Storys > Drabbles > Liebe > Zweieinhalb Zentimeter

Zweieinhalb Zentimeter

99
1
13.09.18 08:06
6 Ab 6 Jahren
Heterosexualität
Fertiggestellt

Autorennotiz

Hi,
Dies ist eine Drabblegeschichte, bestehend aus 13 Kapiteln. Sie ist bereits fertig, daher werde ich die Kapitel täglich hochladen.

Zweieinhalb Zentimeter


1.
Alles begann mit einer Erbse.
Sie war unter den Küchenkasten gerollt, unbemerkt von allen Menschen. Sogar der Rauhaardackel hatte sie nicht erschnüffelt. Dieser war allerdings selten in der Küche.
So lag die Erbse da, tagelang, wochenlang. Die Zeit fraß tiefe Rillen in ihr grünes Antlitz. Sie war alleine, hatte keine Gesellschaft, bis auf den unvermeidlichen Staub, der sich bekanntlich an allen Stellen festsetzt, die für einen Menschen schwer zu erreichen sind.
Eines Tages jedoch änderte sich etwas. Die mittlerweile schon ziemlich verschrumpelte und vertrocknete Erbse bekam Gesellschaft.
Eine zweite Erbse landete auf dem Boden und kam neben ihr zum Liegen.

2.
Die Erbse war kalt, vermutlich kam sie geradewegs aus dem Schrank, in dem Menschen Dinge kalt aufbewahrten. Das erkannte die verschrumpelte Erbse an dem Wasser, welches auf der glatten Oberfläche des Neuankömmlings zu Boden rann.
Stille herrschte, die junge Erbse wachte gerade erst aus dem Schlaf der Kälte auf und die ältere hatte sich an die Stille gewöhnt.
Es wurde Nacht.
Unter dem Schrank betrachtete die ältere Erbse die jüngere. Glatt war ihre Haut und von einer frischen grünen Farbe. So jung und schön. Und etwas geschah, was die Erbse in ihrem einsamen Dasein nie vermutet hätte. Sie verliebte sich.

3.
Die Erbse sprach, als der Morgen kam.
„Wie lange bist du schon hier?“
Die ältere Erbse hatte die Nacht im wachen Zustand verbracht, hatte nicht einschlafen können, wie gebannt von der im schwachen Sternenlicht schimmernden Erbse, die immer noch still vor sich hindöste.
„Lange. Sehr lange. Ich liege schon so lange hier, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann, wann ich das letzte Mal gesprochen habe. Doch jetzt wird es anders. Jetzt endet die Einsamkeit.“
Es kam keine Antwort, nur ein Wippen. Die einzige Bewegung, zu der Erbsen in der Lage waren. Den restlichen Tag verbrachten sie im Gespräch.

4.
Ihre helle Stimme hatte ihn gefangen. In seinen Träumen lagen sie nebeneinander, seine vertrocknete Schale an ihrer glatten. Er war nicht wirklich alt. Er sah nur so aus. Es schmerzte ihn, wenn er daran dachte, dass sie eines Tages auch so aussehen würde, doch gleichzeitig wusste er, dass es ihm egal sein konnte. Er wollte immer bei ihr sein, sie beschützen. Ihre Farbe bewundern und ihrer Stimme lauschen.
Doch es gab ein Problem. Ein Problem, welches auf Menschen winzig erschien, aber für die Erbse war es alles. Das Problem hieß zweieinhalb Zentimeter. Die Entfernung, welche die beiden Erbsen voneinander trennte.

5.
„Ich komme von einem Feld. Unzählige Erbsen gab es dort. Wir spielten an den Fäden, die uns an der Schote hielten und lachten.“
Die Erbse erzählte gerne von dem Feld. Sie hatte es erst gesehen, als man sie aus ihrer Schale löste.
„Ich komme aus einem Haus. Auch dort gab es viele von uns, doch ebenso anderes Gemüse. Vor den Tomaten haben wir uns gefürchtet. Ihre Stimmen waren laut und unangenehm, und wir stellten sie uns immer als große gefährliche Monster da.“ Auch er hatte das Haus erst gesehen, als man die Schale löste. Doch es war sein Zuhause gewesen.

6.
Die Tage kamen und gingen. Die Schale der Erbse verlor allmählich ihre Glätte, erste Runzeln durchzogen den runden Körper.
„Die Menschen geben einander Namen“, erklärte sie. „Wir sollten dies auch machen.“
„Warum sollen wir die Sitten der Menschen übernehmen?“, fragte er. Es ergab keinen Sinn. Sie waren ja nur zu zweit. Warum braucht man da Namen?
„Ein Name ist etwas, was jedem eigen ist. Du hast einen Namen verdient. Denn du bist etwas Besonderes.“
„Wie heiße ich?“, fragte er.
Die Erbse wippte nachdenklich vor und zurück. „Simba“, entschied sie. „Ein sanfter Name.“
„Lucia“, antwortete er. „Denn du bist mein Licht.“

7.
Lucia und Simba näherten sich einander an. Nicht körperlich, immer noch trennten zweieinhalb Zentimeter ihre Körper. Doch geistig waren sie aufeinander eingespielt. Sie lachten und scherzten und nichts störte ihre Zweisamkeit unter dem Küchenkasten.
Mit den Tagen, die vergingen, veränderten sich ihre Antlitze. Inzwischen waren beide tief vertrocknet, mehr grau als grün, doch sie achteten nicht darauf. Allerdings machten sie oft Späße darüber.
„Wirst du bei mir bleiben, selbst wenn ich vertrocknet und grau bin?“, fragte Lucia eines Tages lachend.
Simba wippte belustigt. „Wenn du meinen Anblick erträgst, werde ich deinen auch ertragen“, antwortete er.
Und sie lachten beide schallend.

8.
Doch eines Nachts geschah etwas. Ein Tier krabbelte unter den Küchenschrank, ein schwarzes kleines Tier.
„Was haben wir denn da?“ Seine piepsige Stimme war nur schwer zu verstehen. Lucia und Simba wechselten einen entgeisterten Blick.
„Das muss ich der Königin erzählen, das muss ich erzählen.“ Die Ameise, denn so eine war es, die die Ruhe gestört hatte, machte sich in die Dunkelheit davon.
Und kehrte kurz darauf wieder zurück. Mit vielen anderen Ameisen.
„Was haben wir denn da, was haben wir denn da?“ Die Stimmen verdichteten sich zu einem schaurigen Chor.
Die Ameisen trugen die beiden Erbsen in die Dunkelheit.

9.
Zum ersten Mal seit langer Zeit sah Simba die Welt wieder. Die Ameisen trugen ihn mit einer Geschwindigkeit, die ihn zwar beängstigte, aber er war abgelenkt durch die Eindrücke, die auf ihn niederprasselten. Lucia wurde ebenfalls getragen, vor ihm. Simba konnte sie zum ersten Mal wirklich im Licht sehen. Ihre Schale war nicht mehr leuchtend grün, mehr ein trockenes graugrün, doch das, was Simba am meisten zu schaffen machte, war, dass sie zu zittern schien.
„Wohin bringt ihr uns?“ Ihre Stimme hatte nichts mehr von ihrer Weichheit, sie war schrill vor Angst. Und Simba wusste, dass sie in Gefahr waren.

10.
„Tragen euch in unser Nest, in unser Nest.“ Eine der Ameisen, die den Zug begleiteten, hatte auf die Frage der Erbse geantwortet.
Das Nest … Simba wusste nicht viel von Ameisen. Er kannte sie bloß vom Sehen, hin und wieder war eine unter den Küchenkasten gekommen, doch nie war er beachtet worden.
„Was habt ihr vor?“ Er versuchte, seine Stimme ruhig klingen zu lassen, doch Lucias Zittern nach gelang ihm das nicht.
„Unsere Jungen sind hungrig, sind hungrig“, sprach die Ameise, die ihn trug.
Und Simba wusste, dass ihm kein Ausweg blieb. Die Unfähigkeit, sich selbständig zu bewegen, machte sie angreifbar.

11.
Die Ameisen trugen sie durch mehrere Gänge, in denen tiefste Dunkelheit herrschte, bis sie plötzlich vor einem Gebilde stehenblieben. Hunderte Ameisen liefen auf dem Hügel herum. Die beiden Ameisen, welche die Erbsen schleppten, machten sich auf den Aufstieg und trugen ihre Gefangenen auf halber Höhe in einen Gang hinein.
„Simba. Ich habe Angst.“ Simba brach es das Herz, als er Lucia sprechen hörte. Zu gerne würde er sie trösten, ihr sagen, dass alles gut sei, dass sie einen Weg in die Freiheit finden würden. Doch er konnte nicht. Denn es wäre gelogen. So schwieg Simba, voller Angst und ohne Hoffnung.

12.
„Wir werden sterben.“
Diese Feststellung jagte der Erbse einen kalten Schauder über die Schale. Noch nie hatte er Lucia mit einer so hohlen Stimme sprechen hören.
Bevor er antworten konnte, warf ihn die Ameise plötzlich ab. Er kugelte mit einem Schrei in die Tiefe, sein Schrei vermischte sich mit dem seiner Geliebten. Am Grund der Grube prallten sie zusammen und blieben schließlich liegen.
„Es macht mich glücklich, dass du da bist“, sprach Simba. Seine Stimme stockte. Doch die Erbse quälte noch etwas. Er hatte sie spüren dürfen, einen kurzen Moment. Doch jetzt trennte sie wieder eine Entfernung von zweieinhalb Zentimetern.

13.
Die Ameisen kamen, als die Luft wärmer wurde. Die Erbsen wurden hochgehoben, beide schweigend, ihrem Schicksal ergebend. Getragen von den Insekten durchquerten sie den Ameisenbau, gelangten schließlich in eine Kammer, wo sie auf den Boden geworfen wurden und liegenblieben.
Die Ameisen fielen über sie her und Simba spürte, wie sie seine Schale durchbohrten. Ein Schmerz durchzog seinen Körper, welcher nicht von den Wunden herrührte, die die Ameisen schlugen. Lucia wimmerte und das Geräusch schnitt Simba ins Herz. Und die kleine Erbse versank in der Dunkelheit, starb schließlich, gefressen von den Ameisen.
Nur zwei Schalen blieben zurück. Zweieinhalb Zentimeter voneinander entfernt.

ENDE

Feedback

Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!

0
Larlysias Profilbild
Larlysia Am 10.06.2019 um 23:20 Uhr
Hi! Ich mag deine Drabblegeschichte sehr, sie ist mal etwas neues. Ich finde nur eine Sachen schade: Manche Sachen (wie z.B. das Ende) sind sehr voraussehbar!

Autor

Arduinnas Profilbild Arduinna

Bewertung

Eine Bewertung

Statistik

Kapitel: 13
Sätze: 114
Wörter: 1.385
Zeichen: 8.147

Kurzbeschreibung

"Alles begann mit einer Erbse. Sie war unter den Küchenkasten gerollt, unbemerkt von allen Menschen. Sogar der Rauhaardackel hatte sie nicht erschnüffelt."