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Erlkönigs Töchter am düsteren Ort

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19.10.22 16:31
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Erlkönigs Töchter am düsteren Ort

 

Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.

- 'Der Erlkönig', Johann Wolfgang von Goethe



Missmutig einen Blick aus dem Fenster werfend schraubt Jelena den Deckel auf ihre geliebte leuchtend rote Thermoskanne, die heißen Vanillecappuccino enthält. Eigentlich soll sie beim Klarinettespielen nichts Süßes zu sich nehmen, aber ohne ihr Lieblingsgetränk in der Hinterhand würde sie bei der Kälte und Dunkelheit keinen Schritt mehr vor die Tür machen. Ganz zu schweigen davon, dass die stundenlangen Orchesterproben kurz vor einem Konzert nur mit Extraportionen Zucker und Koffein zu ertragen waren. Sie stopft ihre Notenmappe und den Becher in den Rucksack und hängt sich den Instrumentenkoffer um. So bepackt, dazu in ihrer dicken Winterjacke steckend, würde sie sich auf dem Fahrrad äußerst unelegant fühlen, aber gerade als Dorfkind ohne Anbindung durch öffentliche Verkehrsmittel wusste sie nur zu gut, dass man nie früh genug anfangen konnte, sich kuschelig warm einzuflauschen. Jelena tritt in den dunklen Abend heraus, und beinahe sofort fühlt sie die Kälte wie Nadelstiche an ihren Fingerspitzen und dem Teil ihres Gesichts, der zwischen Wollschal und Mütze zu sehen ist. Immerhin hat der feine Nieselregen aufgehört, der sie die letzten Wochen begleitet hat, und der es, egal, wie gut sie sich einhüllte, immer schaffte, sich einen Weg in ihre angeblich wasserfeste Jacke zu bahnen und ihr eisig den Nacken hinunterzulaufen. Erleichtert registriert sie, dass auch ihr Fahrradsessel inzwischen getrocknet ist. Vielleicht würde die Fahrt doch nicht so ungemütlich werden. 

Weniger Erleichterung hingegen verschafft ihr die Erkenntnis, dass der Regen anscheinend schlicht mit einem ungemütlichen Nebel getauscht hat, der von der Landstraße aus auf die Einfahrt zuzukriechen scheint. Jelena zieht ihr Fahrrad unter der kleinen Überdachung hervor. Anzuschließen braucht sie es nie, hier kam sowieso kaum jemand vorbei. Den Schal noch fester um ihr Gesicht ziehend radelt sie in die Dunkelheit hinein. Im ruckelnden Licht ihrer Fahrradlampe versucht sie, den Erdbrocken auszuweichen, die häufig aus den Fahrrillen der Traktorreifen fallen und sich so über die ganze Straße verteilen. Bald jedoch wird es so schwer, auch nur ein paar Meter nach vorne zu blicken, dass sie sich aus Sicherheitsgründen ganz rechts hält. Der Wind pfeift ihr inzwischen trotz Mütze um die Ohren – er klingt in seinem Heulen und Brausen fast melodisch; doch der Nebel bewegt sich nicht, hängt kalt und undurchdringlich wie arktisches Eis zwischen Jelena und der Welt. Schließlich steigt sie sogar ab, um das Fahrrad zu schieben. Sie kann kaum die Hand vor den Augen erkennen – an das klischeehafte Sprichwort denkend versucht sie es wirklich und lacht über sich selbst, wie sie hier mit der Hand vor dem Gesicht durch die Dunkelheit läuft. Plötzlich stockt ihr aber das Lachen im Hals und vor Schreck hätte sie beinahe das Fahrrad fallen lassen. Hat sie eben durch ihre gespreizten Fingern eine Gestalt erblickt?

Vor Schreck atmet Jelena einen solchen Schwall der plötzlich unnatürlich eiskalten Luft ein, dass sie laut husten muss. Panisch hält sie gleich darauf die Luft an, um keinen Ton mehr von sich zu geben. Nur Stille um sie herum. Nichts zu sehen, immer noch nur das drückende Weißgrau. Sie verharrt still, damit ihr Fahrradlicht nicht schon wieder angeht. Einige Meter vor ihr scheint sich der Nebel vielleicht zu lichten – oder eine Düsternis aufzusteigen, die das Watteweiß verdrängt. Wiegen sich dort hinten tanzende Gestalten oder sind es die Bäume, die an manchen Stellen den Straßenrand zäumen? Nein! Es tanzt wirklich jemand. Frauen sind es, und als Jelena erkennt, dass deren wunderschönen Gewänder so durchsichtig sind wie die nebelfarbene Haut spürt sie weder Furcht noch Verwunderung. In unnatürlichen Drehungen und Biegungen des Körpers, die Arme mal zu lang, dann zu kurz, dann wieder mit zu vielen Gelenken ausgestattet bewegen die Frauen sich langsam und  stockend, doch rhythmisch, auf sie zu. In ihrem Kopf spielt eine Melodie, die, wenn auch unbekannt, Verborgenes in ihr berührt, und ohne sich dessen bewusst zu sein öffnet sie ihre Tasche und bald bauen ihre gefühllos gefrorenen Finger ihre Klarinette zusammen. Sie beginnt zu spielen, die Töne fallen aus dem Instrument in den endlosen Nebel und sie spürt, wie auch ihr Körper in Schwaden und Wolken sich zu winden beginnt.

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Kurzbeschreibung

3 x 222 Wörter | Über eine dunkle, neblige Landstraße radelt Jelena in die Stadt.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Horror auch im Genre Mystery gelistet.

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