Autor
|
Bewertung
Statistik
Kapitel: | 3 | |
Sätze: | 553 | |
Wörter: | 10.317 | |
Zeichen: | 60.475 |
„98…99…100.“ Amüsiert den Kopf über sich selbst schüttelnd, legte sie die Bürste auf das Glasbrett unter dem Spiegel. 100 Striche mit einer Holzbürste, jeden Tag, seien das Geheimnis schöner Haare, hatte ihre Großmutter immer gesagt und hatte dabei die für ihr Alter durchaus stattliche Frisur mit einer Geste betont. Bei dem Gedanken fiel Lea auf, dass sie sich schon lange nicht mehr bei ihr gemeldet hatte und sie beschloß, dass nachzuholen, wenn sie nur wieder zuhause wäre. Mit schnellen Bewegungen band sie die langen, braunen Haare zum Pferdeschwanz zusammen. Zuhause. In Innsbruck und nicht wie jetzt in einem Wiener Hotelzimmer, indem die Matratze ungewohnt schmal und dessen ganzer Boden mit Teppich ausgelegt war und die Dusche…davon wollte sie gar nicht anfangen. Stattdessen konzentrierte sie sich lieber darauf, die Haarklammern, die sie vor sich auf dem Waschbecken platziert hatte, eine nach der anderen so in ihren Haaren festzustecken, dass sie den Dutt fixierten, der dort möglichst lange gut aussehen sollte. Als das erledigt war, warf sie einen prüfenden Blick auf die Uhr ihres Handys und wusste nicht, ob es die Tatsache, dass dort keine neue Nachricht zusehen war, oder die fortgeschrittene Uhrzeit sie mehr beunruhigten. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.
Als der Dutt schließlich saß, griff sie zu dem Schminktäschchen, das sie ebenfalls auf der Ablage abgestellt gehabt hatte und begann, nach den Dingen zu suchen, die sie heute brauchen würde und sie fein säuberlich auf das Waschbecken zu stellen. Je länger die Armada aus Döschen, Fläschchen, Make-Up-Paletten und Stiften wurde, die sie dort aufbauten, desto mehr wuchs ihr Unwille gegenüber der Veranstaltung. Schon allein der Aufwand, den sie sich dafür zu betreiben gezwungen fühlte, ging ihr auf die Nerven. Normalerweise hätte sie vielleicht in Drittel der Dinge benutzt, die nun vor ihr standen, doch das hier war anders. Heute sollte ihr all das helfen, sich sicherer zu fühlen, ihr das Gefühl vermitteln, etwas dafür getan zu haben, halbwegs akzeptabel auszusehen. Und wenn sich dann doch irgendjemand das Maul darüber zerreissen sollte, konnte sie zumindest sagen, dass sie ihr Möglichstes getan hatte, um nicht so schlecht auszusehen wie…wie man nunmal aussah, wenn Schlaf im eigenen Leben momentan eher zu den Luxusgütern gehörte. Mit kritischem Blick strich sie über die Schatten unter ihren Augen, es würde einiges an Arbeit kosten, sie zu verstecken, aber nicht unmöglich sein, zumindest hoffte sie das. Also begann sie, verschiedene Cremes, Make-Up und Puderschichten aufzutragen, wobei ihr der Gedanke daran kam, wie sie diesen Prozess früher einmal genannt hatte. Kriegsbemalung. Vielleicht stimmte das heute mehr denn je. Denn daran, dass der Abend gleich mit extrem viel Stress verbunden sein würde, daran hatte sie nicht wirklich Zweifel. Der prüfenden Blick in den Spiegel versicherte ihr, dass sie es inzwischen zumindest geschafft hatte, die unübersehbaren Rückstände des Schlafmangels der letzten Wochen fast verschwinden zu lassen. Sie wischte sich die Hände an einem Kosmetiktuch ab und warf erneut einen Blick auf ihr Handy. Unmut kam in ihr auf, immernoch keine Nachricht, dabei war bereits kurz nach halb sieben, in zwanzig Minuten würde der Fahrservice kommen, um sie zum Veranstaltungsgelände zu fahren. Verärgert starrte sie auf den Bildschirm, während sie darüber nachdachte, ihn anzurufen und sich einige Augenblicke später dagegen entschied. Sie wusste ja nicht einmal, ob er sein Handy mitgenommen hatte, denn falls nicht, wäre auch das eine Erklärung dafür, warum er sich nicht meldete. Sie legte das Telefon etwas unsanfter zur Seite, als es ihm gutgetan hätte, dann richtete sie ihren Blick wieder auf den Spiegel. „Er wird wieder auftauchen“, versuchte sie sich selbst zu versichern, „Es wird zu spät sein, ihr werdet Stress haben und als Letzte ankommen, aber er wird auftauchen.“
Mit nichtmehr allzu ruhigen Bewegungen räumte sie einige Zeit später die Schminksachen zurück in die Tasche, in der sie sie auf Reisen immer aufbewahrte und warf einen letzten prüfenden Blick auf ihre Frisur. Alles saß, keine Strähne, die irgendwo ab- oder hervorstand, so dass es ungewollt oder unordnetlich ausgesehen hatte. Alles an seinem Platz, alles in Ordnung und wenn sie es jetzt noch schaffte, ein zumindest halbwegs überzeugendes Lächeln aufzusetzen, dann würde dieser Abend…Mit dem Geräusch der sich öffnenden Zimmertür hatte sie nicht gerechnet. Erschreckt zuckte sie zusammen, was zur Folge hatte, dass ihr das Schminktäschchen aus der Hand fiel und sein Inhalt sich im Waschbecken verteilte. Geräuschvoll ihm Waschbecken verteilte. „Lea?“ Er ging direkt hinüber zum Badezimmer, streckte den Kopf durch die Tür und sah sie mit besorgt gerunzelter Stirn an. „Ja, hier, alles gut…“, murmelte sie, während sie begann, die kleinen Döschen und Fläschchen wieder aufzusammeln und darauf wartete, dass der Schreck wieder aus ihren Gliedern verschwand. „Hab ich dich erschreckt? Sorry…“ Er trat ans Waschbecken, strich ihr kurz über den Arm und begann dann, ihr beim Aufsammeln zu helfen. „Schon gut!“, wiegelte sie ab und zwang sich, nicht allzu ungehalten zu sein, was ihr beim Blick auf die Uhr zunehmend schwerer fiel. „Schau mal lieber, dass du fertig wirst, ich mach das“, sagte sie und fischte den verbliebenen Kajalstift aus dem Waschbecken. Er nickte nur, dann verschwand er im Nebenraum, um sich umzusehen. Lea hatte inzwischen ihre Habseligkeiten wieder in die Tasche einsortiert, schloss diese nun und stellte sie zurück auf den Rand des Waschbeckens. Das Geräusch sich öffnender und dann wieder schließender Schranktüren drang aus dem Nebenraum. „Dein Anzug liegt hinten auf deinem Koffer. Du wolltest ihn doch heute Morgen extra herrichten“, erinnerte sie ihn und er grummelte Dankesworte. Kurz darauf verstummte das Schranktür-Kofferdeckel-Klappgeräusch. Lea griff derweil zu ihrem Lippenstift, dem letzten Teil der Kriegsbemalung, doch auch, als sie ihn schließlich aufgelegt hatte, machte sie der Blick in den Spiegel nicht vollends zufrieden. Einige Augenblicke starrte sie ihr Spiegebild an und durch es hindurch, ohne genau zu wissen, was es war, dass ihr fehlte. Dann kam ihr der Geistesblitz und sie ging hinüber in den Nebenraum und griff nach ihrer Reisetasche, die auf dem Zimmerboden stand, blieb jedoch kurz dem Bett wieder stehen. Ihr Blick wurde sanft, als er auf ihren Freund fiel.
Dieser saß, nur mit Boxershorts bekleidet auf der Bettkante, die Hände auf die Knie gestützt und sah ins Leere. Sie unterdrückte ein Seufzen, das dem unguten Gefühl in ihr Ausdruck verliehen hätte und ging stattdessen ebenfalls zum Bett, stellte sich vor ihn, legte eine Hand unter sein Kinn und drückte dann behutsam seinen Kopf in die Höhe, sodass er sie nun ansah, technisch zumindest. In der Realität war sie sich sicher, dass er durch sie hindurch blickte. „Was stresst dich?“, erkundigte sie sich dann und ließ die Hand wieder sinken. Er ist nicht krank!, sagte sie sich immer wieder, auch um sich daran zu erinnern, ihn nicht zu mitleidig anzusehen, was sich angesichts dessen, was sein Anblick bei ihr auslöste, als durchaus schwierig erwies. Er zuckte zunächst teilnahmslos die Schultern, nach wie vor hatte sie nicht den Eindruck, dass er sie wirklich ansah, so sehr sie auch den Blickkontakt suchte. „Versuch mal, das zu artikulieren, bitte“, forderte sie ihn auf.
Eine Weile passierte nichts weiter, bis er schließlich sagte: „Ich will da nicht hin. Die werden Fragen haben.“ Es hatte eher wie eine Feststellung geklungen und doch so lustlos dahin gesagt, als habe er bereits vor dem Umstand kapituliert. „Stimmt. Und dann kannst du freundlich Lächeln, sagen, dass du noch nichts Neues sagen kannst, aktuell nicht im Training bist und weitergehen“, versuchte sie, ihm die Angst zu nehmen. Er sah sie mit einem Blick an, als habe sie gerade mit dem Brustton der Überzeugung verkündet, dass die Erde eine Scheibe sei. Es schien eine Weile zu dauern, bis er begriff, dass ihr Vorschlag nicht nur ernst gemeint, sondern auch sinnhaft war. Dann begann er langsam zu nicken. „Macht Sinn“, murmelte er dann und sah sie nun zum ersten Mal, seit sie im Badezimmer gewesen waren, direkt an. Doch die kurze Entspannung, die deutlich in seinem Gesicht ablesbar gewesen war, verschwand innerhalb von Sekundenbruchteilen. „Ich will trotzdem nicht hin. Was ist mit den anderen?“ – „Die wissen, was los ist, oder können sich’s zumindest denken. Und da nicht hinzugehen wird in keinem Fall dazu beitragen, dass weniger über dich gesprochen wird“, erinnerte sie ihn. Wieder nickte er zögerlich, als würden die Informationen, die ihre Worte transportierten, nur Tröpfchenweise bei ihm ankommen. Als stünde eine Membran zwischen ihnen, die sie nur langsam von der einen zur anderen Seite durchließ. Dann hob er schließlich die Hand, legte sie an ihre Wange und streichelte vorsichtig mit dem Daumen darüber. Sie legte ihre auf die seine und lächelte ihn schief an. Genoß das Gefühl der Berührung und die Tatsache, dass sie es wohl wiedereinmal geschafft hatte, das Chaos in seinem Kopf zu beseitigen. Temporär zumindest.
„Soll ich deine Sachen rüberholen, damit du dich anziehen kannst?“, bot sie ihm dann an. Ihr Zeitgefühl sagte ihr zwar, dass sie sich eigentlich viel mehr hätten beeilen müssen, andererseits wollte sie ihn nun nicht auch noch deswegen unter Druck setzen. Er schüttelte den Kopf, dann stand er auf und ging an ihr vorbei hinüber zu seinem Koffer, auf dem sein Anzug fertig ausgepackt lag und begann, sich anzuziehen. Der Anblick seines Koffers erinnerte sie daran, warum sie ursprünglich ins Zimmer gekommen war, und so begann sie nun ihrerseits, in ihrer Reisetasche nach der kleinen Schmuckschatulle zu suchen, die sie zuvor schon hatte holen wollen. In der Seitentasche am Kopfende fand sie sie schließlich, holte sie heraus und öffnete sie. Mit einem leisen Lächeln legte sie die Kette, die aus großen, weißen Perlen bestand, um ihren Hals. „Gregor?“ Er war gerade dabei, die Knöpfe seines Hemdes zu schließen, als er sich wegen ihres Zurufs zu ihr umdrehte. „Machst du mir die zu?“, fragte sie und hielt mit Daumen und Zeigefinger die Enden der Kette in die Höhe. Kommentarlos kam er zu ihr hinüber und kurz darauf spürte sie, wie seine Finger kurz ihren Nacken streiften, als er am Verschluss des Schmuckstücks herumnästelte. Das kleine Verschlußteil in die dafür vorgesehene Halterung einzuhaken erforderte einiges an motorischem Feingefühl. Sie griff hinter sich und legte ihre Hand auf seine. „Wir müssen wirklich mal noch nach Paris“, murmelte sie leise und erinnerte ihn damit nicht zum ersten Mal in letzter Zeit daran, mit welchem Versprechen er ihr die Kette damals zum 18. Geburtstag geschenkt hatte. Doch statt der Stichelei, die sie erwartet und bei der er sie darauf hingewiesen hätte, dass derartige Pläne zumindest in den letzten drei Jahren eher an ihrer als an seiner Zeitplanung gescheitert waren, brummte er nur zustimmend, bevor er es schließlich schaffte, die Kette um ihren Hals zu schließen. Sie bedankte sich, er streichelte ihr kurz über die Schulter. „Welche Schuhe wolltest du denn anziehen?“, fragte er dann und sie deutete auf die roten Pumps, die sie bereits aus ihrer Tasche genommen hatte. „Die passen zum Kleid“, fügte sie dann erklärend hinzu. Er holte sie von dort und half ihr anschließend hinein. „So. Ich wär dann fertig, wenn du dir jetzt noch ne Hose anziehst, kommen wir vielleicht doch nicht so viel zu spät“, gab sie sich zuversichtlich.
Einige Zeit später stiegen sie tatsächlich halbwegs pünktlich aus der Limousine, die sie zum Veranstaltungsort, dem Konferenzraum eines anderen Hotels, gebracht hatte. „Zusammen?“, fragte sie und er schüttelte nur den Kopf, woraufhin sie die Hand, die sie bereits erhoben gehabt hatte, wieder sinken ließ. Sie sah, wie er kurz die Augen schloss und tief durchatmete, doch als er die Augen wieder öffnete, war dort nichts von der Entschlossenheit oder gar der Vorfreude, mit der er solchen Situationen sonst begegnet war. In einem Versuch, das für ihn zu übernehmen, ging sie ihm nun etwas voran, ein bisschen so, als wolle sie ihn vor all den Blitzen, all den Fragen schützen, die jetzt kommen würden. Spießrutenlauf. Zunächst war sie fast erstaunt darüber, wie lang es gut ging, wie lange sie einfach über den roten Teppich, der hinein ins Hotel führte, gehen konnten, ohne dass sie ständig von irgendeiner Seite aufgefordert wurden, anzuhalten, damit jemand ein Foto von ihnen machen konnte. Erst nach der Hälfte der Strecke, die zurückzulegen war, hörte sie zum ersten Mal, dass jemand seinen Namen rief.
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, fand den seinen jedoch nicht, da war Gregor schon stehen geblieben, so dass sie es ihm gleichtat. Einige Sekunden blieben sie stehen, lächelten im Blitzlichtgewitter, dann kamen die Fragen. „Gregor, bist du wieder im Training?“ Dieses ständige Geduze in dieser Sportjournalistenszene, wie leid sie es war. Doch sie lächelte weiter. Er antwortete etwas, das inhaltlich ungefähr dem entsprach, was sie zuvor abgesprochen hatten, dann gingen sie weiter, erreichten schließlich den Saal, indem es schon einigermaßen voll war. Der lockere Anfangsteil schien bereits beendet zu sein, jedenfalls hatten sich bis auf wenige Ausnahmen die meisten der anwesenden Sportler, Trainer und Funktionäre sowie deren Begleitungen bereits auf Stühlen niedergelassen. Eine der Ausnahmen bildete eine Traube von fünf, sechs Leuten, die noch an einem der Stehtische standen und in der sie erst, als sie an der Gruppe vorbeigingen, Marcel Hirscher erkennen konnte und ihm kurz zulächelte, bevor Gregor und sie sich freie Plätze suchten. Dritte Reihe von hinten, ganz links. „Geht das so? Und siehst du was?“, erkundigte er sich kurz, nachdem er sich gesetzt hatte. „Ja, ich denk schon. Die gehen ja glaub ich an der anderen Seite zur Bühne durch“, erwiderte sie und deutete auf den gegenüberliegenden Gang.
Kurz darauf betrat der Verbands-Präsident besagte Bühne und begann, ein Resümé der vergangenen Saison zu ziehen. Er redete lange und viel von den Erfolgen, die die Athleten in diesem Jahr erreicht hatten, hob dabei besonders das Abschneiden bei der Alpinen Ski WM hervor und bedankte sich bei allen, die daran beteiligt gewesen waren. Leas Gedanken schweiften ab, hin zu dem, was sie erwartete, wenn sie wieder nach Hause kam: Ihre Masterarbeit und das schlechte Gewissen, das sie verspürte, weil sie sich nun insgesamt fast zwei Tage nicht darum kümmern konnte, wurde von einem latenten zu einem akuten. Der Gedanke daran, dass sie noch nicht einmal damit begonnen hatte, die erhobenen Daten auszuwerten, lag ihr eigentlich schon schwer im Magen, seit sie gestern hier hin aufgebrochen waren. Die Datenauswertung, das Erstellen des finalen Literaturverzeichnisses hatte sie auch noch nicht geschafft und außerdem fehlte…Sie zuckte zusammen, als jemand sie im Vorbeigehen anrempelte und sich kurz bei ihr entschuldigte. Ihre Reaktion musste Gregor aufgeschreckt haben, denn der sah nun zu ihr hinüber und hob fragend die Augenbraue, was der nonverbalen Frage danach, ob alles in Ordnung sei, gleichkam. Sie winkte ab und sah stattdessen der Person hinterher, die da gerade in sie hineingelaufen war. Michael war inzwischen auf der Bühne angekommen, bedankte sich für die Laudatio und anschließend bei den großen drei – Verband, Trainer, Familie in genau dieser Reihenfolge – um letztlich auf die „schwere Zeit“ zu sprechen zu kommen, die das Team in dieser Saison durchzustehen gehabt hatte. Er stärkte Heinz Kuttin den Rücken, was für einiges Getuschel im Saal sorgte, dann sagte er schließlich: „Wir wissen, jeder von uns weiß, dass wir diese Saison unter unseren Ansprüchen geblieben sind. Das ist nichts, was uns glücklich macht und jeder von uns weiß auch, dass das kein Zustand ist, der so bleiben kann. Wir hatten einige große Umbrüche in den letzten beiden Jahren und ich denke, dass wir da auch noch in einem Prozeß sind, indem jeder sich natürlich hinterfragen muss.“
Ohne das Lea es wirklich bemerkt hatte, hatte ihre Hand die seine gesucht, die zur Faust geballt auf seinem Knie lag, das erst seit ein paar Tagen nicht mehr geschient werden musste. Sie legte seine Hand auf ihre und schloss die Finger um seine Faust. Er entspannte sich nicht. „Aber ich bin überzeugt davon, dass wir, das Team, die Trainer, die Betreuer auf einem guten Weg sind, das alles in der kommenden Saison um einiges besser zu machen, als in dieser. Dankeschön.“ Michael ging zurück zu seinem Platz, Gregors Finger unter ihrer Hand blieben angespannt. Aus den Augenwinkeln sah sie zu ihm hinüber und hätte wieder wetten mögen, dass er nichts von dem, was gerade um ihn her passierte, wirklich wahrnahm.
Das Klingeln des Weckers riss sie zwei Tage später aus dem unruhigen Schlaf, den ihr das schlechte Gewissen beschert hatte. Nach mehreren fruchtlosen Versuchen, ihn mit einem gezielten Schlag auszuschalten, gelang es ihr schließlich. Das Display zeigte an, dass es viertel vor sieben war. Sie drehte sich ein wenig heftiger um, als sie es eigentlich vorgesehen gehabt hatte, weswegen sie mit der Nase an Gregors Schulter stieß, der kurz unbewusst mit dem Arm zuckte. Lea schmunzelte, während sie sanft mit der Hand durch seine Haare fuhr. Obwohl dieser Zustand in den letzten Monaten situationsbedingt eher die Regel denn die Ausnahme gewesen war, genoss sie es immernoch sehr, neben ihm aufzuwachen. Lange genug war das immerhin keine Routine gewesen, umso mehr schätzte sie diese kleinen Momente, wenn sie beobachten konnte, wie das Licht der langsam aufgehenden Sonne auf sein Gesicht fiel und seinen Haaren einen leicht goldenen Schimmer verlieh. Sie fuhrt mit ihrer Hand über seinen Nacken bis hinunter zu seinem Arm, gab ihm dann einen Kuss auf die Schulter, da sie diese gerade so erreichen konnte, dann richtete sie sich auf und beugte sich zu ihm hinüber, damit er sie hören konnte, wenn sie sprach. „Ich wollte in ner guten Stunde losgehen. In zwanzig Minuten hab ich das Frühstück fertig. Magst du mitessen?“ Er öffnete die Augen, sah sie einen Moment lang unverwandt an und antwortete dann, dass er später essen würde. „Gut“, erwiderte sie, „Dann sehen wir uns heute Abend.“ Sie drehte sich wieder um, setzte sich auf die Bettkannte und zog ihren Rollstuhl heran, der neben dem Bett stand, um sich hineinzusetzen. Anschließend ging sie ins Badezimmer. Der Blick, mit dem sie den an der Wand angebrachten Sitz unter der Dusche besah, hatte schon fast etwas schwärmerisches, denn für sie war dieses eigentlich potthässliche Teil aus Plastik vor allem eines: Unabhängigkeit. Zum ersten Mal seit zwei Tagen konnte sie wieder duschen, solange sie wollte, weil sie nicht darauf angewiesen war, dass jemand sie festhielt, während sie sich bemühte, in der naturgemäß wackligen Konstruktion ihren Körper so gut es ging mit Wasser und Duschmittel zu waschen. Dementsprechend glücklich und damit auch länger, als es ihr Zeitmanagement eigentlich zuließ, saß sie heute auch unter der Dusche, doch sie war überzeugt davon, dass das gerade notwendig war. Die Aussicht, mindestens acht, tendenziell eher neun bis zehn Stunden in der Bibliothek zu verbringen, erschien ihr Rechtfertigung genug, heute auch etwas zu haben, das sie wirklich genießen konnte.
Dass sie die Entscheidung spätestens beim Blick auf die Küchenuhr bereuen würde, hätte sie ahnen können. Doch so entwich ihr nun doch ein leises Fluchen und sie griff schnell zu der Brotbox, deren Inhalt sie gestern Abend in weiser Voraussicht bereits vorbereitet gehabt hatte, schaltete den Wasserkocher an, den Tee würde sie anschließend in der Thermoskanne mit zur Bibliothek nehmen. Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, schüttete sie hastig Milch in die Schüssel mit dem Müsli und schlang es hinunter, die Banane aus dem Obstkorb steckte sie lieber in die Brotdose. Als sie den Tee schließlich eingegossen und die Thermoskanne auf ihren Schoß gelegt hatte, wandte sie sich zum gehen. Doch erst, als sie kurz davor war, die Küche wieder zu verlassen, wurde ihr vollends bewusst, was für ein Chaos sie veranstaltet hatte. Die Milch stand noch auf der Anrichte, die Müslischale hatte sie weder ins Spülbecken, noch in die Maschine geräumt und die geöffnete Dose mit den Haferflocken stand ebenfalls herum. Sie ignorierte das schlechte Gewissen, das deswegen in ihr aufkam und ging hinüber zur Diele, um sich die Schuhe anzuziehen. Dort stand nicht nur das dreistöckige Regal, auf dessen mittleren Brett ihre Schuhe standen – also in für sie genau der richtigen Höhe, sodass sie bequem danach greifen konnte – sondern auch ihr „Butler“, wie sie den kleinen Hocker nannte, auf dem sie nun erst den Schuh abstellte und anschließend ihr Bein mithilfe einer Hand soweit nach oben hob, dass sie den Fuß mit der anderen hineinschieben konnte. Anschließend griff sie nach der Handtasche, die am Haken an der Wand hing, der sich ebenfalls auf einer Höhe befand, so dass sie ihn gut erreichen konnte, schnappte sich ihre Jacke und ging dann, ein letztes Mal ins Schlafzimmer. Im immernoch schummrigen Licht der Morgenröte konnte sie schlecht sagen, ob er noch schlief oder nur wieder einmal teilnahmslos an die Decke stierte. Erst, als sie an der Bettkannte ankam, stellte sich heraus, dass es Letzteres war. Sie streichelte sein Gesicht, das er ihr zugewandt hatte, als er bemerkte, dass sie den Raum betrat. „Ich geh jetzt in die Bib. Könnte ein langer Tag werden, heute. Es wäre super, wenn du die Küche aufräumen würdest. Und dann…vielleicht könntest du einkaufen gehen? In der Stadt ist doch Wochenmarkt, vielleicht findest du da irgendwas vernünftiges zum Kochen. Da könntest du doch hingehen!“ Sein Blick verriet, wie indifferent er der Idee gegenüber stand, er versuchte sich jedoch an einem halbwegs zustimmenden Kopfnicken. „Wenn was ist, ruf mich bitte an.“ Sie beugte sich soweit nach vorne, dass er sich nur noch minimal aufzurichten brauchte, damit sie ihn küssen konnte. „Bis dann“, sagte sie noch, dann drehte sie sich um und verließ erst das Zimmer und anschließend die Wohnung.
Wie sie erwartet hatte, war sie keinesfalls die Erste, die einige Zeit später vor den noch verschlossenen Türen der Bibliothek wartete. Interessiert sah sie sich zwischen all den Menschen um, die sich jetzt zum Ende des Semesters hin wahrscheinlich von einer ähnlichen Panik hier hingetrieben worden waren, wie sie selbst. Kurz begann sie im Kopf nachzurechnen, wie viele Wochen sie nun eigentlich noch bis zum Abgabetermin hatte, beschloss dann jedoch sehr schnell, den Gedanken lieber zu verdrängen. Stattdessen konzentrierte sie sich lieber darauf, nicht ganz ohne Erleichterung festzustellen, dass zumindest von den Kommilitonen, deren Gesichter sie kannte, niemand hier war, was für sie vor allem bedeutete, dass sie keine Chance hatte, sich mit einem von ihnen zu sehr abzulenken. Schließlich öffneten sich die Flügeltüren zum großen Lesesaal und Lea ging mit all den anderen hinein. Im Vorraum warf sie einen letzten Blick auf ihr Handy, bevor sie es mitsamt ihrer Tasche in einem der Schließfächer einschloss, jedoch nicht, ohne zuvor die Teekanne, ihren Laptop, den Geldbeutel und den für sie so wichtigen Zettel herausgeholt zu haben. Mit letzterem ging sie schließlich nach vorne zur Theke und war erleichtert, dort Hannah zu sehen.
Hannah war eine kleine, untersetzte Frau Mitte fünfzig, die Lea schon aus ihrem Bachelorstudium kannte. „Hallo Lea. Na? Was ist es heute?“ Die Studentin grüßte zurück und legte anschließend einen Zettel auf den Tisch. „Die, von denen ich mir sicher bin, dass sie da sind, habe ich angekreuzt. Die rotmarkierten sind vielleicht nicht da, aber falls sie es sind, wäre es super wichtig, dass ich sie bekommen könnte. Und die, die einfach nur draufstehen, sind nice-to-have“, erklärte sie die Systematik ihrer Auflistung. Hannah warf einen kurzen Blick auf den Zettel. „Ich dachte, du wärst schon am praktischen Teil, meintest du neulich?“ Lea biss sich auf die Unterlippe und senkte den Blick. „Ja…ja, bin ich auch, aber ich…ich bin mir so unsicher, ob die Grundannahme, von der ich ausgehe, so wirklich stimmen kann. Und mein Prof war im letzten Feedback-Gespräch auch nicht vollends überzeugt, deswegen wollte ich da nochmal einen Blick auf die Literatur werfen“, erklärte sie. „Aber ich dachte, du hast die Daten schon erhoben? Oder hab ich dich da letztens falsch verstanden?“ – „Nein…“, antwortete die Studentin gequält, „Aber ich…ja. Ich brauch da irgendwie nochmal ne Absicherung, bevor ich ans Auswerten und vor allem ans Interpretieren gehe, glaube ich.“ Sie versuchte sich an einem Lächeln, dann verließ Hannah ihren Platz hinter der Theke und sie gingen gemeinsam in den Lesesaal. Während die Bibliothekarin sich daran machte, die aufgeschriebenen Bücher zu finden, richtete Lea sich an ihrem Tisch ein. Sie stellte die Thermoskanne auf, holte ihren Laptop aus der Tasche und öffnete darauf den Ordner, indem sich ihre Unterlagen befanden. Die Gliederung der Arbeit, die PDF-Dokumente der Literatur, die sie eingescannt hatte, die Exceltabelle mit den Datensätzen und das Programm, mit dem sie diese Auswerten konnte. In den letzten Wochen hatte sie mit Hilfe eines Onlinetools ein Konzept getestet, das die Kommunikation von Teams, die hauptsächlich über Emails und Messenger in Kontakt waren, verbessern sollten. Diese hatte sie nun von den teilnehmenden Betrieben mit Hilfe eines Fragebogens evaluieren lassen und musste nun die Ergebnisse auswerten. So weit, so klar, aber je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr Fragen stellten sich ihr, was die Umsetzung des Konzeptes anging. Und wenn sich jetzt bei der Evaluation herausstellte, dass keiner der Punkte, die sie zur Verbesserung gerade der Kommunikation über unterschiedliche Zeitzonen hinweg, vorgeschlagen hatte, funktionierte, müsste sie sehr langatmig erklären, warum ihr Modell gescheitert war. Sie fuhr sich durch die Haare und schloss kurz die Augen, als Hannah zurückkam und ihr einen Stapel Bücher auf den Tisch legte. „Bittesehr. Der Artikel zu interkultureller Kommunikation ist im Keller, den hol ich dir gleich noch rauf. Brauchst du sonst noch was?“ Lea seufzte. „Lebenswillen?“, fragte sie dann, die Augenbrauen hebend. „Ich schau mal, was ich im Keller so finde…“, erwiderte Hannah und machte sich auf den Weg davon. Lea starrte noch einige Augenblicke auf ihren Laptop, bis der Bildschirm vor ihren Augen verschwamm. Dann kniff sie diese einmal kurz zusammen und zwang sich, wieder in der Realität anzukommen. Aus Selbstmitleid hatte sich noch keine Masterabeit von alleine geschrieben. Entschlossen schlug sie das große Buch auf, das Hannah ihr zuvor vorbeigebracht hatte.
Sieben Stunden später, als sie beim Blick auf ihren Bildschirm große, schwarze Flecken vor ihren Augen vorbeziehen sah und ohnehin kein Wort in einem der Bücher mehr verschwand, packte sie ihre Sachen zusammen und verließ den Lesesaal der Bibliothek. Im Voraum ging sie hinüber zu ihrem Schließfach, holte Jacke und Handy heraus und warf einen Blick auf ihr Mobiltelefon. Keine Nachricht von Gregor, stattdessen etliche von Marie, die anscheinend gerade in einer mittelgroßen Motivationskrise steckte. Im Bus nach Hause versuchte sie, die Freundin bestmöglich aufzubauen, was in Anbetracht der Tatsache, wie müde sie sich selbst fühlte, nicht gerade einfach war, ihr aber besser gelang, als sie es für möglich gehalten hätte, jedenfalls entnahm sie das Maries Abschiedsworten. Lea schüttelte lachend den Kopf. Faszinierend, wie einfach es manchmal war, Leute von Dingen zu überzeugen, die man selbst momentan nicht zu leisten im Stande war. Nachdem sie die Tür des Hochhauses aufgeschlossen hatte und mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock gefahren war, stand sie nun endlich vor ihrer Wohnungstür. Sie öffnete diese, hängte Rucksack und Jacke wieder an die dafür vorgesehenen Haken und zog sich die Schuhe aus, während sie auf Verdacht „Hallo?“ in die Wohnung rief, innerlich die Daumen drückend, sie möge keine Antwort erhalten. Einige Augenblicke blieb die Hoffnung ihr erhalten, während sie in die Küche ging, um zu sehen, dass eine andere mal wieder enttäuscht worden war. Über der Schüssel, aus der sie heute morgen ihr Müsli gegessen hatte, kreisten Fruchtfliegen. Aus Frustration wurde Wut, wurde schlechtes Gewissen und dann – erneut – das Mitleid. Sie kippte den Inhalt der Schüssel in das Waschbecken, dann ging sie ins Schlafzimmer. Einen kurzen Moment lang war sie verwundert darüber, ihn dort nicht anzutreffen und als sie dann Reithose und eines ihrer alten T-Shirts und ein Sweatshirt aus dem Schrank nahm, sich auf das Bett setzte und sie anzog, keimte doch wieder kurz die Hoffnung in ihr auf, die sie beim Betreten der Wohnung gehabt hatte. Vielleicht war er ja wirklich nicht da, war auf den Markt gegangen, wie von ihr vorgeschlagen und hatte deshalb keine Zeit gehabt, sich um das Geschirr in der Küche zu kümmern. Die Hoffnung starb in dem Moment, als sie ins Wohnzimmer ging, in dessen vorderer linker Ecke der Spint stand, indem sie ihre Reitstiefel und den Helm aufbewahrte.
Er saß auf dem Sofa und schaute nun irritiert zu ihr herüber, als sie den Raum betrat, als habe er von ihrer Anwesenheit bis hierhin wirklich nichts mitbekommen. Entsprechend verwundert begrüßte er sie dann auch. „Du warst nicht einkaufen, wie wir das abgesprochen hatten, oder?“, fragte sie scharf. Er drehte den Kopf wieder weg, so dass er sie nicht ansah. „Nein. Ich…ich wusste nicht, was ich kochen sollte.“ Sie nickte nur, während der Ärger über ihn immer mehr zum Ärger über sich selbst wurde, weil sie ihm keinen konkreteren Auftrag gegeben hatte. Sie hätte es besser wissen müssen. „Ich bin beim Gaul. Vielleicht reicht es, dass ich auf dem Rückweg noch kurz beim Hofer vorbeischaue. Was hast du denn gegessen?“ – „Nichts“, erwiderte er und sie zog scharf die Luft ein. „Gut. Dann koche ich nachher, wenn ich wieder da bin. Kann ja auf dem Rückweg noch schnell beim Hofer vorbeifahren und einkaufen.“ Kurz spielte sie mit dem Gedanken, sich nun wirklich einfach umzudrehen, ihre Sachen aus dem Spint zu nehmen und zu gehen. Stattdessen ging sie zu ihm hinüber, nahm seine Hand und suchte den Blickkontakt mit ihm, dem er auswich. „Ich bin nicht sauer“, versuchte sie ihn zu beruhigen, konnte aus seinem leeren Blick jedoch nicht erkennen, ob er ihr das glaubte. „Ich muss heute eh noch ne Nachtschicht einlegen, weil ich heute eigentlich die meiste Zeit über nur Literatur zusammengefasst und nichts für die Auswertung getan hab.“ Sie küsste kurz seine Hand. „Dann essen wir eben ein bisschen später, das macht nichts“, versicherte sie ihm. Er zuckte nur mit den Schultern. Sie streichelte ein letztes Mal seinen Arm, dann ging sie endgültig hinüber zum Schrank, um die Stiefel und den Helm herauszunehmen.
Zwei Stunden später hatte sie ihr Auto wieder auf dem Parkplatz vor dem Haus ab gestellt und die entsprechenden Knöpfe auf der Fernbedienung gedrückt, so dass sich die hintere Tür des Wagens öffnete und ihr Rollstuhl an einer Stange herausgefahren wurde. Die Zeit mit Epona war viel zu schnell vergangen, hauptsächlich deswegen, weil sie ihn nicht mehr reiten wollte, wenn es um sie herum dunkel wurde. Mit den Runden, die sie geschafft hatten, war sie zwar nicht ganz zufrieden, da der Übergang zwischen Trab und Schritt ihr häufig noch zu holprig gewesen war, aber bis zum nächsten Turnier war auch noch einiges an Zeit. Und um die Gedanken aus diesem ständigen Kreislauf mit den beiden Fixpunkten „Masterarbeit“ und „Gregor“ zu befreien, waren die paar Minuten hilfreich gewesen. Der Rollstuhl war inzwischen ausgeladen worden, so dass sie kurz darauf die Einkäufe hatte holen und in die Wohnung bringen können. Das anschließende kochen und auch da Abendessen zwischen Gregor und ihr war weitestgehend still verlaufen, natürlich hatte er sie nicht gefragt, wie ihr Training gewesen war und sie es vermieden, davon zu sprechen. Nun saß sie alleine in der Küche, das Leuchten ihres Laptopdisplays bildete die einzige Lichtquelle und die Flasche Weißwein, die sie sich zur Motivation auf den Tisch gestellt hatte, war zu gut einem Drittel geleert. Inzwischen hatte sie sich in diesen seltsamen Arbeitsmodus hineinbegeben, in dem es keinerlei Rolle mehr spielte, wie müde man eigentlich war, sondern in dem man trotzdem weiterhin Texte las, Tabellen auswertete und versuchte, die eigene Gewichtung bei der Vergabe der Items zu verstehen. Die Kirchturmuhr schlug zwei Mal und Lea rieb sich die Augen, die sich ohnehin schon furchtbar trocken und schwer anfühlten. Sie unterdrückte ein Gähnen, dann fokussierte sie sich wieder auf die Exceltabelle vor ihr auf dem Bildschirm. Drei positive Antworten bei Item eins bedeuteten in der Gesamtgewichtung…Mit einem Stirnrunzeln registrierte sie die Schritte auf dem Flur, ließ ihre Aufmerksamkeit jedoch auf ihre Arbeit gerichtet. Wenn sie diesen Wert und diesen Koeffizienten noch einmal anpasste, vielleicht würde dann…
Gregor betrat die Küche, warf einen kurzen Blick auf ihren Computer und setzte sich dann ihr gegenüber, nachdem er zuvor ein Glas, das auf der Spüle stand, mit Wasser aufgefüllt und ihr auch eins angeboten hatte. „Ich bleibe bei Wein“, erwiderte sie abwesend und konzentrierte sich wieder darauf, anhand der Kurve, die sich aus einem Teil der Antworten ergaben, den Fehler zu finden. Doch das mit der Konzentration wollte ihr nicht so recht gelingen. Im Gegensatz zur nur vom leisen Lüfter ihres Computers unterbrochenen Stille zuvor erschienen ihr schon sein regelmäßiges Atmen und das leise Glucksen, mit dem er das Wasser ab und an hinunterschluckte als unverhältnissmäßig laut. Während sie das noch einigermaßen ignorieren konnte, beschlich sie schon bald das Gefühl, dass er sie beobachtete. Ihre fragenden Blicke beantwortete er nicht, was das Ganze für sie zunehmend unangenehmer machte. Einige minutenlang versuchte sie, das auszublenden, was ihr jedoch nicht gelang. Dann verdrehte sie – im Schutz des Bildschirms, wie sie hoffte – die Augen, klappte ihren Computer zu, stützte den Kopf auf die Ellebogen und sah ihn direkt an. „Wieso schläfst du nicht?“, erkundigte sie sich, sich vollkommen bewusst, dass sie wie eine Mutter mit einem Kleinkind redete. Er zuckte nur mit den Achseln. „Du schläfst ja auch nicht. Also dachte ich, ich leiste dir Gesellschaft“, ergänzte er dann. Die Tatsache, dass den Worten das gewinnende Lächeln gefehlt hatte, das sonst, wie sie sich sicher war, am Ende des Satzes auf seinem Gesicht zu sehen gewesen wäre, gab seiner Aussage etwas beliebiges. „Aber in Wien die letzten zwei Nächte hast du doch auch geschlafen“, wendete sie ein. „Da hatte ich vorher auch ziemlich was getrunken“, erwiderte er, woraufhin sie ihm halb im Scherz, halb demonstrativ ihr Weißweinglas hinschob. Er lehnte ab. Eine Weile sah sie ihn einfach nur an, so, als würde die Antwort auf die Fragen wegen seins Verhaltens, die sie hatte, irgendwo in seinem Gesicht stehen, wenn sie es nur intensiv genug studierte. Doch sie fand nichts darin. „Tut mir leid, dass ich dich vorhin so angemacht hab wegen dem Essen. Das war unfair von mir, tut mir leid.“ Er erwiderte nichts, sah sie nur an, etwas trauriges lag in seinem Blick und Lea vermutete, dass es wohl tausend Dinge gab, die er ihr gerne gesagt hätte, aber nicht angemessen formulieren konnte, da er sie selbst nicht verstand. Diesmal war er es, der anschließend nach ihrer Hand griff, die Finger der seinen darin verschränkte und anschließend ihren Handrücken küsste und dann leicht von unten herauf zu ihr hochsah. Wahrscheinlich war es dieser Blick, den sie so gut kannte und der in ihr auch nach neun Jahren Beziehung noch so viele gute Gefühle auslösen konnte. Das Wissen darum, dass er sie so ansah genügte, um sie all den Ärger, all den Stress für einige Minuten vergessen zu lassen. Sie streichelte mit dem Daumen über seine Hand.
„Ich liebe dich, weißt du das?“, flüsterte sie dann, so leise es ihr der Situation und der Uhrzeit angemessen erschien. Sie spürte, wie der Griff seiner Finger um ihre augenblicklich stärker wurde. Dann sah sie ihn nicken. „Gut“, erwiderte sie dann mit belegter Stimme. „Das darfst du auch auf gar keinen Fall vergessen.“ Er schüttelte den Kopf. Einige Augenblicke lang saßen sie nur so da und sahen sich an. Dann löste er seine Finger aus ihren, stand auf, ging um den Tisch herum und kniete sich neben sie, sodass ihre Köpfe ungefähr auf einer Höhe waren. Er vergrub eine Hand in ihren Haaren und drehte dann langsam, vorsichtig ihren Kopf in seine Richtung. Als sie den anschließenden Kuss nach einer Weile wieder löste, meinte sie, ein wenig Entspannung in seinen Gesichtszügen gesehen zu haben. „Weißt du was? Wir machen einen Deal. Du gehst jetzt ins Wohnzimmer und suchst den blödesten Film, den du auf Netflix finden kannst. Und sobald ich diesen einen Auswertungsteil noch gemacht habe, komm ich dazu und wir schauen das, ja? Das mit dem schlafen lohnt sich jetzt eh nicht mehr…“, seufzte sie. Er gab ihr Recht, dann stand er auf und verließ die Küche. Lea sah ihm noch eine Weile hinterher, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit zuwendete.
Einige Zeit später lagen sie gemeinsam auf dem großen Sofa, Lea hatte den Kopf auf Gregors Bauch gelegt und konzentrierte sich fast mehr auf das ruhige, gleichmäßige Atmen ihres Freundes als auf den Film. Doch auch, wenn sie selbst immer stärker gegen die Müdigkeit ankämpfen musste, das wissen darum, dass er heute Nacht kein Auge zutun würde, hielt sie wach, gepaart mit all den anderen Dingen, die ihr momentan durch den Kopf gingen und dem Alkohol. Und vielleicht war es eine Mischung als alldem, die sie schließlich weit nach vier Uhr morgens diese eine Nachricht schreiben ließ, die sie noch bereuen sollte.
„Auf wiedersehen, Herr Professor! Und vielen Dank.“ Lea schüttelte die Hand ihres betreuenden Dozenten und verließ sein Sprechzimmer. Kaum fiel die Tür, die der Professor ihr zuvor aufgehalten hatte, ins Schloss, atmete sie heftig aus und gab dabei einen Laut von sich, der wohl am ehesten als Mischung aus Schnauben und Knurren zu beschreiben war. Eigentlich war sie noch mit einem blauen Auge davon gekommen, den anstatt von ihr zu verlangen, dass sie die komplette Datenerhebung noch einmal machte, erwartete er nur von ihr, dass sie die Bewertungsskala anpasste und einen Punkt komplett aus der Systematik strich – und doch war sie wütend. Nicht auf ihren Professor, nicht auf die Probanden, wahrscheinlich am ehesten auf sich selbst, darauf, dass sie den Fehler in ihrem Fragebogen nicht schon bei den Pretests bemerkt und hatte eliminieren können. Das würde sie nun einiges an zusätzlicher Arbeit kosten und außerdem ihren sorgfältig ausgearbeiteten Zeitplan durcheinander bringen. Sie versuchte, das leichte Gefühl der Panik, dass dieser Umstand in ihr auslöste, zu ignorieren und machte sich auf den Weg zum Fahrstuhl, der sie ins Erdgeschoss bringen würde. Die Wut über ihren Fehler wurde nicht signifikant kleiner und schon, als sie schließlich in der Straßenbahn saß, die sie nach Hause bringen würde, war ihr klar, dass sie sich dort nicht wieder sofort mit ihrer Arbeit beschäftigen wollte. Zuerst musste sie den Kopf freikriegen, die Wut für etwas anderes nutzen und da Epona ihr gerade nicht zur Verfügung stand (sie hatte bereits am Morgen mit ihm trainiert und Tina hatte gesagt, dass sie ihn heute Abend alleine auf den neuen Sattel, den Lea bald benutzen würde, einstellen wollte), musste sie einen anderen Weg finden, um den Ärger in Energie umzuwandeln.
Als sie gerade anfing, im Kopf verschiedene Möglichkeiten dafür durchzugehen, vibrierte ihr Handy in ihrer Jackentasche. Sie zog es heraus und lächelte, als sie sah, wer ihr da geschrieben hatte. Das Gefühl, der Erleichterung, das sich beim Lesen der Nachricht einstellte, entspannte sie nun ein wenig, lenkte ihre Gedanken weg von ihrer Abschlussarbeit, hin zu der Tatsache, dass sie nun Feierabend hatte. Feierabend, an dem sie tun konnte, was sie wollte und mit wem sie es wollte. An der richtigen Haltestelle angekommen verließ sie die Straßenbahn. Die Strecke von dort bis zu dem Haus, in dem sie wohnte, war zum Glück nicht allzu lang und doch lag es etwas abgeschieden, fast versteckt hinter einer ganzen Reihe anderer Hochhäuser. „Das ist der Kompromiss“, hatte Gregor gesagt, als sie nachdem sie die Matura bestanden hatte, gemeinsam dorthin gezogen waren. „Du kommst gut zur Uni und ich ganz schnell weg, wenn mir die Großstadt auf den Geist geht. Und wenn du dann fertig bist, ziehen wir irgendwohin raus, wo uns keiner findet.“ Die laue Frühlingsluft wehte ihr ins Gesicht und ihr zuvor gefasster Entschluss, dass sie nun nicht gleich wieder zuhause sitzen wollte, festigte sich.
Sie trat durch die Eingangstür, ging zum Fahrstuhl und fuhr hinauf in den zweiten Stock, schloss die Wohnungstür auf und ließ ihre Tasche achtlos auf den Boden fallen. „Schatz?!“, rief sie dann, nicht überrascht, dass sie keine Antwort bekam. Seufzend ging sie hinüber ins Schlafzimmer, konnte Gregor dort jedoch nicht finden, weswegen sie im Wohnzimmer nachsah. Ein leichtes Schmunzeln legte sich auf ihre Lippen und etwas verwundert bemerkte sie, dass sich fast so etwas wie Erleichterung in ihr breit machte. Er hatte Kopfhörer aufgesetzt und schien ihr Rufen wohl deshalb zuvor nicht gehört zu haben. Lea stellte sich nun neben ihn und legte eine Hand auf seine Schulter, woraufhin er zusammenzuckte und die Kopfhörer abnahm. „Hey…da bist du ja wieder“, stellte er fest und versuchte sich an einem Lächeln. „Jep bin ich. Gehst du mit mir joggen?“ Sie sah ihn bittend an. Er seufzte. „Hör mal, ich bin da glaub ich wirklich zu müde für. Und ganz so früh ist es ja auch nicht mehr…“ – „Wenn wir jetzt sofort losgehen, schaffen wir bestimmt noch eine Runde, bevor’s dunkel wird. Auf, Schlierenzauer, wo ist dein Ehrgeiz?“ Sie schlug ihm scherzhaft auf den Arm. Er zögerte. „Wir haben das schon so lange nicht mehr gemacht. Und ich schaff immer viel bessere Zeiten, wenn du dabei bist“, versuchte sie es nun anders. Außerdem fühlt es sich dann nicht an, als ob du 30.000 Kilometer entfernt von mir wärst, obwohl wir direkt nebeneinander stehen, ergänzte sie in Gedanken, während sie seinen Arm streichelte.
Der Blick, mit dem er sie nun ansah, zeigte ihr, dass sie keine Chance hatte, dafür wäre sein anschließendes Kopfschütteln nicht einmal mehr notwendig gewesen. „Bitteeee, Gregor!“ Lea hasste es, wenn sie bei ihm um etwas betteln musste, doch auch das gehörte leider zu den Dingen, die in letzter Zeit häufiger, als es ihr lieb war, vorkamen. „Nee, ich…ich glaub nicht, dass das mit dem Knie schon wieder geht“, sagte er dann ausweichend. Lea verdrehte die Augen. „Du bist doch die Krücken jetzt schon eine ganze Weile los. Oder hat deine Physio gesagt, du darfst das noch nicht wieder machen?“, hakte sie nach. „Nein…also sie hat nicht gesagt, dass ich’s nicht…“ – „Na also! Dann lass uns laufen gehen.“ Sie legte alle Motivation in diese Worte, die sie noch zusammenkratzen konnte. „Nur eine kleine, schnelle Standardrunde durch den Park, damit ich mich über meinen Prof aufregen kann und du dich über deine mangelnde Kondition. Damit wir mal rauskommen. Ich saß jetzt schon wieder drei Tage am Stück fast nur in der Bib.“ Wieder einmal war sie sich sicher, dass er sie nicht ansah, als ihre Blicke sich nun trafen. Er schüttelte den Kopf. „Ich will nicht raus“, murmelte er dann leise. Sie seufzte, riss sich dann aber zusammen. Ihn jetzt anzufahren hätte niemandem geholfen. „Was willst du denn dann?“ Er zuckte müde mit den Schultern. Den Bruchteil einer Sekunde lang spielte sie daraufhin mit dem Gedanken, nachzugeben, sich einfach zu ihm zu setzen. Doch sie ahnte, dass sie dann wahnsinnig geworden wäre mit all der unterdrückten Wut auf ihren Professor und allem, was noch damit zusammenhing. „Na schön, dann werd ich alleine gehen“, kapitulierte sie seufzend und fügte im hinausgehen an, „Auch wenn es schon fast dunkel ist.“ Er reagierte nicht.
Während sie sich umgezogen und dabei Jeans und Rollkragenpullover gegen eine enganliegende Sporthose, ein T-Shirt und eine Sweatshirtjacke getauscht hatte, war ihr die Idee gekommen, Marie zu fragen, ob sie sie begleiten würde. Im Gegensatz zu Gregor war ihre beste Freundin sofort bereit gewesen und hatte nur um eine halbe Stunde Aufschub gebeten. So trafen sie sich nun an einem kleinen Waldstück hinter der Universität, das quasi einen Rundgang um das Campusgelände bot. „Hast du eine Stirnlampe mit?“, fragte Marie sie, nachdem sie sich mit einer Umarmung begrüßt hatten. Lea zog das Stirnband, das mit der Lampe an seinem Ende an die Ausrüstung eines Höhlenforschers erinnerte, mit einem triumphierenden Grinsen aus ihrem Rucksack. „Sehr schön!“, lobte ihre beste Freundin sie und nachdem sie anschließend noch ein letztes Mal die Route abgesprochen hatten, gingen sie in moderatem, aber nicht allzu langsamem Tempo los. „Ich hab dich heute gar nicht in der Bibliothek gesehen, dachte schon, du wärst krank“, neckte Marie sie und Lea lachte, zum ersten Mal seit Tagen, wie es ihr vorkam. „Nein“, antwortete sie dann und begann von dem Treffen mit ihrem Professor zu erzählen. Marie hörte ihr aufmerksam zu. Die beiden hatten sich am ersten Tag ihres Bachelorstudiums kennengelernt, als sie beide verzweifelt im Studierendenbüro gestanden hatten, weil sie keine Plätze im Proseminar zum wissenschaftlichen Arbeiten bekommen hatten. Während Lea dem Nervenzusammenbruch nah gewesen war und sich schon kurz vor der Exmatrikulation gesehen hatte, hatte Marie einfach so lange mit der zuständigen Universitätsangestellten diskutiert, bis sie beide doch noch einen Platz bekommen hatten. Und auch, wenn sie wegen ihrer unterschiedlichen Schwerpunkte im Master kaum noch gemeinsame Lehrveranstaltungen hatten – Marie belegte das Wahlmodul Interventions- und Therapieforschung, während Lea sich auf Arbeits- und Organisationspsychologie spezialisieren wollte – versuchten sie immer noch, sich so oft es ging zu sehen. Auch, wenn „so oft es ging“ häufig nur das halbstündige Mittagessen in der Unimensa bedeutete.
„Ich will ja nicht sagen, ‚ich hab’s dir gesagt‘, aber wovor genau hatte ich dich gewarnt, als du meintest, dass du die Masterarbeit unbedingt bei ihm schreiben willst?“ Sie drehte den Kopf und sah Lea mit hochgezogenen Augenbrauen an. Diese verdrehte scherzhaft die Augen. „Ja, ich weiß schon. ‚Mach das nicht, Lea, du wirst Streß haben bis zur allerletzten Minute!‘ Und ich hab nicht auf dich gehört, weil ich unbedingt wollte, dass sein Name auf meinem Abschlußzeugnis steht…“, seufzte sie dann. „Siehst du. Das hast du jetzt davon. Das bei mir und der Fidlmayr ist absolut entspannt.“ – „Ich dachte, sie hat dich ungefähr fünf Mal deine Gliederung neu schreiben lassen?“, stichelte Lea und Marie streckte ihr die Zunge heraus. „Richtig. Aber seit sie damit zufrieden ist, habe ich mich nur noch ein Mal mit ihr getroffen, um meine Ergebnisse zu diskutieren, weil sie bei allem anderem mit meinen Entwürfen zufrieden war“, grinste die blonde, hochgewachsene junge Frau. „Wow, das klingt total schön, freut mich sehr für dich!“, gratulierte Lea ihr ehrlich. „Ja ach…anstrengend ist es trotzdem. Weißt du, was ich mir überlegt habe?“ Lea sah sie fragend an. „Ich dachte, wenn wir all das erfolgreich überstanden haben, sollten wir ne Woche in den Urlaub fahren. Nur wir zwei, Mädelsurlaub, irgendwo ganz weit weg, am besten die Fidschis oder so und dort lassen wir uns eine Woche von vorne bis hinten bedienen. Na? Was meinst du?“ Lea, die bei der Erwähnung der Fidschis kurz prustend gelacht hatte, lächelte zurückhaltend. Das war wieder einer dieser Momente, die sie so gerne ein für alle Mal aus ihrem Leben gestrichen hätte. Ein „Ja, aber…“-Moment. „Ja, aber dann müsste ich entweder jemanden bezahlen, der mit mir mitkommt und mich versorgen kann, oder du müsstest das machen und eigentlich möchte ich das nicht. Ja, aber dann müsstest du da immer den Mietwagen fahren, weil ich das nicht darf. Ja, aber wir müssten uns dann immer, wenn wir abends außerhalb vom Hotel was trinken gehen wollen, ein Taxi nehmen, wenn du nicht mehr fahren kannst und dann wird es teuer.“ „Klingt toll“, sagte sie ehrlich, aber nicht sonderlich enthusiastisch. „Können uns das ja nochmal in Ruhe anschauen, wenn wir das alles hinter uns gebracht haben“, wich sie dann aus. Marie stimmte ihr zu. „Also nur, wenn das finanziell bei dir geht, natürlich. Ich meine, ich will ja die Therapieausbildung machen, ich werd eh finanziell komplett von dir abhängig sein. Wenn dein Liebster seine Karriere aufgibt, bevor du den super bezahlten Job in der Unternehmensberatung hast, wird das natürlich nichts“, zwinkerte sie, ihr Gesichtsausdruck wechselte jedoch vom Ironischen ins Besorgte, sie musste Leas bekümmerten Blick gesehen haben.
„Schwierig“, antwortete diese schließlich auf eine entsprechende Frage. „Er kann nach wie vor nicht artikulieren, was wirklich in ihm vorgeht, ignoriert dementsprechend meine Gesprächsangebote. Wenn ich versuche ‚ihm was zu tun zu geben‘, was in den ersten Wochen noch so gut geklappt hat, blockt er gerade auch immer mehr ab.“ Sie zuckte ratlos mit den Schultern. „Wir reden nur das Allernötigste, oder sagen wir, er redet mit mir nur noch das Allernötigste…Nein, eigentlich redet er generell so gut wie gar nicht, sondern starrt Löcher in die Decke. Er schläft nicht, schleicht Nachts durch die Wohnung und…“ Sie fuhr sich mit der Hand über die Haare, da diese zu einem festen Pferdeschwanz gebunden waren, „Andere Dinge, die man stattdessen tun könnte, wenn man schon nicht schläft, laufen auch nicht“ Sie warf Marie einen vielsagenden Blick zu. „Ouch…“ –„Ja naja, das ist jetzt nicht deswegen schlimm, sondern eher, weil ich denke, dass er dermaßen blockiert ist, dass das halt…ne?“ Wieder zog sie vielsagend die Augenbrauen in die Höhe. „Also, es geht mir eher darum, dass das ja nur ein weiteres Anzeichen dafür ist, wie mies es ihm grade geht. Sowas kann ja für ein niedriges Selbstwertgefühl sprechen, für depressive Verstimmungen, für…ach, weißt du ja selbst. Und das macht mir Sorgen“, beendete sie ihren Vortrag schließlich. Marie sah sie einige Augenblicke lang an. „Ist er in Therapie?“ – „Nein. Trau ich mich nicht, ihm vorzuschlagen, weil er sich dann bevormundet fühlen und total zumachen könnte, aus Angst, dass ich ihn weiter damit bedränge.“ – „Aber er weiß, dass es eine Option ist?“ Lea atmete hörbar aus, während sie nickte. „Ich hoffe, nach heute Abend weiß er es“, erwiderte sie dann. Inzwischen hatten sie das Unigelände ein Mal umrundet. Marie warf einen Blick auf ihre Pulsuhr, lachte anschließend trocken und zog eine Augenbraue in die Höhe. „Leali, das muss besser werden. Die Zeit war unterirdisch.“ Lea stimmte ihr zu, denn bis dato hatte sie eher das Gegenteil dessen getan, was sie eigentlich vorgehabt hatte, wie ihr schlechtes Gewissen ihr bestätigte. Ablenkung! „Gut“, sagte sie grimmig und sah betont entschlossen zu Marie hoch. „Pack mas!“ Eine Nummer heftiger, als es notwendig gewesen wäre und doch mit einer Geste, die ausladend Genug war, um die Ironie, die ihr innewohnte, zu verraten, schlug sie sich auf die Oberarme. „Das ist mein Mädchen!“, stimmte Marie ihr zu und anschließend nahmen beide ihr Tempo auf, deutlich schneller, als das zuvor.
Verschwitzt, aber in Gedanken ruhiger als zuvor, kam sie etwa anderthalb Stunden später wieder zuhause an. Als sie über den Parkplatz fuhr, fiel ihr Blick auf einen roten Fiat Kombi, der einige Meter entfernt von ihrem stand. Ein leises Lächeln legte sich auf ihre Lippen, während sie sich in den Rollstuhl setzte und dann ihren Rucksack vom Beifahrersitz holte. Anschließend ging sie nach oben in die Wohnung und das leise Lächeln wurde zu einem ausgewachsenen Grinsen als sie die Stimmen hörte, die durch den Flur zu ihr herüber drangen. „Hallo Papa“, begrüßte sie den Mann, der neben ihrem Freund auf dem Sofa saß herzlich. „Hallo, Mäuschen!“ Er ging zu ihr hinüber, um sie zu umarmen. „Du warst aber lange joggen. Gregor meinte, du wärst schon vor zwei Stunden losgegangen?“ – „Ja, musste mich etwas auspowern heute, hab die letzten Tage über ja hauptsächlich das Hirn beschäftigt“, erklärte sie lächelnd, nachdem sie sich aus seiner Umarmung gelöst hatte. „Ich hatte erst gedacht, ich hätte mich in der Uhrzeit getäuscht, als du nicht da warst, aber…“ – „Nein, das hat schon gestimmt, ich hab nur vorhin erst gesehen, dass du ja geantwortet hattest.“ Es war eine Notlüge, die einzige Option, die sie hatte. Das Lächeln, mit dem Gregor sie bedachte, als sich ihre Blicke trafen, war kalt. Vielleicht war das der Grund dafür, warum sie in seiner anschließenden Frage eine gewisse Schärfe zu hören meinte. „Wo warst du eigentlich?“ – „An der Uni hinten“, antwortete sie wahrheitsgemäß. „Alleine? Im Dunkeln?“ Er klang immernoch eher scharf, als ernsthaft besorgt. „Mit Marie und der Stirnlampe“, antwortete sie müde und fügte dann an, dass sie schnell duschen gehen würde. Der kalte Schweiß, der an ihrem Körper klebte, wurde ihr mit jeder Minute, da sie keinen Sport mehr machte, unangenehmer. Dementsprechend schnell ging sie ins Schlafzimmer, holte sie ihre Jogginghose und ein T-Shirt aus ihrer Hälfte des Schrankes und ging dann ins Badezimmer, entledigte sich ihrer Kleider und setzte sich unter die Dusche.
Das heiße Wasser auf ihre Haut prasseln zu spüren, tat gut, ließ es für einige Augenblicke zu, sich so sehr zu entspannen, dass sie alles um sich herum vergaß, nur die Wärme spürte und die Schwere, die ihren Körper befiel, zuließ. Der Tag war lang gewesen, einer von vielen langen Tagen in letzter Zeit, zu viel im Kopf, zu viel in den Armen. Sie rieb Haare und Körper jeweils mit Shampoo beziehungsweise Duschmittel ein und wusch dieses anschließend wieder ab. Mit geübten Bewegungen stützte sie sich auf den Armlehnen ihres Duschsitzes ab, so dass sie sich zurück in ihren mit einem Handtuch ausgelegten Rollstuhl setzen konnte. Sie hatte das Handtuch gerade um den Körper geschlungen und ein anderes auf ihrem Kopf zum Turban verknotet, als es an der Tür klopfte. Ihr Vater, da war sie sich sicher, dass Gregor einfach eingetreten wäre, gehörte wohl zu den „Berufskrankheiten“, die eine Langzeitbeziehung wie ihre entwickelte. „Ja?“, reagierte sie auf das Klopfen und tatsächlich öffnete Toni die Tür einen Spaltbreit und fragte, ob er hineinkommen dürfte. Sie stimmte zu und er setze sich auf die geschlossene Toilette, während sie begann, ihre Haare trocken zu rubbeln und ihn mit der leicht gehobenen rechten Augenbraue ansah. „Das, was zu erwarten war“, sagte Toni mit seiner sanften, abgeklärten Stimme, die sie seit sie denken konnte in fast jeder Situation beruhigt hatte. Und doch schien ihr Unterbewusstsein durchaus zu bemerken, dass am Inhalt seiner Worte nichts Beruhigendes gewesen war, denn sie merkte, wie sich die Muskeln in ihren Waden augenblicklich und unwillkürlich anspannten. Wie immer, wenn sie nervös war, übernahm die Spastik die Kontrolle über diesen Teil ihres Körpers.
Lea nickte. „Wie schlimm?“ Toni seufzte. „Sollte meine angehende Master of Science nicht wissen, dass kein guter Psychologe nach einem Erstgespräch eine abschließende Diagnose stellt?“, fragte er dann und sah sie liebevoll an. Sie wandte den Blick von ihm ab. „Dann gib mir eine vorläufige“, forderte sie ihn auf, während sie begann, ihre Haare zu kämmen. Einige Augenblicke lang sagte ihr Vater nichts, bedachte sie nur mit einem Blick, der klarmachte, dass er das nicht gut hieß. „Es ist eher eine depressive Verstimmung, als ein Burnout, denke ich. Er weigert sich sehr bewusst, vom Karriereende zu sprechen.“ Lea biss sich auf die Lippe und nickte. „Ich hab ihm die Visitenkarte von Herrn Dr. Hader gegeben, Studienkollege von mir. Er sagte, er würde drüber nachdenken.“ Ein Gefühl der Erleichterung machte sich in Lea breit, das war mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte. Sie atmete hörbar aus und konnte spüren, wie auch die Muskulatur in ihren Beinen langsam wieder weicher wurde. „Komm mal her, meine Kleine“, forderte Toni sie auf und streckte die Arme nach ihr aus. Sie grinste schief. „Ich bin nicht mehr klein, Papa“, protierstiere sie, ging jedoch zu ihm hinüber und lehnte ihren Kopf an seine Schulter, während er einen Arm um sie legte. „Doch…“, murmelte er und streichelte ihre Schulter. „Und gleichzeitig bist du so groß…“ Sie atmete tief ein und aus, genoss das Gefühl der Ruhe, das er ihr schenkte, immer schon und immer fort, davon war sie überzeugt. „Danke, Papa“, murmelte sie dann. Er nickte. „Gern geschehen.“ Nachdem sie noch einige Minuten so zusammen dagesessen hatten, entschied Lea, dass sie am besten wieder zu Gregor gingen, weshalb sie sich schnell anzog und während ihr Vater schon einmal ins Wohnzimmer ging, ihre Haare zumindest zu einem Zopf band. Als sie anschließend wieder ins Wohnzimmer kam, standen die beiden Männer schon an der Garderobe und verabschiedeten sich. „Und du weißt, dass du dich jederzeit melden kannst, ja?“, hörte sie Toni sagen, woraufhin Gregor nickte. Ihr Vater beugte sich anschließend zu ihr hinunter. „Vielen Dank für die Einladung, Mäuschen. Lass öfter mal von dir hören, deine Mutter macht sich sonst Sorgen“, merkte er noch an, woraufhin sie versicherte, sie werde sich in Zukunft wieder öfter bei ihnen melden. Dann verschwand Toni durch die Tür ins Treppenhaus.
Kaum war diese hinter ihm ins Schloß gefallen, wandte sich Gregor ihr zu. „Was sollte das?“, fragte er, halb wütend, halb genervt. Den Gedanken, sich jetzt einfach dumm zu stellen und zu hoffen, das ganze aussitzen zu können, verwarf sie so schnell wieder, wie er gekommen war. „Ich dachte, vielleicht würde es dir helfen.“ – „Mir helfen?! Wenn du mir ohne Absprache, ohne mich vorher mal zu fragen, ob ich das überhaupt möchte, deinen Papa zum psychologischen Abklärungsgespräch vorbeischickst?“ Diese Worte so aus seinem Mund zu hören ließen in ihr zum ersten Mal den Verdacht aufkommen, dass er sich übergangen fühlen könnte. „Ich dachte, vielleicht würdest du…vielleicht würdest du einsehen, dass…“ – „Dass ich kaputt bin und zum Psychiater muss?!“, fuhr er ihr über den Mund. „Nein…“, Lea merkte, wie seine Sturheit sie allmählich wütend werden ließ und es kostete sie einiges an Selbstbeherrschung, um nun nicht ähnlich ungehalten zu reagieren, wie er es tat, doch das wäre für den Verlauf des Gesprächs nicht förderlich gewesen. „Aber dass du Hilfe brauchst“, sagte sie dann, so ruhig es ihr noch möglich war. „Hilfe?! Von nem Psychodoktor?! Ganz bestimmt nicht! Ich weiß schon, warum ich nicht mehr zu dem Sportpsychologen gehe. Was ich brauche, ist einen Plan, was ich jetzt mit meinem Leben mache und keine Analyse meiner Kindheit und ob ich mich einsam fühle, weil meine Mutter früher voll gearbeitet hat!“ Sie verkniff sich den Kommentar, dass Angelika ihres Wissens nach nie voll gearbeitet hatte, zumindest solange Gregor noch zuhause und nicht im Internat gewohnt hatte nicht.
„Wie hast du dir denn vorgestellt, wie das jetzt weitergeht, mhm?“, fragte sie stattdessen und sah ihn direkt an. Er lachte höhnisch auf und verdrehte die Augen. „Oh bitte, Lea, hör auf mit dem Mist, ich ertrag’s nicht mehr. Ständig fragst du mich, wie es mir geht, wie ich mich bei Ding XY fühle und ob ich darüber sprechen möchte. Nein. Möchte ich nicht. Mit keinem Psychologen und am allerwenigsten mit meiner Freundin, die mich hier benützt, um ihre Therapie-Scheiße an mir auszuprobieren.“ Seine Worte und die Unterstellung, die damit einherging, traf sie mehr, als sie zugeben wollte, weswegen sie einmal schwer schlucken musste, bis der Kloß in ihrem Hals soweit verschwunden war, dass sie wieder sprechen konnte. „Gut“, erwiderte sie dann, „Wie du willst.“
Sie drehte sich um, ging ins Schlafzimmer und schloß die Tür hinter sich ab. Ihn jetzt noch sehen zu müssen, hätte sie nur aufgeregt, hier drin hatte sie wenigstens ihre Ruhe. Zeit, zum Nachdenken. „Sie können nicht jedem helfen. Und schon gar niemandem, der keine Hilfe will“, kam ihr ein Satz aus dem Seminar zur Einführung in die Psychotherapie wieder in den Sinn. Sie wusste es ja. Doch das Wissen um und das Bewusstsein für eine Sache waren zwei völlig verschiedene Paar Schuhe, ihr soeben wieder vor Augen geführt worden war. Einige Minuten blieb sie, wie sie war hinter der Tür stehen, lauschte ihrem eigenen Atem und wartete darauf, dass er an der Tür klopfte, sie um Entschuldigung bat und darum, ihn hereinzulassen. Sie kam nicht. Und ihr eigener Atem hörte sich die ganze Nacht über unfassbar laut an.
|
Kapitel: | 3 | |
Sätze: | 553 | |
Wörter: | 10.317 | |
Zeichen: | 60.475 |
Feedback
Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!