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Ich war fünf, als ich ins Heim kam. Und fünfzehn, als ich wieder rauskam. Man könnte sagen, ich hab meine gesamte Kindheit im Heim verbracht, umgeben von Fremden. Einem Heim, das einem Heranwachsenden Sicherheit bieten sollte. Und das war auch sehr lange der Fall. Ihr müsst wissen, dieses Heim war in zwei Gruppen aufgeteilt – eine für die jüngeren und eine, in der man je nach Reife irgendwann zwischen zwölf und sechzehn kam. Bei mir war es mit vierzehn so weit. Dass dort ein vollkommen anderer Wind wehte, merkte ich schnell. Gefangen in Bürokratie und Routine war es der menschliche Aspekt, der zu kurz kam.
Doch das war nicht das schlimmste. Nicht das prägenste. Unter den vielen Betreuern, von denen jeder irgendwie seine eigenen Sonderheiten hatte, gab es einen, der hervor stach: Eike. Er machte sich einen Spaß daraus, uns Kinder öffentlich vor der Gruppe zu demütigen. Er beleidigte uns, machte Scherze, über die jeder lachen konnte, außer der Betroffene. Das tat er mit beinahe jedem und wäre das alles gewesen, würde ich heute mein Leben genießen und keinen zweiten Gedanken an den Wichser verschwenden, der mir vor einigen Jahren mal das Leben zur Hölle gemacht hat.
Aber es war nicht alles. Man muss wohl hinzufügen, dass er mich bereits länger im Visier hatte. Er hat auf jedes Wort geachtet, das aus meinem Mund kam. Hat mich vor der Gruppe verleugnet. War meine Mutter einmal zu Besuch, musste ich mir die nächsten Tage anhören, wie er zum allgemeinen Amüsement meine Mutter nachäffte.
Vor allem aber erinnere ich mich daran, wie er mir Brote schmiert. Ohne ersichtlichen Grund wies er mich an, statt mit der Gruppe in der Küche zu essen, mein Abendbrot auf dem Zimmer zu mir zu nehmen. Dafür schmierte er mir dann die Brote. Wenn ihr jetzt aber denkt, auf diesen Broten würde sich irgendetwas genießbar befinden, muss ich euch enttäuschen. Meerrettich. Extra dick geschmiert. Ich weiß garnicht mehr, wie oft ich wegen dieser Mahlzeit kotzend über dem Klo hing. Und das wusste Eike natürlich. Ein Grund mehr für ihn.
Irgendwann ging er dann zu weit. Wir waren wieder einmal aufgrund irgendeiner Banalität in Streit geraten. Im Laufe dessen kam es dazu, dass er mich so heftig Ohrfeigte, dass daraufhin meine Brille, die ich damals noch getragen habe, quer durch mein Zimmer gegen die Wand flog. Ab da fällte ich einen Entschluss: ich muss raus hier!
Ein sehr guter Freund aus diesem Heim redete bereits länger darüber, abzubauen. Einfach den Rucksack packen und sich verpissen. Ich habe das bisher immer als blödsinnig abgetan. Das hatte sich von diesem Augenblick an geändert. So kam es, dass wir uns noch am selben Abend auf den Weg machten. Wann genau die Betreuer gecheckt hatten, dass wir weg waren, weiß ich nicht. Und es ist mir ehrlich gesagt auch egal. Die erste Nacht verbrachten wir in der Papiermülltonne des Diners um die Ecke – was gemütlicher war, als es klingt; und vor allem hygienischer. Am nächsten Morgen nahmen wir den ersten Zug nach Berlin. Dort war es einfach leichter, in der Masse zu verschwinden.
Doch es dauerte nicht allzu lange, bis wir von der Polizei aufgegriffen wurden. Stundenlang saßen wir auf der Wache, bis Eike hereinkam. Dann machte er uns folgendes Angebot: da er sich sicher war, dass wir wenn wir wollten einfach an der nächsten Kreuzung aus dem Auto springen würden (was wohl der Wahrheit entsprach), überließ er uns die Entscheidung, jetzt mit ihnen zurück zu fahren oder unser Glück weiter auf den Straßen Berlins zu versuchen, wobei er erst um 22 Uhr erneut die Polizei rufen würde. Ich war mir sicher, dass dieses Angebot Teil seiner selbstgefälligen, sarkastischen Art war, und dennoch nahmen wir dieses Angebot sofort an.
So kam es, dass wir an diesem Tag insgesamt dreimal eine Polizeistation von innen sahen. Erst beim dritten Mal entschloss sich Eike, uns mit zurück zu nehmen, ohne uns vor diese Wahl zu stellen.
Wieder im Heim angekommen, war ganz große Aufregung. Wegen uns kam sogar die Chefin aus dem Urlaub. Das tat mir ehrlich gesagt schon etwas leid. Ich mochte sie nicht besonders, aber sie ist dennoch immer recht fair uns gegenüber gewesen. In dem Vier-Augen-Gespräch, das sie zeitnahe mit mir führte, nahm ich dennoch kein Blatt vor den Mund. Doch sie hörte das alles nicht zum ersten Mal. Oft habe ich mich über Eikes fragwürdige Erziehungsmethoden beschwert, doch dieser sorgte jedes Mal dafür, dass meine Glaubwürdigkeit noch unterirdischer waren als seine Qualitäten als Erzieher. Ich erzählte ihr, wieso ich abgehauen bin und dass ich nicht länger Teil hiervon sein möchte. Da ich bereits vierzehn war, durfte ich die Hilfe selbst beenden und genau das tat ich.
Ich kam zurück zu meiner Mom. Mittlerweile habe ich mich sogar halbwegs dran gewöhnt, "frei" zu sein. Das klingt weit hergeholt, ist aber wahr. Von Eike oder Projekt Q – so hieß dieses Heim – habe ich lange Zeit garnichts mehr gehört. Ich hatte dort noch einige gute Freunde und traf auch einige Kinder oder gar Betreuer manchmal in der Stadt. So erfuhr ich eines Tages, dass kurze Zeit nach der Beendigung meiner Hilfe, verbunden mit den Offenbarungen von Eikes Erziehungsmethoden, Eike dort gefeuert wurde und, soweit man weiß, mache er seitdem auch nichts mehr im sozialpädagogischen Bereich.
Diese Ereignisse haben mich stark geprägt und das wird sich wohl nicht mehr ändern. Dennoch kann ich am Ende sagen, dass Eike den Kürzeren gezogen hat – während ich demnächst eine gutbezahlte Ausbildung antreten, sieht jeder Arbeitgeber, bei dem er sich nun noch bewirbt, was er mir angetan hat.
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