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Eisinsel (Teil 8): Rückkehr

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13.01.24 15:40
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt

Die Bastion begrüßte sie grau und verwittert, ganz so wie am Tag ihrer Abfahrt. Niedrige Wolken überschütteten sie mit großen Flocken, vom Meer wehte kalter Wind gegen das Land. Der Winter hatte den Norden Kâneggs noch immer fest im Griff.
Der Fischer fiel tatsächlich auf die Knie, als seine Janta rumpelnd im Kies aufsetzte, den Rumpf behangen mit Muscheln und Seegras, die Segel zerrissen, die Reling angebrochen, ansonsten jedoch unversehrt.
Bis auf Jonoy und Gillok, dessen Bein von oben bis unten bandagiert war, legten die Gefährten den Weg zur Residenz zu Fuß zurück. Wieder fingen sie sich die Blicke der Einwohner ein. Kein Wunder: Auf ihren Gesichtern prangten Blutergüsse und Schwellungen. Sie hinkten, lahmten und bewegten sich so steif, als wären ihre Gelenke eingerostet. Trotz der kräftigenden Mahlzeiten und des belebenden Weins auf dem Schiff waren sie sichtlich abgemagert. Unübersehbar war die Müdigkeit in ihren Mienen.
Nicht gerade ein Triumphzug, dachte Ylaiy.


Am nächsten Abend empfing die Drana’sora sie zu einem gemeinsamen Mahl, da die Kaiserin am Morgen zur Hauptstadt aufbrechen wollte.
Gefährten und Kinder fanden sich zur siebten Stunde in dem Saal ein, in dem sie schon einmal zusammengesessen hatten, diesmal in hoffnungsvollerer Stimmung, aber bei Weitem nicht so gelöst, wie sie es vielleicht gewesen wären, hätte Urdat Vei nicht mit ihnen am Tisch gesessen.
Der silberhaarige Offizier ragte aufrecht wie ein Stock am Tafelende empor, labte sich, unbeeindruckt von den hasserfüllten Blicken der anderen, an Speisen und Getränken. Als er satt war, warf er sein Tischtuch auf den Teller und grunzte zufrieden. „Nicht schlecht, Schwägerin“, sagte er. „Ihr versteht es, selbst hier draußen für ein gewisses Niveau zu sorgen.“
„Freut mich, dass die Auswahl Euren Geschmack traf“, erwiderte die Kaiserinschwester eisig.
„Nur, dass einige Gäste nicht zur Erlesenheit des Essens passen wollen“, fügte Sila hinzu. Provozierend starrte sie ihrem Vater ins Gesicht.
Dieser fuhr hoch. „Du erdreistest dich? Sei froh und dankbar, dass man dich teilhaben lässt. Personen deines Standes fressen gewöhnlich in irgendeinem Küchenwinkel.“
Sila wollte aufbegehren, wurde jedoch von ihrer Mutter zurückgehalten, während Vei verlangte, dass sie zur Rechenschaft gezogen werde.
Die Kaiserinschwester schaute ihn lange an, das Kinn nachdenklich im Kragen ihres Kleides vergraben. Dann bat sie ihren Sohn, die anderen Kinder in seine Gemächer zu führen und sie dort zu unterhalten. Yvain kam der Bitte ohne Zaudern nach, komplimentierte Bada, Kian und Arlen in vollendeter höfischer Eleganz hinaus.
Sobald die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, wandten alle Augen sich Vei zu. Nur die Kaiserin musterte die Speisen, die sie kaum angerührt hatte.
Unter dem Hagel düsterer Blicke machte sich sichtlich Unbehagen auf seiner auffallend glatten Stirn breit, das er mit einem abschätzigen Lächeln zu kaschieren suchte.
„Es ist ein offenes Geheimnis, dass ich Euch von Anfang an nicht ausstehen konnte, Vei“, begann die Hausherrin bedächtig mit aneinandergelegten Fingerspitzen. „Ich weiß, dass dies auf Gegenseitigkeit beruht.“
„Habt Ihr deshalb Eure Heimat verlassen und Euch in der Provinz niedergelassen, Gnädigste? Wegen mir?“
Allein für die übertriebene Betroffenheit wollte Adiv ihm die Faust ins Gesicht schlagen. Sila ebenso, ihrem verkniffenen Antlitz nach zu urteilen.
Die Kaiserinschwester reagierte mit einem Lächeln. „Nein, Schwager. Ihr wisst so gut wie ich, dass ich wegen eines Mannes hierher kam, den meine Familie nicht billigte. Nicht ganz zu unrecht, wie ich heute zugeben muss. Sagen wir, Eure Anwesenheit bei Hofe erleichterte mir die Entscheidung. Ich hielt Euch für einen Ehrgeizling, einen Mann, der seine Seele verkaufen würde für den Aufstieg in die obersten Ränge der Macht. Was ich nicht wusste, war, welch niederträchtiger Lump Ihr wirklich seid.“
„Wärt Ihr ein Mann, forderte ich Euch umgehend zum Kampf“, knirschte er.
„Wärt Ihr ein Mann, ein echter Mann, hättet Ihr Eure Kraft gebraucht, um eine Familie zu ernähren oder einem ehrlichen Handwerk nachzugehen, statt sie in Gewalt gegen Frauen und Mädchen umzumünzen.“
Schäumend sprang er auf. „Ihr wagt es!“
„Ich wage es.“
„Ich werde Euch hinrichten lassen! Das ist Hochverrat!“
„Ihr gehört nicht zur kaiserlichen Familie. Ihr sitzt nicht auf dem Thron“, gab die Drana’sora ruhig zurück. „Hochverrat an Euch kann es nicht geben. Außerdem fehlt Euer Leitender Inquisitor. Wie ich hörte, wart Ihr an seinem Tod nicht ganz unbeteiligt. Wie ich hörte, wusstet Ihr von dem Eisriesen und dessen Plänen. Das, mein Lieber, ist Hochverrat. Ich sollte Euch in die Boragha werfen lassen.“
„Ein Freudentag für manchen Insassen“, warf Adiv ein.
„Pff. Das würde niemals gelingen. Ich habe mächtige Verbündete.“
„Mächtiger als ich, Gemahl? Welcher Eurer Freunde würde es wagen, das Wort der Kaiserin anzuzweifeln? Eine Palastrevolte anzuzetteln?“
Unter dem Blick der stahlgrauen Augen sank Vei auf seinen Stuhl nieder und lächelte. „Ihr stellt Euch also gegen mich, Gemahlin? Es stünde Euch nicht gut zu Gesicht. Vergesst nicht, Ihr seid ein Weib. War das nicht der Grund, mich zu ehelichen? Weil es alleinstehende Frauen sehr schwer haben in der Welt, auch wenn sie reich und einflussreich sind? Weil es Ratgeber und Kriegstreiber, Botschafter und Diplomaten eher beeindruckt, wenn ein Mann die Verhandlungen führt?“
„Nur vordergründig. Die Fäden halte ich in der Hand.“
Er lachte auf. „Glaubt Ihr? Habt Ihr eine Ahnung, wie leicht ich Euch täuschen kann?“
„Meint Ihr Eure Affären? Eure unehelichen Kinder? Den geheimen Krieg auf Kânegg entgegen meines ausdrücklichen Verbots? Davon weiß ich. Oder meintet Ihr die Schändungen? Die Folterungen, die Qualen, die Ihr so gern anderen zufügt? Frauen vor allem? Davon, das muss ich gestehen, wusste ich nichts. Möglicherweise habe ich es geahnt all die Zeit und alles getan, um es nicht zur Gewissheit werden zu lassen.“
Er schnaubte. „Gerüchte. Mehr nicht.“
„Er zieht es vor, seinen Opfern nicht ins Gesicht zu sehen“, sagte Rana mit einer Stimme, die aus weiter Entfernung zu kommen schien. „Nicht vorher, nicht danach und vor allem nicht dabei.“ Das letzte Wort spuckte sie aus. „Gern drückt er ihnen die Kehle zu, sodass sie nicht atmen können. Er kam immer am Morgen, noch vor der Dämmerung. Machte Aan wach, schickte sie hinaus. Er hasste ihr Schreien. Sila hingegen weinte nie. Sie sah ihn nur an. Ihr Blick war ihm unheimlich. So hatte ich endlich Ruhe. Meistens jedenfalls. Ich konnte nicht verhindern, dass ich ihm ab und zu über den Weg lief.“
Die anderen saßen unbeweglich, wagten es kaum, einander anzusehen. Sila hockte wie betäubt auf ihrem Stuhl und starrte mit blinden Augen auf die Wand. Ylaiy hatte unter dem Tisch seine Hand auf ihr Bein gelegt. Sie hielt sie mit eiskalten Fingern umfasst, als wäre sie ein Rettungsanker.
Rana berührte ihre Tochter wehmütig an der Wange. „Ich hasse ihn, wie ich keinen anderen Menschen hasse“, sagte sie. „Dennoch bin ich dankbar.“
Ylaiy zog die Brauen hoch und blinzelte. Dann sah er Sila an. „Ja.“
„Ihr glaubt diesem Weib?“, presste Vei zwischen weißen Lippen hervor.
„Jedes Wort“, erwiderte Ylaiy.
Alle nickten, auch die Kaiserin.
„Ihr seid verrückt. Alle miteinander. Beweisen könnt Ihr gar nichts. Kein Gericht der Welt verurteilt mich aufgrund der Aussage einer Dienstmagd.“
„Vei“, sagte die Kriegerin.
Unwirsch fuhr er herum. „Was?“
„Erinnert Ihr Euch an ein Mädchen in Frarn? Eine Einheimische, ein oder zwei Jahre älter als Euer Neffe?“
Er schnaubte. „An ein Kind?“
„Ein Kind, das Ihr in die Sümpfe werfen ließet, wohl wissend, dass es nicht überleben würde.“
Erneut senkte sich Stille über die Anwesenden. Urdat Vei betrachtete die dunkelhaarige Frau mit der halb verheilten Narbe, die ihm mit unbewegter Miene in die Augen sah. Sein Adamsapfel bewegte sich krampfartig, als er begriff. „Das wart Ihr? Das kann nicht sein! Das Mädchen war … tot, als wir es … Ich war nicht daran beteiligt. Jodanams Jungs hatten ihren Spaß.“
„Ihr standet dabei und lachtet. Wisst Ihr, ich habe das Meiste der Misshandlungen längst vergessen. Es sind kaum Narben zurückgeblieben, Gillok hier stellte sicher, dass ich gut und schnell versorgt wurde, nachdem er mich ins Dorf geschleppt hatte. Was ich nicht vergessen konnte – niemals - war Euer Anblick. Ich wusste bis vor Kurzem nicht einmal, dass Ihr es wart, der sich vor Lachen bog und seine Kameraden zu immer grausameren Spielchen anstachelte. Ich ertrug sie alle, selbst das Wasser, das sie mir in den Mund schütteten. Mehr Wasser, als ich trinken konnte, so viel, dass ich mir in die Hosen machte nach all den Stunden. Das war schlimm. Die Scham, versteht Ihr?“
Urdat Vei hing wie die anderen an ihren Lippen, gebannt von dem Zorn, der hinter ihrer beherrschten Stimme und ihrer stoischen Haltung loderte.
Adiv hatte Tränen in den Augen. In Akims Gesicht stand so viel Traurigkeit, dass es gealtert schien. Gillok saß neben seiner einstigen Kindheitsfreundin, augenscheinlich mit Erinnerungen kämpfend.
„Ihr habt das ausgekostet. Die Erniedrigung, die Hilflosigkeit, denn das ist es, was Euch antreibt, was Euch Lust verschafft. Für mich hatten die anderen Soldaten keine Gesichter. Sie waren gewöhnliche Männer, rau und bösartig. Niemand hielt sie zurück. Sogar ihr Kommandant schaute zu. Ich kannte ihn, sah ständig zu ihm, weil ich dachte, er müsse mir helfen. Er wirkte unglücklich, fast schon mitleidig, aber er griff erst ein, als das Ganze eskaliert war. Ihr hingegen, Ihr habt es genossen. Man sah Euch die Erregung an. Für Euch hätte es ewig so weitergehen können, nicht wahr? Doch in dem Moment, in dem ich Jodanam biss, war es vorbei.“
„Ihr seid verrückt“, sagte Vei mit hoher Stimme.
Werft sie weg“, mischte sich Gillok ein. „Das ist es, was Ihr gesagt habt. Vor dem Tor. Ihr wandtet Euch um und gingt hinein, als wäre nichts geschehen. Ihr wart der Befehlshaber, nachdem Jodanam verletzt war. Und Ihr habt einen Mord befohlen. An einem Kind.“
„Unsinn!“, schrie Vei mit hoher Stimme.
„Wollt Ihr drei Aussagen in Zweifel ziehen?“, fragte die Drana’sora.
„Eine Dienstmagd, zwei Sumpfratten. Niemand wird ihnen glauben.“
„Ich glaube ihnen“, entgegnete Ylaiy.
„Und wer seid Ihr schon? Der Glücksprinz! Der Büchernarr, den kaum jemand außerhalb der Palastmauern kennt. Was könntet Ihr wohl ausrichten?“
„Euch verurteilen.“
Urdat Vei schnaubte, aber ein Hauch von Zweifel kroch in seine eisgrauen Augen.
„Hochverrat, Vergewaltigung, versuchter Mord“, zählte Ylaiy auf. „Das sollte für ein Leben hinter Gittern reichen. Bis zur Verhandlung nehme ich Euch in Gewahrsam.“
„Was? Wer seid Ihr, dass ihr Euch anmaßt…“, begann der General und stieß die Soldaten von sich, die plötzlich in den Saal gestürzt kamen.
„Ihr solltet Euch nicht widersetzen, Gemahl“, empfahl die Kaiserin. „Das mindert Eure Aussichten vor Gericht. Oh, und begrüßt den neuen Inquisitor. Ich habe ihn soeben ernannt.“
Ylaiy verbeugte sich formvollendet vor seinem Stiefvater, der ächzend in den Stuhl sank, doch nur so lange, bis die Wachen ihm Fesseln umgelegt hatten und aus dem Saal führten.
„Vei“, rief die Kriegerin ihm hinterher. „Selbst, wenn es dir gelingt, zu fliehen: Eine von uns wird dich finden. Auf die eine oder andere Art.“
„Es wird Wochen dauern, bis ihm der Prozess gemacht wird“, seufzte die Kaiserin, nachdem Vei abgeführt worden war, „und die Gerüchteküche wird brodeln wie niemals zuvor. Ämter müssen wieder besetzt werden, ein neuer Oberbefehlshaber ernannt. Es wird Anklagen gegen Veis Verbündete geben. So wir sie denn finden. Uns erwarten Chaos und Umsturz.“
„Wir schaffen das schon“, beruhigte sie Ylaiy.
„Sicher“, antwortete sie und erhob sich wie eine alte Frau. In diesem Augenblick begriff Ylaiy, dass ihre Tage gezählt waren. „Aber es wird schwer und langwierig werden. Und nun entschuldigt mich bitte. Ich werde meine Gemächer aufsuchen. Die morgige Heimreise wird anstrengend.“
Ylaiy geleitete seine Mutter hinaus, überließ sie der Obhut ihrer Lakaien. Die Kaiserinschwester ging ihr nach, um sicher zu stellen, dass sie zu ein wenig Schlaf fand und um nach den Kindern zu schauen.
Der Thronfolger kehrte in den Saal zurück, begab sich an Silas Seite. Er wirkte ermattet und nachdenklich, aber auch zufrieden. „Ihr müsst euch keine Sorgen machen. Ich verspreche, ihn für seine Schandtaten zu verurteilen. Syriakins Warnung tut ein Übriges.“
Die Sumpffrau nickte. „Von nun an lebt er in Furcht. Bald wird er hinter jedem Schatten einen Meuchelmörder sehen. Zu viele Menschen wollen seinen Tod. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis einer ihn zur Rechenschaft zieht.“
„Wirst du es sein?“, fragte Adiv geradeheraus.
„Ich denke, mir genügt es, ihn ab und zu daran zu erinnern, dass ich noch da bin. Furcht kann einem das Leben stärker verleiden als der Tod.“
„Das klingt grausam.“
„Erniedrigung und Demütigung sind grausamer.“
„Hast du es mit dem Wirt ähnlich gemacht? Lebt er von nun an in beständiger Angst?“
Haltung und Stimme der Kriegerin wurden wachsam. Ihr Gesicht verschloss sich. „Wer sagt, dass ich es war?“
„Wer sonst?“
Syriakin antwortete nicht. Sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück. Ein bitteres Lächeln spielte um ihren Mund.
Die Diebestochter biss sich auf die Lippen. „Es tut mir leid. Bitte... Aber ich hatte angenommen… Es geschah in derselben Nacht. Und es…“
„Erinnerst du dich an den Besuch im Wirtshaus?“, unterbrach Syriakin Adivs Gestammel.
„Nun… Ja. Es war kalt und du hattest diesen Tisch am Feuer und einen Krug Bier vor dir…“
„Dünnbier. Einem Menschen, der an Alkohol gewöhnt ist, hätte es nichts ausgemacht. Mich machte es müde.“
„Du meinst…“
Syriakin stützte sich auf ihre Handflächen, als wolle sie sich erheben. „Ich meine, ich wollte müde werden. Und ich schlief in jener Nacht.“
„Ihr hättet mich nach Gyoth fragen können“, warf Ylaiy ein, doch der Scherz prallte an ihr ab.
„Ich habe das Wirtshaus nicht angezündet.“
„Gillok?“, murmelte Akim und sah den Sumpfmann an.
„Nein. Nein. Ich war damit beschäftigt, mich für die Reise vorzubereiten und in das Boot zu gelangen.“
„Gillok ist anständig“, sagte die Kriegerin. „Ihr dürft ihm getrost Glauben schenken.“
„Ich glaube auch dir“, versicherte Adiv und zog sie auf ihren Stuhl zurück. „Es tut mir leid. Das war dumm von mir.“
„Wer war es dann?“, fragte Gillok.
„Möglicherweise ein Zufall“, versetzte Syriakin.
„Du glaubst nicht an Zufälle.“
Sie zögerte, schenkte Ylaiy einen beinahe entschuldigenden Blick. „Ich denke, dass es Eure Tante war. Einer ihrer Diener.“
„Was? Wie kommt Ihr darauf?“
Die Kriegerin zuckte mit den Schultern und hüllte sich tiefer in ihren Mantel, als ein Windstoß in den Kamin fuhr und ihnen Asche entgegen wirbelte. „Die Art, wie sie mit mir sprach, glaube ich. Bei der Abreise. Sie warnte mich vor Rache, als wüsste sie bereits, was geschehen war. Bedenkt, mit welcher Inbrunst sie dem Wirt gegenüber auftrat.“
„Ihr wart ihr Gast“, sagte Ylaiy.
„Mehr noch. Ich war eine Frau. Allein in einer fremden Stadt.“
„Du glaubst, sie empfand Mitleid mit dir?“, vergewisserte sich Adiv.
„Ich glaube, sie sah viele Gemeinsamkeiten.“
„Aber sie ist reich, mächtig, von Dienern umgeben. Sie ist eine Herrschende.“
„Du hast Vei gehört. Sie bleibt ein Weib.“
„Sollen wir sie fragen?“, krächzte Jonoy von seiner Liege herüber.
„Wozu?“, gab die Kriegerin zurück und griff nach einem Stück Brot. „Die Sache ist längst vergessen. Belassen wir es dabei. Oder wollt Ihr ernsthaft das schöne Bild beschädigen, das Ihr Euch von unserer Gastgeberin gemacht habt?“ Beim letzten Satz wurde ihr Tonfall hörbar weicher, brachte die anderen zum Schmunzeln.
„Ein Mann sollte eine Frau bewundern dürfen, ohne dass man sich über ihn lustig macht“, erwiderte der Schmied gespielt gekränkt.
Gillok drückte unauffällig die Hand seiner Kindheitsfreundin, die auf ihrem Brot kaute und merklich entspannter aussah.
„Ich verstehe es nicht.“ Der Prinz sah sie alle der Reihe nach an.
„Das ist mal etwas Neues“, gab Adiv zurück.
„War denn nun alles geplant? Syriakin meinte, der Plan hätte vor einem Vierteljahrhundert begonnen. Wessen Plan? Der des Norogdún?“
„Wessen sonst? Was meint Ihr?“ Sila schüttelte verwirrt ihre blonden Strähnen.
„Nun, ich habe in den letzten Tagen wieder und wieder an den Blaukopf gedacht. Über das, was ihr mir über ihn erzählt habt. Aber ich werde nicht schlau daraus.“
„Er entführte die Kinder, um mit ihrer Hilfe das Reich zu erobern. Um an Blut zu kommen, sein Leben zu verlängern.“
„Das meine ich nicht.“
„Was dann?“
„Uns. Wie passen wir in die Geschichte? Warum sind unsere Leben, unsere Vergangenheit miteinander verknüpft? Warum war es ausgerechnet uns vergönnt, ihn zu töten?“
„Es war uns nicht vergönnt“, widersprach Syriakin. „Wir haben gekämpft und gewonnen.“
„Ich bitte Euch!“ Der Prinz nahm behutsam Silas Hand aus der seinen, neigte sich vor und fing den Blick der Kriegerin ein. „Hand aufs Herz. Habt Ihr am Anfang wirklich daran geglaubt, die Kinder heil zurückzubekommen? Nachdem Ihr über die Zaubereien, die Vogelmenschen wusstet? Nachdem die Leichen sich aufgelöst hatten? Eine Fahrt ins Ungewisse mit Menschen, die Ihr nicht kanntet? Einige davon Erzfeinde? Habt Ihr allen Ernstes daran geglaubt?“
Sie starrte ihn an, während sie langsam kaute. „Nein.“
„Seht Ihr…“
„Aber das spielt keine Rolle. Damals nicht und heute nicht. Wir haben getan, was wir tun mussten und tun konnten. Alles andere ist nebensächlich.“
„Wollt Ihr nicht wissen, wie alles zusammenhängt?“
„Das tun wir doch. Eure Freundin hat es gerade erklärt.“
„Aber es erklärt uns nicht! Es erklärt nicht, warum ich am selben Tag geboren wurde wie die Frau, deren Kind mit meinem Vetter verschwand. Es erklärt nicht, wieso Ihr am Tag meiner Geburt beinahe gestorben seid. Demselben Tag, an dem der Blaukopf Chada in der Wüste töten wollte und Jonoy seine Träume erlangte.“
„Zufall.“
„Ihr glaubt nicht an Zufälle! Kommt schon! Den Plan mit den Kindern mag der Norogdún mit seinen Anhängern geschmiedet haben, aber all das liegt kaum länger als sechs Jahre zurück. Was mit uns passierte, geschah lange vorher! Wie passen Adivs Eltern in die Geschichte? Waren sie Verbündete Chadas? Gab es eine Gruppe von Leuten, die den Blaukopf bekämpften? Im Geheimen? Die sich über Inseln hinweg verständigten? Sind wir alle Teile eines riesigen Mosaiks?“
„Wir sind alle Teil des Lebens, Ylaiy“, sagte Jonoy. „Mit all seinen verschlungenen Wegen und wundersamen Verwicklungen. Ihr könnt es nicht beherrschen. Niemand vermag das. Selbst der Blaukopf hat das am Ende eingesehen.“
Der Thronfolger verschränkte die Hände vor dem Mund, kaute nachdenklich auf zwei Fingerspitzen. „Tut mir leid, aber das reicht mir nicht, alter Freund. Ich werde weiter forschen. Irgendwann finde ich heraus, wie alles zusammenhängt.“

„Du weißt, welchen Namen sie verdient hat?“
Syriakin nickte, ohne zu zögern. „Ciycain.“
Adiv blickte erst Akim, dann Ylaiy erstaunt an, bevor sie sich an die Kriegerin wandte. „Was bedeutet das?“
„Walruferin. Sinngemäß.“
Die Diebestochter drehte sich nach dem Mädchen um, das mit den anderen Kindern um Jonoys Lagerstatt saß und sich vor Lachen über dessen Geschichten bog.
„Bada? Sie hat doch schon einen Namen.“
Gillok übernahm die Erklärung. „In unserem Volk verdient man sich seinen Namen. Den Namen, den Kinder bei der Geburt erhalten, legen sie im Laufe ihres Lebens ab. Bei uns wartet man, bis er sich einstellt.“
„Dann hat der Geburtsname keine Bedeutung?“
„Meist benennen wir die Kinder nach der Zeit, in der sie geboren wurden. Bada kam im Frühling zur Welt, in der Woche, in der die Sümpfe aufblühen. Als Syra mit ihr niederkam, erwachten um sie herum die Sumpfrosen zu neuem Leben. Deshalb nannte die Hebamme die Kleine Bada. Das bedeutet Rose.“
„Nicht Syriakin hat den Namen gewählt?“
„Nein. Darüber entscheiden die Großmütter, die bei der Geburt helfen. Nur war Syras Mutter bereits verstorben, deswegen half eine Geburtskundige des Dorfes.“
Adiv runzelte die Stirn. Ihre Augen blinzelten neugierig. Die Kriegerin wusste, welche Frage als Nächstes kommen würde und nahm die Antwort vorweg. „Diran. Ich kam als Diran zur Welt.“
„Ist das auch ein Gewächs?“
Gillok lachte auf. „Nein, Diran ist der Regen. Genauer gesagt, ein Regentropfen. Dasselbe Wort wie für Träne. Am Tag ihrer Geburt regnete es in Strömen. Der Himmel weinte.“
„Was bedeutet ihr jetziger Name?“
Syriakin warf Gillok einen abwehrenden Blick zu, den er jedoch mit einem Lächeln ignorierte. „Sternenwanderin.“
„Was? Das verstehe ich nicht“, gab Adiv verwirrt zurück. „Was bedeutet das?“ Erneut schaute sie zu dem Prinzen und Akim. Beide reagierten mit einem Achselzucken.
Gillok betrachtete die Frau an seiner Seite. Syriakin starrte in die Ferne, wirkte unangenehm berührt, rang sich aber zu einer Antwort durch. „Es beschreibt einen Menschen, der fortläuft. Der mit dem Sternenlicht wandert. Nachts. Ungesehen. Ungestört.“
„Einen Menschen, der beim Anblick der Sterne ruhelos wird“, setzte Gillok hinzu. „Er läuft nicht notwendigerweise davon, sondern einfach fort, wobei die Rückkehr nie ausgeschlossen ist. Oft sucht er. Der Name ist so kompliziert wie seine Trägerin.“
„Wer hat den Namen ausgesucht?“, wollte Adiv wissen.
„Das Dorf“, gab Gillok unbestimmt zurück. „Irgendwann kam er auf und blieb hängen.“
„Findest du ihn passend?“, fragte Akim die Kriegerin.
Sie überlegte lange, bevor sie nickte. „Ich rannte so oft davon, dass ich aufgehört habe, zu zählen. Zuerst zu meinem Vater, zu meinem Dorf, später um allein zu sein oder um nachzudenken. Manchmal vor mir selbst. Nicht immer kehrte ich freiwillig zurück. - Das wird sich nicht ändern“, setzte sie mit einem Ruck hinzu. „Ich bin eben so.“
„Ich habe dich nie so genannt“, sagte Gillok und streichelte ihre Wange; eine Berührung, die sie zurückzucken ließ, die sie aber aushalten konnte. „Syra heißt Stern“, erklärte er. „Und die Sterne kommen wieder. Jede Nacht. Bada wusste das immer.“
Alle blickten gleichzeitig zu Jonoy und den Kindern. Der Schmied sah nach den vielen Tagen der Ruhe merklich erholter aus, wenngleich er kaum mehr als einige Schritte am Stück schaffte.
Bada spürte die Blicke und wandte sich um. Als sie ihre Eltern erblickte, erschien ein Strahlen auf ihrem Gesicht.
Ich hoffe, Arlen lächelt mich eines Tages auf diese Weise an, dachte Adiv. Tapfer schob sie den unangenehmen Gedanken von sich. Sie wusste, dass sie Geduld haben musste. Erst wenn Kummer und Gram nicht mehr das Dasein des Jungen überschatteten, konnte sein Herz sich öffnen.
Akim schien ihren Schmerz zu spüren. Er schubste sie an, begleitete sie zu den Kindern.
Ylaiy blieb mit den Sumpfleuten zurück. Er wirkte ein wenig verloren. Sein Vetter behandelte ihn zwar freundlich und mit ausgesuchter Höflichkeit, doch zurückhaltend. Seine Tante widmete sich wieder ihren Tagesgeschäften, seine Mutter weilte wahrscheinlich schon in der Hauptstadt. Sie erwartete ihn in seinem neuen Amt zurück, sobald Sila völlig genesen war. Die Zofe mied die anderen, verließ selten ihre Kammer. Gillok hatte Ylaiy geraten, ihr Zeit zu lassen.
Gedankenverloren starrte er zu der Kinderschar, zu der sich Adiv und Akim gesellten. Dann straffte er kurz entschlossen die Schultern. „Ich habe beschlossen, morgen an den Hof zurückzukehren“, sagte er ohne Umschweife. „Hier gibt es für mich nichts mehr zu tun.“
„Was ist mit Sila?“, fragte Gillok.
„Ich werde ihr die Entscheidung überlassen, wo sie von nun an leben möchte. Wenn es ihr Wunsch ist, den Hof nie wieder zu sehen, werde ich dafür Sorge tragen, dass es ihr dennoch an nichts fehlt.“
„Drängt es Euch zu Euren Büchern?“, erkundigte sich Syriakin.
„So wie Euch in Eure Heimat. Ihr werdet Eure Angehörigen suchen oder nicht?“
„Wir werden sehen“, gab sie etwas steif zurück.
„Dann haben wir beide eine neue Aufgabe vor uns. Ihr müsst das Sumpfvolk sammeln, ich Gerechtigkeit sprechen. Es wird nicht leicht. Für keinen von uns.“
„Nein“, erwiderte sie.
„Danke. Für alles. Ihr wisst schon. Ihr habt mein Leben gerettet, alle beide. Ich danke euch. Und ich wünsche euch Glück.“
„Ihr habt ebenfalls unsere Leben gerettet. Wir schulden uns nichts“, sagte sie, während Gillok Ylaiys Hände drückte.
„Dann werde ich packen lassen. Allein die Pergamente brauchen eine Kutsche.“
„Ihr habt alles aufgeschrieben?“
„Nur Notizen. Mir schwebt eine Art Heldengedicht vor. Doch es wird dauern, alles niederzuschreiben. Ich werde Euch im besten Licht darstellen, einer Heldin angemessen. Versprochen.“
„Schreibt besser die Wahrheit“, grummelte sie. „Nur lasst mich aus dem Spiel.“
„Dann wäre es nicht mehr die Wahrheit.“
Gillok verkniff sich ein Schmunzeln. „Werdet Ihr unter Eurem kaiserlichen Namen schreiben?“, fragte er.
„Nein, ich denke, ich werde mir einen Dichternamen überlegen. Oh, da fällt mir ein, dass Euer Volk ja gern mit Namen spielt. Welchen würden zwei Fraga-i mir geben nach unserer Reise? Seid ehrlich. Nicht zu ehrlich.“
„Enaidyionalan?“, schlug Gillok nach einer Weile vor.
Die Kriegerin nickte.
„Was bedeutet er?“, wollte Ylaiy mit enger Kehle wissen.
„Geisteskrieger“, antwortete sie.
„Mensch, der mit dem Verstand kämpft“, ergänzte Gillok.
Der Thronfolger lächelte und wandte sich zum Gehen. Dann, beinahe ruckartig, entschied er sich anders. Er trat erneut an Syriakin heran, die Arme an die Seiten gelegt, eine Hand auf dem Schwertknauf. Wortlos verneigte er sich vor ihr. Für einen kurzen Augenblick loderte Überraschung in ihren Smaragdaugen auf. Schließlich erwiderte sie mit einem knappen Nicken seine Geste.


„Du wolltest dich davonstehlen.“
„Ich bin doch hier.“
„Versteckt hinter einer Mauer?“
„Ich habe eure Abreisevorbereitungen beobachtet.“
„Adiv und Jonoy sind enttäuscht. Sie hatten erwartet, dich noch einmal zu sehen.“
„Ich habe ihnen gestern eine gute Reise gewünscht. Ciycain und Gillok begleiten euch außerdem ein Stück.“
„Aber du nicht.“
„Das ist nicht so meine Sache. Das Abschiednehmen.“
„Vielleicht ist es kein endgültiges.“
Sie stieß sich von der Mauer ab und trat einen Schritt auf ihn zu. „Dir ist doch klar, dass wir die Kinder trennen müssen? Für immer?“
„Ich werde Kian gut verbergen. Wie du deine Tochter. Die vier dürfen nie wieder aufeinandertreffen. Ihre Macht wäre gewaltig.“
„Macht vergiftet Menschen. Vergiss das nie.“
„Kian und Bada sind gute Menschen. Sie wissen, was falsch ist und was richtig.“
„Seltsam, dass du nur die beiden nennst.“
„Ich kenne Yvain und Arlen nicht.“
„Du kennst auch Ciycain nicht.“
„Ich kenne dich. Und Gillok.“
„Ich dachte, Adiv wäre deine Freundin.“
„Das ist sie. Ich vertraue ihr. Doch sie ist kaum älter als ich und allein auf der Welt. Was ist, wenn sie allem nicht gewachsen ist? Was ist, wenn sie Arlen nicht gewachsen ist?“
„Sie bringt ihn zu Videms Elternhaus. Dort hat sie Ardanna und Sphita. Sie scheinen gute Menschen zu sein und werden ihr helfen. Was ist mit Yvain? Traust du ihm?“
Die Direktheit ihrer Frage überraschte ihn. Es war schwer zu sagen, von wem sie sprach, dem Kaiserneffen oder dem Thronfolger. „Macht vergiftet“, wiederholte er vorsichtig ihre Worte. „Und am Kaiserhof gibt es viel Macht.“
„Yvain lebt in Fedaj. Die Drana’sora wird über ihn wachen.“
„Sie ist eine gute Mutter. Sie hat die Reise ermöglicht.“ Er forschte in ihrem Antlitz, während sie nachdenklich schwieg. „Syra? Das ist sie doch?“
Sie gab sich einen Ruck. „Ja. Ja, das ist sie.“
„Du denkst, dass eine Frau, die zu einem Racheakt fähig ist, auch zu anderem fähig ist?“
„Hoffen wir, dass es nicht so ist.“
„Wirst du sie beobachten?“
Sie atmete laut aus, ließ den Blick schweifen. „Ich bin gern unterwegs. Streife umher. Ich denke, dass meine Wege mich hin und wieder auch nach Fedaj führen werden.“
„Gut.“
Sie nickte. Dann schwiegen beide, unsicher, was als Nächstes zu sagen war. Syriakin löste sich als Erste, indem sie Akim geradeaus ansah. „Dich kennenzulernen, machte die Reise zu einer Belohnung. Deine Mutter wird stolz auf dich sein. Gradh wäre stolz.“
Akim lächelte. „Ich weiß. Ich sah es in seinen Augen.“
„Ach?“
„Während des Kampfes. Er war auf der Insel.“
Verständnislos hob sie die Augenbrauen.
„Ich weiß, es ergibt keinen Sinn. Dennoch war er da. Am Ende, kurz bevor alle Kräfte uns verließen. Ich sah ihn so deutlich, wie ich dich jetzt sehe. Ihn und Jula. Chada.“
„Chada war auch da?“
„Chada und Adivs Mutter. Adiv schwört, dass sie sie ebenfalls gesehen hat. Sie behauptet, sie hätten Jonoy gerettet. Sie sprachen zu uns, halfen uns.“
„Vielleicht war euer Geist überanstrengt.“
„Bestimmt sogar. Ich sagte ja, dass es keinerlei Sinn ergibt. Aber sie waren da“, beharrte er ruhig.
Seine Stimme war leise und murmelnd, eine feste, schöne Männerstimme wie die Gilloks. Eine Stimme, die Kraft gab und Zuversicht. Die etwas in ihr reifen ließ, das sie nicht länger würde aufschieben können.
„Ich habe niemanden gesehen.“
„Weil du niemanden sehen musstest.“
Sie legte den Kopf schief und sah ihn nachdenklich an.
„Jedenfalls vermisse ich den grantigen Alten. Gradh“, schob er hinterher.
„Was ist mit dem anderen Alten? Wird er euch begleiten?“
„Bis Yruish auf jeden Fall. Er ist sich sicher – irgendwie – dass ein Bekannter mit seiner Kamelherde dort auf uns wartet und nach Puard bringt. Mal schauen, wie es von dort aus weiter geht. Was wirst du tun?“
„Etwas, das ich schon vor langer Zeit hätte tun sollen.“
„Ein guter Entschluss. Er verdient die Wahrheit.“
Sie nickte erneut, zögernd und die Unterlippe zwischen den Zähnen rollend. Dann wandte sie sich zum Gehen.
Akim lief ihr nach und umarmte sie, flüchtig, ganz sacht. Sie erwiderte die Umarmung leicht.
Dann war sie weg.


Er lag auf dem Bett und schlummerte mit offenen Augen, zuckte zusammen, als sie eintrat, die Tür schloss und an der Schwelle stehenblieb, ohne ihn anzusehen. Stattdessen sprach sie zur Tür, eine Hand auf den Knauf gelegt, die andere am Rahmen, als wolle sie sicher gehen, dass niemand von außen hereinkam. Vielleicht hielt sie sich auch fest.
„Sie haben mich überrumpelt wie eine blutige Anfängerin. In dem Augenblick, in dem ich reagieren wollte, senkte sich der Sack über meinen Kopf. Gleich darauf traf mich ein Schlag. Alles wurde schwarz.“
„Syra“, warf er ein und stützte sich auf einen Arm, aber sie hob nur die Hand und er verstummte.
„Als ich zu mir kam, lag ich gefesselt auf dem Bauch. Auf meinen Beinen saßen Männer. Der Sack war weg, dafür steckte ein Knebel in meinem Mund. Er schmeckte widerlich. Ich konnte ihn nicht ausspucken. Es gab überhaupt nicht mehr viel, das ich tun konnte.“ Sie brach ab und starrte minutenlang die Tür an.
„Syra“, begann er erneut, „du musst das alles nicht …“
„Ich sah nur Beine. Zählte Stimmen. Vier. Ich verstand nicht alles, was sie sagten, doch ich konnte mir das meiste zusammenreimen. Schimpfwörter. Beleidigungen. Anfeuerungen.“ Die Hand am Rahmen zitterte. „Eine Stimme war anders als die anderen. Heiser und irgendwie schmierig, schmutzig, voller Kälte. Und Verachtung.“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust, fuhr sich mit den Händen über die Haut, auf der sich die Härchen aufgestellt hatten. Ihr Oberkörper lehnte am Türrahmen, die Stirn ebenfalls. Noch immer hatte sie keinen Blick mit ihm gewechselt. „Er war der Erste. Flüsterte mir Sachen ins Ohr, die ganze Zeit, selbst als er…“
Sie brach ab, als sie merkte, wie ein Wimmern sich in ihre Stimme schlich. Atmete gegen das Holz. Dann, schneller als er zu ihr gelangen konnte, rammte sie ihren Kopf gegen den Rahmen. Einmal, zweimal. Beim dritten Versuch war er zur Stelle, riss sie herum. Sie stieß ihn weg. Er wollte nach ihren ausgestreckten Händen fassen, senkte aber die Arme. Trat zwei Schritte zurück. Sie stand wie ein Raubtier, lauernd, gebeugt. Ihre Iriden brannten Löcher in die seinen.
„Immerhin war es schnell vorbei mit ihm. Zu schnell für seinen Geschmack. Er wurde wütend. Schlug zu. Spuckte auf mich und ging. Ich habe ihn nicht einmal gesehen.“ Ihre Augen wurden leer. Ihr Gesicht sah aus wie die Holzschnitte, die er auf dem Markt gesehen hatte. Grob geschnitzte Linien. Eingekerbter Schmerz. Hass. Zorn. Ekel. Er streckte die Hand aus, sacht und sanft, doch sie zuckte zurück, noch bevor seine Finger ihre Stirn berührten.
„Nicht“, sagte sie tonlos.
Er zog die Hand ein.
„Er hätte es sein können. Ihr Vater. Jeder von ihnen hätte es sein können. Eins dieser…“
Er war hinter ihr, als sie zum Waschtisch stürzte. Hielt ihren Kopf, als sie sich übergab, wieder und wieder. Stützte sie, legte die Arme um sie, spürte, wie ihr Magen sich verkrampfte, rebellierte, sich umstülpte, strich ihr das Haar aus der Stirn. Hielt sie fest, bis der Magen leer war und sie Galle herauf würgte. Er setzte sich auf den Schemel neben der Waschschüssel, zog sie auf seinen Schoß, reichte ihr einen Becher Wasser, wischte ihr Schweiß von den Schläfen und Erbrochenes vom Mund. Sie trank das Wasser mit zitternden Händen, während ihre Zähne gegen den Becher klapperten, spülte sich den Mund, spuckte aus. Lehnte sich gegen ihn, als wäre mit der Galle alle Kraft aus ihr gewichen.
Er trug sie halb zum Bett, legte sich neben sie, versuchte, sie zu halten. Sie trat nach ihm, bis sie schließlich ihren Atemrhythmus wiederfand. Danach lag er an ihrem Rücken, atmete in ihr Haar, betrachtete die Zeichnung in ihrem Nacken, achtete sorgfältig darauf, sie nicht zu berühren. „Wir sind nicht alle so. Die wenigsten von uns sind so.“
„Ich wollte sie wegmachen. Sie hatte ihren eigenen Kopf. Nach der Geburt konnte ich sie nicht anfassen, nicht einmal ansehen.“
„Sie ist dein Kind, ein gutes Kind, ein wunderbares Kind. So viel kannst du nicht falsch gemacht haben. Sie ist dir in vielem sehr ähnlich, Syra.“
„Unsinn.“
„Sie ist stark wie du, eigenwillig wie du, klug wie du. Tapfer.“
„Den Rest muss sie von dir haben.“
„Du meinst gutes Aussehen, Taktgefühl, Freundlichkeit und Güte?“, scherzte er.
„Ja.“
Er wollte sich an sie schmiegen, doch ihr Körper war zu verkrampft. Ihre Arme lagen an ihren Seiten, die Finger zu Fäusten geballt. Ihr Atem ging flach und gepresst.
Er wusste, dass sie ihm zuliebe aushielt neben ihm, dass sie sich davonstehlen würde, sobald er eingeschlafen war.
Er würde Geduld brauchen.

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Autor

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Kapitel: 2
Sätze: 673
Wörter: 5.771
Zeichen: 33.671

Kurzbeschreibung

Letzter Teil des ersten Bandes.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Abenteuer auch im Genre Fantasy gelistet.