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Fire and Ashes

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11.09.25 21:29
16 Ab 16 Jahren
In Arbeit

Ada ist fünfzehn und der Inbegriff einer rebellischen Jugendlichen. Sie respektiert keine Autorität, ist ständig in Ärger verwickelt, streitet mit ihrer alleinerziehenden Mutter – und sie verspürt einen unwiderstehlichen Drang zum Jagen, egal was. Oder wen. Und sie liebt Fleisch. Auch roh. Und blutig.

Ihre Lehrer haben es längst geahnt: In Ada fließt das Blut eines Drachen. Damit droht ihr das Schlimmste, wie ihre verzweifelte Mutter weiß, denn Drachenblütige werden von der Regierung gejagt.

Eris ist fünfzehn und ein Außenseiter mit ungewöhnlichen Vorlieben, unverstanden von seinen Eltern und Gleichaltrigen. Als er sich eines Tages selbst an die Drachenbehörden ausliefert, gerät sein Leben völlig aus den Fugen – und verbindet sich mit dem von Ada und anderen Jugendlichen und Erwachsenen, die in einer ganz ähnlichen Situation waren wie er. Welche Zukunft haben sie in einer Welt, die allen Drachen feindlich gesinnt ist? Und was sind sie eigentlich? Menschen oder Drachen?

 

*

 

Über das Wesen der Drachen (Auszüge)

 

Drachenwandler – Bezeichnung für einen Menschen, der die Gestalt eines Drachen annehmen kann.

Drachenblütiger – Bezeichnung für einen Menschen, der nachweislich mit mindestens einem Drachenwandler blutsverwandt ist, ohne bisher selbst Drachengestalt angenommen zu haben.

Drachenblütige werden, entgegen der weitverbreiteten Meinung, nicht unweigerlich zu Drachenwandlern, selbst dann nicht, wenn sie typische Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Sie können allerdings die entsprechenden Veranlagungen weitervererben und ein wandlungsfähiges Individuum hervorbringen, teils erst viele Generationen später.

Aus: Biologie – Lernen und Verstehen, Ausgabe für Mittelschulen, 11. Auflage

 

[…] Die Inzidenz für Drachenwandler ist in den meisten Ländern der Welt sehr gering. In Europa liegt sie mit am Niedrigsten aufgrund der starken Bejagung von Drachen im Mittelalter und der frühen Neuzeit.

In afrikanischen Ländern ist sie aufgrund neuzeitlicher Bejagung für den illegalen Handel mit Schuppen, Zähnen und Krallen ähnlich gering, die Gene in der Bevölkerung stammen hauptsächlich aus der Vermischung mit anderen ansässigen Ethnien, allerdings wurden im Lauf der Geschichte auch indigene Drachen beschrieben, über deren Zahl sich keinerlei Auskunft geben lässt.

Australien besitzt keine bekannte indigene Drachenpopulation, die entsprechenden Gene wurden von britischen Siedlern eingeschleppt.

Die höchste Inzidenz für Drachenwandler weltweit haben die Vereinigten Staaten von Amerika, weshalb große Teile von Nationalparks in den Ozarks, Appalachen und Rocky Mountains zu Drachenreservaten umgewandelt wurden. Die enorme Zahl liegt einerseits darin begründet, dass sich die Bevölkerung aus verschiedenen ethnischen Gruppen zusammensetzt, andererseits, dass aufgrund fehlender Eindämmungsmaßnahmen Drachengene über viele Generationen hinweg unbemerkt weitergegeben werden konnten und es keine derartigen Ausrottungsfeldzüge gegen Drachen gab wie in Europa.

In den meisten Ländern des europäischen Festlands wird Personen, die einen bekannten Drachenwandler im Familienstammbaum aufweisen, von einer Schwangerschaft abgeraten. Bestimmte Gensequenzen gelten in einigen Ländern Osteuropas und Russlands als Ausschlusskriterium bei der embryonalen Auslese im Rahmen der Präimplantationsdiagnostik. Diese Sequenzen sind hinsichtlich ihres Vorhersagewertes allerdings stark umstritten.

In vielen asiatischen Ländern gilt das gesellschaftliche Kastensystem, das es Drachenwandlern streng untersagt, Nachkommen mit Nichtwandlern zu zeugen. Betroffene Kinder werden, trotz gesetzlichen Verbots, immer wieder getötet. Erwachsene Abkömmlinge dieser Verbindung werden von der Gesellschaft ausgeschlossen und in weiten Teilen noch heute zwangssterilisiert. Reinblütige Drachenwandler haben in diesen Ländern einen deutlich höheren Stand als in der westlichen Welt und werden als gottgleich betrachtet. Sie zu sehen gilt als Glücksverheißung in der gewöhnlichen Bevölkerung. In China leben alle reinen Drachenwandler in der Verbotenen Stadt, einem mehrere Quadratkilometer umfassenden Stadtstaat mit eigener Rechtsprechung, dessen Zutritt nur ihnen selbst gestattet ist. […]

Aus: Die Welt der Drachen, 5. Auflage

 

[…] Drachentöter haben in vielen Ländern der Welt Tradition, zum Teil bis in die Neuzeit hinein, wodurch sich erklärt, warum Drachen heute vergleichsweise selten geworden sind, während sie noch vor tausenden von Jahren die Länder der Erde als geschuppte Tyrannen beherrschten. […]

Aus: Geschichte – Lernen und Verstehen, Ausgabe für Mittelschulen, 12. Auflage

 

[…] Die wohl gefürchtetste Fähigkeit unter Drachen, das Feuerspeien, gilt heute glücklicherweise als verlorengegangen. Das letzte Exemplar, ein Biest von dreißig Metern Länge, wurde um 1860 in Texas getötet. Leider gilt das Skelett heute als verloren gegangen. […]

Aus: Biologie, Wissenschaftsbuchreihe 6, 9. Auflage

 

[…] Die der Wandlung zugrundeliegende Gensequenz ist derzeit noch unbekannt. Die Wissenschaft geht von einer epigenetischen Grundkomponente aus. Die meisten bisher vermuteten Genkomponenten treten nachweislich sowohl bei Wandlern als auch Blütigen und sogar Nichtblütigen auf. […]

[…] Drachenwandler nehmen ihre Drachengestalt erstmalig meist zwischen dem vierzehnten und fünfundzwanzigsten Lebensjahr an. Ein pubertärer Stimulus wird vermutet. Ist bis zum vollendeten dreißigsten Lebensjahr keine Wandlung erfolgt, kann trotz drachenpositiven Stammbaums davon ausgegangen werden, dass keine Wandlung mehr erfolgen wird und das Individuum als sicher einzustufen ist. Eine weitere Verbringung in einen Sperrdistrikt ist dann nicht mehr obligat. […]

Aus: Humangenetik – Drachengenetik

 

[…] Nicht alle Drachenwandler und Drachenblütigen werden auffällig, auch wenn gewisse Verhaltensweisen bei ihnen häufiger auftreten. Sehr oft beobachtet werden ein unwiderstehlicher Zwang, rennenden oder fliegenden Tieren hinterherzujagen sowie eine Abneigung gegen Gemüse bei einer deutlichen Vorliebe für Fleisch, auch ungegartem. Weiterhin sind ein wildes Temperament mit rebellischem Verhalten und Launenhaftigkeit beschrieben worden, insbesondere bei weiblichen Individuen. Einen verlässlichen Prädiktionstest gibt es derzeit nicht. Diskutierte Triggerfaktoren des Gestaltwandels sind vor allem Stress, aber auch Angst und andere starke Erregungszustände. […]

Aus: Zentrale für Drachenaufklärung

 

[…] Drachenwandler können vollsymptomatisch am Herefordt-Prenson-Syndrom erkranken, einer Krankheit, die umgangssprachlich auch als »Drachenwut« bezeichnet und durch das Herefordt-Virus verursacht wird. Es zeigt sich eine milde Symptomatik bei Drachenblütigen ohne Fähigkeit des Gestaltwechsels mit spontaner Ausheilung bei symptomatischer Therapie der typischen Prodromi Fieber, Gliederschmerzen und Sehstörungen, jedoch eine verheerende bei jenen, die den Wandel mindestens einmal vollzogen haben: Der Gestaltwechsel wird unwiderstehlich getriggert und eine Rückverwandlung unmöglich gemacht, wahnhafte Zustände und der Zwang zur Zerstörung und Tötung sind typisch. Diese schwere Form der Krankheit ist unheilbar und führte vermutlich zu den besonders eindrucksvollen Fällen, in denen einzelne Drachen ganze Menschensiedlungen angriffen. Der Tod tritt nach wenigen Tagen bis Wochen durch Multiorganversagen ein. Es existiert ein Impfstoff seit den 1950er Jahren, der heute eine Schutzrate von bis zu 100% erreicht. Die Durchimpfung von Drachenwandlern ist verpflichtend in allen Teilen des Landes, die von Drachenblütigen ohne erfolgten Wechsel obliegt den einzelnen Staaten. […]

Aus: Infektiologie für Studierende der Human- und Drachenmedizin

 

[…] Sie vermuten, dass Ihr Kind ein Drache sein könnte? Sie wissen nicht, wie Sie damit umgehen sollen? Sie fürchten sich vor dem, was passieren kann? Rufen Sie uns an! Unter unserer kostenlosen Nummer erhalten Sie die passende Beratung. Wir verweisen Sie an die richtigen Stellen, sollte sich der Verdacht erhärten, denn sämtliche Drachenwandler müssen zu ihrem eigenen Schutz und dem der Bevölkerung in eigens dafür eingerichtete Zonen unter der Leitung von erfahrenem Personal verbracht werden. Fürchten Sie sich nicht vor diesem Schritt – es ist die beste Entscheidung für Ihr Kind! […]

Aus: Hilfetelefon für Eltern von potentiellen Drachenwandlern

Als sie sich an diesem frühlingshaften Morgen aus ihrem Bett kämpfte, hatte Ada noch nicht einmal geahnt, was für eine irrsinnige Wende ihr gesamtes Leben an eben diesem Tag vollziehen würde.

Zunächst schien es ein Tag wie jeder andere zu sein: Gähnende Langeweile versprechend. Ein Donnerstag, kurz vorm Wochenende also, aber immer noch einen ganzen Tag davon entfernt. Der Wecker hatte viel zu früh geklingelt, und doch war sie beinahe zu spät in der Schule angekommen. Noch dazu hatten sie in den ersten zwei Stunden ausgerechnet Mathe. Wer dachte sich bitte so etwas aus, Mathe frühmorgens und dann auch noch zweimal hintereinander?

Jetzt, etliche Stunden später, war Ada auf der Flucht. Sie rannte durch das Gestrüpp und Unterholz des Waldes, der ihre verdammte Kleinstadt einschloss, ohne zu wissen wohin. Es interessierte sie auch nicht, Hauptsache weg. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie froh darüber, in einem so verschlafenen Nest zu leben: In einer Großstadt hätte sie keine Chance gehabt, unbemerkt zu verschwinden. Hier draußen dagegen gab es so einige Versteckmöglichkeiten, und der Gedanke daran, ihnen allen davonzurennen, beflügelte sie im ersten Moment – bis er vom nächsten verdrängt wurde: Sie konnte nicht für immer im Wald bleiben.

Egal, dachte sie grimmig und schob alle Bedenken beiseite. Ich werde rennen, so lange ich kann. Bis ich geschnappt werde oder tot bin. Was blieb ihr schon anderes übrig?

Sie hatte nie ein Problem damit gehabt, erst zu handeln und dann zu überlegen. Nicht immer war sie stolz darauf, das musste sie zugeben, denn meist machte das die Dinge eher schlimmer als besser. Und Ada dachte durchaus nach, über sehr viele Dinge, egal, was die anderen über sie sagten. Die verstanden ohnehin nicht, was in ihr vorging. Nicht einmal sie selbst tat es.

Ada hatte schon früh bemerkt, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. So richtig nicht stimmte. Dass sie irgendwie anders war als alle anderen, obwohl das irgendwie alle Jugendlichen von sich selbst dachten. Aber bei ihr war es tatsächlich so, eine gesteigerte Form des Andersseins. Sie mochte kein Gemüse. So überhaupt nicht. Als Kind war das noch in Ordnung gewesen – kein Kind mochte Gemüse. Sie aber aß stattdessen ganze Mahlzeiten, die nur aus Fleisch bestanden, und das am Liebsten mehrfach täglich. Ihr Fleischappetit hatte schon als Kind seltsame Blüten getrieben, die nicht mehr erklärlich waren. Manchmal kaufte sie sich im Supermarkt an der Straßenecke Koteletts und aß sie heimlich – roh. Die ganze Packung. Auch das Mark von Suppenknochen mochte sie, und den Suppenknochen selbst, an dem sie nagte, ohne ihn wirklich essen zu können. Und dann war da noch die Sache mit dem Sportunterricht. Der war ihr schon immer schwergefallen – nicht, weil sie dick war wie so viele ihrer Klassenkameraden, sondern weil sie die vielen herum rennenden Schüler verrückt machten. Ada begriff selbst nicht wieso. Irgendwie war sie ständig davon abgelenkt, ihre sich schnell bewegenden Körper zu betrachten. Es war wie ein Zwang, den sie nicht unterdrücken konnte und der dazu führte, dass sie dauerhaft unkonzentriert war, so als ob sich in ihrem Hirn Blitze entluden und ihre Schädeldecke zum Kribbeln brachten. Über diese Dinge hatte sie nie offen mit jemandem gesprochen, nicht einmal mit ihrer einzigen Freundin Sue. Ada wusste nur zu gut, wie das gewirkt hätte, und sie wollte nicht, dass falsche Schlüsse gezogen wurden – doch nun sah es tatsächlich ganz danach aus.

Es war Gordons Schuld. Alles. Er sollte jetzt gejagt werden und nicht sie! Dieser kleine Mistkerl hatte sie bloßgestellt vor allen anderen. Wegen ihres Verschlafens war sie nicht zum Frühstücken gekommen, hatte hungrig in den zwei Stunden Matheunterricht gesessen und Gordon musste in der Pause ausgerechnet vor ihrer Nase herumrennen. Er hatte sein Mathebuch im Klassenraum liegenlassen, sein verdammtes Mathebuch. Ada hatte sich nicht beherrschen können, die einzelnen Blitze in ihrem Hirn hatten vor lauter Hunger und Gerenne einen Gewittersturm erzeugt – sie war ihm plötzlich nachgerannt, schneller als er, und dann hatte sie ihn zu Boden geworfen und sich so fest in seinem Nacken verbissen, dass er blutete.

Gordon hatte geschrien, und natürlich hatten alle im Raum sofort auf sie gestarrt und ihre Essenstabletts fallengelassen. Aber Ada war unfähig gewesen, sich von ihm zu lösen. Die ganze Welt war zu einem schmalen Tunnel zusammengeschrumpft, in dem nur noch Platz für Gordon und sie war. Sein entsetztes Geschrei und Gezappel machte sie nur noch wilder und hatte sogar ihren Speichelfluss angeregt. Für einen Augenblick war Gordon ihre Beute gewesen, dazu bestimmt, ihren leeren Magen zu füllen.

Ada erinnerte sich nicht mehr daran, wie die Situation ausgegangen war. Sie hatte sich das Hirn zermartert auf der Suche nach irgendeiner Erinnerung, von der sie wusste, dass sie da sein musste. Stattdessen fand sie nur zusammenhanglose Fetzen; die entsetzten Gesichter von Jennifer und Elizabeth; der fassungslose Ausdruck von Miss Hemsworth, die der Ohnmacht nahe schien. Der angeekelte Blick in den Augen von Brian, dem Footballspieler, der plötzlich gar nicht mehr so tough aussah wie sonst. Dann weitere Gesichter, von Lehrern und Schülern, älter und jünger als sie, die ineinander überzugehen schienen. Entsetzen, Fassungslosigkeit, Abscheu, Angst. Das Erste, an das sie sich wieder ganz klar erinnern konnte, war das erschütterte Wort aus dem Mund eines Schülers, den sie nicht sah, sondern nur hörte: »Drache!«

Dann gab es furchtbares Geschrei, in welchem Ada von irgendjemandem gepackt und weggezogen wurde. Sie blickte auf Gordons blutigen Nacken, der sich aufrappelte, und bemerkte den metallischen Geschmack auf ihrer Zunge. Ruhe kehrte ein, als sich plötzlich die Tür zum nächstbesten Raum hinter ihr schloss, in dem sie allein zurückblieb.

Ada atmete tief durch, sowohl ihr vergangenes Ich als auch ihr gegenwärtiges. Sie war plötzlich wieder im Wald und stand vor einer Grotte, umgeben von hohen Sträuchern und Bäumen. Der Boden wirkte trocken und steinig und bot ihr ein annehmbares Versteck, auch wenn es sie davor graute, die Nacht hier draußen verbringen zu müssen. Auch egal, das ist besser, als geschnappt zu werden.

Sie schob sich hinein, stellte fest, dass das Innere größer war als es von außen den Anschein hatte, und verbarg sich vor den Augen ungebetener Gäste.

Der Strudel aus Erinnerungen und Emotionen entwirrte sich, sowie sie sich sicher und unbeobachtet fühlte, und ließ den ersten klaren Gedanken zu, seit sie aus der Schule getürmt war: Sue. Und dann: Lance.

Ada hatte Sue nicht auf ihrem Platz im Pausenraum gesehen, wusste nicht einmal, ob sie heute überhaupt in der Schule gewesen war. Vielleicht war sie ja krank und hatte nichts von all dem mitbekommen. Aber Ada verwarf den Gedanken sofort wieder. Die Nachricht würde sich in ihrer Kleinstadt ganz gewiss ausbreiten wie ein Lauffeuer.

Ada Grayson, der Drache. Das ist doch völlig verrückt…

Wie konnte irgendjemand allen Ernstes glauben, dass sie ein Drache war? Ja, sie liebte Fleisch, auch rohes, sehr sogar, und sie hatte das Bedürfnis, ihren rennenden Mitschülern hinterherzujagen, aber das allein bedeutete doch noch gar nichts.

Oder?

Andererseits: Wie konnte ein vernunftbegabter Mensch glauben, dass Lance ein Drache war? Trotzdem hatten sie ihn weggeholt, aus ihrem Leben herausgerissen und an einen unbekannten Ort gebracht. Ihren besten Freund neben Sue, der beinahe wie der Bruder war, den Ada nie gehabt hatte.

Wut und Trauer ergriff sie bei der Erinnerung. Sie hatte sich vor der Sache mit ihm nie wirklich mit dem Thema Drachen befasst. Diese gehörten in den Geschichtsunterricht, der sogar noch langweiliger war als Mathe. Drachen waren Menschen, so hieß es jedenfalls, mit dem Unterschied, dass sie die Gestalt einer großen, schuppigen Bestie annehmen konnten – und das ohne es zu wollen oder kontrollieren zu können. Im Mittelalter existierten ganze Clans von Drachen, die die Dörfer und Städte Europas terrorisierten, und Drachentöter hatten sie zu abertausenden hingeschlachtet, mal, um die Menschen zu schützen, mal, um Ruhm und Ehre zu erlangen und mal, weil sie glaubten, Drachen seien die Brut des Teufels, die im Namen Gottes vernichtet werden musste. Es gab Hexenverbrennungen von Frauen, die im Verdacht standen, mit Drachen im Bunde zu sein, und Enthauptungen von Männern, die angeblich unschuldige Menschen mittels schwarzer Magie in Drachen verwandeln konnten. Noch heute war sich die christliche Gemeinschaft nicht einig, ob Drachen nun Menschen waren oder nicht. Und wenn sie keine waren, was waren sie dann? Dämonen? Monster? Auch, wenn ihre Tötung in den meisten Teilen der Welt mittlerweile verboten war, wusste man noch immer nicht, wie man mit ihnen umgehen sollte. Drachenblütigen wurde der Zutritt zu christlichen Gotteshäusern oft verweigert, und erst kürzlich war irgendwo ein Priester in die Schlagzeilen geraten, weil er beinahe die dreizehnjährige Tochter einer Familie bei einer Dämonenaustreibung getötet hätte – sie alle glaubten, das Mädchen trüge den Drachen in sich.

Die Meinungen zu Drachen gingen auch auf der weltlichen Seite auseinander. Manche sagten, es war schon damals ganz und gar falsch, Drachen einfach zu töten, ganz egal, ob sie Menschen getötet hatten oder nicht. Andere beharrten darauf, dass Drachen gefährlich waren und die Menschheit bedrohten, solange sie existierten. Und dann gab es noch jene, die hofften, alle Drachen würden eines Tages einfach aussterben durch das konsequente Wegsperren von Blütigen in Reservate fernab der Zivilisation. Zumindest das würde vermutlich nie eintreten: Drachen hatten nicht zuletzt deshalb bis in die heutige Zeit hinein überlebt, weil die Gene mehrere Generationen überspringen konnten, bevor sich ein Wandler zeigte, vor allem dann, wenn sich gewöhnliche Menschen in den Stammbaum mischten. Es konnten viele unauffällige Generationen kommen und gehen, bevor einer auftauchte, der zum Drachen wurde.

Lance war einer von jenen, die Zeichen der Drachenblütigkeit aufwiesen, als einziger in seiner Familie. Auf keinen Fall aber würde er jemals zu einem Drachen werden, das wusste Ada. Der schüchterne, unsichere Lance, der früher so oft geweint hatte, konnte unmöglich ein solches Monster sein. Er war zu unrecht eingesperrt worden, während die Autoritäten darauf warteten, dass er sich verwandelte. Wenn sie dann irgendwann merkten, dass sie einen Fehler begangen hatten, würde Lance freikommen in eine ungewisse Zukunft, ohne Schulabschluss und Ausbildung, um am Rand der Gesellschaft vor sich hin zu vegetieren. Es war ein furchtbares Los, egal, wie es ausging. Das Leben war danach verwirkt.

Ada wusste nicht einmal, wohin sie ihn gebracht hatten. Sie hoffte einfach, dass er an einen halbwegs guten Ort gekommen war, wo die echten Wandler von den harmlosen Blütigen getrennt wurden. Diese Reservate gab es überall in den Vereinigten Staaten. Drachenblütige wurden dort eingesperrt, bis sie alt genug waren, um sicher ausschließen zu können, dass sie Drachengestalt annahmen und der Bevölkerung gefährlich wurden. Aber niemand wusste, ob die, die nicht zurückkehrten, wirklich weiter in den Reservaten lebten. Man sagte, in anderen Ländern, insbesondere Asien, herrsche reger Handel mit Körperteilen von Drachen: Schuppen, Knochen, Zähne, sogar ganze Organe wie das Herz. Aus ihnen konnten angeblich traditionelle Arzneimittel oder Schnaps hergestellt werden, welche Heilkräfte besaßen. Auch Sues Vater hatte davon gesprochen und gemeint, dass man schon sehr naiv sein müsste zu glauben, Drachen würden auf Kosten des Staates ihr Leben lang in den Reservaten durchgefüttert werden, bis sie irgendwann im hohen Alter starben – zumal die Reservate auch irgendwann voll wären. Das klang ganz schlüssig, wie Ada zugeben musste. Sie war damals erst sieben Jahre alt gewesen und hatte tatsächlich geglaubt, Drachen würden frei in den Reservaten leben, so, wie man es ihnen in der Schule erklärte, aber sie hatte es natürlich nicht zugegeben vor Mr. Lincoln – sie wollte nicht naiv sein, was auch immer das bedeutete. Es klang zumindest wie etwas, die man lieber nicht sein wollte.

Jetzt, da sie in der kühlen Grotte mitten im Wald saß, empfand Ada eine irrationale Wut auf Mr. Lincoln und hoffte inständig, er würde doch unrecht haben. Sie wollte nicht in so einem Reservat verschwinden. Niemand sollte das.

Ihre Schule hatte zweifellos längst die Behörden informiert, die für Drachenangelegenheiten zuständig waren. Diese würden zu ihrem Elternhaus fahren, ihre Mutter und die Lehrer befragen, wohin sie geflüchtet sein könnte. Und dann würden sie nach ihr suchen, um sie ebenfalls einzusperren.

Ich bin kein Drache. Ich kann keine Drachengestalt annehmen. Niemand in meiner Familie kann oder konnte das.

Sie versuchte, gedanklich ihren Stammbaum zu rekonstruieren. Die erste Generation waren ihre Eltern, die zweite ihre Großeltern – da stockte sie schon. Ihre Großeltern waren gestorben, als sie noch klein war. Sie hatte sie nie wirklich gekannt, geschweigedenn die dritte und vierte oder fünfte Generation vor ihnen. Was, wenn ihre Großeltern, Urgroßeltern oder Ururgroßeltern wirklich Drachen gewesen waren? Oder vielleicht ihr früh verstorbener Vater, über den ihre Mutter nie sprach? Aber hätte ihre Mutter es ihr nicht gesagt, wenn irgendjemand in ihrer Familie ein Drache gewesen wäre? Dann fiel ihr ein, dass jeder von ihnen blütig gewesen sein könnte, ohne es selbst zu wissen.

Vor dem Reservat würde sie ein makelloser Stammbaum gewiss auch nicht retten. Erst, wenn sie dreißig Jahre alt wurde, ohne sich verwandelt zu haben, würde sie in die Gesellschaft zurückkehren können. Das war noch einmal so lange, wie sie bisher gelebt hatte. So lange konnte sich nicht einmal Ada Grayson im Wald in einer Grotte verstecken.

Wenn ich wirklich ein Drache wäre, dann könnte ich im Wald leben, dachte sie, und für einen Moment gab sie sich wilden Ideen hin. Sie richtete sich auf und versuchte, sich Kraft ihrer Gedanken Flügel wachsen zu lassen, sich lebhaft vorzustellen, wie sie aus ihrem Rücken aufstiegen, lange, ledrige Schwingen, fähig, sie in die Lüfte zu tragen, fort von denen, die sie einfangen wollten, vielleicht in ein einsames Gebirge. Doch natürlich passierte nichts. Es war seltsam und absurd, sich vorzustellen, einfach eine andere Gestalt anzunehmen als die, die man schon immer gehabt hatte.

Ada überlegte. Sie konnte vielleicht auf der Straße leben. Viele Jugendliche waren Straßenkinder, ob nun drachenblütig oder einfach so abgehauen. Bestimmt würde sie sich irgendwie durchschlagen können, und vielleicht war das ja sogar ganz cool, so ein Leben ohne Erwachsene. Allerdings brauchte sie dazu erst etwas Zuessen, woran sie ihr knurrender Magen unweigerlich erinnerte.

Essen. Ich muss etwas essen.

Autorennotiz

Da haben wir unsere erste Protagonistin - mehr sind im Kommen ;) Was meint ihr, wird Ada den Behörden entkommen können? Ganz allein im Wald? Oder lässt sie der Hunger unvorsichtig werden?

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Autor

Abiogladiuss Profilbild Abiogladius

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Kapitel: 2
Sätze: 180
Wörter: 3.629
Zeichen: 23.018

Kurzbeschreibung

Ada ist fünfzehn und der Inbegriff einer rebellischen Jugendlichen. Sie respektiert keine Autorität, ist ständig in Ärger verwickelt, streitet mit ihrer alleinerziehenden Mutter – und sie verspürt einen unwiderstehlichen Drang zum Jagen, egal was. Oder wen. Und sie liebt Fleisch. Auch roh. Und blutig. Ihre Lehrer haben es längst geahnt: In Ada fließt das Blut eines Drachen. Damit droht ihr das Schlimmste, wie ihre verzweifelte Mutter weiß, denn Drachenblütige werden von der Regierung gejagt.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Drama auch in den Genres Fantasy, Schmerz & Trost gelistet.