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Gefangen in meinem Kopf

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22.05.21 14:55
Fertiggestellt

Gefangen in meinem Kopf 

Ich bin gefangen. In einem unsichtbaren Gefängnis. In einem Gedankentornado. Es gibt keinen Delete-Knopf, um meine Gedanken zu löschen. Leider. Ich wäre gerne ein Roboter. Keine Gefühle zulassen und trotzdem fehlerfrei und perfekt sein. Nur das tun, wofür man mich programmiert hat. Mir fällt ein, dass der Roboter weder neue Ideen hat noch inspiriert werden kann und sich auch nicht betrinkt. Mit hängenden Schultern stehe ich am Fluss und seufze. Ich will laut schreien, aber ich bringe keinen Ton heraus. Der Nebel legt sich wie ein Vorhang über das fliessende Gewässer. Vorsichtig gehe ich mit meinen Prada Absatzschuhen über eine kleine Brücke, die von goldgelben und braunroten Blättern bedeckt ist. Auf der Brücke bleibe ich stehen und presse die verschränkten Arme an meinem Körper, um mich vor dem Wind zu schützen. Trotzdem kriecht die Luft unter meinen dünnen Pullover und ein Frösteln überkommt mich. Nicht einmal die Herbstjacke hatte ich mitgenommen, die auf dem Liegestuhl gelegen hatte. Dank meiner Mutter. Eine Wut überkommt mich, als ich an sie denke. Ich laufe weiter. Erst in einer Stunde muss ich bei Melissa sein und bis dahin habe ich vielleicht das gefunden, wonach ich suche. «Stopp die Gedanken», sage ich halblaut. Doch sie kommen ohne Vorwarnung, schleudern mich herum und nehmen Platz ein. Nicht einmal die mehrwöchige Luxusreise in Bali hat mir geholfen. Täglich habe ich mich mit Yoga und mir selbst beschäftigt. Als ich wieder in München ankam, hatte mich die Realität eingeholt und ich war die alte Suchende. Genervt schüttle ich den Kopf. Ein gutaussehender Mann mit Dreitagebart und einem engen Jogginganzug joggt an mir vorbei und grüsst mich freundlich. Ich nicke ihm zu und frage mich, welche Leichen er im Keller hat. Seine freundliche Art hindert ihn nicht daran ein Vergewaltiger zu sein. Oftmals sind Menschen nicht das, wofür sie sich geben. Sie tragen Masken. Genau wie meine Mutter. 

 

Ich schlendere in Richtung Stadt zu Melissa. Sie ist die Einzige, die meine Probleme kennt. Aber sie kann mir nicht helfen. Manchmal führt sie mir den Reichtum vor Augen, den meine Eltern besitzen. Um Materielles geht es mir nicht. Mir geht es darum, dass ich etwas suche und mich gefangen fühle, aber ich weiss nicht warum. Etwas stimmt mit mir nicht. Oft stelle ich mir vor, wie ich aus dem elften Stock von Vaters Büro springe, um diesem Gefühl von Befangenheit ein Ende zu setzen. Für Vater, der CEO einer Privatbank ist, wäre dieser Move von mir rufschädigend. Das will ich ihm nicht antun. Meine Mutter würde ausrasten, nicht weil sie ihr einziges Kind verloren hätte, sondern weil die Menschen über uns reden würden. 

 

Als ich das Rotlichtmilieu erreiche, beschleunige ich meine Schritte. Im orangen Hochhaus zwischen Restaurants und Cafés wohnt Melissa. Mutter verbietet mir den Aufenthalt in diesem Quartier, weil sie der Meinung ist, dass Junkies hier verkehren. Ihre Meinung ist mir egal. Seit ich sie vor zwei Jahren erwischt habe, wie sie Vaters Cousin auf den Mund geküsst hat, nehme ich sie nicht mehr ernst. Obwohl ich ihr Geheimnis kenne, haben wir nie darüber gesprochen. Vater ahnt nichts und finanziert weiterhin ihren teuren Lebensstil. Ich führe mir wieder vor Augen, dass ich Menschen hasse. Ihr egoistisches und widersprüchliches Verhalten nervt mich. «Scheiss Opportunisten», sage ich und kicke eine Evian-Flasche mit dem Fuss weg. Ausser Atem betrete ich Melissas Haus und laufe in den dritten Stock. Als ich vor Melissas Wohnungstür stehe, will ich läutern. In diesem Moment öffnet sie die Tür und lacht mich mit ihren Bambi Augen an. Die innige Umarmung lässt meinen Körper glühen und ich rieche ihren Aprikosenshampoo, welches sie für ihr glänzendes pechschwarzes Haar verwendet hat. Ist sie vielleicht der Schlüssel zum Glück?

 

"Lass uns bei meiner Mutter Mittagessen. Sie hat für uns gekocht“, sagt sie mit ihrer piepsigen Stimme und zieht sich eine Jacke über. "Meinetwegen", entgegne ich und zucke die Schultern. Meine Euphorie hält sich in Grenzen. 

Mittlerweile kenne ich die portugiesischen Regeln ihrer Familie. Eine Einladung ablehnen wäre eine Beleidigung, obwohl ich lieber mit Melissa allein gegessen hätte. Melissa rennt in die Wohnung und erscheint mit einem grauen Wollschal in der Hand. Diesen legt sie mir behutsam über die Schultern. "Regula, das ist Erkältungswetter. Auch wenn die Sonne scheint, ist es kalt." Ich muss lachen. "Danke Mutter." Melissa zwinkert mir zu. Sie hakt sich bei mir ein und gemeinsam marschieren wir die Treppe herunter. Währenddessen frage ich mich, wie sie es schafft, glücklich zu sein. Ihre 1.5 Zimmer Wohnung hat sie mit alten Möbeln aus einer Brockenstube eingerichtet und die Einrichtung passt nicht zusammen. Ihre finanziellen Verhältnisse sind begrenzt und den Lohn, den sie als Coiffeuse verdient, ist bescheiden. Wäre ich unglücklicher, wenn ich zu meinem Leid zusätzlich arm wäre? Ich muss mir eingestehen, dass Materielles mich nicht zufrieden stellt, obwohl Mutters Credo lautet: Wer Geld hat, hat alles.  

 

Wir spazieren zu Melissas Mutter, die im gleichen Quartier wie Melissa wohnt und reden über frühere Zeiten. Sonnenstrahlen wärmen unser Gesicht. Melissas Mutter öffnet die Tür und drückt mich an ihren dicken Busen. "Schön, dass du wieder mal bei uns isst. Grossmutter ist auch da." Sie führt uns ins Wohnzimmer. Melissa umarmt ihre Grossmutter und ich gebe der knapp 100-jährigen Dame einen Kuss auf die Wange. Wir kennen uns seit vielen Jahren. Noch nie habe ich die Dame mit den schneeweissen Haaren traurig gesehen. Ausser wenn sie vom Krieg und ihren Geschwistern erzählt, die dabei umgekommen sind. Dann hat sie glasige Augen. Was Menschen alles aushalten. Und was muss ich Schlimmes aushalten? Ich setze mich an den massiven Holztisch gegenüber der Grossmutter. Die Wohnung ist alt, aber einladend eingerichtet. Viel Holz und warme Farben. Seit Jahren hat sich nichts mehr verändert. Während die Grossmutter mir von ihrem Garten und das angepflanzte Gemüse erzählt, überlege ich mir mit Melissa eine Wohngemeinschaft zu gründen. Ich würde die Miete und anfallende Kosten übernehmen. Eigentlich würde uns Vater finanzieren. Er hat mir versprochen, dass er die Mieten meiner ersten Wohnung bezahlt. Nebenbei kann Melissa weiter sparen und sich ihren hässlichen grauen Peugeot kaufen, welchen sie sich seit Monaten wünscht.

 

"Was bedrückt dich mein Kind?" Ich schaue die Grossmutter erstaunt an, weil ich nicht sicher bin, ob sie mit mir spricht. Nervös knete ich meine Hände. "Tut mir leid, ich habe dich nicht verstanden. Ich war mit meinen Gedanken irgendwo…" zum Weitersprechen komme ich nicht. Melissas Grossmutter steht behutsam auf, humpelt um den Tisch und setzt sich neben mir. Sie greift nach meiner Hand. Hilfesuchend halte ich Ausschau nach Melissa, aber sie ist nicht da. Viel Nähe und Zuneigung machen mir Angst. 

 

"Erzähl", fordert sie mit ihrer rauen Stimme. Mein Puls rast. Ich atme konzentriert und schlucke trocken. "Ich habe über eine gemeinsame Wohnung mit Melissa nachgedacht. Eine Wohngemeinschaft." Mit ihren grossen blauen Augen sieht sie mich eindringlich an. "Warum? Du wohnst in einer Villa und hast ein Leben, von dem andere träumen." In diesem Moment fühle ich ihren kritischen Blick. Trotzdem sind ihre Augen freundlich und von tiefen Falten umgeben. «Ich bin unglücklich und will nicht allein sein.» Die alte Frau lässt meine Hand los und lehnt sich nickend zurück. «Hast du einen Ratschlag, was ich machen könnte. Ich-.» Es fällt mir schwer, den nächsten Satz über die Lippen zu bringen. Sprich, sagt eine Stimme zu mir. «Ich will nicht mehr leben, wenn es so weitergeht», flüstere ich ihr zu und bemerke, wie sich meine Stimme verändert. Ein Kloss bildet sich in meinem Hals und ich huste. Melissas Grossmutter blinzelt und meint: «Wir sitzen hier und ich rieche die Pasta, die Marcella vorbereitet. Riechst du sie auch?» Stirnrunzelnd schüttle ich den Kopf. «Mein Geruchsinn ist nicht besonders ausgeprägt, aber wenn ich mich darauf konzentriere, dann rieche ich sie.» Ich lache schief und sie nickt. «Und hörst du die Vögel draussen zwitschern?» Ich drehe mich um und bemerke, dass das Fenster angelehnt ist. Beim genauen hinhören ertönt der Gesang der Vögel. 

Wieder nicke ich. „Ja, jetzt höre ich sie.“ Die Grossmutter beugt sich zu mir nach vorne und flüstert: „Hast du wenigstens wahrgenommen, was um dich herum passiert ist, als du zu Melissa gekommen bist?“ Ich schüttle den Kopf. „Nein, aber ich habe mir überlegt, wie ich glücklich werden kann. Auf Instagram habe ich gesehen, dass-“ Ich rede nicht mehr weiter. Wir blicken uns lange in die Augen und in diesem Moment realisiere ich, was mich seit Jahren in einem Gefängnis festhält. Ich selbst. Bei diesem Gedanken erschauere ich. 

 

Elegant schlägt sie die Beine übereinander und meint: „Das, was du suchst, trägst du in dir. Du hältst dich davon ab, glücklich zu sein. Denn das Leben zieht an dir vorbei, denn du lebst entweder in der Zukunft oder in der Vergangenheit. Weder Glück noch das Gefühl von Vollkommen sein, wirst du bei den anderen finden. Die Macht liegt bei dir und deinen Gedanken. Du entscheidest, ob du glücklich bist oder nicht.“ 

Sie zeigt mit dem Finger auf meine Stirn. Ein schwaches Lächeln umspielt ihren Mund. Rasch erhebe ich mich und weiss, wie ich vorgehen muss. „Wo gehst du hin?“, fragt Melissa mit hochgezogener Braue und zwei Spaghetti Teller in der Hand. „Mir ist etwas eingefallen. Bitte entschuldigt mich.“ Ich dränge mich an ihr vorbei und renne los. Nach zwanzig Minuten erreiche ich das Haus. 

Niemand ist zu Hause. Obwohl ich ausser Atem bin, nehme ich zwei Treppen auf einmal und erreiche mein Zimmer. Es erinnert mich jedes Mal an ein Spitalzimmer. Weisse Wände, weisser Boden, weisse Möbel. Alles in diesem Zimmer ist weiss. Hastig öffne ich den über vier Meter langen Schrank und reisse Designerklamotten von den gepolsterten Kleiderbügeln herunter und werfe sie zu Boden. Mit meinen staubigen Schuhen trample ich darauf und greife nach einer Schere, die ich im Schrank finde. Ich zerschneide Blusen und leere den Inhalt von Makeup und Gesichtsreiniger auf die Kleider und den weissen Teppich. All das hat meine Mutter gekauft. Ich fühle ein Pochen in meinem Hals. Vor der weissen Kommode mit Schmuck und Parfümen bleibe ich stehen. Wie eine Irre stosse ich das Gestell herunter. Es kracht laut auf den Boden. Diverse Parfüme prallen mit dem Marmorboden zusammen und zerbrechen. Überall liegen Glasscherben. Auf dem runden flauschigen Teppich neben meinem Bett leere ich den halbvollen Rotwein aus, den ich in meiner Schublade versteckt hatte. Befriedigt blicke ich auf mein farbiges Kunstwerk. Endlich gefällt mir mein Zimmer. Ich fühle mich erlöst und eile in den Garten. Behutsam lege ich mich auf den Rasen. Der grosse Baum spendet mir Schatten. Ich schliesse die Augen. Unter meinem Rücken fühle ich Steine. Erste Ameisen krabbeln über meinen nackten Armen. Der Wind peitsch mir ins Gesicht. Das Liegen tut mir gut und mein Herzschlag beruhigt sich. Ich atme langsam ein und aus. Eine Energiewelle überkommt meinen Körper. «Ich halte mich selbst gefangen», flüstere ich. In diesem Moment entscheide ich, dass ich weg von hier muss, um frei zu sein. Um glücklich zu sein.

N.I.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Autorennotiz

=)

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BerndMooseckers Profilbild
BerndMoosecker Am 22.05.2021 um 16:08 Uhr
Hallo NOW1989,
das ist eine schön geschrieben etwas irre Geschichte. Mich hat sie gefesselt und ich hoffe, anderen Lesern wird es genau so ergehen.
Einen wirklich weisen Satz hast Du der Großmutter in den Mund gelegt, aus ihm spricht eine Weisheit, die glücklich machen kann.
Gruß Bernd

Autor

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Kurzbeschreibung

Regula sucht einen Weg, um glücklich und frei zu sein. Doch das ist nicht so einfach, wie alle glauben. Erst das Gespräch mit der Grossmutter ihrer besten Freundin öffnet ihr die Augen: "Das, was du suchst, trägst du in dir. Du hältst dich davon ab, glücklich zu sein. Denn das Leben zieht an dir vorbei, während...."

Kategorisierung

Diese Story wird neben Angst auch in den Genres Alltag, Spirituelles, Freundschaft, Familie gelistet.