand, dass Clemens jetzt auch dabei war. Denn natürlich bewirkte das, dass sich alle zu Clemens umdrehten und ihn ansahen und er sich für einen Moment unwohl fühlte. Aber das Gefühl verschwand schnell, als Dirk einmal laut pfiff und alle ins Wasser sprangen.
Als Clemens grade aus dem Wasser gestiegen war, um einen Kopfsprung vom Startblock zu machen, hörte er Dirk seinen Namen rufen und ihn auf sich zugehen. In der Hand hielt er ein rundes schwarzes Ding und Clemens wusste sofort, dass das eine Stoppuhr war und was jetzt auf ihn zukommen würde.
„Was dagegen, wenn ich mal deine Zeit messe?“ fragte er. „Erst mal auf 50 Meter. Du weißt ja, der nächste Wettkampf kommt bestimmt.“
„Na klar,“ erwiderte Clemens. Er hatte absolut nichts dagegen, wieder ein paar anerkennenden Worte einzuheimsen.
Er war jetzt schon eine ganze Weile nicht mehr so geschwommen und hatte den Eindruck, unglaublich langsam zu sein und als er aus dem Becken stieg, hatte er ein ziemlich ungutes Gefühl, vor allem, als er sah, wie viele Leute sich um Dirk versammelt hatten, um mit auf die Stoppuhr zu sehen. Aber das Gejohle und Geklatsche, das ihn empfing, zeigte ihm, dass er wohl doch nicht so schlecht gewesen war, wie er dachte.
„Super Zeit,“ erwiderte Dirk und nickte ihm einmal anerkennend zu. „Sieht so aus, als hättest du endlich Konkurrenz bekommen, Timo,“ sagte er dann zu einem blonden Jungen, der etwas abseits stand. Als Clemens ihn ansah, verschränkte er die Arme vor der Brust und funkelte ihn wütend an.
Clemens fühlte sich mit einem Schlag unwohl. Er hatte es früher auch schon mit Konkurrenten zu tun gehabt, vor allem natürlich bei den Wettkämpfen, aber da war es wirklich immer sportlich geblieben. Wohingegen dieser Timo nicht unbedingt den Eindruck machte, sportlich bleiben zu wollen.
„Genug herumgestanden, los weitermachen!“ Dirks laute Stimme und sein Klatschen riss Clemens zurück aus seinen Gedanken. Er wollte mit den anderen zurück ins Becken springen, aber Dirk hielt ihn zurück. „Bereit für die 100 Meter?“ wollte er wissen. „Das war dann auch erst mal.“
„Natürlich,“ erwiderte Clemens und sah sich unauffällig nach Timo um, konnte ihn aber nirgendwo entdecken.
Auch Clemens' Zeit über die 100 Meter sorgte dafür, dass Dirk in einen beinahe schon euphorische Begeisterungssturm ausbrach und Clemens konnte nicht verhindern, dass sein Blick währenddessen zu Timo rüberwanderte, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte und natürlich wieder unglaublich wütend aussah. Und Clemens konnte nicht verhindern, sich dabei richtig gut zu fühlen.
In seinem alten Schwimmverein war er immer nur im Mittelfeld gewesen und seine damalige Trainerin, eine Frau von ohnehin schon wenigen Worten, hatte sich niemals ein Lob für ihn abgerungen. Selbst die Besten von ihnen hatten selten eins bekommen. Und jetzt an der Spitze zu stehen und mit Komplimenten überschüttet zu werden, das war absoluter Balsam für Clemens' Seele. Und endlich war da mal jemand, der ihn beneidete, weil er so gut war und nicht umgekehrt. Denn was anderes sollte Timos Wut denn sonst sein, außer Neid?
Das waren natürlich weder besonders nette noch besonders konstruktive Gedanken, weil sie ja immer noch alle eine Mannschaft waren, aber Clemens konnte, zumindest im Moment, nichts dagegen tun.
Am Ende des Training, als alle in Richtung Duschen gingen, sah Clemens Dirk und Timo abseits miteinander reden und er konnte sich schon gut vorstellen, worum es ging. Auch ihm war damals gesagt worden, dass er sich bitte etwas mehr anstrengen sollte, wobei Dirk das Timo vermutlich auf nettere Art und Weise klarmachte, als es seine alte Trainerin damals bei Clemens getan hatte.
Da es wirklich ein kleines Schwimmbad war, es deswegen auch nicht genug Duschen für alle gab und die anderen Jungs schneller gewesen waren, als Clemens, musste er noch ein paar Minuten auf eine freie warten. Aber auch danach hatte er es nicht eilig, fertig zu werden, da ihn wirklich absolut nichts zurück nach Hause zog.
Als er schließlich die Tür zur Schwimmhalle in Schloss fallen hörte und das natürlich nur Timo sein konnte, hielt er grade sein Gesicht mit geschlossenen Augen in den Wasserstrahl und genoss die Wärme und er hatte auch nicht vor, das wegen Timo jetzt zu ändern. Auch, wenn er auf einmal etwas unbehaglich fühlte – aber nur für eine Sekunde, definitiv nicht genug, um jetzt zu verschwinden; die Genugtuung würde er Timo sicher nicht geben.
Er hörte, wie der ebenfalls eine Dusche anmachte und je länger sie beide wortlos unter ihren Duschen standen, desto angespannter wurde die Atmosphäre in diesem Raum, zumindest empfand es Clemens so und er spürte die Feindseligkeit, die Timo ausstrahlte und die auch nicht von den gekachelten Wänden der Duschkabine aufgehalten werden konnte, beinahe körperlich. An Entspannung war jetzt auch nicht mehr zu denken, dafür kam Clemens seine Mutter in den Sinn, die sicher immer gerne übertrieben Sorgen machte und er hatte wirklich keine Lust auf irgendwelche Ansprachen, womöglich auch mal wieder unterlegt mit irgendwelchem nervigen esoterischen Kram.
Also trat er mit einigem Bedauern aus der Kabine, nahm sein Handtuch und ging zu seinem Schrank, um seine Tasche zu holen.
Beim Anziehen trödelte er zwar nicht mehr groß rum, beeilte sich aber auch nicht sonderlich und als er schließlich in den Gang trat, wäre er fast mit Timo zusammengestoßen. Der sah ihn für eine Sekunde mit einem Blick an, bei dem Clemens unwillkürlich die rechte Hand zur Faust ballte, aber dann war die Sekunde vorbei, genau wie Timo.
Clemens ließ ihm einen Vorsprung, allerdings rechnete er bereits damit, dass er Timo an der Haltestelle wiedertreffen würde. So funktionierte diese Welt doch meistens.
Aber nicht nur, dass er Timo schon nicht mehr sah, als er aus dem Gebäude kam, er wartete auch nicht an der Bushaltestelle. Clemens war darüber ziemlich erleichtert, denn er hätte wirklich keine Lust gehabt, jetzt auch noch mit Timo in einem Bus zu sitzen. Um dann vielleicht auch noch festzustellen, dass er bei ihm im Dorf wohnte. Aber das wäre eigentlich auch so gewesen, wie die Welt eigentlich funktionierte: Die netten Leute lebten in der Stadt und der eine blöde Kerl im Dorf.
Was Timo anging, reichte es Clemens definitiv, ihn einmal die Woche zu sehen, während das Schwimmtraining nach seinem Geschmack auch jeden Tag hätte stattfinden können.
Aber so gab es jetzt wieder eine Woche zu überbrücken, die letzte Woche der Sommerferien und Clemens' Gedanken begannen jetzt immer mehr um den ersten Schultag und die Schule allgemein zu kreisen und mit seinem Vater loszugehen, um noch ein paar nötige Sachen wie Hefte und Stifte zu kaufen, machte die ganze Sache nur noch greifbarer.
Clemens lag jetzt häufiger nachts wach und dachte darüber nach und je mehr seine Gedanken darum kreisten und je mehr Situationen er sich ausmalte, von denen die meisten sicherlich niemals so stattfinden würde, desto mehr wünschte er sich, dass die Schule endlich anfangen würde, damit diese Ungewissheit ein Ende hatte.
Das Schwimmtraining war da natürlich eine mehr als willkommene Abwechslung und Clemens war wirklich erleichtert, als es endlich Mittwoch war, weil er seinem Gehirn jetzt endlich etwas anderes zur Beschäftigung geben konnte.
Wie üblich standen sie am Anfang alle zusammen und Dirk ging mit jedem seinen Plan für dieses Training durch, begleitet von einigen motivierenden Ansprachen was zukünftige Wettkämpfe anging und als er grade eine davon beendet hatte, stand Timo plötzlich auf und räusperte sich. „Ich finde, ein Punkt auf deiner Liste sollte heute auch sein, dass Clemens und ich einmal gegeneinander schwimmen,“ sagte er laut und als Dirk den Mund öffnete, redete er gleich weiter. „Ich hab's beim letzten Mal echt viel zu sehr schleifen lassen, aber das wird heute definitiv anders sein!“
Dirk sah Clemens an. „Wäre das für dich in Ordnung?“ Clemens nickte. Natürlich war es für ihn in Ordnung. Er sah sich schon als den sicheren Sieger, denn was sollte sich seit letzter Woche groß geändert haben? Er kannte zwar Timos Zeiten nicht, aber angesichts Dirks Reaktion mussten seine eigenen um einiges besser sein.
Natürlich war es nicht besonders schlau, sich gleich wie der sichere Sieger zu fühlen, aber Clemens konnte einfach nichts anders, als sie beide nebeneinander zu den Startblöcken gingen.
Sie brachten sich in Position und nachdem Dirk ,Los' gerufen, Clemens sich vom Startblock abgestoßen und mit einem sauberen Kopfsprung eingetaucht war, da hatte er schon völlig vergessen, dass er hier jetzt grade gegen Timo antrat und dass er unbedingt gewinnen musste. Jetzt konzentrierte er sich nur noch aufs Schwimmen, genau, wie es auch sonst bei Wettkämpfe gewesen war. War der Druck vorher noch so enorm gewesen, sobald Clemens im Wasser war, war er immer sofort verschwunden gewesen.
Aber selbst, wenn Clemens sich die ganze Zeit bewusst gewesen wäre, dass er hier gegen Timo antrat, hätte er sich keine Sorgen machen müssen, denn als er nach den 100 Metern anschlug, war Timo noch ein ganzes Stück hinter ihm, gemessen in Sekunden, nicht Hundertstelsekunden.
Was Clemens anging, so war die Sache für ihn erledigt, nachdem er aus dem Wasser gestiegen war und er hätte jetzt gerne mit dem weitergemacht, was Dirk für heute für ihn vorgesehen hatte, das Einzige, was ihn jetzt noch interessierte, war seine Zeit und er ging zu Dirk, um selber einen Blick auf die Stoppuhr zu werfen. Aber für Timo die Angelegenheit natürlich noch nicht beendet. Clemens hörte ihn hinter sich laut ,Verdammter Scheisse!' rufen und als er sich umdrehte, sah er, wie Timo einmal wütend mit dem Fuß auf den Boden stampfte. Dann hob er den Kopf und Clemens gelang es nicht schnell genug, wieder wegzugucken, sodass sich ihre Blicke trafen.
„Na, bist du jetzt zufrieden, du Drecksack,“ schrie Timo ihn mit wutverzerrtem Gesicht an und Clemens, der nicht damit gerechnet hatte, dass Timo ihn so anfahren würde, wusste für eine Sekunde nicht, was er darauf erwidern sollte und in dieser Sekunde drehte Timo sich um und rannte zum Ausgang.
„Nimm dir das bitte nicht zu Herzen,“ sagte Dirks Stimme da neben Clemens. „Er ist einfach unglaublich ehrgeizig und Verlieren fällt ihm deswegen auch ziemlich schwer, wie du ja grad gesehen hast. Das ist auch nicht das erste Mal, dass er hier so ausgerastet ist und ich hab mir schon fast gedacht, dass das jetzt wieder passieren würde.“ Er seufzte einmal. „Ich war eigentlich gegen dieses Wettschwimmen, aber dann hätte er mich für den Rest der Zeit damit nicht in Ruhe gelassen. War vermutlich nicht pädagogisch besonders wertvoll, aber vielleicht motiviert ihn das ja, jetzt wieder mehr Gas zu geben. Er hat sich in der letzten Zeit wirklich ein bisschen zu sehr auf seinem Thron ausgeruht, aber das ist ja jetzt vorbei. Und dann hab ich hoffentlich bald zwei exzellente Schwimmer für den nächsten Wettkampf. Ich hab mir überlegt, dass wir dich über die 100 Meter starten lassen,“ schaltete er dann wieder in den Schwimmtrainer-Modus während Clemens immer noch über die Szene von grade nachdenken musste und sie ließ ihn auch bis zum Ende des Trainings nicht mehr los.
Diesmal trödelte er nicht unter Dusche und ließ sich auch beim Anziehen nicht mehr Zeit als nötig, nicht, weil es ihn jetzt nach Hause zog, aber diesmal hielt ihn auch nichts in diesem Schwimmbad. Obwohl es natürlich sein konnte, dass Timo draußen auf ihn wartete. Nachdem er grade so ausgerastet war, war Clemens ziemlich überzeugt davon, dass er einer Prügelei nicht abgeneigt war.
Wenn er es drauf anlegte, dann würde Clemens sich auch mit ihm prügeln, das stand außer Frage. Nur vielleicht nicht unbedingt nach dem Training, denn er merkte deutlich, dass er auch nach drei Wochen immer noch einen ziemlichen Trainingsrückstand hatte, nachdem er davor wegen des Umzugs fünf Wochen lang gar nicht trainiert hatte. Deswegen war er nach dem Training auch immer noch ziemlich fertig und jetzt definitiv nicht in der Lage für eine Schlägerei.
Er merkte selber gar nicht, wie angespannt er innerlich war und als eine Stimme seinen Namen sagte, nachdem er aus dem Schwimmbad gekommen war, machte sein Herz einen Hüpfer und für einen Moment war er sich absolut sicher, dass es Timos Stimme gewesen war. Aber dann schaute er genauer hin und es war nicht Timo. Es war einer seiner Mitschwimmer, aber Clemens konnte sich nicht an seinen Namen erinnern.
„Hey,“ sagte er und nickte Clemens zu. „Ich wollte dir nur sagen, dass ich das echt ne krasse Sache fand, wie Timo vorhin ausgerastet ist. Der Typ hat sie echt nicht mehr alle! Bei mir ist der auch schon so abgedreht, weil ich auch besser gewesen bin, als er. Aber der ist nicht nur beim Schwimmen so. Er ist in meiner Parallelklasse und ich hab schon so einige krasse Geschichten über den gehört. Seine Eltern sind wohl hammer ehrgeizig und deswegen kriegt er immer Probleme mit denen, wenn er irgendwo mal nicht der Beste ist.“
Clemens hatte absolut nicht damit gerechnet, dass er ihm ausgerechnet sowas erzählen würde und deswegen war er für eine Sekunde zu überrascht, um irgendetwas darauf zu erwidern. „Ok,“ sagte er dann. „Danke für die Info.“
Der Junge nickte. „Kein Ding. Wir müssen ja alle zusammenhalten, vorallem, wenn einer so drauf ist. Aber mal was Anderes: Du schwimmst echt geile Zeiten, Mann. Mit dir haben wir jetzt bestimmt endlich mal die Chance, wieder was zu gewinnen. Das letzte Mal, dass dieser Verein mal richtig was gewonnen hat, war noch, bevor ich geboren wurde. Das Beste, was wir erreicht haben, war n zweiter Platz. Und erster Platz is eindeutig geiler.“
„Absolut,“ stimmte Clemens ihm zu. Nebeneinander waren sie einfach losgelaufen, während sie sich unterhalten haben und er merkte erst jetzt, dass sie in die falsche Richtung gelaufen waren.
„Ich muss dann jetzt mal wieder umdrehen,“ erklärte Clemens deswegen.
„Wohnst du hier in der Nähe?“ wollte der Junge wissen und Clemens lachte einmal. „Schön wärs. Aber ich darf jetzt mit dem Bus zurück in mein Kaff fahren.“
„Oh man,“ stöhnte der Junge. „Ich weiß genau, welches du meinst. Die Gegend da is echt tot. Ich hab n Freund, der wohnt da, da gibt’s echt nur Langeweile pur.“
„Absolut,“ stimmte Clemens ihm aus vollem Herzen zu und hoffte insgeheim, dass er jetzt vorschlug, dass sie sich vielleicht auch mal außerhalb des Trainings treffen könnten, damit Clemens der Langeweile entkommen konnte.
Aber der Junge schlug nichts dergleichen vor, aber immerhin begleitete er Clemens noch bis zur Bushaltestelle. „Ach, bevor ichs vergesse,“ sagte er dann. „Ich heiß übrigens Benedikt.“ Und als Clemens den Mund öffnete, hob er die Hand. „Mach dir keinen Kopf, ich hab echt nicht damit gerechnet, dass du meinen Namen kennst. Aber dich kennt natürlich schon jeder, du bist jetzt schließlich der neue König des Schwimmbeckens.“
„Der Titel is genial, den nehm ich natürlich gerne,“ erwiderte Clemens und lachte, während er sich in seinem unerwarteten Ruhm sonnte.
Sie hatten die Haltestelle inzwischen erreicht und Benedikt nickte ihm einmal zum Abschied zu. „Bis Mittwoch,“ sagte er.
„Bis Mittwoch,“ erwiderte Clemens und nachdem Benedikt gegangen war, seufzte er einmal und ließ sich auf die Bank fallen.
Er hatte noch nicht auf die Uhr geguckt, aber er war sich sicher, dass er jetzt mal wieder mindestens eine Viertelstunde auf den Bus warten durfte.
Tatsächlich sahen sie sich schon am Montag wieder, sie waren nämlich in derselben Klasse, wie Clemens mit Erleichterung feststellte. Er erkannte zwar auch noch zwei anderen aus dem Schwimmteam, aber mit denen hatte er bis jetzt ja noch kein Wort gewechselt, also war es einfacher, sich direkt an Benedikt zu hängen. Dem das glücklicherweise nichts auszumachen schien, da er Clemens ziemlich fröhlich begrüßte und auch gleich den anderen beiden vorstellte, mit denen zu zusammenstand.
Wenigstens dieser Teil des Tages lief besser ab, als Clemens es erwartet hatte.
Der Morgen zuhause war ziemlich ätzend gewesen, Marcia, die sich nur schwer damit abfinden konnte, dass der Tag jetzt nicht mehr nur aus Spielen und Herumstreifen bestand, hatte ziemlich herumgenörgelt und Clemens Mutter, der seine Nervosität leider nicht entgangen war, hatte ihm angeboten, mit ihm noch kurz eine Meditationsübung zu mache, bevor das Haus verließ. Clemens hatte das natürlich sofort abgelehnt, genau so wie ihr Vorschlag, ihn heute einmal zur Schule zu bringen, schließlich sei er vorher ja noch nie mit dem Bus dahin gefahren. Das Letzte, was er heute wollte, war aus dem kleinen rosafarbenen mit Werbung von ihrem Yogastudio vollgeklebten Auto zu steigen und seinen Mitschülern damit noch mehr Anlass zum Glotzen zu geben.
Da zog er es wirklich vor, sich eine Viertelstunde später in den schon ziemlich vollen Bus zu quetschen, der natürlich im Laufe der Fahrt noch voller wurde, sodass er wie eine Sardine in der Büchse zwischen zwei anderen stand, als der Bus vor der Schule hielt. Aber wenigstens musste er sich jetzt nicht bis zum Ausgang durchkämpfen, weil hier ja alle raus wollten.
Eigentlich hatte Clemens auch erwartet, dass Timo in seiner Klasse war. Denn das wäre wieder etwas aus der Rubrik ,so funktioniert das Leben eben' gewesen.
Aber Clemens sah ihn nirgendwo, weder auf dem Schulhof, noch nachher in der Klasse und daran, dass er sich von einer Sekunde auf die andere fühlte, als wäre eine ziemlich schwere Last von seinen Schultern genommen, merkte er erst, wie angespannt er deswegen die ganze Zeit gewesen war. Nicht, dass er sich von Timo irgendwie hätte einschüchtern lassen, aber dass er jetzt einfach nicht da war, machte die ganze Sache um Einiges einfacher.
Der einzige freie Platz im Klassenraum war neben einem völlig unbekannten Mädchen und Clemens hätte natürlich lieber neben Benedikt gesessen, aber er wusste auch, dass es absolut nichts brachte, sich jetzt anzustellen. Also ging er zum Tisch und lächelte das Mädchen an. „Hallo,“ sagte er. „Ich bin Clemens.“
„Melissa,“ erwiderte sie und lächelte ebenfalls, aber nur kurz und ihr Gesicht machte nicht den Eindruck, als wäre sie an weiterer Konversation interessiert. Deswegen setzte Clemens sich neben sie, ohne noch etwas zu sagen und packte seinen Kram aus.
Die Anspannung, Timo eventuell zu treffen, machte jetzt der Anspannung Platz, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und der Inhalt jedes Gespräches zu sein. Er sagte sich zwar selbst, dass das kompletter Unsinn war, aber trotzdem kam er gegen dieses Gefühl einfach nicht an. Deswegen war er dann sogar froh, dass die Lehrerin schließlich mit dem Unterricht anfing und die Gespräche um ihn herum verstummten – die meisten jedenfalls.
Marcia würde jetzt mit ihrer Klasse vermutlich irgendwelche Kennenlernspiele spielen, bei denen sie erzählen konnte, was ihre Lieblingsfarbe und ihr Lieblingstier war, während seine Lehrerin Clemens nur als ,unser neuer Mitschüler' vorstellte, gottseidank darauf verzichtete, dass er nach vorne kam und sich noch einmal selber vorstellte, und dann gleich knallhart zur Sache kam. Sie teilte ein paar Papiere und den Stundenplan aus und fing dann, den Ablauf des Matheunterrichts für dieses Jahr durchzugehen und Clemens merkte gleich, dass hier ein anderer Wind wehte, als an seiner alten Schule und das nicht nur in Mathe.
Schon in der ersten Pause war er ziemlich ernüchtert und verfluchte wieder einmal seine Eltern, dass sie ihn einfach so aus seinem alten Zuhause herausgerissen und hierher verfrachtet hatten. Er war so in seine düsteren Gedanken versunken, dass er gar nicht mitbekam, was Benedikt und die anderen miteinander redeten, bis Benedikt ihn schließlich anstieß und ihn damit aus seinen düsteren Gedanken riss. „Wir dürfen uns übrigens geehrt fühlen, dass der König des Schwimmbads sich dazu herablässt, bei uns zu stehen,“ sagte er grinsend, die anderen lachten und mit einem Schlag war Clemens jetzt der wirkliche und nicht nur eingebildete Mittelpunkt der Aufmerksamkeit; alle sahen ihn an und er spürte, wie er rot wurde.
„Ben redet echt ziemlich oft über dich,“ sagte eins der zwei Mädchen und lächelte ihn an. „Kotzt ihn echt ziemlich an, dass der Verein es bis jetzt nur geschafft hat, Zweiter zu werden. Und deswegen bis du jetzt grade das Licht der Hoffnung in seiner dunklen Welt. Ich bin übrigens Christa,“ sagte sie und hob einmal die Hand.
Clemens stellte sich ebenfalls vor während sein Gesicht immer noch glühte und dass ihm das unglaublich peinlich war, half nicht mal ansatzweise dabei, es wieder loszuwerden. Doch dann entdeckte er plötzlich Timo, der zusammen mit ein paar anderen ein paar Meter entfernt von ihnen stand und das sorgte dafür, dass ihm alles Blut mit einem Schlag aus dem Gesicht wich. Er hoffte, den anderen war das nicht aufgefallen, aber die waren dazu übergegangen, sich über ein anderes Thema zu unterhalten, was Clemens auch mal wieder zeigte, dass er gar nicht so sehr im Mittelpunkt stand, wie er dachte.
Clemens ärgerte sich ziemlich darüber, dass die Sache mit Timo solche Spuren bei ihm hinterlassen hatte. Eigentlich konnte er und sein übertriebener Ehrgeiz ihm doch völlig egal sein. Wäre es vermutlich auch, wenn Timo beim letzten Training nicht so ausgerastet wäre. Das hatte Clemens wirklich aus der Bahn geworfen, vorallem, weil er echt keine Lust hatte, mit Timo irgendwann einmal richtig aneinanderzugeraten. Er würde sich davor natürlich nicht drücken, aber viel lieber war es ihm einfach, wenn das alles auf der sportlichen Ebene bleiben würde. Was aber offensichtlich nicht möglich war und deswegen rechnete Clemens jetzt, nachdem er Timo auf dem Schulhof gesehen hatte, das es jeden Tag soweit sein konnte.
Aber das Erste, was passierte, war, dass Timo am Mittwoch beim Training fehlte. Dirk sagte dazu nichts, aber dafür Benedikt, als sie zusammen zum Becken gingen. „Das letzte Mal muss Timo ja echt richtig mitgenommen haben,“ sagte er. „Als er beim ersten Mal so ausgerastet ist, war er beim nächsten Training wieder da und musste uns dann allen gleich zeigen, wie absolut großartig er ist. Ich frage mich, ob seine Eltern ihn vielleicht aus dem Verein genommen haben, weil die Gefahr besteht, dass er hier jetzt nicht mehr der Allerbeste ist.“
„Meinst du echt, das würden die machen?“ fragte Clemens und hatte für eine Sekunde ein schlechtes Gewissen.
Benedikt zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber wenn die so krass drauf sind, wie Timo, dann würds mich echt nicht überraschen. Aber ich glaub, das hätte Dirk uns dann schon gesagt. Also denk ich mal, dass er noch mal wiederkommt.“
Sie waren beim Becken angekommen und sprangen hinein und sobald Clemens untergetaucht war, war in seinem Gehirn nur noch Platz für das Training und auch danach hatte er dafür erst mal keine Kapazitäten mehr mehr frei, weil er und Benedikt sich über anderen Kram unterhielten wie, welche Musik sie gerne hörten und welche Spiele sie gerne spielten und ob sie sich nicht auch einmal online zum Zocken treffen sollten und Clemens war wirklich erleichtert, dass das mit dem Anschluss finden dann doch nicht so schwierig wurde, wie er am Anfang gedacht hatte.
Aber als er dann im Bus zurück nach Hause saß, da war in seinem Kopf wieder Platz für Timo und auch für die Erkenntnis, dass er mit seinen Eltern dann doch Glück gehabt hatte. Seiner Mutter, nervig wie sie war mit ihrem esoterischen Kram, ging es doch eigentlich nur darum, dass es ihm gut ging und ,sein Inneres im Gleichgewicht war' wie sie es immer auszudrücken pflegte und auch sein Vater war niemals wütend geworden, wenn er mal eine schlechte Note bekommen hatte. Allerdings war Clemens bis jetzt auch noch nie mit etwas schlechterem als einer Vier nach Hause gekommen und vielleicht würde das Ganze ja etwas anders aussehen, wenn es dann mal eine Fünf oder eine Sechs wäre. Nicht, dass er vorhatte, das mal auszuprobieren, aber so, wie die Dinge im Moment aussahen, bestand zumindest die Möglichkeit, dass es mal passieren konnte. Denn schon seit Montag war es glasklar, dass er ab jetzt viel mehr würde lernen müssen, als früher und Lernen war nun wirklich nicht seine Stärke.
Auch, wenn Clemens nach wie vor wütend darüber war, dass er hatte umziehen müssen und weder für sein Zimmer, noch für das Dorf oder irgendetwas anderes freundliche Gefühle entwickelt hatte, vom Schwimmverein mal abgesehen, konnte er trotzdem nichts dagegen machen, dass er sich ziemlich bald wieder mitten im Alltagstrott befand und es sich so anfühlte, als wäre der Umzug nicht erst ein paar Monate, sondern ein paar Jahre her.
Am Anfang hatte er sich noch ziemlich an seine alten Freunde geklammert, vorallem mit Jakob hatte er beinahe jeden Tag geschrieben, ihm sein Leid geklagt und ihm Fotos von seinem Zimmer und dem ganzen trostlosen Rest geschickt. Aber auch das war deutlich weniger geworden, genau so wie Clemens Ehrgeiz, sobald wie möglich jedes Wochenende in seine alte Heimat zu fahren, weil er es hier nicht aushielt.
Denn neue Freunde zu finden hatte besser geklappt, als er dachte, dank Benedikt. Vom Online zocken waren sie dann sehr schnell zum realen Treffen übergegangen und es stellte sich heraus, dass er, Christa und Nathalie, Justus und Adrian, wie die anderen hießen, auch außerhalb der Schule eine eingeschweißte Clique waren und Clemens ohne Probleme daran teilhaben ließen.
Und jetzt, wo Clemens mit dem schon befürchteten Lernen, seinen neuen Freunden und dem Schwimmtraining komplett ausgelastet war, da hörte er auf, sich über Timos Situation Gedanken zu machen.
Der tauchte nach einer Woche Abwesenheit dann auch wieder beim Training auf und schien ganz der Alte zu sein, eiskalte Blicke in Clemens' Richtung mit eingeschlossen. Und Dirk, der offensichtlich etwas Angst hatte, dass Timo vielleicht abspringen würde, behandelte ihn die ganze Zeit wie ein rohes Ei und sparte auch nicht mit Lob, als sich Timos Zeit über die 100 Meter dann tatsächlich ein bisschen gebessert hatte. Clemens hatte eigentlich erwartet, dass Timo ihm das sofort unter die Nase reiben würde, aber er tat es nicht. Er sprach sowieso nur mit Clemens, wenn es absolut nicht mehr zu vermeiden war und dann auch nur das Nötigste. Aber mit dieser Art von Burgfrieden konnte Clemens absolut super leben.
Die erste Klassenarbeit wurde angesetzt und natürlich war es Mathe. Das passte absolut zu ihrer Mathelehrerin die sie durch den Stoff regelrecht durchpeitschte und natürlich zusätzlich auch gerne ziemlich viele Hausaufgaben aufgab. Und weil Clemens wirklich Respekt vor dieser Arbeit hatte, hatte er sogar gelernt, obwohl er sich dazu jedes Mal hatte zwingen müssen.
Im Bus hatte er die ganze Zeit auf seinen Zettel geguckt, auf dem die Formeln drauf standen, von denen er gedacht hatte, dass er sie auswendig konnte, aber je näher sie der Schule kamen und je nervöser er wurde, desto mehr schienen sie aus seinem Kopf zu verschwinden und er war froh, dass er diesen Zettel gleich so geschrieben hatte, dass er auch als Spicker herhalten konnte. Allerdings wirklich nur immer allerhöchsten Notfall, denn wenn diese Lehrerin ihn beim Spicken erwischen würde, dann würde es definitiv übel ausgehen.
Er starrte immer noch auf den Zettel und versuchte die Formeln zurück in sein Hirn zu hypnotisieren als er auf den Schulhof kam, aber dann hörte er plötzlich ein lautes ,Das ist er!' und als er den Kopf hob, sah er, wie eine Gruppe Mädchen, die am Tor standen, ihn erst anstarrten und dann anfingen zu tuscheln.
Mit einem Schlag war seine Nervosität verschwunden und machte einem unguten Gefühl Platz. Das immer stärker wurde, je näher er zu dem Platz kam, an dem er sich immer mit Benedikt und den anderen traf, denn die Mädchen waren nicht die Einzigen, die ihn angestarrt und über ihn geredet hatten.
„Da bist du ja endlich,“ empfing ihn Benedikt aufgeregt. „Der Spinner Timo hat überall rumerzählt, dass du nur so gut beim Schwimmen bist, weil du verbotenes Zeug nimmst! Aber das tust du doch nicht wirklich, oder?“
Clemens war für einen Moment nicht in der Lage, auf Benedikts Frage zu antworten, weil er sich fühlte, als hätte ihm grade jemand mit der Faust in den Magen geschlagen und sein Kopf präsentierte ihm im Bruchteil einer Sekunde mehrere Szenarien, von denen eins schlimmer war, als das andere: Gespräche mit der Schule, Gespräche mit seinen Eltern, Gespräche mit seinen Eltern und der Schule, Ausschluss aus dem Schwimmverein, vielleicht sogar Ausschluss aus allen Schwimmvereinen... Es fühlte sich so an, als würde seine Welt einfach zur Seite wegkippen und erst Benedikts Hand auf seiner Schulter holte ihn wieder in die Realität zurück. „Alter, alles in Ordnung?“
Clemens atmete einmal tief ein, weil er das Gefühl hatte, bis grade keine Luft bekommen zu haben. „Natürlich nehm ich nix!“ sagte er dann energisch. „Aber offensichtlich hat dieses Arschloch soviel Schiss vor mir, weil ich soviel besser bin als er, dass er jetzt solchen Scheiß rumerzählt!“ Er sah sich einmal um und entdeckte Timo alleine in einer Ecke. Er ging los und hörte Benedikt hinter sich irgendetwas rufen, aber die Worte rauschten einfach an ihm vorbei, denn er war grade nicht in der Lage, etwas anderes zu denken, als dass er Timo jetzt sofort zur Rede stellen musste.
Als der schließlich merkte, dass Clemens auf ihn zukam, verschränkte er die Arme vor der Brust und sah ihm mit höhnischem Grinsen entgegen.
Clemens spürte, wie seine Kopfhaut anfing zu kribbeln und er ballte die Fäuste. Am liebsten hätte er Timo einfach sofort ins Gesicht geschlagen, aber das wäre zu riskant gewesen. Deswegen baute er sich, immer noch mit geballten Fäusten, vor ihm auf. „Hast du sie eigentlich noch alle, du verdammter Scheißkerl!“ Er wollte eigentlich gar nicht schreien um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, konnte sich aber einfach nicht beherrschen.
„Reg dich mal ab, ich hab doch nur die Wahrheit erzählt,“ sagte Timo und grinste. „Ach der arme Dirk, wenn er erst mal erfährt, dass sein Supermann gar nicht so super ist, wie er dachte.“
Clemens konnte sich wirklich nur noch mit Mühe zurückhalten. „Du hast doch überhaupt keine Beweise,“ erwiderte er und Timo zuckte gelassen mit den Schultern,. „Brauch ich doch auch gar nicht. Allein, dass du es vielleicht getan haben könntest, reicht doch schon aus, damit dein ach so toller Ruf jetzt angekratzt ist.“
Für einen Moment wusste Clemens nicht, was er darauf sagen sollte, was ihn unglaublich schwach dastehen ließ und er suchte verzweifelt nach Worten und dann überkam ihn plötzlich mit einem Schlag eine eiskalte Ruhe. Er kannte doch Timos Schwachstelle. „Meine Fresse, bist du armselig,“ meinte er und schüttelte betont mitleidig den Kopf. „Bist son richtig schlechter Schwimmer und musst jetzt solche Sachen rumerzählen, damit du nicht ganz wie son armes Würstchen dastehst.“
Timos Miene zeigte ihm, dass er hier grade einen Treffer gelandet hatte und er redete gleich weiter. „Und die total lächerlichen Zeiten, die du geschwommen bist.“ Clemens lachte einmal herablassend. „Das hab ich schon mit sechs hingekriegt. Gut, dass ich jetzt dabei bin, dann muss Dirk wenigstens beim nächsten Wettkampf nicht wieder dich kleine Null ins Becken schicken.“
„Halt die Fresse!“ brüllte Timo in diesem Moment und dann stürzte er sich ohne Vorwarnung auf Clemens und weil der erst noch zu perplex war, um zu reagieren, konnte Timo auch einmal gezielt zuschlagen. Aber danach war Clemens dann auch im Kampfmodus und schlug zurück. Er hatte absolut keine Erfahrung damit, sich zu prügeln, aber das war in diesem Moment egal, weil er sowieso nicht mehr über so etwas nachdachte, sein Gehirn lief auf Autopilot und er schlug einfach nur noch zu. Plötzlich lag Timo am Boden, Clemens hatte ihn am T-Shirt gepackt und bereits zum nächsten Schlag ausgeholt, da packte plötzlich jemand seinen Arm und wie aus der Ferne hörte er Benedikt rufen. „Man, das reicht jetzt!“ Dann packte er auch noch Clemens' anderen Arm und zog ihn von Timo weg.
Clemens ließ es geschehen, denn in diesem Moment setzte die Realität wieder ein. Er sah Timo, wie er sich langsam aufrichtete, während ihm das Blut aus der Nase lief, er sah die Leute, die sich um sie versammelt hatte, um sich die Prügelei anzusehen und er sah den Lehrer, der mit grimmigem Gesicht auf sie zukam, das Clemens klarmachte, dass er die Mathearbeit jetzt definitiv nicht schreiben und das auch noch andere, unschöne Dinge auf ihn warteten.
Die Direktorin war eine große blonde Frau mit einem sehr netten Gesicht, was Clemens hoffen ließ, dass die Bestrafung vielleicht nicht allzu streng ausfiel.
Sie wies sie an, sich auf die Stühle vor ihrem Schreibtisch hinzusetzen, während der Lehrer, der sie hergebracht hatte, an der Tür stehenblieb.
Sie sah Clemens einen Moment an und verzog dann missbilligend den Mund. „Noch nicht einmal einen Monat an der Schule und schon sitzt du hier. Ich glaube, das ist ein neuer Rekord und wirklich keiner, auf den man stolz sein kann.“
Clemens senkte den Kopf, hob ihn aber sofort wieder, als er Timo belustigendes Schnaufen neben sich hörte. Er zwang sich, der Direktorin in die Augen zu sehen und sagte mit fester Stimme. „Entschuldigung.“
Sie seufzte einmal und setzte sich ebenfalls. „Bei mir musst du dich eigentlich gar nicht entschuldigen. Aber bevor wir dazu kommen, möchte ich, dass ihr mir erst einmal erzählt, was eigentlich passiert ist.“ Sie hob die Hand, als Timo den Mund öffnete. „Und zwar in möglichst neutraler Weise.“
Timo hatte offensichtlich beschlossen, diese Anweisung völlig zu ignorieren, denn er rief sofort: „Ich hab nichts gemacht, er ist einfach auf mich losgegangen!“ und zeigte anklagend auf Clemens der angesichts dieser absolut unverschämten Lüge in dieser Sekunde nicht in der Lage war, zu reagieren.
Glücklicherweise ging die Direktorin gar nicht darauf ein sondern wiederholte noch einmal: „In möglichst neutraler Weise,“ wobei sie das ,neutral' ganz besonders betonte. Dabei sah sie Clemens an, weil sie Timo vermutlich nicht mehr zutraute, neutral zu bleiben.
Clemens konnte sich gut vorstellen, wie es grade in Timo aussehen musste, es musste ihn innerlich auffressen, dass er diesen Kampf verloren hatte und Clemens konnte nicht abstreiten, dass er sich ganz diebisch darüber freute. Er selbst hatte den Vorfall größtenteils wieder abgehakt, jetzt hatte er nur ein schlechtes Gefühl, was seine Eltern anging und aus dieser Situation grade wollte er auch so schnell wie möglich wieder heraus, deswegen fing er an, in möglichst emotionslosem Ton zu erzählen: „Timo und ich sind im selben Schwimmverein und er hat herumerzählt, dass ich angeblich dopen würde. Ich habe ihn gefragt, ob er dafür irgendwelche Beweise hätte und er sagte nein, aber alleine, dass er es rumerzählen würde, würde schon dafür sorgen, dass ich Probleme kriegen würde.“ Er hörte, wie Timo neben ihm auffahren wollte und redete schneller und etwas lauter weiter: „Und weil ich so wütend war, habe ich ihn provoziert und dann ist er auf mich losgegangen.
„Das ist natürlich eine sehr schwere Anschuldigung, die man besser nicht machen sollte, wenn man keine Beweise dafür hat,“ sagte die Direktorin, nachdem sie einen Moment über Clemens' Worte nachgedacht hatte und wandte sich dann an Timo. „Hast du denn Beweise dafür oder ist es wirklich so, wie Clemens es erzählt hat?“
Clemens war wirklich gespannt, was Timo jetzt darauf antworten würde, der ziemlich frustriert aussah. Und es offensichtlich vorzog, zu schweigen.
Die Direktorin warte einen Moment geduldig, aber als er dann immer noch nicht gesagt hatte meinte sie: „Dein Schweigen deute ich jetzt so, dass du keine Beweise dafür hast und dieses Gerücht wirklich nur ein Gerücht ist. Und zwar eins, das auch ernsthafte Konsequenzen für Clemens haben könnte und deswegen möchte ich jetzt, dass du ihn jetzt ansiehst und dich dafür entschuldigst!“
Clemens war ziemlich gespannt, ob Timo sich wirklich entschuldigen würde, aber vermutlich wusste er genau so gut wie er selbst, dass das die einzige Möglichkeit sein würde, um hier endlich wieder rauszukommen. Was gleichzeitig bedeuten würde, dass diese Entschuldigung definitiv keine sein würde, aber mit so etwas hatte Clemens sowieso nicht gerechnet. Er musste sich mit aller Macht ein Grinsen verkneifen, als er sah wie unglaublich viel Kraft es Timo kostete, seinen Kopf in Clemens' Richtung zu drehen und ihm in die Augen zu sehen. „Entschuldigung,“ murmelte er in einer grade so eben noch hörbaren Lautstärke.
„Das Gerücht ist ja nun leider in der Welt und wird sich auch irgendwann totgelaufen haben, wenn nichts weiter passiert, aber ich verlange trotzdem, dass du, sobald du mitbekommst, dass jemand darüber redet, zu ihm gehst und ihm sagst, dass das alles gar nicht wahr ist! Und glaube nicht, dass ich es nicht mitbekomme, wenn du es nicht tust!“ sagte die Direktorin und sah Timo streng an, der nur nickte.
„Und natürlich“, redete sie weiter und verschränkte die Hände auf dem Tisch. „,verstößt eine Prügelei absolut gegen unsere Schulordnung, aber da erzähle ich euch ja nichts Neues. Allerdings glauben wir hier auch an zweite Chance, weswegen ich euch jetzt nur für den Rest des Tages vom Unterricht auschließe! Die versäumten Stunden werdet ihr natürlich nachholen! Und außerdem werde ich eure Eltern selbstverständlich darüber informieren! Und jetzt geht eure Sachen holen und dann nach Hause!“
Der Lehrer begleitete sie auch zu ihren Klassen, um die Lehrer zu informieren, während Timo und Clemens ihre Sachen holten.
Clemens war es unglaublich unangenehm, durchs totenstille Klassenzimmer zu seinem Platz zu gehen und seinen Rucksack zu packen, während Melissa ihm mit großen Augen dabei zusah und anschließend zurück zur Tür zu gehen und dabei fast körperlich zu spüren, wie sich alle Blicke in seinen Rücken bohrten. Kurz, bevor er die Tür hinter sich schloss, sah er, wie in der hintersten Reihe zwei anfingen miteinander zu tuscheln. Die Prügelei würde jetzt wahrscheinlich für einige Tage das Gesprächsthema Nummer eins sein.
Der Lehrer brachte sie auch noch bis zum Schultor und blieb dann dort stehen, als wollte er sie daran hindern, wieder zurück in die Schule zu gehen, woran Clemens absolut kein Interesse hatte. Es graute ihm zwar vor der Konfrontation mit seinen Eltern wegen dieser Sache, aber trotzdem war er froh, dass er jetzt erst einmal nach Hause gehen konnte, wo hoffentlich keiner von ihnen war, sodass er ein paar Stunden hatte, um sich mental darauf vorzubereiten.
In diesem Moment ging Timo so dicht an ihm vorbei, dass er ihn mit der Schulter anstieß und dabei halblaut „Feigling“ sagte. Vermutlich dachte er, dass Clemens nicht wieder auf ihn losgehen würde, solange sie in Sichtweite des Lehrers waren, aber Clemens hatte allgemein kein Interesse mehr an einer weiteren Prügelei. Er hatte die erste ja schon nicht gewollt, aber Timo hatte mit seinem Verhalten ja förmlich drum gebettelt.
Doch natürlich konnte Clemens den ,Feigling' auch nicht einfach so stehen lassen und er musste sich schnell etwas einfallen lassen, denn Timo ging ziemlich schnell.
Und während Clemens nach einer passenden Erwiderung suchte, fiel ihm plötzlich ein, was Benedikt ihm damals nach dem Schwimmtraining über Timos Eltern erzählt hatte und die hatten vermutlich den größten Anteil daran, dass Timo immer so unentspannt war. „Ich kann nichts dafür, wenn du so ätzende Eltern hast,“ rief Clemens ihm nach.
Timo blieb stehen und drehte sich zu ihm um und Clemens war sich sicher, dass er jetzt wieder auf ihn losgehen würde, egal, ob der Lehrer da stand oder nicht. Er ballte schon einmal vorsorglich die Hände zur Fäusten und stellte sich gerade hin, damit Timo vielleicht daran erinnert wurde, wie gnadenlos Clemens ihn vorhin fertig gemacht hatte.
Aber Timo blieb einfach nur stehen wo er war und starrte Clemens für einen Moment an. Dann öffnete er den Mund, sagte aber nichts sondern schloss ihn einfach nur wieder, drehte sich um und ging.
Clemens war fast ein bisschen enttäuscht über diese Reaktion. Er hätte gerne gewusst, was Timos Meinung über seine Eltern war und ob er es gut fand, dass sie wollten, dass er immer überall der Beste war. Jemand, der so ehrgeizig war wie Timo, dem gefiel das sicherlich, so angestachelt zu werden.
Doch als er schließlich die Bushaltestelle erreicht hatte, schwenkten Clemens' Gedanken von Timos Eltern zu seinen eigenen und sein Gehirn fing an, verschiedene Szenarien durchzuspielen, wie das unangenehme Gespräch, vor dem es sowieso kein Entkommen gab, ablaufen könnte und je näher der Bus Clemens' Ziel kam, desto unbehaglicher fühlte der sich und er beschloss, die Zeit, die ihm noch blieb, bis seine Eltern nach Hause kamen, vor der Konsole zu verbringen. Das Spiel, das er grade spielte, machte wirklich Spaß und würde es hoffentlich schaffen, ihn vernünftig abzulenken.
Mit dem Gedanken schon in dem Level, in dem er grade war, schloss er die Haustür auf und erstarrte, als sein Vater in dieser Sekunde aus der Küche kam.
Clemens war sich so sicher gewesen, dass er, wie auch in den letzten Tagen in dieser Woche, in irgendeiner Firma in irgendeiner etwas weiter entfernten Stadt war um irgendwelche Datenbanken oder Computer zu reparieren, aber stattdessen stand er jetzt vor ihm und sein Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass Clemens jetzt erst einmal keine Zeit für sein Spiel haben würde.
„Ich glaube nicht, dass ich dir sagen muss, worum es geht?!“ sagte sein Vater mit strengem Gesicht und Clemens schüttelte den Kopf. Er folgte ihm in die Küche, wobei er sich jede Sekunde schlechter fühlte. Wenn sein Vater schon hier war, dann war es seine Mutter sicher auch, vermutlich hatte die Schule gleich beide informiert.
Clemens kannte dieses Spiel nur zu gut, sein Vater würde den Strengen geben während seine Mutter darüber redete, wie furchtbar seine Aura jetzt beschmutzt war und was er jetzt alles machen musste, um sein spirituelles Gleichgewicht wiederzufinden, und er hatte absolut keine Lust darauf.
Aber zu seiner grenzenlosen Erleichterung war die Küche leer.
„Die Schule hat zuerst mich angerufen,“ sagte sein Vater, der Clemens' Gedanken natürlich ohne Mühe erraten hatte. „Und ich hab sie gebeten, deine Mutter nicht zu informieren. Du weißt, wie sehr sie sich solche Dinge immer zu Herzen nimmt und ich denke mir, dass wir beide das auch ohne sie klären können, oder?“ Er sah Clemens an, der seinen Blick erwiderte und stumm nickte, während er gleichzeitig versuchte, sich zusammenzureißen um seinen Vater nicht merken zu lassen, wie unglaublich erleichtert er war.
Sein Vater setzte sich wieder an seinen Tisch zu seiner Tasse Kaffee und Clemens überlegte einen Moment, ob er sich ihm gegenüber setzen sollte, entschied sich dann aber stehenzubleiben.
Sein Vater trank einen Schluck und lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück. „Die Schule hat mir natürlich erzählt, dass du dich geprügelt hast und deswegen von heute vom Unterricht ausgeschlossen wurdest und die verpasste Zeit auf jeden Fall nachsitzen wirst, soweit so gut, Strafe muss sein und ich habe eigentlich nicht geplant, dich jetzt noch zusätzlich zu bestrafen wenn du mir ehrlich erzählst, was passiert ist.“
Clemens war viel zu überrascht, um etwas zu sagen. Er hatte hier eigentlich mit der Höchststrafe gerechnet, also dass er sein Handy für eine Woche abgeben musste und Hausarrest bekam.
Und erneut fiel es seinem Vater nicht schwer, seine Gedanken zu lesen. „Ich kenne dich,“ sagte er. „Und ich weiß, dass sich prügeln nicht zu dem Unsinn gehört, den du normalerweise gerne anstellst. Also finde ich es in diesem Fall nur fair, mir anzuhören, was passiert ist. Danach kann ich mich dann ja immer entscheiden, ob hier eine Strafe angebracht ist, aber das glaube ich eher nicht.“ Er beugte sich vor und legte die Arme auf den Tisch. „Also? Ich bin ganz Ohr.“
Die Zeit, in der Clemens seine Eltern noch an seinem Leben teilhaben ließ, war schon seit Beginn der siebten Klasse vorbei. Damals hatte er dann nämlich gemerkt, dass ihr sogenanntes ,Zuhören' nur daraus bestand, ihm zu sagen, was er in ihren Augen falsch oder besser hätte machen können oder wie sie an seiner Stelle reagiert hätte und darauf hatte Clemens irgendwann keine Lust mehr gehabt. Also erzählte er ihnen immer nur das absolut Nötigste.
Natürlich kannten sie deswegen auch seine Fehde mit Timo nicht und Clemens musste ganz von vorn anfangen. Wobei er das Angebot seines Vaters annahm und absolut ehrlich blieb und auch nichts verschwieg. Auch nicht, wie gut es sich für ihn angefühlt hatte, Timo bei allen möglichen Gelegenheiten zu provozieren.
Als er schließlich bei der Stelle angekommen war, an der Timo überall herumerzählt hatte, dass er irgendwelche Substanzen nahm, um beim Schwimmen besser zu werden unterbrach sein Vater ihn mit einer energischen Handbewegung. „Und das ist auch wirklich gelogen?!“ fragte er, jetzt wieder mit ganz strenger Stimme und Clemens unterdrückte den Impuls, mit den Augen zu rollen. „Natürlich ist es gelogen!“ erwiderte er. „Ich schwimm ja echt gern, aber soweit geht’s dann doch nicht!“ Er erwiderte den kritischen Blick seines Vaters gelassen und der nickte schließlich leicht und runzelte dann die Stirn. „Das ist natürlich ein Unding von dem Jungen, so etwas herumzuerzählen. Ich kann verstehen, wieso dir da die Sicherungen durchgeknallt sind. Was dein Verhalten aber natürlich nicht entschuldigen soll!“
Clemens riss die Augen auf, als er erkannte, auf was sein Vater hinauswollte. „Moment mal!“ protestierte er. „Ich habe mit der Klopperei nicht angefangen! Ich habe Timo natürlich darauf angesprochen und gefragt, ob er Beweise hätte und als er sagte, er habe keine, aber das Gerücht alleine würde schon reichen, um meinen Ruf zu beschädigen und da hab ich ein paar nicht so nette Dinge gesagt, zum Beispiel was für ein absolut mieser Schwimmer er ist. Und ja, ich gebe zu, dass das dumm gewesen ist! Auf jeden Fall hat er sich danach auf mich gestürzt und na ja, das hab ich natürlich nicht auf mir sitzen lassen!“ Er schnaubte einmal entrüstet. „Und er hat dann doch nachher ernsthaft behauptet, ich wäre auf ihn losgegangen!“
Sein Vater schwieg eine ganze Weile, starrte vor sich auf den Tisch und spielte mit der jetzt leeren Kaffeetasse, während Clemens sich vorkam, als würde er vor dem Tisch eines sehr unbarmherzigen Richters stehen. Und plötzlich hatte er ein mulmiges Gefühl im Bauch weil er sich auf einmal nicht mehr sicher war, ob er hier wirklich ohne Strafe davonkommen würde.
„Es ist nie eine gute Idee, jemanden zu provozieren,“ sagte sein Vater schließlich und sah Clemens wieder an. „Ich hoffe, dass ist dir jetzt klar geworden und es kommt in Zukunft nie wieder vor.“
„Natürlich nicht!“ erwidert Clemens eifrig; er hatte wirklich keine Lust, so etwas wie heute noch einmal mitzumachen.
„Und vielleicht sollte mal jemand mit Timos Eltern sprechen,“ redete sein Vater weiter. „Dem gehört offensichtlich mal gehörig der Kopf geradegerückt.“
„Bitte mach das nicht!“ hörte Clemens sich da zu seiner eigenen Überraschung sagen und als sein Vater erstaunt die Augenbrauen hochzog, entschied Clemens sich, ausnahmsweise mal die Gedanken mit ihm zu teilen, die sein Vater nicht aus seinem Gericht würde herauslesen konnte. „Ben hat mir erzählt, dass Timos Eltern wohl unbedingt wollen, dass er überall der Beste ist und ich denke mal, er reagiert immer so krass, wenn er es mal nicht ist, weil er zuhause Ärger bekommt. Ich wette, den bekommt er jetzt auch, denn ich denke nicht, dass seine Eltern auch so fair mit ihm umgehen, wie du es grade tust.“
Sein Vater lächelte geschmeichelt. „Siehst du, so furchtbar wie du denkst, bin ich gar nicht!“ Er griff nach der Tasse und stand auf. „Also gut, ich werde nicht mit den Eltern reden. Und du versprichst mir, dass du dich in Zukunft so gut es geht von diesem Jungen fernhältst.“
Clemens, immer noch erstaunt über seinen von ihm selbst völlig unerwarteten Großmut gegenüber Timo brauchte einen Moment bis er sagte: „Na klar, du musst dir da keine Sorgen machen! Nochmal muss ich sowas echt nicht haben!“
Spätestens am Freitagmorgen hatte Clemens den Vorfall endgültig vergessen, denn Benedikt, Christa und Adrian beschlossen, am Samstag in den Freizeitpark zu fahren, der nur knapp eine Zugstunde entfernt war und als sie Clemens fragten, ob er nicht Lust hatte, mitzukommen, musste der natürlich keine Sekunde überlegen. Gleichzeitig mit seinem völlig enthusiastisch gerufenen „Ja klar!“ schoss ihm dann aber auch der Gedanke an seine Mutter durch den Kopf und dass es eine ziemliche Arbeit werden würde, ihre Erlaubnis dafür zu bekommen.
Sie waren zwar schon in ein paar Freizeitparks gewesen aber meistens waren es welche, die eher für Marcia geeignet waren und wenn es dann doch mal ein etwas schnelleres Karussell oder sogar eine Achterbahn gegeben hatte, hatte Clemens' Mutter immer minutenlang auf ihn eingeredet, da doch bitte jetzt nicht mitzufahren, das wäre doch viel zu gefährlich. Am Ende war er dann zwar doch jedes Mal gefahren, aber dabei immer völlig genervt gewesen und hatte dann doch stets ein winzigen unguten Gefühl im Bauch gehabt, gegen das er einfach nicht angekommen war und das ihm nur noch mehr auf die Nerven gegangen war.
Und wenn seine Mutter schon so durchdrehte, wenn sie dabei war, würde sie vermutlich komplett durchdrehen, wenn er ihr sagte, dass er jetzt alleine gehen würde. Was er ihr auch definitiv genau so sagen würde, anstatt zu fragen, als ob er noch ein kleiner Junge wäre.
Aber sein energisches Auftreten sorgte dann irgendwie dafür, dass seine Mutter erst recht einen kleinen Jungen in ihm sah. Clemens hätte am liebsten einfach aufgegeben, nachdem sie zum dritten Mal darauf bestanden hatte, dass es einfach viel zu gefährlich war, aber er wusste, wenn er jetzt nachgeben würde, dann würde es bei jedem Mal, an dem er alleine weiter wegfahren wollte, wieder der gleiche Kampf werden, weil er dann nämlich immer gleich wieder der kleine Junge sein würde.
Also blieb er sitzen, als er eigentlich nur aufspringen und wütend die Treppe zu seinem Zimmer hochstampfen und anschließend die Tür laut in Schloss schmeissen wollte, faltete die Hände im Schoß und beschränkte sich darauf, gelegentlich nur einmal kurz durchzuatmen, wenn er nicht grade mit Engelszungen auf sie einredete. Es war nicht gefährlich, die anderen waren schon oft da gewesen und es war ihnen nichts passiert. Natürlich würde er auf sich aufpassen und nicht mit Fremden mitgehen oder im Auto mitfahren. Natürlich würde er sich nur etwas Gesundes zu essen kaufen und auf gar keinen Fall fettige Pommes. Selbstverständlich würde er sich die Hinweise von jedem einzelnen Fahrgeschäft genau durchlesen und selbstverständlich würde er nicht damit fahren, wenn es zu gefährlich aussah. Und ebenso natürlich und selbstverständlich würde er seiner Mutter alle halbe Stunde eine Nachricht schicken, dass es ihm gut ging, natürlich auch mit Foto von ihm, wenn sie das gerne wollte.
Sein Vater saß in einiger Entfernung von ihnen in der Sofaecke und tat nichts weiter, außer hin und wieder einmal an seinem Kaffee zu nippen und Clemens bekam immer mehr das Gefühl, dass es ihm Spaß machte, ihm bei seinen mühsamen Überzeugungsversuchen zuzusehen. Eigentlich wäre Clemens ja schon längst deswegen ausgerastet, aber aufgrund ihres Gespräches wegen der Prügelei und dass sein Vater sein Versprechen gehalten und es nicht weitererzählt hatte, hatte er jetzt bei Clemens etwas gut und so beschränkte der sich nur darauf, ihm gelegentlich einen wütenden Blick zuzuwerfen.
Doch nachdem Clemens zum dritten Mal alles bereits vorher Gesagte wiederholt hatte, erbarmte er sich endlich, stand auf, setzte sich zu ihnen und legte den Arm um seine Frau. „Ich weiß, es fällt dir nicht leicht, dass er mal alleine ausfliegt,“ sagte er mit einer sanften Stimme, die Clemens ihn immer nur bei seiner Mutter benutzen hören hatte. „Aber er ist ja jetzt kein kleiner Junge mehr und wir müssen langsam mal loslassen und es ist doch auch besser, dass er vorher um Erlaubnis fragt, anstatt einfach so zu fahren. Und wenn wir es ihm jetzt verbieten, fürchte ich, dass er danach dann nicht mehr um Erlaubnis fragen wird.“
Das und Clemens, der sich dazu bereit erklärte, einen von den ,spirituellen Schutzanhängern' die seine Mutter selber herstellte und verkaufte, mitzunehmen, überzeugten sie schließlich und Clemens konnte endlich in sein Zimmer gehen. Natürlich war er erleichtert und voller Vorfreude, dass er jetzt morgen mit den anderen mitfahren konnte und er schrieb es auch sofort in die Chat-Gruppe. Aber gleichzeitig war ein kleiner Teil dann doch etwas enttäuscht, dass es am Ende dann doch nicht er ganz alleine gewesen war, der es geschafft hatte, seine Mutter zu überzeugen.
Aber daran und an das Gespräch allgemein verschwendete er natürlich keine Gedanken mehr, als er sich am Samstagmorgen mit den anderen am Bahnhof traf. Die paar Male, an denen er Zug gefahren war, konnte er an zwei Fingern abzählen und schon allein das war aufregend. Und als echtes Großstadtkind war es auch noch nie nötig gewesen, das gleich eine ganze Stunde zu tun, weil entweder war alles nur ein paar Bus- oder Straßenbahnhaltestellen entfernt oder sie waren mit dem Auto hingefahren.
Und während Benedikt, Christa und Adrian, die die Fahrt ja auch nicht zum ersten Mal machten, die Stunde mit Lesen, Essen oder Schlafen verbrachten, klebte Clemens am Fenster, obwohl es draußen, außer Feldern, Bäumen, deren Anblick er ja bis vor ein paar Wochen noch aus tiefster Seele gehasst hatte und ab und zu mal ein paar Häuser nichts weiter zu sehen gab.
Natürlich hatte er nicht einmal ansatzweise darüber nachgedacht, sich an das zu halten, was er seiner Mutter versprochen hatte, außer, dass er wirklich versuchte, sich alle halbe Stunde bei ihr zu melden, und wenn er es vergaß und es später wurde, sich dafür zu entschuldigen und er hatte auch ihren Anhänger ganz unten in seiner Tasche vergraben, weil sie ihn sicher gefunden hätte, wenn er ihn zuhause gelassen hätte. Ansonsten ging er in jede Achterbahn und jedes Karussell ohne auch nur einen Blick auf die Sicherheitshinweise zu werfen und er aß nicht nur eine Portion Pommes sogar zwei und mit von seinem Vater noch einmal großzügig aufgestockten Taschengeld kaufte er sich ein paar Souvenirs bei denen sofort klar war, dass sie am Ende in irgendeiner Kiste landen und er sie danach nicht wieder angucken würde.
Der Tag war lang und aufregend und als sie um Zug zurück saßen war er so fertig, dass er fast die ganze Stunde lang schlief. Glücklicherweise wurde er von Christa geweckt, als sie ihre Zielhaltestelle erreicht hatten.
Den Luxus hatte er auf der einsamen Busfahrt zurück ins Dorf aber leider nicht und er musste alle Willenskraft, die er besaß, zusammenkratzen, um nicht einzuschlafen und dann wer weiß wo wieder aufzuwachen, um dann vermutlich eine Stunde auf den Bus nach Hause warten zu müssen.
Auch, wenn der Tag absolut großartig gewesen war, war Clemens trotzdem froh, als er endlich die Haustür aufschloss und niemand würde ihn jetzt daran hindern, sofort ins Bett zu gehen.
Seiner Mutter, die natürlich sofort aus dem Wohnzimmer geschossen kam, nachdem er die Tür hinter sich zugezogen hatte, warf er nur ein kurzes „Es war super, aber ich muss jetzt unbedingt pennen gehen!“ zu und was sie ihm hinterher rief, rauschte ungehört an ihm vorbei.
Vorsichtshalber schloss er seine Zimmertür hinter sich ab, bevor er sich einfach nur bis auf die Unterhose auszog, unter die Decke kroch und sofort eingeschlafen war, nachdem sein Kopf das Kissen berührt hatte.
Beim Frühstück am Sonntag, bei dem seine Eltern darauf bestanden, dass sie dabei als Familie zusammensaßen, konnte er den Fragen seiner Mutter nicht mehr ausweichen aber die Begeisterung war noch nicht verschwunden und deswegen erzählte er am Ende doch mehr, als er eigentlich geplant hatte. Natürlich ohne die zwei Portionen Pommes, den nutzlosen Kram und die gefährlichen Fahrgeschäfte zu erwähnen.
Und glücklicherweise hatte Marcia, bei der Clemens das Gefühl hatte, dass sie eigentlich niemals aufhörte zu reden, auch eine Menge zu erzählen, sodass sie die volle Aufmerksamkeit seiner Mutter bekam, nachdem Clemens mit seinem Bericht fertig war.
Erst am Montag kehrte Timo in Clemens' Gedächtnis zurück weil er nämlich beim Schwimmtraining nicht da war. Was Clemens aber nicht sonderlich überraschte, denn er hatte genau damit gerechnet. Vermutlich hatte Timo wegen der ganzen Geschichte gehörig Ärger bekommen und Clemens empfand ein bisschen Genugtuung ob der Tatsache, dass er sich damals dafür eingesetzt hatte, dass sein Vater die Füße still hielt. Ansonsten wäre Timo sicherlich noch härter bestraft worden. Aber so war er sicher am Donnerstag wieder dabei, vorallem, weil in zwei Monaten ja auch ein Wettbewerb anstand. Dirk hatte schon angekündigt, dass sie in den nächsten Wochen noch härter trainieren würden, wozu auch einige Einheiten Kraftraum gehören würden. Und während Clemens von der Aussicht nicht wirklich begeistert war, würden Timo und sein Ehrgeiz das sicher ganz toll finden.
Beim Verlassen des Schwimmbads, bei dem Clemens und Benedikt in ein angeregtes Gespräch über das neuste Spiel, das sie planten zusammen zu zocken, vertieft waren, stürmte plötzlich eine Frau mit solcher Wucht und ohne nach rechts und links zu sehen an ihnen vorbei, wobei sie Benedikt an der Schulter streifte und gegen Clemens schleuderte. Aber das schien sie gar nicht zu interessieren, denn anstatt zumindest mit einem Blick nachzusehen, gegen was sie da geprallt war, ging sie einfach weiter und die Absätze ihrer Schuhe machten ein klickendes Geräusch auf den Fliesen, als sie energisch davon stapfte.
Sie blickten ihr nach und angesichts ihrer blonden, sorgfältig aufgesteckten und vermutlich mit Haarspray fixierten Friseur und ihrem adretten Kostüm war sich Clemens zu hundert Prozent sicher, dass das Timos Mutter war. Und der Grund, weswegen sie hier war, lag auch auf der Hand.
Und plötzlich überkam Clemens so heftiges Mitleid mit dem armen Timo, dass er für einen Moment nicht in der Lage war, Benedikt zuzuhören, der wieder anfangen hatte zu reden. Glücklicherweise schaltete Clemens' Gehirn grade wieder rechtzeitig in die Realität zurück, um sich ohne Probleme zurück ins Gespräch einzufädeln.
Aber Timo blieb nicht nur auf der Fahrt nach Hause und für den Rest des Abends in Clemens' Gedächtnis, der zum ersten Mal dankbar dafür war, dass seine Eltern waren, wie sie waren. Sogar die Durchgeknalltheit seiner Mutter fand er grade mehr als in Ordnung.
Auch auf dem Schulhof hielt Clemens nach ihm Ausschau, er konnte gar nichts dagegen machen und hoffte, dass er dabei wenigstens unauffällig blieb.
Und was er von Timo sah, sorgte nur dafür, dass er noch mehr Mitleid mit ihm bekam. Denn entweder stand er für sich alleine irgendwo herum oder außerhalb irgendeiner Gruppe, so, als würde er gerne dazugehören aber die anderen wollten es nicht oder ignorierten ihn einfach.
Als Clemens ihn das erste Mal so sah, legte in diesem Moment Benedikt die Hand auf seine Schulter und lachte und in diesem Moment schoss Clemens durch den Kopf, dass Timos Schicksal auch seins hätte sein können, wenn er nicht das Glück gehabt hätte, Benedikt und seine Freunde kennenzulernen, die ihn ganz selbstverständlich in ihrer Mitte aufgenommen hatten. Und von seiner Genugtuung war auch nichts mehr vorhanden, im Gegenteil. Jetzt machte er sich ziemliche Vorwürfe, dass er sich damals auf die Prügelei eingelassen hatte. Wäre er einfach weggegangen und wäre es ihm auch noch so schwergefallen, dann wäre Timo jetzt bestimmt noch im Schwimmverein und genau so ätzend wie eh und je.
Letztendlich waren Clemens' Mitleid und sein schlechtes Gewissen dann aber doch nicht so stark, dass sie ihn dazu brachten, auf Timo zuzugehen und in ihren Freundeskreis zu holen. Benedikt hatte mehr als einmal klar gemacht, dass er mit Timo nichts zu tun haben wollte und deswegen wollte Clemens auch auf keinen Fall dabei gesehen werden, wie er mit ihm auch nur ein Wort wechselte.
Die Schule ließ sich natürlich nicht lange Zeit mit dem Anberaumen des Nachsitzens, das Clemens über all dem, was in der letzten Zeit passiert war, schon total vergessen hatte.
Glücklicherweise hatte sein Vater damals seine Email-Adresse bei den Kontaktdaten angegeben, sodass auch das wieder an seiner Mutter vorbeiging. Und damit sie auch von dem anschließenden Gespräch nichts mitbekam, holt er Clemens in sein Arbeitszimmer, während seine Mutter mit Marcia im Wohnzimmer ,Mensch ärgere dich nicht' spielte.
„Zwei Stunden am Mittwoch nach der letzten Stunde und du wirst die Mathearbeit nachschreiben,“ kam er gleich aufs Wesentliche zu sprechen. „Und nach allem, was passiert ist, muss ich ja nicht sagen, dass ich da eine halbwegs vernünftige Note erwarte!“
„Natürlich nicht,“ erwiderte Clemens ergeben und seufzte einmal, denn er wusste ganz genau, was jetzt kommen würde.
Aber trotzdem sprach sein Vater es aus. „Also gibt es heute und morgen keine Konsole oder Fernsehen oder sonst irgendeinen Kram, sondern nur das Mathebuch! Alles klar?“
„Alles klar,“ murmelte Clemens und trottete missmutig zurück in sein Zimmer. Aber da er seinem Vater nach wie vor dankbar dafür war, dass er das Alles für sich behalten hatte, riss er sich zusammen und lernte tatsächlich die zwei Nachmittage, was dazu führte, dass er sich am Ende noch besser vorbereitet fühlte, als vor der eigentlichen Klausur.
Leider kam er dann aber ein paar Minuten zu spät zu dem in der Email angegebenen Klassenraum weil er sich noch mit Christa verquatscht hatte und während er über den jetzt leeren Flur rannte hoffte er inständig, dass das keine Konsequenzen haben würde.
Aber bis auf einen ungeduldig aussehenden Lehrer, der missbilligend auf seine Armbanduhr tippte, als Clemens atemlos bei ihm angekommen war, passierte zu seiner Erleichterung nichts weiter.
Der Lehrer öffnete die Tür – und zu Clemens' Überraschung saß da schon Timo an einem der hinteren Tische.
Ihre Blicke trafen sich für eine Sekunde und Timo runzelte wütend die Stirn, aber dann forderte der Lehrer wieder Clemens' Aufmerksamkeit, in dem er auf einen Tisch in der ersten Reihe klopfte. „Du sitzt hier!“ sagte er und nachdem Clemens sich gesetzt und sein Heft, einen Stift und den Taschenrechner herausgeholt hatte, legte der Lehrer ein paar Blätter umgekehrt vor ihm auf den Tisch. Das Gleiche machte er auch bei Timo und danach ging er wieder zum Pult und sah einmal auf die Uhr. „So, ihr habt jetzt zwei Stunden Zeit mit eurer Arbeit fertig zu werden. Ich werde euch zehn Minuten vor Schluss Bescheid sagen. Und natürlich gelten die üblichen Regeln: Kein Quatschen, keine Handys und kein Schummeln!“ Er klatschte einmal in die Hände. „Los geht’s!“
Clemens drehte die Blätter um und nachdem er die ersten Aufgaben grob überflogen hatte, erkannte er zu seiner Erleichterung, dass sie überhaupt kein Problem darstellten. Er griff zu seinem Stift und legte los und er konnte nicht leugnen, dass es Spaß machte, sein mühsam eingepauktes Wissen abzurufen und in die Aufgaben einfließen zu lassen.
Er war so konzentriert, dass er hochschreckte, als es plötzlich klopfte. Der Lehrer warf ihm einen warnenden Blick zu und ging zu Tür. Er wechselte ein paar Worte mit dem, der geklopft hatte und sagte dann: „Ich bin für eine Minute vor der Tür. Ihr kennt ja die Regeln!“
Er verschwand und in diesem Augenblick spürte es Clemens fast körperlich, wie sich Timos wütender Blick in seinen Rücken bohrte. Doch anstatt selber wütend zu werden, stieg nur wieder Mitleid in ihm hoch und ohne, dass er es geplant hatte, drehte er sich um, sah Timo direkt ins Gesicht und lächelte. „Hör mal,“ sagte er freundlich. „Es tut mir Leid, wie alles gelaufen ist. Wirklich! Und wenn du mal Bock hast zu reden oder was zu machen, dann sag einfach Bescheid.“
Timos völlig perplexer Gesichtsausdruck war das Letzte, was Clemens sah, bevor er sich wieder zu seiner Mathearbeit umdrehte. Und glücklicherweise konnte er sein Gehirn, das sich natürlich jetzt gern mit dem was er da grade gemacht hatte und vorallem mit der Frage, wieso er es gemacht hatte, beschäftigen wollte, damit ablenken, indem er wieder zum Stift griff und sich an die nächste Aufgabe machte.
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