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Warten auf Godot

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12.03.24 17:06
16 Ab 16 Jahren
In Arbeit

Im fluchtartigen Verlassen bestimmter Schreibforen bin ich inzwischen routiniert. Ich kann nicht ausschließen, dass meine Schwierigkeiten daher rührten, öffentlich laut nachgedacht zu haben, während Männer im Raum waren. Einige fanden es nicht lustig, wenn Frauen humorvoll schreiben und ihnen einen Spiegel vorhalten, der ihre Allmachtsfantasien nicht bestätigt. Und wo die Würde des Mannes anfängt oder endet, darüber sollen Frauen nicht schreiben. Schon gar nicht Satiren. Oder lachen. Jedenfalls nicht öffentlich.

Ich gebe zu, Satiren geschrieben und im Internet gepostet zu haben, für die man sich Mut antrinken musste. Zuerst ich und später meine Leser*innen. Frauen haben sich ganz köstlich unterhalten gefühlt, während einige humorphobe Männer mich als radikal-feministische Krawallschachtel beschimpften und so genervt waren, dass sie mir jede Kompetenz streitig machen und gleichzeitig mit mir konkurrieren mussten – all das hat mir gezeigt: Ich bin wohl auf der richtigen Spur. Irgendwie, irgendwo, irgendwann … wird mich das sicher zu Godot führen.

An einem nicht näher definierten Ort im Internet überwältigt einen ein existenzialistisches Dilemma: Man hat viel Zeit damit verbracht, Tagesgedanken, Lyrik und Prosatexte zu schreiben – und anschließend verbringt man noch mehr Zeit damit, das Ganze in Schreibforen oder Blogs zu posten und abzuwarten, ob der, den man nicht näher kennt, der sich Godot nennt, von dem nichts genaues bekannt ist, nicht einmal, wer genau er ist, ob dieser Unbekannte jemals kommen und ob er sich äußern wird.

Falls es ihn doch geben sollte, erstellt man ein originelles Profil mit dem Nicknamen Estragona oder Wladimir, dazu ein weichgezeichnetes Photo, das die Gewissheit des eigenen Verfalls um erhebliche Jahre senkt. Jugendlichkeit ist im Internet gefragt, obwohl man sich dort weder sehen noch anfassen kann. Wer älter ist, bemüht sich wenigstens verbal um einen juvenilen Ausdruck; es wird gemunkelt, Godot liebe nur die jungen, wilden Künstler.

Festzuhalten ist: Unter der großen Anzahl Schreibenden sind solche, die vorgeben, Godot genau zu kennen, ihm sogar schon mal begegnet zu sein. Deshalb folgen ihnen Hunderte, die nun ebenfalls auf ihn warten wollen. Was von denen zu halten ist, die glaubwürdig versichern, sie seien Godot tatsächlich schon begegnet, weiß keiner. Man hat schon oft gedacht, er sei es gewesen und dann war er es doch wieder nicht. Bis jetzt ist er jedenfalls noch nicht in Erscheinung getreten: Weder bei den passiv zu Entdeckenden noch bei den aktiv Werbenden. Weder bei den Textsicheren noch bei den Schreib- oder Kommentierfaulen. Da aber schon so viele am nicht näher definierten Ort im Netz zusammentreffen, die sich langweilen, rezensiert man seine Texte gegenseitig – damit sie perfekt sind für Godot.

Um die unheimliche Stille auf Abstand zu halten, wird viel diskutiert, zuweilen über belangloses vehement gestritten und sich hernach wieder versöhnt. Manchmal wirft man sich gegenseitig vor, in Texten wenig gesagt und zu viel angedeutet zu haben oder willentlich mit bedeutungsschwangeren Metaphern eine Spur gestreut zu haben, die sich im Nichts verlieren. Minimalistisches wird hochgelobt, wenn im Subtext gigantisch Gemeintes vermutet wird. Andächtige Stille herrscht über wirren, hastig abgespulten Monologen von bizarrer Hilflosigkeit und in Wortmüll zerfledderten Logorrhoen. Und manchmal, eher selten, reine Glücksmomente flüssiger Sprache.

Zuweilen wird sich auch ärgerlich das Haar gerauft, weil Satzbau und Syntax, Metrik, Rhythmus und Reim quick and dirty daherkommen. Da lässt mancher seine Grammatikpeitsche knallen und degradiert Erwachsene zu Schülern. Jeder klitzekleine Kommafehler wird geahndet wie ein Schwerverbrechen, um Fehlbare vor Angst und Ehrfurcht erstarren und zu dem Schluss kommen zu lassen, sie seien des Schreibens nicht mächtig und unwürdig, dieselbe Luft zu veratmen wie die Unfehlbaren, die Tadellöser&Wölfe der deutschen Sprache und Literatur.

So sind alle ausreichend damit beschäftigt, sich gegenseitig zu beweisen, dass man in der Lage ist, saubere, perfekte, kleine Textbausteine zu erstellen. Ob das große Kunst ist, darüber wird ausgiebig gestritten: Kunst ist nicht, was der Künstler sagt, sondern das Publikum.

Manchmal werden auch diverse Möglichkeiten, unglücklich zu sein oder am Leben zu verzweifeln erörtert, falls dieser Godot sich niemals blicken lässt.

Am nicht näher definierten Ort im Netz gibt es einen Webmaster, der die Regeln macht und Mitgliedschaften unterschiedlicher Stufen erdenkt. Es wird gemunkelt, dass zahlende Mitglieder zum „erlauchten Kreis“ aufrücken, wo gewisse Vergünstigungen wie uneingeschränkte Schreib- und Redefreiheit gewährt würden. So ganz genau weiß das niemand – bis er selbst zahlendes Mitglied wird. Die Kommunität der Wartenden wird von Administratoren und Moderatoren begleitet, die eine Führungsposition unter den Wartenden einnehmen. Wenn man Pech hat, überwachen, kontrollieren und maßregeln sie alles, worüber geschrieben und diskutiert werden darf. Zuweilen findet man sich in hierarchischen, patriarchalen, autoritären Strukturen wieder, die einen das Fürchten lehren können.

Man kann sich den nicht näher definierten Ort im Internet vorstellen wie riesiges Amphitheater mit johlendem Publikum: Ganz oben, in der Loge sitzt der Webmaster Sebigbos, der den Daumen hoch oder runter hält. Unter ihm, in der Arena, tragen die Matador*innen dem „Volk“ ihre Texte vor, begleitet von einer entfesselten, anonymisierten Menge, die dies mit lautstarken Unmutsbekundungen oder Applaus begleitet, den sogenannten „Likes“ oder „Kommentaren“. Um das Ganze auf die Spitze zu treiben, tritt zuweilen ein Anwalt Diabolus als Kommentator*in in den Ring, um einen kreativen, frechen Text nach Strich und Faden auf Mittelmaß zu verschlimmbessern und auf einen grammatisch perfekten, aber todlangweiligen Textes runterzuknüppeln. Man definiert sich als selbst ernannte „Literaturkritiker“ oder „Meister*in des Fachs“, da man bereits im Selbstdruck ein oder zwei, in handgeschröpftes Linnen eingebundene Lyrik-Büchlein unters Volk gebracht hat. Sie lieben es, Aufmerksamkeit zu genieren, indem sie der Community die ganz große Show liefern: Der öffentliche Verriss des Tages, die Demütigung des Monats, die Abwertung des Jahres, der heißeste Literaturstuhl:“Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Wer soll deine Zielgruppe sein: Senioren? Schreib lieber für die Apothekenrundschau! Hier wird nichts erzählt. Dieser Humor ist niveaulos. Kolpotagenschicksal. Alles irgendwie … unglaubhaft. Viel zu viel a,b,c ... und zu wenig ...x,y,z. Alles Mist, schreib neu/anders/wie ich es mag! ...“

Für Unterhaltung beim Warten auf Godot ist gesorgt: Kleine oder größere Stürme im Wasserglas, Rituale, Demutsgesten der Neuankömmlinge, Rauswürfe ... manchmal entsteht auch so etwas wie echte Kommunikation. Blöd nur, dass man deswegen nicht gekommen ist.

In trotziger Restwürde beharrt man auf der ewig enttäuschten Illusion des Wartens auf Godot.

Ob er kommen wird, dafür gibt es - trotz Mitgliedsbeitrag - keine Garantie.

Manchmal gesellt sich ein Diener, der sich Lucky nennt, zu den Wartenden. Dieser bringt keine Klärung, sondern sorgt für zusätzliche Verwirrung: Wie kann einer „lucky“ sein, wenn er auf Godot wartet? Und es gibt da noch diesen reichen Tyrann Pozzo, der den armen Lucky mit knallender Peitsche auffordert, „laut zu denken“:

„Ich bin Lucky und habe mehr Angst davor, Talent zu haben, als es nicht zu haben. Meine größte Angst ist es nicht, unzulänglich zu sein, sondern mächtig talentiert. Ich brauche die Erlaubnis anderer, mein Licht zu zeigen. Falls sie es mir erlauben, gerate ich in Panik. Was, wenn da eine kreative Karriere auf mich wartet, auf die ich nicht gefasst bin? Wer bin ich schon, dass ich brillant sein soll? Da mache mich doch lieber selber klein und nenne das „Bescheidenheit“ oder lasse mich kleinmachen, damit andere um mich herum sich nicht unsicher fühlen. Wie im Leben. Also auch im Internet. Amen. Ich gebe lieber anderen die Erlaubnis, mich zu bewerten, als mir die Freiheit, zu leben und mich auszudrücken, wie es mir gefällt. Statt Kunst zu machen, lerne ich die Kunst, mich zu verbiegen, faule Kompromisse zu machen und mein wahres Ich zu verstecken. Hauptsache, ich bekomme Likes und positive Kommentare. Ich bin abhängig vom Feedback und der Bestätigung durch andere. Ich bin zutiefst verunsichert, ob das, was ich bin und kann „gut genug“ ist - gut genug für andere. Lieber höre ich auf das Geschwätz und Geschnatter fremder Leute, als auf meine innere Stimme. Ich stelle nie in Frage, ob andere wirklich mehr über das wissen, was ich da tue. Ich kann unmöglich Ja zu mir selbst und zu meinem Können sagen, weil ich nicht gelernt habe, Nein zu gnadenlosen Kommentator*innen zu sagen. Lieber nehme die zerstörerische Wirkung toxischer Kommentare und öffentliche Demütigungen in Kauf, schlucke Abwertungen und Unterstellungen, als mich dagegen abzuschotten oder zur Wehr zu setzen. Weil ich es gewohnt bin, mich zu ducken. Wie im Leben. Also auch im Netz. Amen.

Überhaupt: Kritik ist wichtig. Sagen die Kritiker. Ich bin Lucky, ich schreibe, um des Schreibens willen, weil ich es einfach tun muss. Aber etwas um seiner selbst willen zu tun, gehört sich nicht. Ich sollte lieber „was draus machen“ und „erfolgreich“ damit sein. Das heißt, ich soll nicht sein, was ich bereits bin, sondern so werden, wie andere mich haben wollen. Rigide Kritik beschäftigt sich damit, dass ich „besser“ werde, statt damit, was ich bereits kann. Sie setzt mich stets einer Konkurrenz aus, der ich niemals standhalten kann: Es wird immer einen geben, der besser schreibt als ich. Große Künstler sind oft großartige Amateure, aber Kritiker tun so, als könne man Großartigkeit lernen, wenn man sich nur genug anstrengt. Ich soll nicht expressiv sein, was sich in meinem Innen befindet, ist sicher hässlich, entsetzlich mangelhaft und schämenswert. Das ist es, was harsche Kritik mir bestätigt: Du bist unwürdig, deine Träume zu verwirklichen. Versuch es also gar nicht erst. Gnadenlose Kommentatoren konzentrieren sich auf meine Schwächen, statt auf meinen inneren Reichtum. Kreativität ist in ihrem Grund rebellisch, doch Kritik und Häme führen zu Fügsamkeit und hindern mich daran, hervorzutreten und Tacheles zu reden, mich zu zeigen. Und das ist gut so: Wer bin ich schon, dass ich verlangen kann, wertgeschätzt und anständig behandelt zu werden? Womöglich habe ich doch nicht genug Talent. Im Leben, also auch im Netz. Amen. Es sind die Peitschen meiner inneren und äußeren Kritiker, die mich antreiben. Ich verdaue Abwertungen, das verächtlich machen meiner Texte, Infragestellen meines Könnens durch andere wie eine Geiß rostige Nägel. Ich nehme negative Meinungen meines Könnens als unumstößliche Tatsache hin. Ich öffne sämtliche Türen im Internet, damit jeder hereinspazieren und in arroganter Großherrenmanier vor mir verlangen kann, ich solle mich vor ihm erst einmal beweisen. Von Kindheit an musste ich mich vor Autoritätspersonen beweisen. Die Erwartungen anderer nicht zu erfüllen, ist sträflich. Kritik ist wichtig. Sagen die Kritiker. Das Leben ist eine Prüfung. Man muss ständig Leistung bringen. Andauernd. Täglich. Überall. Im Job. Zuhause. Im Internet. Mit jedem Text muss ich mich immer wieder neu beweisen. Wer Texte produziert, die für nicht gut befunden werden, ist ein Versager. Ein dummes Huhn. Ein Textschwein. Ich will nicht jemand sein, der nicht gelesen wird. Wer nicht gelesen wird, existiert nicht. Wer nicht existiert, kann nicht warten. Wer nicht warten kann, den bestraft das Leben. Oder Godot. Oder der Webmaster. Oder Pozzo … manchmal denke ich, es wäre besser, nicht auf Godot zu warten. Wie im Leben. Also auch im Internet. Amen.

Epilog:

 

Estragona: Und, was machen wir jetzt?

Wladimir: Noch einen Text posten?

Estragona: Nö.

Wladimir: Ins Forum?

Estragona: Seufz. Manchmal denk ich darüber nach, zu gehen.

Wladimir: Wir können nicht.

Estragona: Warum nicht?

Wladimir: Wir müssen warten. Auf Godot …

 

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Diese Story wird neben Ironie auch im Genre Kultur, Kunst, Literatur gelistet.