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Arschengel und andere Fluchobjekte

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24.03.24 11:44
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt

Die wichtigsten Lektionen im Leben werden uns oft von denen erteilt, die uns nicht immer gut gesonnen sind. Ausgerechnet jene, die uns unrecht tun, unfair behandeln, über uns lachen, unsere Leistungen nicht wertschätzen, uns abwerten, der Lächerlichkeit preisgeben … ausgerechnet diese Widersacher können uns mit ihren Gemeinheiten einen großen Gefallen tun: Sie lassen uns über uns selbst hinauswachsen. Über unser falsches Selbst, das wir aufgebaut haben, um anderen zu gefallen.

Solange wir Kinder sind, können wir uns nicht aussuchen, von wem wir beeinflusst und beurteilt werden. Bis zur Pubertät gibt es eine Vielzahl von Menschen, die uns sagen, was wir tun sollen, wie wir sein sollen, welche Leistungen wir erbringen und welchen Preis wir dafür zahlen müssen. Erst später, wenn wir erwachsen sind, können wir wählen, welchen Stimmen wir Glauben schenken und welchen nicht.

Im Laufe meines Lebens habe ich Dinge getan, die ich nicht mochte, Dinge gelernt, die mich nicht interessierten und zu viel Zeit mit Menschen verbracht, die mir wenig bedeuteten. Manchmal musste ich so tun, als wäre ich jemand, der ich nicht war, vor allem beruflich. Nicht bewusst, aber unterbewusst glaubte ich, dass das normal sei, weil es alle so machten. Niemand, den ich kannte, war wirklich authentisch und lebte seinen Lebenstraum. Viele arbeiteten – und waren tendenziell unzufrieden und unehrlich sich selbst und anderen gegenüber. Das nannte man "normal".

Wie die meisten konnte ich oft nicht einfach tun, was meinem Wesen und meinen Talenten entsprach. Lange Zeit hätte ich nicht einmal sagen können, wer ich war. Ich war, wie mich andere haben wollten. Ich war, wie ich glaubte, sein zu müssen, damit ich gemocht, anerkannt und geliebt wurde.Und die ganze Zeit über dachte ich, das sei meine Persönlichkeit. Doch es war nur eine Persona, eine soziale, berufliche, freundschaftliche Maske, die anderen suggerieren sollte: Ich bin liebenswert. Ich bin klug. Ich bin erfolgreich. Ich bin …

Ein erstes, ernsthaftes Infragestellen dieses Weges geschah während meiner ersten Berufsausbildung als zahnärztliche Assistentin, die sich für mich als nur mäßig interessant und wenig befriedigend erwies, eher ein Beruf für das Kind meiner Eltern als für mich. Das wollte ich mir lange Zeit nicht eingestehen. Immerhin gab es soziale Anerkennung und ein Gehalt, doch dafür musste ich ein Arbeitsklima in Kauf nehmen, in dem ich infantilisiert und entmutigt wurde. In der Zahnarztpraxis war ich die Jüngste, und mein Chef und seine Familie behandelten mich wie eine Dienstbotin. Mein Chef war kriegsversehrt und beinamputiert, ein zutiefst unsicherer Mann, der seine Kriegstraumata hinter einer perfektionistischen Maske verbarg. Nach dem Krieg konnte er ohne Abitur Zahnarzt werden - seitdem fühlte er sich, wie ich vermutete, Kollegen gegenüber, die einen Doktortitel hatten, unterlegen und wegen seiner Beinamputation gehandicapt. Er verlangte von sich Perfektion und auch von seinen Angestellten. Für mich als Lehrling, galt seine Devise: Nur sehr gute Noten in der Berufsschule wurden anerkannt und nur hervorragende Arbeitsleistungen wurden gelobt. Ansonsten musste ich ohne den Sonnenschein der Ermutigung auskommen.

Als ich im zweiten Lehrjahr war und meinem Chef mein Berufsschulzeugnis zur Unterschrift vorlegte, kam es zum Eklat. Ich war stolz auf die zwei Einser, zufrieden mit den Zweiern in allen anderen Fächern und, na ja, die eine Drei in Fachkunde ... Mein Chef setzte seine Brille auf und studierte schweigend meine Noten. Und zeigte keinerlei Reaktion. Das bedeutete nichts Gutes. Je länger sein Schweigen dauerte, umso unsicherer wurde ich. Nach einer Weile schüttelte er abschätzig den Kopf, unterschrieb und musterte mich anschließend streng über den Rand seiner Brille: “Das sind ja nicht gerade Glanzleistungen!“ Dabei tippte er auf die Drei, die ich in Fachkunde hatte. Offensichtlich war er enttäuscht. Von mir. Von meinen Leistungen. Ich schluckte. In seinen Worten lag Abwertung: Nicht gut genug. Mit dieser Haltung und nonverbalen Aussage unterhöhlte er mein ohnehin noch schwach entwickeltes Selbstvertrauen, indem er signalisierte: Streng dich gefälligst mehr an! Diese Haltung kannte ich nur zu gut: Von meinen Lehrern, meiner Familie, meinem sozialen Umfeld ... es schien, als ob niemand zufrieden war mit dem, was ich leistete und ob ich so "funktionierte", wie man es von mir erwartete.

Seit ich in der Ausbildung war, kam eine neue Scham hinzu: Über die eigene Unzulänglichkeit als Lehrling. Dabei war es nur natürlich, noch nicht alles perfekt zu können oder zu wissen. Mit sechzehn Jahren fühlte ich mich den Ansprüchen meines Chefs und der Erwachsenenwelt gegenüber unzulänglich und abhängig. Und mein Traum, beruflichen Erfolg zu haben, schien sich in dieser Praxis in einen Alptraum zu verwandeln. Mein Chef wirkte nicht nur enttäuscht, sondern auch angriffslustig: „Du musst dich mehr anstrengen, Mädchen!“

Das Schlimmste war nicht, von ihm wie ein Schulmädchen behandelt und getadelt zu werden. Viel mehr traf mich, dass es möglicherweise wahr sein könnte, was er sagte. Womöglich war ich wirklich nicht gut in diesem Beruf. Es schoss mir durch den Kopf: Ich kann zu wenig, und das, was ich kann, kann ich nicht perfekt. Vergessen waren meine zwei Einsen und alle anderen guten Noten. Das Lob, das ich ersehnt hatte, stand mir vermutlich gar nicht zu: Solange ich den Anforderungen und Ansprüchen anderer nicht genügte, war ich ein Nichts. Eine, die nicht perfekt war. Mein Chef setzte die Maßstäbe und hielt die Messlatte hoch, an der ich gemessen und für nicht gut genug befunden wurde. Und das würde sich wohl niemals ändern. Während ich mit aufkommenden Tränen kämpfte, versuchte ich, mich aus Wut und Verzweiflung zu verteidigen, um meine Verletzung zu verbergen:“Und was ist mit den zwei Einsen?“

Jetzt wurde mein Chef richtig sauer. „Ach was“, verächtlich klatschte er mein Zeugnis auf den Schreibtisch.“Das sind doch nur Laberfächer! In Fachkunde hätte es eine Eins sein sollen!“

Mein Herz begann wie wild zu schlagen. Mit seiner rigorosen Abwertung der von mir geschätzten und geliebten Fächer hatte ich nicht gerechnet. Wie konnte er sie in den Dreck ziehen und als „Laberfächer“ titulieren? Immer mehr Wut kochte in mir hoch hoch – wie in einem Kessel, der zu lange unter Druck gestanden hatte. Meine Hand ballte sich in meiner Kitteltasche zur Faust, als ich aufgewühlt und mit zittriger Stimme antwortete: “Deutsch, Psychologie und Sozialkunde sind auch wichtig – und die einzigen Fächer, die mich wirklich interessieren!“

Ich erschrak. Das war mir einfach herausgerutscht. Und es stimmte. Blöd nur, dass ich eine Ausbildung als zahnärztliche Assistentin machte. Statt das Abitur. Das hatte ich mir nicht zugetraut. Ab der dritten Klasse hatte meine Mutter immer wieder kopfschüttelnd gesagt: „Du hast ja sonst gute Noten, Kind - nur in Mathe nicht. Wir Frauen sind einfach zu blöd für höhere Mathematik. Mit einer vier in Mathe gehst du mir nicht aufs Gymnasium. Vergiss es. Mach lieber eine Lehre. Damit fährst du auf der sicheren Seite …!“

Mit zornesfunkelnden Augen sah ich meinen Chef an. Zum ersten Mal offen feindselig.

Doch er lachte mich aus: „Psy-cho-lo-gie …“, verächtlich dehnte er das Wort wie ein ABC-Schüler, dabei grinste er verächtlich und spuckte mir das Wort förmlich vor die Füße. „Wozu ihr diesen Quatsch lernt, ist mir ein Rätsel. Und Sozialkunde: Braucht kein Mensch. Möchte mal wissen, was das mit Zahnheilkunde zu tun haben soll! Wie auch immer: Du musst dich mehr anstrengen in Fachkunde, sonst wird das nix!“

In diesem Moment legte sich bei mir zum ersten Mal bewusst ein Schalter um: Ein Mann, der so engstirnige Ansichten hatte, hatte auch engstirnige Maßstäbe. Wenn er meine Leistungen nicht anerkennen konnte, sollten sein Mäßstäbe für mich in Zukunft nicht mehr relevant sein. Ich wollte das tun, was mir Freude machte und mich interessierte! Ich würde kündigen. Nachdem ich meine Ausbildung beendet hatte – meiner Mutter zuliebe, die auch nicht akzeptieren konnte, dass ich eigene Pläne und Wünsche für mein Leben hatte. Ich würde das Abitur nachholen: An der Abendschule.

Damals hatte ich niemanden, der mir beistand. Weder bei den erniedrigenden Gesprächen mit meinem Vorgesetzten, noch später, bei meiner Kündigung. Für meine Mutter brach eine Welt zusammen: “Du kannst doch eine dreijährige Berufsausbildung nicht einfach so wegwerfen! Eines Tages wirst du das bitter bereuen! Mit so einer Einstellung landest du noch unter der Brücke oder als Sozialfall …!“

Dem konnte ich nur entkommen, indem ich, sobald ich achtzehn war, auszog. Zum ersten Mal erlebte ich bewusst, wie soziale Ausgrenzung und Ablehnung funktionierte – obwohl ich mich jahrelang angestrengt und versucht hatte, es allen recht zu machen. Ausgerechnet jene, die vorgaben, das Beste für mich zu wollen und mich zu „lieben“, wurden nicht damit fertig, dass ich mein eigenes Leben leben wollte, statt nur ihres nachzuahmen. Sie betrachteten meine Kündigung als Scheitern und ahndeten es wie ein Vergehen. Der Vorwurf, der mir gemacht wurde: Wie kannst du es wagen …!

„Was ist so Schreckliches daran“, habe ich zurück gefragt: „dass ich mit Hilfe meiner Talente und Fähigkeiten arbeiten möchte, statt gegen sie?“

Mein ehemaliger Chef hat mir erst nach mehrmaliger Aufforderung ein Arbeitszeugnis ausgestellt: „ … hat sich stets bemüht ...“

Dieser Satz negierte drei Jahre Lehrzeit, abgeschlossen mit guten Zeugnissen und einem guten Examen – und sollte mir meinen weiteren beruflichen Werdegang vergällen. Das war seine Rache für „den Undank“, den er mir vorwarf. Ich habe das Arbeitszeugnis - das ein Armutszeugnis seiner Souveränität war - später einfach geschreddert. Ich hatte ohnehin nicht mehr vor, jemals wieder in einer Zahnarztpraxis zu arbeiten. Er hatte es endgültig geschafft, mir den Beruf gänzlich zu vergällen. Für das, was ich vorhatte, würde ohnehin mein Examens-Zeugnis genügen.

An der Abendschule habe ich dann meinen Horizont erweitert und Abitur gemacht – und später Psychologie und Soziologie studiert. Womit ich nicht behaupten möchte, damit allein habe sich schon alles zum Guten gewandelt. Es wurde nur anders. Andere Menschen kamen - mit anderen Messlatten - und stellten andere Anforderungen. Dozenten und Vorgesetzte wechselten und auch die Erwartungen an mich. Mein Selbstbewusstsein oder mein Selbstwertgefühl stiegen nicht automatisch proportional zu weiteren Abschlüssen, Examen, Berufsbezeichnungen. Doch eines hatte sich geändert: Ich wusste nun, dass ich auch Nein sagen konnte. Zu Menschen, die glaubten, die Grashoheit über die Beurteilung meiner Leistungen oder mich als Mensch in Händen zu halten. Ich konnte Nein sagen zu Messlatten, die andere unerreichbar hoch hielten. Ich konnte Nein sagen zu Zuschreibungen, mit denen Vorgesetzte oder Angehörige mich willfährig halten oder demütigen wollten.

Im Laufe der Jahre kam es hin und wieder vor, dass ich mich beruflich und privat zu sehr angestrengt habe, um es anderen recht zu machen, um "gemocht" oder "geliebt" zu werden. Doch wenn mir das bewusst wurde, habe ich daran gedacht: Auch wenn man im Hamsterrad läuft oder wenig unterstützt und gefördert wird: Unsere Stärken rufen uns gewissermaßen. Sie können zu unserer Be-RUF-ung werden. Unsere Stärken zeigen uns den Weg zu unserer Leidenschaft. Das, was wir gerne tun, gelingt meistens auch gut. Dafür nehmen wir aus Interesse und Leidenschaft alle Mühen und Anstrengungen in Kauf.

Wenn dir jemand sagt, dass du das nicht schaffst, denk daran: Das sind seine Grenzen, nicht deine. Es spielt keine Rolle, was andere über dich sagen. Nur, was du tust, nachdem sie es gesagt haben.

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Kleevinar Am 24.03.2024 um 15:58 Uhr
Diese Geschichte könnte auch mein Leben darstellen: Stets tut man alles, um akzeptiert und wertgeschätzt zu werden, doch am Ende kommt die große Ernüchterung, und man muss feststellen, dass man nie seinen eigenen Weg gegangen ist.

Genau aus diesem Grund erzähle ich meinen Eltern nichts mehr von meinen Plänen, weil ich keine Glaskugel brauche, um zu wissen, dass ich keinerlei Unterstützung erwarten kann.

Ich lese gerade das Buch von Martin Wehrle "Wenn jeder dich mag, nimmt keiner dich ernst". Je weiter ich komme desto mehr fühle ich mich bestärkt in meinem Recht so angenommen zu werden wie ich bin, und nicht so wie mein Umfeld mich haben will.

Ich will nicht mehr das brave Liebchen von Nebenan sein, das man für jeden Nonsens regelrecht anfeinden darf.
Natürlich macht man sich zuerst Gedanken darüber, dass man sich im Ton vergriffen hat, aber im Nachhinein Stelle ich fest, dass es meiner Seele gut tut und mir inneren Frieden bringt. Wer stets Konflikte scheut, schaufelt damit sein eigenes Grab, weil ich genau das bei meinem Vater beobachte. Blieb länger auf der Arbeit, hat allen Kindern befohlen alles kommentarlos herunterzuschlucken, bewusst Weg geschaut und hat seine Führungsposition dafür ausgenutzt, um jeden abzuwerten, der für ihn ein Schwächling war. Jetzt bekommt er die Quittung dafür, und muss eine Ehefrau pflegen, die ihm das Leben zur Hölle macht. Die Kinder sind absichtlich Kilometer weit weg gezogen, damit diese nicht als kostenloses Pflegepersonal zur Verfügung stehen.

Mir tut es immer noch in der Seele weh, dass meine Eltern mich bewusst zu einem schwierigen Menschen erzogen haben, und es sogar zum Lachen fanden, dass ich mit 18 Jahren nicht wusste, welche Partei ich wählen sollte. All meine Bildungslücken waren guter Nährboden, um mich klein zuhalten.

Solchen Menschen schulde ich gar nichts.
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Gesko (Autor)Am 24.03.2024 um 18:54 Uhr
Konflikten aus dem Weg zu gehen, ist schon deshalb keine gute Entscheidung, weil sie einem sonst hinterherlaufen. Die Frage ist, wie man besser damit umgeht - und Konfliktfähigkeit ist wohl nicht gerade ein Mädchenprogramm in der Erziehung der letzten hundert Jahre gewesen.
Doch wenn ich sehe, wie Männer zur Zeit und in der Vergangenheit mit Konflikten umgehen, macht mich das auch nicht gerade glücklicher. Vermutlich müssen wir alle dazu lernen, für uns selbst und unsere Werte einzustehen - und bereit sein, den Preis dafür zu zahlen: Nicht (mehr) von allen gemocht zu werden.
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