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Am grauen Strand, am grauen Meer, und seitab liegt die Stadt

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19.10.22 16:12
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Die Träume ähnelten einander. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie begonnen hatte, das Muster wahrzunehmen, aber dann begann es, immer den gesamten Tag zu beeinflussen, ob sie wieder einen von „diesen Träumen“ gehabt hatte. Nach dem Aufwachen war sie zunächst erleichtert – den irgendwie waren es ja Albträume, die sie quälten, doch im Laufe des Tages begann sich immer eine paradoxe Sehnsucht einzustellen, die sie hoffen ließ, des Nachts von den gleichen Phantasien heimgesucht zu werden. Sie wunderte sich über sich selbst, konnte sich diese Mischung aus Furcht und Faszination nicht ganz erklären. Am erstauntesten war sie, als sie eines Abends, bevor sie sich in gespannter Erwartung ins Bett begab, das Fenster öffnete. Seit ihrer Kindheit, als ihre Mutter sie noch ins Bett gebrachte hatte, hatte sie nicht mehr mit offenem Fenster geschlafen, aber die Handgriffe, mit denen sie nun den Fenstergriff drehte und das Fenster in eine gekippte Position brachte, fühlten sich mechanisch und alternativlos an. Dabei konnte sie doch eigentlich nicht schlafen, wenn das Meeresrauschen in ihr Zimmer drang.
Im Gegensatz zu den meisten Menschen, die nahe eines Meeres aufwuchsen, ganz zu schweigen von denen, die sich wünschten, es wäre so, war sie keine Freundin der Ozeane. Möwenschreie und Wellenrauschen waren keine Musik für ihre Ohren, sondern nervige Hintergrundgeräusche, die sie am liebsten ausblendete, und den Duft, den viele als salzig und frisch bezeichnen würden, assoziierte sie mit totem Fisch und den Hinterlassenschaften der Möwen.
Genau dieser Duft zog aber von diesem Abend an jede Nacht in ihr Zimmer, und sie fühlte sich nicht wie sonst gestört, sondern schien nur umso schneller einschlafen zu können und in das Reich der Träume zu gelangen, die sie so fesselten.

Die Träume waren nicht einmal gestaltlich – sie konnte nicht aufwachen und mit Bestimmtheit sagen, wovon sie geträumt hatte. Es waren Geräusche, Stimmen und Farben, sowie ein seltsames Ziehen und Zerren das sie beängstigte wie erregte.
Es begann damit, dass eine Frauenstimme sie rief – oder ihr ein Lied sang, oder beides. Sie klang sanft und drohend zugleich und lockte mit Orten voller Blumen, vom Erwachen des Frühlings, von Wärme auf ihrer Haut. Sie konnte sich Bilder vorstellen, die ihren grauen Alltag, die graue Stadt, die Kieselsteine am Strand und das monochrome stahlfarbene Meer überdeckten und auslöschten. „Komm, erwache! Verlasse die Fesseln des Schlafes. Ich spreche mit der Stimme eines vormenschlichen Frühlings, von Blüten und Zeitlosigkeiten.“
Diese rätselhaften Worte waren es, die sie lockten und schreckten. Sie spürte die Ranken von Pflanzen, die sich um ihren Körper schlangen und mit einem kleinen Teil ihres Bewusstsein, dem klar war, dass sie schlief und träumte, nahm sie dies dennoch als so real war, dass sie fürchtete, aus dem Bett gezerrt zu werden.
„Komm', erwache!“
Immer wieder dieser Satz.

Sie wollte irgendwem von diesen Träumen erzählen, doch sie wusste nicht, wie. Wiederholte Träume, in der man von einer Stimme gerufen wurde, das bot zwar ein interessantes Gespräch an, aber dafür waren ihre Wahrnehmungen zu diffus. Die Pflanzen, der Blumenduft, die bunten Farben, die sie umschlungen und sie fortführen (und verführen) wollten, wie sollte sie das in Worte fassen? Und nach einer Weile mochte sie auch nicht mehr darüber sprechen, da langsam und schleichend ein Desinteresse in Leben zog, ein Desinteresse gegenüber jeder Kommunikation mit ihren Freunden oder Eltern, eigentlich ein Desinteresse überhaupt noch außerhalb dieser Träume zu existieren.
Sie hatte ihre Heimatstadt schon immer als grau und bedrückend empfunden, und das Meer, das so vielen Freiheit verhieß, war für sie ein Zeichen gewesen, dass sich Grau und Kälte über alles hinwegsetzten und bis in die Unendlichkeit erstreckten. Nun, da sie ihre bunten Träume hatte, schien ihr die Realität noch viel bitterer, und sie wünschte sie nichts sehnlicher, als in diese Welt fliehen zu können, so sehr sie auch von Furcht und Ungewissheit verschleiert wurde.

In der nächsten Nacht also fasste sie, bevor sie den Kopf auf das Kissen bettete, den festen Vorsatz, dem Ruf zu folgen, was auch immer das bedeuten möge. Wohl, weil sie auf Grund ihres Vorhabens so aufgeregt war, glitt sie diesmal nicht sofort in einen Schlummer. Stattdessen dämmerte sie in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen dahin, nahm die von draußen hereindringenden Geräusche viel zu deutlich war, um sich zu entspannen, und es war ihr, als lastete die Bettdecke mit unnatürlichem Gewicht auf ihrer Brust. Genervt entschloss sie sich, sich noch ein Glas kaltes Wasser zu holen, das sie vielleicht beruhigen würde, doch als sie sich aus dem Bett schwingen wollte, bemerkte sie zunächst verwirrt, dann verängstigt, dass das nicht möglich war. Der Druck auf ihrer Brust, der wohl doch nicht nur Einbildung war, verdammte sie zur Bewegungsunfähigkeit, auch das Atmen wurde ihr erschwert. Das konnte doch nicht real sein? War sie etwa eingeschlafen, ohne es gemerkt zu haben, und träumte nun?
Wie als Antwort auf ihre Frage ertönte die Frauenstimme, irgendwoher, aus ihrem Kopf oder draußen vom Meer her. „Die Antwort auf das Rätsel vor deinen Augen, wirst du in toten Blättern und fliehenden Himmeln sehen. Erwache und komm'!“
Wieder das Ziehen und Zerren, und eine Lust, als würden Federn über ihren Körper streichen. Doch konnte sie all dem nicht nachgeben, da sie auch mit immer größerer Deutlichkeit spürte, wie sie etwas in ihr Bett presste, und sie ihren ganzen Körper nicht rühren konnte.
Schließlich gelang es ihr, mit großer Mühe die Augen zu öffnen, und sofort wünschte sie, sie hätte es nicht getan.

Das Wesen, das sie auf ihrer Brust sitzen sah war grausam hässlich. Gekrümmt, klumpig, bucklig, hockte es über ihr und starrte ihr aus abstoßend gelben Augen direkt ins Gesicht. Sie wünschte sich, die Augen wieder schließen zu können, doch der starre Blick fesselte sie. Zitternd wurde ihr bewusst, dass dieses Ding anscheinend versuchte, zu ihr zu sprechen. Als es den Mund öffnete, erfüllte modriger Geruch den Raum und eine raue Stimme ihr Wahrnehmen.
Der Jugend Zauber für und für
Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
Du graue Stadt am Meer.


Mit den Worten des Monsters noch im Kopf wachte sie auf. Erleichtert sah sie, dass schon das erste blasse Sonnenlicht durch das Fenster hereindrang, doch war ihr immer noch mulmig zu Mute. Was war denn das gewesen? Mit der Hoffnung, einer lockenden Stimme folgen zu können, war sie eingeschlafen, stattdessen hatte sie diesmal eine andere Stimme gehört, die sie nicht fortrief, sondern zum Hierbleiben verdammte. Das Gedicht kannte sie sogar – es war von Theodor Storm, und er sprach von einer Stadt, die so klang, wie sie die ihre wahrnahm. Grau in Grau in Grau. Doch während der bekannte Dichter sich letzten Endes versöhnlich zu seiner Heimatstadt äußerte, war sie nicht ganz der Meinung, dass auf ihrer Stadt „der Jugend Zauber ruhte“, und schon gar nicht lächelnd.

Missmutig ging sie in den Tag. Statt des erwünschten Traumes von Gesang, bunten Farben, Pflanzen und Sehnsucht war ihr ein ekelhaftes Monster erschienen, dass sie daran erinnerte, in welch hässlicher Stadt sie lebte, und wie unwohl sie sich dort fühlte.
Als ihre Freundin sie in der Schule auf ihre schlechte Laune ansprach, erzählte sie, all die vorhergehenden Träume verschweigend, vom Erlebnis der vergangenen Nacht, erwähnt aber ebenfalls nicht, wie sicher sie sich gewesen war, wach zu sein, als die Gestalt auf ihr saß. Nach kurzem Überlegen lachte die Freundin auf, was nicht ganz die Reaktion war, die sie erwartet hatte. „Wow, anscheinend kann Schule tatsächlich Albträume verursachen, wer hätte das gedacht?“ - „Schule, was meinst du jetzt damit? Wie einer unser Lehrer sah' das Monster gewiss nicht aus. Naja, das heißt, vielleicht ein wenig wie Herr Wilhelm ...“ Beide kicherten beim Gedanken an den Sportlehrer. „Ich meine auch nicht unsere Lehrer, aber erinnerst du dich nicht, an das Bild, das wir vor einigen Wochen in Kunst analysiert haben? Der Nachtmahr von …. irgendwas mit „Fuß“, oder so. Da hockte auch ein Monster auf der Brust einer schlafenden Frau. Wahrscheinlich hat dich das unterbewusst so beeinflusst, dass du davon geträumt hast.“
„Hm. Damit könntest du recht haben, das wäre echt eine gute Erklärung ...“
Doch sie fragte sich immer noch, was denn dann die seltsame singende Frauenstimme zu bedeuten hatte.

Gegen Mittag machte sie sich auf den Heimweg. Wie immer lief sie alleine – keine ihrer Freundinnen musste in die gleiche Richtung, da keine so nahe am Meer wohnte. Natürlich beneideten sie alle, und sie konnte noch so oft erklären, dass ihr Ozeane hauptsächlich Unbehagen einflösten, und sie viel dafür geben würde, eher innerhalb der Stadt zu wohnen. In letzter Zeit, seit sie auch mit offenem Fenster schlief, war ihr der tägliche Nachhauseweg viel weniger unangenehm geworden. Zwar brach sie beim Anblick der grauen, grauen See nicht in Jubel aus, aber ein gewisses Gefühl des Zuhause-Seins hatte sich einzustellen begonnen. Heute war das besonders intensiv. Der Wind und die Wellen rauschten und als abseits dessen noch ein anderes Geräusch an ihre Ohren drang, fuhr sie erschrocken und ungläubig zusammen. „Es gibt eine Heimat, ruhig und sicher. Lebe den Text des Liedes, das nur du verstehst.“
Es war die Stimme aus ihren Träumen! Ab diesem Moment war es ihr nicht mehr möglich, rational über all das Nachzudenken, oder sich auch nur zu fragen, ob sie sich das vielleicht nur einbildete. Mit dem Erklingen des Gesangs hatte sich ein bunter Schimmer über die graue Stadt gelegt. Sie hatte Ahnungen eines anderen Ortes, eines bunteren und lebendigeren, der ihr geben konnte, was peitschende Wellen und Betonfassaden nicht vorwießen. Doch warum dieser Ort ausgerechnet unter dem ihr so verhassten Meer liegen sollte, hinterfragte sie gar nicht, als sie sich mit schlafwandlerischer Sicherheit in das Meer lief. Die Wellen umfassten und umwogten sie wie das Drängen aus ihren schönsten Träumen und ihr Körper war bereit, jede Liebkosung des Salzwassers zu empfangen, während sie langsam so tief sank, dass das schwache Licht der Sonne nicht mehr an ihre tot starrenden Augen drang.

Irgendwo in einer Zwischenwelt säuselte eine Sirene einem Nachtmahr ein triumphierendes „Das Menschenkind gehört uns!“ zu, doch der war nur wenig ärgerlich. Es würde noch genug geben, die sich statt von Wellen von Albträumen verschlucken ließen.

Autorennotiz

Der Titel und das kursive Zitat stammen aus "Die Stadt" von Theodor Storm, das erwähnte Nachtmahr-Bild ist von Johann Heinrich Füssli und die Zitate im Gesang der Sirene sind aus dem Lied "Élan" von Nightwish.

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Die Träume waren nicht einmal gestaltlich – sie konnte nicht aufwachen und mit Bestimmtheit sagen, wovon sie geträumt hatte. Es waren Geräusche, Stimmen und Farben, sowie ein seltsames Ziehen und Zerren das sie beängstigte wie erregte.