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Das Herz in der Dunkelheit

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14.03.19 11:29
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Darians Herz raste und seine Schenkel brannten, doch er konnte jetzt nicht aufgeben. Der Mann den er verfolgte war sein letzter Anhaltspunkt. Er durfte ihn nicht verlieren. Sie rasten durch enge und dunkle Gassen wie zwei Gespenster. Um sie war Stille und über ihnen die Sterne, die einzige Beleuchtung in diesem Teil Gareths. Der Mantel des Inquisitors und seine schulterlangen, glatten Haare wehten im Wind und er atmete gierig die kühle Nachtluft ein. Er konzentrierte sich darauf, den Abstand zu seinem Ziel zu halten. Irgendwann würde der andere langsamer werden.

Sie bogen um eine Ecke – eine Sackgasse! Der andere drehte sich um, Stahl blitzte in seiner Hand auf. Er stand geduckt da, wie ein verwundeter Wolf, der bereit war jederzeit nach vorne zu springen und seine Zähne im Fleisch des Verfolgers zu begraben. Ein Lächeln huschte über Darians Gesicht. Er zog betont langsam sein Schwert und machte einige lässige Schritte auf seinen Gegner zu, blieb jedoch außerhalb seiner Reichweite.

„Wo ist sie?“ Seine Stimme klang klar und kalt wie Stahl.

„Und was wenn ich es dir sage? Drehst du dich dann einfach um und gehst deiner Wege?“ sprach der andere mit tiefer, rauer Stimme. Darian konnte die Anspannung im muskulösen Körper des Schlägers erahnen. Kleine Augen funkelten ihn böse an.

„Warum nicht? Du bist mir egal – mich interessiert nur, was du weißt.“

„Dann komm näher und ich sage es dir...“ Darian machte einen Schritt nach vor. „… in der Hölle!“

Stahl klirrte auf Stahl als der Inquisitor sich zur Seite drehte und den Streich des anderen parierte. Darian duckte sich unter einem Hieb und schlitzte dem anderen den Bauch auf. Der Schläger schrie auf, ließ die Waffe fallen und presste die Hände gegen die Wunde. Dann sank er auf die Knie.

Der Inquisitor seufzte: „Du hast wirklich ein Talent dafür, es dir unnötig schwer zu machen.“

„Die Dämonen der Niederhöllen sollen dich holen, du Schwein.“

„Mach es dir nicht noch schwerer. Das ist eine üble Wunde. Du kannst dich entscheiden: ein langsamer und qualvoller Tod oder ein schnelles, schmerzloses Ende. Ich will einen Namen und einen Ort.“

„Ich habe Zeit,“ fügte Darian hinzu als der andere nicht antwortete. Er ging neben ihm in die Hocke und studierte das zur Grimasse verzerrte Gesicht. „Deine Schmerzen werden nur schlimmer werden.“

„Vinsalt...“ keuchte der andere. „Das Haus… der Grisetti.“

„Gut. Vielen Dank für deine Kooperation.“ Der Inquisitor richtete sich auf und trat einen Schritt zurück.

„Es gibt da nur ein Problem. Woher weiß ich, dass du die Wahrheit sagst?“ Damit drehte er sich um und ging in die Richtung, aus der er gekommen war, hinter ihm die Schreie des Sterbenden.

„Du bist eine miserable Lügnerin, Nico.“ Die Frau auf dem Stuhl rutschte unruhig hin und her. Der junge, schlanke Körper wand sich, die schmucklose Lederhose spannte sich gemeinsam mit den Muskeln ihrer Beine während ein weites Leinenhemd den Oberkörper verbarg. Das grazile Gesicht drehte sich hin und her, die zum Pferdeschwanz gebundenen brünetten Haare strichen über ihre Schultern und der Blick ihrer braunen Rehaugen glitt nacheinander über die drei Männer im Raum, wobei sie es vermied, sie direkt anzusehen. Vor allem nicht Theodorus, der über ihr thronte und sie sich noch kleiner vorkommen ließ als sie tatsächlich war.

„Ihr bekommt euer Geld nächste Woche, ich schwör‘s bei Phex!“

„Nein, wir kommen unser Geld morgen. Weil du es heute Nacht erarbeiten wirst.“ Ein breites Grinsen formte sich auf dem vernarbten Gesicht von Theodorus. Der Mann hatte die Züge und die muskulöse Statur eines Schlägers, doch Nicoletta wusste, dass es nicht bloß Brutalität war, die ihn zum Anführer der Gruppe gemacht hatte. Seine grauen Augen verrieten eine Intelligenz, die nicht recht zum restlichen Eindruck des Hünen passen wollte. Er hatte seine massiven Arme auf die Tischplatte gestützt und blickte hämisch auf sie herab. Neben ihr lehnte Horatio lässig an der Tischkante und spielte scheinbar gedankenverloren mit seinem Dolch. Doch sie wusste wie schnell der kleine Dürre mit dem knochigen Rattengesicht reagieren konnte wenn es notwendig war. Die vierte Person im Raum war ein großer schlanker Kerl mit Schnurrbart, der auf den Namen Yppolito hörte. Sie alle trugen einfache Straßenkleidung, nur Yppolito hatte zusätzlich noch einen Mantel um die Schulter und einen federbesetzten Hut unter den Arm geklemmt. Er stolzierte neugierig im Zimmer herum und öffnete von Zeit zu Zeit eine Schublade um hineinzusehen.

„Hör mal, heute Nacht ist… ähm… schlecht. Ich...“

„Habt ihr gehört, Jungs? Heute Nacht ist schlecht. Was ist denn Nico, hast du eine Verabredung?“

Horatio verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. Sein gehässiges Kichern wurde nach Augenblicken von Yppolito übertönt, der laut und gekünstelt loslachte. Unwillkürlich röteten sich Nicolettas Wangen. Dabei wollte sie sich keine Blöße geben. Sie blickte zornig zu Theodorus auf.

„Ich hab da eine große Sache laufen. Wirklich! Ich brauche nur noch ein bisschen mehr Zeit...“

Theodorus schlug die Faust auf den Tisch dass er wackelte und richtete sich zu voller Größe auf.

„Du hast schon mehr als genug Zeit gehabt. Ha, Zeit! Es ist Zeit, dass du deine Schulden zahlst, du kleines Luder! Oder sollen wir sie anders eintreiben?“ Die ersten Worte hatte er gebrüllt, doch dann war seine Stimme immer leiser und bedrohlicher geworden. Horatios Grimasse gab wieder ihr Kichern zum Besten und Yppolito fiel mit seinem Lachen ein. Nicoletta seufzte resigniert. Diesmal würde sie sich wohl nicht rausreden können. Theodorus würde sich nicht länger hinhalten lassen. Und er war niemand, der so einfach ein „Nein“ akzeptierte. Die beiden anderen lachten noch immer.

„Könnt ihr endlich mal euer Maul halten, ihr Affen?“ brüllte der Schläger seinen Kumpanen zu. „Ich und Nico haben hier eine geschäftliche Besprechung.“ Mit diesen Worten griff er nach einem Stuhl und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. Wieder Kichern und Lachen, das nach einem bösen Blick des Hünen hastig verstummte.

„Also, wir wollen, dass du eine Kleinigkeit für uns besorgst, Nico. Wir wissen ja, in solchen Dingen ist Verlass auf dich. Du wirst heute Nacht dem Stadthaus einer ehrenwerten Familie einen kleinen Besuch abstatten. Keine Sorge, du musst dich nicht mit Gold oder Edelsteinen abschleppen. Nein, uns ist zu Ohren gekommen, dass vor einigen Tagen eine Kutsche aus Gareth angekommen ist. In dieser Kutsche befand sich ein Kurier, und dieser Kurier hatte eine Schatulle bei sich. Schwarzes Ebenholz, poliert, sehr schönes Material. Du wirst sie erkennen, wenn du sie siehst. Jedenfalls brachte besagter Kurier die Schatulle in besagtes Haus, wo sie sich bis dato befindet. Diese Schatulle wirst du uns bringen.“

Nicoletta verschränkte die Arme vor der Brust und verzog die Lippen. Sie hasste es, Einbrüche für Theodorus zu begehen. Und diesmal schien es sich um etwas wirklich Großes zu handeln. Die kleinen Diebereien und Betrügereien mit denen sie sich durchs Leben schlug waren eine Sache. Sie hatte sich bisher noch immer erfolgreich dem Arm des Gesetzes entziehen können und sie war zuversichtlich, dass sie auch in Zukunft wenig zu befürchten haben würde, was ihr eigentliches Metier anging. Doch bei einer Patrizierfamilie einzusteigen war eine ganz andere Geschichte. Das konnte böse enden und sie war nicht begeistert davon, Kopf und Kragen für Theodorus und seine Halsabschneider zu riskieren. Aber hatte sie eine Wahl? Nein, die hatte sie nicht. Außerdem regte sich in ihr ein seltsam vertrautes Gefühl bei dieser ganzen Geschichte: Neugier.

Theodorus‘ raue Stimme riss sie jäh aus ihren Gedanken. „Was ist Nico? Willst du, dass ich hier Wurzeln schlage?“

„Sag, was ist in dieser Schatulle.“

Sie bekam ein bellendes Lachen zur Antwort. „Woher soll ich denn das wissen? Der Kurier ist mit dem Ding nicht hausieren gegangen. Wahrscheinlich weiß nicht einmal er, was sich darin befindet. Doch bei dieser ganzen Geheimniskrämerei muss es etwas ziemlich wertvolles sein. Mach dir keine Gedanken um den Inhalt, konzentrier‘ dich einfach darauf, dir das verdammte Ding unter den Nagel zu reißen.“

Nicoletta führte eine zarte Hand zum Gesicht und rieb sich nachdenklich am Kinn. Die Sache machte irgendwie keinen Sinn. Theodorus war nicht der Typ, der sich für Geheimnisse interessierte. Dort wo sie einbrechen sollte gab es sicherlich greifbarere Reichtümer. Was wollte er mit dieser Schatulle? Sie fühlte nun die Neugier an ihr zerren wie ein aufgeregtes Kind. Würde sie ihr zum Verhängnis werden? Nein, sie musste diese ganze Sache als Chance begreifen. Es war klar, dass Theodorus die Schatulle wollte. Vielleicht konnte sie sich einen Vorteil heraushandeln…

„Nico...“ Theodorus trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte. Hinter ihr gähnte Yppolito demonstrativ. Horatio spielte noch immer mit seinem Dolch.

„Und wenn ich dir die Schatulle bringe sind meine Schulden getilgt? Obwohl du nicht weißt, was sich darin befindet?“

„Hm. Fürs Erste, ja.“ Erneut machte sich ein breites Grinsen auf dem Gesicht des Mannes breit.

„Das ist das letzte Mal, dass ich für euch arbeite, Theodorus. Wenn ich euch die Schatulle bringe trennen sich unsere Wege. Versprich mir das.“

„Und wenn nicht?“

„Keine Schatulle.“

Beide funkelten einander böse an. Nicoletta wusste, dass sie mit ihrer Forderung ein Risiko einging. Ein Wort von Theodorus und seine Kumpane würden sie übel zurichten. Es waren grausame Männer, die Vergnügen an Gewalt fanden. Doch sie vertraute ihrer Menschenkenntnis. Wenn Theodorus die Schatulle wirklich wollte brauchte er sie. Dann hatte er keine andere Wahl als seine Hunde zurückzupfeifen und auf ihre Forderung einzugehen.

Schließlich lächelte Theodorus erneut. Aber es war ein anderes Lächeln. Weniger amüsiert.

„Gut. Bring mir die Schatulle und du kannst deiner Wege gehen.“

„Und wo befindet sie sich?“

„Im Haus der Grisetti.“

* * *

Als sie das Haus verlassen hatten wandte sich Yppolito an den Anführer der Gruppe.

„Du willst die kleine Schnepfe doch nicht wirklich abschreiben, oder?“

„Volltrottel. Natürlich nicht. Sobald wir die Schatulle haben machen wir uns einen kleinen Spaß mit ihr, damit sie nicht vergisst, wer hier das Sagen hat.“

Grinsend gingen die drei die schmutzige Straße Richtung Hafen hinunter.

Als das Licht der Abendsonne die Stadt am Yaquir in ein rotes Licht tauchte lehnte Nicoletta an einer Mauer im Schatten einer Gasse und beobachtete den Platz vor ihr. Pärchen spazierten händchenhaltend, Diener trugen Einkäufe, von Zeit zu Zeit fuhr eine Kutsche vorbei. Der Platz wurde von einem großen Gebäude dominiert, das das Ende zweier Häuserzeilen bildete, die keilförmig vor dem Platz zusammenliefen. Eine breite Durchzugsstraße trennte Platz und Gebäude von der Gasse, in der sie sich befand. Südlich der Straße begann die Altstadt mit ihren prächtigen Palästen und öffentlichen Gebäuden. Nördlich davon, wo sie sich befand, lagen die Häuser der Mittelschicht.

Dieser Palazzo am Rande der Altstadt war Nicolettas Ziel, der Sitz der Grisetti in der Stadt. Das wahre Machtzentrum der Familie lag weiter im Norden, in Unterfels, doch wie viele Adelsfamilien unterhielten die Grisetti neben anderen Besitzungen auch ein Haus in der Hauptstadt des Horasreichs. Nicoletta betrachtete die in pastelligem Gelb bemalte Fassade mit ihren Halbsäulen und Pilastern, den Balkonen und dem reichen Stuckdekor. Ihr Blick glitt über Türen und vergitterte Fenster, hinter denen sie Vorhänge ausmachen konnte. Hinter einigen Vorhängen konnte sie von Zeit zu Zeit Bewegung erkennen und nun, da es zu dämmern begann wurden in manchen Räumen Kerzen angezündet. Ihr Verstand versuchte von außen eine Idee vom Plan des Gebäudes zu bekommen, von Grundrissen und Raumaufteilungen, von Türen und Fenstern, von Wohn-, Arbeits- und Schlafbereichen, von Möglichkeiten hineinzugelangen und von Fluchtwegen. Wenn es dunkel wäre und der Platz leer würde sie den Palazzo auch von den anderen Seiten studieren. Sie würde zwei Stunden nach Mitternacht einsteigen wenn alle tief und fest schliefen. Sie würde diese vermaledeite Schatulle finden, sich leise und unbemerkt aus dem Staub machen und am nächsten Tag ihre Schulden bezahlen. Dann könnte sie ihr Leben frei von der Last der Vergangenheit leben, für sich selbst, ohne für jemand anders die Drecksarbeit machen zu müssen.

Etwas entging Nicolettas scharfen Augen jedoch: Sie war nicht die Einzige, die den Platz und das Gebäude beobachtete. In einer der anderen Gassen, die sich auf den Platz öffneten, verbarg sich eine weitere Gestalt in den Schatten. Hätte sie jemand wahrgenommen hätte er einen großen, schlanken Mann gesehen, dessen in Schwarz- und Grautönen gehaltene Kleidung der neuesten Vinsalter Mode entsprach. Das Gesicht mit dem kurzen Schnurrbart wirkte jugendlich, doch sein kurzes, grau meliertes Haar deutete darauf hin, dass der Mann älter war als seine Züge verrieten. Er stand aufrecht und bewegungslos. Mit der rechten Hand stützte er das Kinn, mit der linken den Ellbogen des rechten Arms. Ein kühles Lächeln umspielte seine Lippen. Wie er dastand hätte er besser in die marmorne Audienzhalle eines Palastes gepasst als in eine dunkle Gasse. Seine kleinen grauen Augen funkelten mit unverhohlener Erwartung während sein Blick auf dem Haus der Grisetti ruhte.

Der Vollmond stand hoch über Vinsalt und tauchte die Stadt in ein kühles Licht. Es war weit nach Mitternacht und die Stadt lag in tiefem Schlaf als im Haus der Grisetti eine Gestalt auf leisen Sohlen durch dunkle Gänge huschte. Nicoletta fluchte innerlich. Warum musste dieses Haus so riesig sein? Sie hatte bisher noch kein Glück gehabt und die Zeit lief. Wo konnte sich diese blöde Schatulle bloß befinden? Sie war über eines der unvergitterten Fenster im zweiten Stock eingestiegen, den sie bereits durchsucht hatte. Nun befand sie sich im dritten von vier Stockwerken, das sie praktisch ebenfalls durch hatte. Sie hatte gehofft, nicht hinauf in den vierten Stock zu müssen. Das waren gewiss die Wohn- und Schlafräume der Herrschaft und damit die am besten gesicherten Räume, in denen die Gefahr entdeckt zu werden am größten war. Doch natürlich würde man auch dort am ehesten besonders wertvolle Objekte aufbewahren. Aus diesem Grund hatte sie auf ihrer Suche bislang auch das Erdgeschoss und den ersten Stock ausgelassen – die Räume dort waren traditionell Lager-, Arbeits- und Wohnräume für die Dienerschaft, abgesehen von den repräsentativen Treppenanlagen, die in die oberen Stockwerke führten.

Nicoletta schlich die steinernen Stufen zum obersten Stockwerk hinauf, geduckt und an die niedrige Marmorbalustrade gepresst. Sie trug dieselbe Kleidung wie untertags, doch diesmal hielt ein dünner Ledergürtel das weite Hemd zusammen, an dem in einer schmucklosen Scheide ein kurzes Florett hing, dessen Griff sie nun nervös mit der rechten Hand umklammerte.

Am oberen Ende der Treppe erwarteten sie ein kleiner Gang und fünf Türen. Sie entschied sich für die mittlere über der das Wappen der Familie prangte. Sie versuchte den verzierten Bronzeknauf und stellte fest, dass die Tür unverschlossen war. Vorsichtig öffnete sie sie einen Spalt und spähte in den dahinterliegenden Raum. Sie hatte sich einen prächtigen Audienzsaal vorgestellt, doch er war kleiner, als sie vermutet hatte. Es war wohl eher eine Art Konferenzraum oder Wohnzimmer. Mondlicht schien durch zwei Fenster in der gegenüberliegenden Wand und enthüllte den Blick auf holzvertäfelte Wände, an denen Truhen und Sofas aufgereiht waren. An einer Wand befand sich ein erloschener Kamin. Der Raum wurde von einem mächtigen Tisch dominiert, der in seiner Mitte stand. Dort erkannte sie auch den Grund, warum die Tür unverschlossen war: eine Gestalt stand über den Tisch gebeugt und hantierte mit einem kleinen Gegenstand. Sie versuchte offensichtlich, eine Schatulle zu öffnen.

Nicoletta fühlte den Stoff mit dem der Griff der Waffe umwickelt war. Ganz vorsichtig zog sie das Florett und schlich geduckt in den Raum, jeder Muskel angespannt, ihr Blick fokussiert auf die Gestalt, die ihr den Rücken zuwandte, wie eine Katze, die sich an ihre Beute anschleicht. Ein paar Schritte, dann war sie hinter dem Unbekannten und berührte mit der Spitze des Floretts eine Stelle zwischen seinen Schultern. Die Gestalt verharrte bewegungslos.

„Die Hände nach oben. Und jetzt dreh dich um, ganz langsam.“ flüsterte sie. Ein wohlproportioniertes, maskulines Gesicht starrte sie an, glattrasiert und umrahmt von schulterlangem, glattem Haar. Der Unbekannte war etwas größer als sie, unter dem schweren Umhang trug er hohe Stiefel, Lederhose und Lederwams, vom Gürtel hing ein Schwert, das untypisch für das Horasreich war. Ein Dieb wie sie, zweifellos. Sie bedeutete ihm ein paar Schritte vom Tisch zurückzuweichen, dann fiel ihr Blick auf den Gegenstand, den er zu öffnen versucht hatte: Im fahlen Mondlicht blitzte ihr schwarzes Ebenholz entgegen. Die Waffe auf den Fremden gerichtet griff sie mit der anderen Hand nach der Schatulle.

„Du weißt nicht, womit du dich hier einlässt.“ zischte er.

„Stimmt. Aber das Ding gehört trotzdem mir.“ Lächelnd hob sie das Objekt vom Tisch. Der andere nutzte den Augenblick, den sie abgelenkt war, tauchte unter ihrem Florett hindurch und riss sie von den Beinen. Die Schatulle wurde aus ihrer Hand geschleudert. Sie ließ die nun nutzlose Waffe los, blockte den Fausthieb des anderen ab und rammte ihm das Knie in den Magen. Dann war sie über ihm und schlug nach ihm, doch er griff nach ihren Armen und beide rangen am Boden miteinander. Die Kontrahenten kämpften lautlos, ihr rascher, angestrengter Atem und das Poltern das sie verursachten die einzigen Geräusche in der Stille der Nacht.

Der Unbekannte war stark. Seine Finger gruben sich wie Schrauben in ihr Fleisch. Doch sie war beweglicher und mit allen Wassern der Vinsalter Straße gewaschen. Der Kampfstil des anderen kam ihr merkwürdig vor, zu… sauber. Sie hatte aus Notwendigkeit gelernt sich zu verteidigen. Ihr Gegner kämpfte als wäre er darin ausgebildet worden, doch als habe er es bisher selten nötig gehabt, sein Können anzuwenden.

Nun hatte sie in dem minutenlangen Gerangel einen Vorteil errungen, war über ihm, versuchte ihre Arme aus seinem eisernen Griff zu befreien, da fiel ihr Blick auf die Schatulle, die in der Raumecke lag und auf die behandschuhte Hand, die sie vom Boden hob. Ein dritter Dieb? Er musste sich unbemerkt hereingeschlichen haben, während sie ganz mit ihrem Gegner beschäftigt gewesen war. Sie glotzte ungläubig die große, schlanke Gestalt an und glaubte ein Lächeln in ihrem Gesicht zu erkennen.

Bevor sie Gelegenheit hatte zu reagieren wurde sie unsanft auf den polierten Holzboden befördert. Ihr Gegner hatte ihre Verwunderung genutzt und die Situation umgekehrt. Dann sah auch er den dritten Dieb und starrte ihn einen Moment mit heruntergeklapptem Kinn an.

„Bei Praios, was...“ Dann versetzte Nicoletta ihm zwei kräftige Faustschläge in die Magengrube, denn in seiner Überraschung hatte ihr Gegner seinen Griff um ihre Arme gelockert. Dann stieß sie ihn von sich und rappelte sich auf während er eine Hand auf den Bauch presste und mit der anderen versuchte, an dem schweren Holztisch einen Halt zu finden.

Doch die Gestalt mit der Schatulle hatte bereits den Raum durchquert und stand nun in der Tür, die zur Treppe führte. Der Dieb drehte sich zu Nicoletta und ihrem Gegner, der gerade neben ihr auf die Beine kam, um und deutete eine Verbeugung an. Dann stürmte er davon, ein Schatten in der Nacht.

* * *

Darian fluchte und zog sein Schwert. War dieses Haus denn in dieser Nacht der Treffpunkt sämtlicher Diebe Vinsalts? Die Frau neben ihm wich zurück, ihr Blick glitt zu Boden und suchte die Waffe, die sie während ihres Kampfes verloren hatte.

„Närrin.“ zischte er. „Ich will nicht gegen dich kämpfen. Ihm nach! Wenn wir ihn haben können wir uns noch immer um die Schatulle streiten.“

„Du bist hier der Narr. Vergiss die blöde Schatulle! Den kriegen wir sowieso nicht mehr. Bald ist das ganze Haus wach. Willst du Kopf und Kragen riskieren? Ich verschwinde.“ Damit rannte sie an ihm vorbei ohne sich weiter um ihn zu kümmern.

Darian stand alleine im Raum, fluchte und stürmte dann ebenfalls durch die Tür, die Treppe hinunter und einen langen Gang entlang. Er hörte Schritte, doch von wem sie stammten konnte er nicht sagen. Der Inquisitor ließ sich von seinen Instinkten leiten, denn das war seine beste Chance, den Dieb mit der Schatulle in diesem Gewirr aus Räumen und Gängen zu finden. Er dachte nicht an Flucht, nur an das Objekt seiner langen Suche, das sich ihm erneut entzogen hatte als er bereits die Hand darauf gelegt hatte.

Er bog um eine Ecke, dann prallte etwas hart gegen seinen Hinterkopf. Ihm wurde schwarz vor Augen und er fiel ungebremst zu Boden, das triumphierende Lachen des Wächters das Letzte was er hörte bevor er das Bewusstsein verlor.

Als Darian mit schmerzendem Schädel aufwachte befand er sich in einer Kerkerzelle. Er rief nach einer Wache und als diese nach einiger Zeit kam verlangte er nach dem diensthabenden Offizier, denn er wolle ein Geständnis ablegen. Bald darauf erschien ein Hauptmann, dem er anstatt eines Geständnisses einen Brief und ein bestimmtes Siegel zeigte, woraufhin man Darian die Ketten löste und ihm sein Schwert und jene Gegenstände brachte, die man zuvor konfisziert hatte. Dann befragte der Inquisitor den Hauptmann über die Vorkommnisse der letzten Nacht.

Viel könne er nicht erzählen, beteuerte der Offizier. Um die dritte Stunde nach Mitternacht sei ein Bursche ins Wachzimmer gekommen, der von einem Einbruch im Haus der ehrenwerten Familie Grisetti berichtet hatte. Eine Einheit Gardisten wurde zu besagtem Haus geschickt, wo Bewohner und Dienerschaft bereits wach waren und die Soldaten erwarteten. Man habe ihn und noch eine zweite Person, eine junge Frau, die sich offensichtlich unberechtigt Zutritt zum Gebäude verschafft hatte, gefesselt der Einheit übergeben. Nein, man habe an der Frau kein Diebesgut oder andere ungewöhnliche Gegenstände gefunden, erwiderte der Hauptmann auf Darians Frage. Natürlich hätte man sie gründlich durchsucht, versicherte er. Allerdings sei er nicht persönlich anwesend gewesen, in der Nacht hatte ein anderer Offizier Dienst gehabt. Er könne ihm seinen Namen nennen und auch die Namen der Gardisten wenn der Inquisitor wünsche sie zu befragen, doch Darian winkte ab und der Hauptmann fuhr fort.

Die Frau wäre zudem bei Bewusstsein gewesen, hätte ständig ihre Unschuld beteuert und wäre ansonsten aber unkooperativ gewesen. Sie wäre dann zunehmend hysterisch geworden, woraufhin man sie geknebelt habe, wie der diensthabende Offizier im Protokoll vermerkt hatte.

Die Hausbewohner wurden wie es sich ihrem Stande nach geziemt gründlich zu den Vorfällen befragt und zeigten sich sehr kooperativ. Die Herrschaften Grisetti beklagten den Verlust einer hölzernen Schatulle, die einen seltenen Kunstgegenstand beherbergt, den sie erst kürzlich erworben hatten. Ansonsten sei nichts entwendet worden. Das Haus wurde durchsucht, doch weder wurde besagte Schatulle gefunden, noch Hinweise auf ihren Verbleib. Er und die Frau seien die einzigen Personen gewesen, die im Gebäude angetroffen wurden, abgesehen von den Bewohnern natürlich, versicherte der Hauptmann auf die Nachfrage des Inquisitors. Laut Protokoll wäre auch niemandem von den Zeugen eine dritte unbefugte Person aufgefallen. Man habe auch die Umgebung des Hauses abgesucht, doch keine weiteren Hinweise gefunden. Daraufhin nickte Darian grimmig und ließ sich vom Hauptmann zu der Zelle führen, in der die Frau festgehalten wurde, die gemeinsam mit ihm verhaftet worden war.

* * *

Nicoletta saß auf dem Boden der Zelle, den Rücken an die Wand gelehnt, das Kinn auf der Brust und das Gesicht in den Händen vergraben. „Großartig gelaufen“, dachte sie. „Wäre dieser Idiot nicht dazwischengekommen würde ich jetzt auf mein neues Leben trinken.“ Eine einzelne Träne kullerte ihre rechte Wange hinunter. Sie war so knapp dran gewesen und dann hatte ihr das Schicksal wieder einmal eine schallende Ohrfeige verpasst. Es wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein…

Das Geräusch eines Schlüssels, der im Schloss gedreht wurde, riss sie aus ihrem dunklen Brüten. Die Zellentür schwang auf und herein trat ein Gardist in blank poliertem Brustpanzer und hinter ihm der Mann, mit dem sie noch in der Nacht zuvor am Boden gerungen hatte. Sie sah ihn zum ersten Mal bei Tageslicht, doch sie hatte keinen Zweifel daran, dass er es war. Sie starrte zu ihm hinauf und in ihren Zügen mischten sich Zorn und ungläubige Verwunderung. Sie erkannte das kantige, von langem, schwarzem Haar umrahmte Gesicht, blickte in blaue Augen und ballte die Fäuste als der Mann kühl lächelnd auf sie herabschaute. Er trug dieselbe Kleidung wie während des Einbruchs und sie bemerkte das Schwert, das an seinem Gürtel hing.

„So sieht man sich also wieder“, sagte er in trockenem Ton. Doch der leise Spott, der mitschwang, war unüberhörbar. Nicoletta schnaubte und bedachte ihn mit einem mörderischen Blick. Als Antwort bekam sie ein Lachen.

„Ach, was bin ich froh, dass wir nicht mehr miteinander ringend auf dem Boden liegen! Du siehst mich an, als würdest du mich am liebsten umbringen.“ Nicoletta presste die Lippen aufeinander und starrte ihn weiterhin zornig an.

Der Mann schien sich nur umso mehr zu amüsieren, doch dann verschwand das Lächeln von einem Augenblick auf den anderen und seine Züge wurden hart wie Stein. Als er weitersprach war der Spott aus seiner Stimme verschwunden. „Genug geplaudert. Ich bin hier um dir einige Fragen zu stellen. Fangen wir mit etwas ganz Einfachem an: Wie ist dein Name?“

„Wie kommt‘s dass du mich befragst? Gestern haben sie dich genauso verhaftet wie mich!“, platzte sie heraus, Neugier und Zorn in der Stimme.

„Du hast richtig bemerkt, dass ich hier derjenige bin, der die Fragen stellt“, antwortete er kühl.

„Und warum sollte ich sie beantworten?“

„Du kannst es wohl nicht lassen,“ seufzte er und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Willst du aus diesem Kerker raus oder nicht?“

Nicolettas Körper straffte sich, es kehrte Spannung in ihre Muskeln zurück und sie schob den Kopf nach vor und starrte in die blauen Augen. In ihnen lagen nun weder Spott noch Gehässigkeit. Sollte sie trotz allem doch noch Glück im Unglück haben? Und wo war der Haken? Die Aussicht, ein paar Fragen zu beantworten und freigelassen zu werden schien zu schön um wahr zu sein.

„Und du kannst meine Freilassung bewirken?“

Als Antwort lächelte er nur, hob die Hände und drehte die Handgelenke.

„Und ich muss dir nur ein paar Fragen beantworten?“

Wieder ein Seufzen. „Sag mir einfach was ich wissen will und dann sehen wir weiter, in Ordnung?“

„Nein, nicht in Ordnung! So funktioniert das nicht. Denkst du, ich bin blöd, beantworte dir deine dämlichen Fragen und sobald ich dir alles erzählt habe lässt du mich hier versauern?“

„Ich kann dich auch foltern lassen.“ Er sprach die Worte lässig und mit einem Lächeln aus, als würde er einen Scherz machen. War das eine Drohung? Wenn Theodorus ihr drohte war das ziemlich offensichtlich, doch der lockere Plauderton, den der Unbekannte angeschlagen hatte, irritierte sie. Wäre er zu so etwas tatsächlich in der Lage?

Als sie nicht antwortete sprach er weiter: „Aber eigentlich bist du mir ganz sympathisch. Ich würde es hassen, Gewalt anwenden zu müssen. Wir machen es so: Ich werde beim Hauptmann hier“, er blickte auf den Gardisten, der die ganze Zeit schweigend neben ihm gestanden war, „ein gutes Wort für dich einlegen, wenn du dich kooperativ zeigst. Egal, wie viel oder wie wenig ich mit den Informationen anfangen kann, die du mir gibst. Und wenn sich das, was du weißt, als nützlich herausstellt, werde ich sehen ob ich deine Freilassung erwirken kann. Wenn du mir hilfst, gewinnst du also in jedem Fall… wie war nochmal dein Name?“

„Nicoletta“ antwortete sie mechanisch. Der Unbekannte verwirrte sie immer mehr.

„Gut, Nicoletta, warum warst du gestern Nacht im Haus der Familie Grisetti?“

Sie verzog die Lippen zu einem Schmollmund. Der andere wusste doch warum! Und wie viel sollte sie ihm wirklich erzählen? Nach einigen Augenblicken erwiderte sie einfach: „Um zu stehlen.“

„Um was zu stehlen?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich.“

„Es war also Zufall, dass wir uns begegnet sind? Und dein Blick ist nur zufällig auf ein bestimmtes Objekt gefallen?“

Sie blickte zu Boden. „Könnte doch sein. Und diese Schatulle, wenn du die mit ‚Objekt‘ meinst, sah immerhin wertvoll aus.“

Er lachte. „Du bist eine miserable Lügnerin, Nicoletta.

Sie wurde rot. „Na schön, ich hatte es genauso auf diese Schatulle abgesehen.“

„Warum?“

Sie zögerte. Sollte sie die anderen verpfeifen? Nicoletta fühlte keine große Verbundenheit mit Theodorus und seiner Bande, doch sie fürchtete ihre Rache sollten sie herausfinden, dass sie ihnen die Wache auf den Hals gehetzt hatte. Außerdem waren ihre Namen ihr Kapital, die einzige wirklich wichtige Information, die sie im Austausch für ihre Freiheit anbieten konnte. Sie überlegte, was der klügste Zug wäre.

„Weil ich jemandem einen Gefallen schuldig war.“

„Du weißt, was diese Schatulle beinhaltet?“

„Nein, verdammt! Ich sollte das blöde Ding bloß besorgen.“

„Und wem solltest du sie besorgen?“

„Freunden. Und bevor du weiterfragst: Ihre Namen bekommst du erst, wenn du mich hier rausbringst.“

„Na schön. Was ist mit dem anderen Dieb? Hast du ihn erkannt?“

„Keine Ahnung wer das war. Niemand den ich kenne jedenfalls.“

„Hast du eine Idee für wen er arbeiten könnte? Wo man so jemanden finden könnte?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Gut, das wär‘s dann. Danke für deine Kooperation.“ Ohne ein weiteres Wort drehte sich der Unbekannte um und marschierte aus der Zelle, hinter ihm der Hauptmann in seinem polierten Brustpanzer. Angst und Enttäuschung kamen über sie wie eine Welle und sie rief: „He, was soll das? Was ist mit dem guten Wort, das du einlegen wolltest? He, warte! Was ist mit den Namen meiner Auftraggeber?“ Die Kerkertür fiel ins Schloss. „Ich kann dir helfen! Ohne mich wirst du die Schatulle niemals wiederfinden!“ Schritte entfernten sich. Nicolettas Kinn sank erneut zur Brust. Das war es also. Die Hoffnung auf Freiheit war ebenso schnell wieder verschwunden wie sie aufgetaucht war.

Tausend Gedanken und Gefühle wirbelten durch ihren Kopf. Nicoletta fühlte Resignation und Verwirrung. Da hatte sie nun ihre letzte, wirklich allerletzte Chance verspielt. Und das nur weil sie meinte unbedingt mit diesem Fremden feilschen zu müssen. Doch wer weiß ob es ihr genutzt hätte Theodorus und die anderen zu verraten. Womöglich hätte er sie genauso hier verrotten lassen wenn sie ihm die Namen genannt hätte. Und würde sie schließlich freigelassen werden müsste sie sich dann zusätzlich noch mit einem rachsüchtigen und grausamen Bandenführer herumschlagen. Wer mochte dieser Mann der sie befragt hatte überhaupt sein? Kein gewöhnlicher Dieb, so viel stand fest. Aber schlussendlich war das jetzt alles egal. Sie würde noch längere Zeit über diese und viele andere Fragen nachdenken können. Sie war noch nie zuvor erwischt worden. Wie es ihr wohl in diesem Kerker ergehen würde? Was für eine Wendung ihr Leben doch in nur wenigen Stunden genommen hatte! Noch am Vortag war ihr das Schicksal das sie nun ereilt hatte unvorstellbar vorgekommen. Natürlich hatte sie immer um die Möglichkeit gewusst, erwischt zu werden – aber das Wissen um Etwas war etwas ganz anderes als es sich in der Vorstellung zu vergegenwärtigen. Was würde nun aus ihr werden? Leise begann sie zu schluchzen.

Und dann hörte sie erneut Schritte. Nach einigen Augenblicken wurde die Tür ein zweites Mal geöffnet. „Und wie genau willst du mir helfen?“, fragte sie der Unbekannte als er wieder vor ihr stand. Seine Stimme war kühl und ernst. Sie spürte, dass das die letzte Chance war, die sie hatte.

„Ich selbst weiß nichts über den anderen Dieb oder diese Schatulle. Aber ich kann dich zu den Leuten führen, für die ich gearbeitet habe. Ihr Anführer war so fixiert darauf, das Ding in die Griffel zu bekommen, dass er irgendwas darüber wissen muss. Vielleicht wissen sie sogar etwas über diesen anderen Dieb. Es ist auf jeden Fall besser, als im Dunkeln herumzustochern.“

„Du willst also, dass wir zusammenarbeiten? Warum sollte ich dir trauen? Wer sagt mir, dass du nicht die erstbeste Gelegenheit nutzt, um zu verschwinden oder mir in den Rücken zu fallen? Was hält mich davon ab, die Namen und den Aufenthaltsort dieser Leute aus dir herauszuquetschen und sie dann selbst zu suchen?“

„Du kannst es versuchen. Aber die wittern dich 10 Meilen gegen den Wind. Und selbst wenn du sie erwischt und sie plaudern werden dir ihre Informationen nicht viel nützen. Du bist kein Dieb und du bist ein Fremder“, sie blickte demonstrativ auf das Schwert an seinem Gürtel, das mittelreichischer Machart war, „Du kannst vielleicht ein bisschen an der Oberfläche herumstochern, doch du kannst dich nicht so in der Vinsalter Unterwelt bewegen, wie ich es kann – eine Diebin, die in den Gossen dieser Stadt aufgewachsen ist. Was das Vertrauen angeht… scheint so, als würden wir uns gegenseitig brauchen, was?“

Der Mann verschränkte die Arme vor der Brust und starrte sie nachdenklich an. Sein Unbehagen war offensichtlich.

„Gib mir dein Wort, dass du mir hilfst, diese Schatulle zu finden und ihren Inhalt sicherzustellen.“

„Du hast mein Wort.“

„Gut. Mein Name ist übrigens Darian. Ich warte dann draußen auf dich.“ Damit drehte er sich um und verließ die Zelle. Wenig später kam eine Wache und löste ihre Ketten.

Mercurio drehte behutsam den Dietrich und das Schloss sprang auf. Vorsichtig öffnete er den Deckel der Schatulle. Im Inneren befand sich auf schwarzem Samt gebettet eine goldene Scheibe, in die seltsame Schriftzeichen eingeritzt waren. Ehrfurchtsvoll hob der Mann den Schatz aus dem Behälter und betrachtete ihn im Schein der Kerzen. Licht und Schatten huschten über das Metall und verliehen ihm den Eindruck eines Eigenlebens, als der Dieb die Scheibe in seiner Hand hin- und herdrehte. Mercurio lächelte zufrieden und strich sich mit der linken Hand über den kurzen Schnurrbart. Dann wanderten seine Gedanken zu den beiden anderen, die er im Haus der Grisetti angetroffen hatte. Die Erinnerung löste Ärger und Verachtung bei ihm aus. Es war kein Zufall gewesen, dass sie in derselben Nacht im selben Haus gewesen waren. Dabei war er sich sicher gewesen, dass er der Einzige war, der von der Scheibe wusste. Er hatte alte Sprachen gelernt und vergessene Schriften in verbotenen Bibliotheken studiert, er hatte Zauberer zu Rate gezogen und nach den Überresten einer längst vergangenen Zivilisation gesucht.

Nein! Es war unmöglich, dass jemand anders die wahre Bedeutung des Schatzes kannte. Vermutlich hatten diese beiden Amateure bloß irgendwie mitbekommen, wie man hastig und mit zu viel Geheimniskrämerei eine gewisse Schatulle ins Haus einer Adelsfamilie gebracht hatte. Diese Stümper hatten mit ihrem offensichtlichen Verhalten geradezu eine Einladung an die Diebe der Stadt ausgesprochen. Mercurio schnaubte verächtlich, dann kehrten seine Gedanken zurück zum Preis in seiner Hand und den seltsamen Linien auf der Oberfläche des Metalls. Es war unwichtig, was bisher vorgefallen war. Die beiden anderen Diebe waren unwichtig. Selbst, wenn jemand nach dem Schatz suchte würde man ihn nicht finden. Sein Versteck war unauffindbar. Und doch beunruhigte ihn der Gedanke, dass jemand hinter ihm und der Scheibe her sein konnte. Er würde nicht zulassen, dass sich ihm jemand so kurz vor dem Ziel in den Weg stellte!

Ein Plan formte sich im Kopf des Diebes. Sollten sie ihren Schatz doch haben! Das Metall war wertlos. Der wahre Schatz waren die Zeichen, die in das Gold eingeritzt waren. Nur wenige wussten, was diese Linien zu bedeuten hatten. Nur wenige hatten das Wissen und Können, die alte Schrift zu entziffern. Und auch denen war nicht klar, welche Bedeutung die vergessenen Verse wirklich hatten. Und sollte es jemals irgendjemand herausfinden, wäre es bereits viel zu spät. Das Lächeln kehrte auf Mercurios Gesicht zurück. Heute würde er der Scheibe alle Informationen entlocken, die er brauchte. Morgen würde er einen seiner Kontakte aufsuchen und ihm den Gegenstand verkaufen. Es gab nicht viele Objekte aus jener Zeit und die Scheibe würde einen guten Preis erzielen. Es würde nicht lange dauern, bis bekannt würde, dass der Schatz wieder aufgetaucht sei. Und Diebe würden in ein anderes Haus einbrechen und sich um ein wertloses Stück Metall prügeln, während er unbehelligt nach dem wahren Schatz suchen konnte.

Mercurio legte die Scheibe behutsam zurück auf den Samtpolster und ging gemächlich zum Bücherregal, das eine der Wände seines Unterschlupfs einnahm. Er fuhr mit dem Finger über die Buchrücken, verweilte einen Moment, nahm einen Kodex heraus, legte ihn auf den Tisch neben die Schatulle und schlug ihn auf. Die Seiten enthielten Listen und Tabellen, die Grammatik einer vergessenen Sprache. Es waren dieselben Schriftzeichen wie auf der Scheibe.

* * *

Es war früher Nachmittag und noch ruhig in der Taverne am Hafen, wo sie die Schatulle übergeben sollte. Nicoletta öffnete die Tür zum Hinterzimmer und machte einen Schritt in den kleinen, dunklen Raum. Fahles Licht fiel durch die milchigen Scheiben eines kleinen Fensters gegenüber des Eingangs. In der Mitte stand ein Tisch, der mit Krügen, Spielkarten und den Resten einer üppigen Mahlzeit übersät war. Dort saßen drei Männer: Der muskelbepackte Theordorus in der Mitte, genau dem Eingang gegenüber. Links von ihm Yppolito, dessen großer Hut mit den Federn vor ihm auf dem Tisch lag, und rechts Horatio mit dem Rattengesicht.

„Na endlich! Wo ist die verdammte Schatulle?“, knurrte Theodorus. Nicoletta lächelte, machte einen Schritt zur Seite und und dann stand eine zweite Gestalt in der Tür, ein Mann mit langem schwarzem Haar, der ein Lederwams unter einem schweren Umhang trug und in den Händen eine Armbrust hielt, mit der er auf Theodorus zielte.

„Das wollte ich euch fragen“, sagte Darian mit einem Lächeln.

Der Anführer der Bande starrte mit aufgerissenem Maul und großen Augen auf die Waffe, die auf ihn gerichtet war. Schließlich sagte er: „Was verdammt nochmal soll dieser Blödsinn, Nico?“

„Es gab gestern ein paar unvorhergesehene Ereignisse. Ich musste neue Bündnisse schließen, das verstehst du doch, oder?“ Nach einer kurzen Pause fügte sie mit einem Lächeln hinzu: „Der Herr dort wollte dich etwas fragen, Theodorus.“

„Was wisst ihr über diese Schatulle, die euch eure Freundin besorgen sollte? Woher habt ihr davon erfahren?“

„Es geht also um das verdammte Ding. Dann hast du es also nicht bekommen. War klar, dass du die Sache wieder mal vermasselst, Nico.“

„Lenk nicht ab“, erwiderte die Diebin. „Mein Freund hier hat einen recht nervösen Zeigefinger musst du wissen.“

„Na gut, na gut. Viel weiß ich aber selbst nicht. Ich habe nur durch Zufall von dem blöden Ding erfahren. Vor ein paar Tagen ist hier eine Kutsche angekommen und in der befand sich eben diese Schatulle. Man hat sie ins Haus der Grisetti gebracht und sich solche Mühe gegeben, kein Wort darüber zu verlieren, dass klar war, dass sie irgendetwas Wertvolles beherbergen musste.“

„Wenn sie es so geheimgehalten haben, wie kommt es, dass ihr überhaupt davon erfahren habt?“ fragte Darian. „Zufall?“

„Ja, verdammt nochmal. Jemand, der zufällig Kutsche und Kurier beobachtet hat. Später einer der Hausbediensteten, der noch ein paar Details hinzufügte. Das Haus Grisetti hat ein dutzend undichte Stellen, wenn man weiß, wo man suchen muss. Schätze, die Offiziellen wollen gar nicht so genau hinsehen. Warum auch hinter der schönen Fassade herumbohren?“

„Und was liegt hinter dieser schönen Fassade?“

„Schmuggel und illegaler Kunsthandel. Ersteres passte nicht recht auf die Sache mit der Schatulle, also habe ich mir zusammengereimt, es müsse um Letzteres gehen, einen sehr wertvollen Kunstgegenstand, den man mit hohem Gewinn verscherbeln könnte. Vielleicht sogar ein verbotenes magisches Artefakt? Eine Dschinnenlampe, deren Geist einem einen Wunsch erfüllt? Was weiß ich. Auf jeden Fall war mir klar, dass es sich auszahlt, dieses Ding in die Finger zu kriegen.“

„Und ich sollte die Drecksarbeit für euch machen ohne dass ihr dann den Gewinn mit mir teilt? Das Ding ist viel mehr wert als die Schulden die ich bei euch habe und ihr wolltet mir nichts davon abgeben?“, platzte Nicoletta heraus.

„Tu nicht so überrascht, Nico. Du wärst doch die Erste, die einem guten Freund den Dolch in den Rücken stößt, wenn sie daraus einen Vorteil ziehen kann“, sprach Theodorus in anklagendem Ton.

„Ruhe, ich bin noch nicht fertig“, schaltete sich Darian ein. „Wem wolltet ihr die Schatulle verkaufen?“

„Einem Kunsthändler, der in Diebeskreisen als ein recht zuverlässiger und flüssiger Abnehmer bekannt ist.“

„Name?“

Theodorus seufzte: „Gaius ya Cordayo.“

„Wisst ihr noch von anderen, die hinter der Schatulle her waren?“

„Nein.“

„Kennt ihr jemanden, der sich noch für diese Schatulle interessiert hat? Vielleicht ein Mann, groß, schlank, mit kurzem Haar?“

„Ha, du hast gerade jeden zweiten Mann in der Stadt beschrieben“, lachte Teodorus.

„Hast du irgendwelche Details an unserem mysteriösen Unbekannten bemerkt?“, fragte Darian an Nicoletta gewandt.

„Hm, ich glaube er trug einen kurzen Schnurrbart, aber ich bin mir nicht sicher.“

„Oh, das macht es gleich viel einfacher“, höhnte Theodorus. „Also hat euch so einer gestern Nacht die Schatulle vor der Nase weggeschnappt? Peinlich, peinlich, Nico. Wie hast du es bloß...“

„Die Fragen stelle noch immer ich“, knurrte Darian. „Na gut, versuchen wir es anders. Angenommen, jemand mit genug Kleingeld würde sich für diese Schatulle interessieren, würde sie dem derzeitigen Besitzer vielleicht abkaufen wollen… wie würde man ihn wohl finden?“

„Ha, wenn euch euer Unbekannter gestern so ausgebootet hat wird er wohl kaum den Marktschreiern seinen Aufenthaltsort stecken. Es wird nur der gut, der lange genug überlebt. Und es überlebt nur der lange genug, der vorsichtig ist. So einen findet man nicht, man wird von ihm gefunden. Ihr könntet natürlich in die richtigen Ohren flüstern, dass ihr zahlungskräftig und an dem Ding interessiert seid.“ Ein Grinsen erschien auf Theodorus‘ Gesicht als er weitersprach: „Ich würde für eine kleine Gewinnbeteiligung sogar das Flüstern übernehmen. Dann heißt es warten und ein Stoßgebet zu Phex schicken. Aber wenn euer mysteriöser Dieb schlau ist wird er den Braten riechen und einen Bogen um euch machen. Oder er hat das Ding schon lange vorher verscherbelt. Wenn er wirklich schlau ist weiß er – oder hat inzwischen herausgefunden – dass diese Schatulle richtig heiß ist. Und dann wird er sich eher früher als später davon trennen wollen, bevor er sich an der Sache die Finger verbrennt.“

Darian warf einen Blick zu Nicoletta, die mit verschränkten Armen dastand und verbissen dreinschaute. „Ich hasse es das zu sagen, aber Theodorus hat Recht.“

„Das heißt also, dass wir den Mann nicht finden werden“, stellte der Inquisitor fest. „Dann ist unsere einzige Chance wohl, uns auf die Schatulle selbst zu konzentrieren. Wo würde solch ein schlauer Dieb eine Beute wie diese wohl verkaufen?“

„Den Namen habe ich dir schon gesagt“, schnaubte Theodorus.

„Gaius ya Cordaio.“ Ein Nicken. „Weißt du, wo wir ihn finden, Nicoletta.“

„Ja.“

„Gut, dann sei so freundlich und entwaffne doch die Herren hier und binde ihnen dann die Hände. Und vergiss den Knebel nicht. Keine Sorge, der Wirt wird morgen früh nach euch sehen. Und vielen Dank für eure Kooperation.“

Nicoletta folgte der Anweisung des Inquisitors mit sichtlicher Befriedigung. Nachdem sie fertig war führte sie ihren neuen Partner zum Haus von Gaius ya Cordaio.

Das Haus des Kunsthändlers befand sich in Alt-Bosporan, dem Stadtteil Vinsalts, der südlich des Flusses Yaquir lag. Nicoletta führte Darian durch ein Gewirr enger Gassen, gewundene Treppen hinauf und über kleine, versteckte Plätze. Der Inquisitor, der die Architektur des Mittelreichs gewohnt war, staunte über die Gegensätze des Viertels. Das, was er bisher von Vinsalt gesehen hatte, war durchaus vergleichbar mit Gareth, der Hauptstadt jenes Reiches: Durchzugsstraßen, große, offene Plätze, geordnete Häuserzeilen. Natürlich gab es auch dort verwinkelte Gassen und unregelmäßige Straßenzüge, doch war das vor allem auf die schlechteren Stadtviertel und die Randbereiche beschränkt. Gareth war die steinerne Manifestation der gesellschaftlichen Hierarchie. Dort konnte man auf den ersten Blick sehen ob man sich in einem wohlhabenden oder armen Viertel befand. Auch das nördliche Vinsalt hatte diesen Eindruck auf Darian gemacht. Doch hier, südlich des Yaquir, schienen diese Gesetze nicht zu gelten. Von mancher Fassade bröckelte der Putz, während andere mit farbenprächtigen Malereien versehen waren. Das eine Gebäude mit seinen feinen Stuckverzierungen und frischen, hellen Farben wirkte wie eine freundliche Einladung, das andere war eine notdürftig und grob ausgebesserte Kaschemme, die jeden Augenblick zusammenzustürzen drohte. Auch die Menschen des Viertels spiegelten diese Gegensätze wieder. An jeder Ecke lungerten Bettler, verwahrloste Kinder rannten spielend durch die Straßen und viele der Leute machten einen heruntergekommenen, ärmlichen Eindruck. Doch es stolzierten ebenfalls Edelmänner mit ihren Leibwachen durch die engen Gassen und auch die ein oder andere Sänfte wurde herumgetragen. Mit Verwunderung hatte Darian seiner Führerin zugehört, als sie erzählt hatte, dass Alt-Bosporan ein Viertel der Armen, der Diebe und Verbrecher ebenso war wie Heimat der case fondari, der noblen Gründergeschlechter Vinsalts. Der Inquisitor fragte sich, ob die Adligen sich mit dem Zustand des Stadtteils einfach abfanden – vielleicht sogar Gefallen an den archaisch anmutenden Gässchen und Plätzen und hohen Gebäuden mit den charakteristischen Erkern gefunden hatten – oder ob sie bloß zu stolz und zu traditionell waren, um ihre alten Sitze hier gegen die geräumigen Palazzi nördlich des Yaquir einzutauschen.

„Du scheinst dich hier gut auszukennen“, bemerkte Darian.

„Ich bin hier aufgewachsen“, erwiderte Nicoletta mit sanfter Stimme. Der Inquisitor glaubte Wehmut darin zu vernehmen. Oder war es Schmerz?

„Es muss hart gewesen sein, in den Straßen der Stadt aufzuwachsen.“

„Was weißt du schon von Härte?“ Ein Anflug von Bitterkeit lag in ihrer Stimme.

„Mein Leben war nicht immer ein Spaziergang. Verwechsle Freundlichkeit nicht mit Naivität.“

„Entschuldige. Aber was erwartest du jetzt von mir? Dass ich dir unter Tränen meine schreckliche Kindheitsgeschichte erzähle, während du mich tröstend im Arm hältst? Du hast mir ja noch nicht einmal erzählt, warum du so versessen auf diese blöde Schatulle bist.“

„Es ist meine Aufgabe, ihren Inhalt sicherzustellen. In den falschen Händen kann er großen Schaden anrichten.“

„Und was ist der verdammte Inhalt?“

„Das brauchst du nicht zu wissen.“

Abrupt blieb sie stehen und funkelte ihn an. Sie gestikulierte wild mit den Händen während sie wütend sprach: „Siehst du! Ich soll dir meine Lebensgeschichte erzählen, aber du sagst mir nicht mal wonach wir eigentlich her sind!“

Darian seufzte und betrachtete sie nachdenklich. Sein Blick ging von den hohen Stiefeln über die schlanken Beine, an die sich eng das Leder der Hose schmiegte, hinauf zum Oberkörper, der vom weiten Leinenhemd verborgen wurde und schließlich zum zierlichen Kopf. Er glitt dann wieder über Schultern und Arme hinab bis zu den grazilen Fingern, nahm das Florett wahr, das an ihrer Seite hing. Sie hatte die Waffe bei ihrem Kampf im Haus der Grisetti verloren. Man hatte sie wohl der Wache übergeben und diese dann ihr, als sie auf sein Betreiben freigelassen worden war. Der Inquisitor dachte an die letzte Nacht, an ihr Ringen auf dem Holzboden, die Leidenschaft, mit der sie gekämpft hatte. Sie war eine hübsche Frau und der Zorn, den sie demonstrativ zur Schau stellte, imponierte ihm. Sie erfüllte perfekt das Klischee von der heißblütigen Horasierin. Der Inquisitor fragte sich, was er ihr erzählen sollte. Sie hatte Recht. Sie arbeiteten nun zusammen. Diese Frau war kein Scherge, kein Soldat, keine Tempelwache, die er mit seiner Autorität als Inquisitor herumkommandieren konnte. Ihre Zusammenarbeit erforderte Vertrauen und um Vertrauen aufzubauen musste er etwas von sich preisgeben.

„Verzeih, ich arbeite normalerweise alleine“, sagte er schließlich mit sanfter Stimme. „Ich bin es nicht gewohnt, Informationen mit anderen zu teilen. Genaugenommen ist es Teil meiner Arbeit, genau das zu vermeiden.“

„Du bist überhaupt kein Dieb, stimmt‘s? Sonst hätte dich die Stadtwache nicht so einfach freigelassen. Du musst wichtig sein, oder deine Aufgabe, sonst würden wir noch immer in einer Zelle sitzen.“

„Richtig.“

„Das Ganze ist wohl streng geheim, was?“, sagte sie mit einem schwer zu deutenden Lächeln, das irgendwo zwischen Ironie und Melancholie lag.

„Ich bin ein Inquisitor aus dem Mittelreich. Und in dieser Schatulle befindet sich eine goldene Scheibe aus einem halb vergessenen Zeitalter. Sie ist alleine aufgrund ihres Alters wertvoll, aber das wirklich bedeutende sind die Schriftzeichen darauf. Die Scheibe ist eine Karte, die zu einem Gegenstand großer Macht führt. Meine Aufgabe ist es zu verhindern, dass dieser Gegenstand in die falschen Hände fällt, denn er kann großen Schaden anrichten.“

„Ein Inquisitor?“ Die junge Frau wirkte nun angespannt und reserviert. „Dann hast du das in der Zelle ernst gemeint, oder? Dass du mich foltern lässt, wenn ich dir nicht helfe?“

Jetzt war es Darian, der ein schwer zu deutendes Lächeln aufsetzte.

„Du hast schon Leute gefoltert, oder?“

„Und getötet, ja. Das ist nun mal Teil meiner Arbeit.“ Er studierte das Gesicht der Diebin. Den Ausdruck darauf kannte Darian nur zu gut: es war eine Mischung aus Abscheu und Faszination. Es war überall dasselbe. Die Leute beeindruckten Macht und Privilegien, doch gleichzeitig schreckten sie vor den blutigen Pflichten zurück, die eine solche Stellung mit sich brachte.

„Glaube nicht, dass mir meine Arbeit immer Spaß macht“, fügte er nach einigen Augenblicken hinzu. „Ich tue schlicht was notwendig ist, selbst wenn man mich für die Methoden, die ich anwenden muss, verachten mag.“

„Dann sind wir uns vielleicht gar nicht so unähnlich“, sinnierte Nicoletta. „Vielleicht verachtest du mich, weil ich eine Diebin bin. Aber auch ich tue nur was notwendig ist um zu überleben.“

Nach einer kurzen Pause fügte sie mit einem verschmitzten Lächeln hinzu: „Ich würde sogar sagen, dass ich, Diebin die ich bin, ehrlicher bin als du, Herr Inquisitor. Ich tue was ich tue, damit ich am Leben bleibe. Worum geht es deinesgleichen? Doch nur um Politik und Religion, stimmt‘s? Ein Kind der Straße hat noch nicht einmal Zeit, sich um diese Dinge Gedanken zu machen.“

„Mit diesem Argument kannst du jeden Banditen und Halsabschneider verteidigen. Ich glaube daran, dass jeder Mensch eine Wahl hat.“

„Also verurteilst du mich für das, was ich bin?“ Darian hatte nicht damit gerechnet, solche Verbitterung in ihrer jungen Stimme zu hören. „Glaub was du willst, Herr Inquisitor. Was weißt du schon über das Leben auf der Straße? Ich hatte niemals eine Wahl.“

„Du hast Recht. Ich weiß nichts über das Leben auf der Straße. Ich verurteile niemanden. Aber ich habe auch keine Skrupel dem, der das Gesetz bricht, das Schwert in die Brust zu rammen.“

„Das Gesetz! Die Reichen und Mächtigen schreiben sich das Gesetz ja doch so, wie sie es brauchen. Sag mir, wer von den hohen Damen und Herren hat nicht bloß sein eigenes Wohl sondern das der Leute im Sinne? Die haben doch die Wahl und sie wählen Gier und Selbstsucht. Sind sie nicht viel mehr Diebe als ich es bin?“

„Hast du schon einmal darüber nachgedacht, Pamphlete zu schreiben, Nicoletta?“, lachte Darian. Dieses kleine Geplänkel begann ihm Spaß zu machen. Sie sah ihn indes wütend an und verschränkte die Arme vor der Brust. Irgendwie gefiel ihm diese Frau.

„Ehrlich, ich denke du hättest Talent dafür.“

„Sehr witzig“, entgegnete sie ihm säuerlich und verzog die Lippen zu einem Schmollmund.

„Nun, ich bin der Letzte der abstreiten würde, dass es nicht auch in den höheren Gesellschaftsschichten Korruption und Verbrechen gibt. Sind nicht gerade diese Grisetti ein gutes Beispiel? Doch ich glaube, dass schlussendlich jeder der Gerechtigkeit zugeführt wird, sei es in diesem Leben oder danach.“

„Ist es nicht deine Aufgabe dafür zu sorgen, dass das eher in diesem Leben passiert statt nachher?“

Der Inquisitor zuckte mit den Schultern. „Man tut was man kann. Aber“, fügte er süffisant hinzu, „du wirst es kaum glauben: In der Hauptsache ist es meine Aufgabe, die Leute vor denen zu schützen, die Unheil im Schilde führen. Praios wird die Missetäter so oder so richten. Wenn Unschuldige aufgrund deren Taten leiden müssen, das ist die wahre Tragödie die zu verhindern meine Aufgabe ist.“

„Wie ritterlich.“

„Lach ruhig. Doch es sind in der Tat weniger meine Ideale als vielmehr die Wahl meiner Mittel, die mich von einem Ritter unterscheidet.“

„Warum gehst du dann nicht gegen die Grisetti vor?“

„Die Scheibe ist viel wichtiger. Eine Auseinandersetzung mit den Grisetti wäre zum jetzigen Zeitpunkt bloß eine Ablenkung von meiner eigentlichen Aufgabe. Zudem, ich bin kein Gardist. Die Machenschaften der Familie fallen strenggenommen in die weltliche Gerichtsbarkeit. Schmuggel und Kunsthandel sind zwar illegal, aber weder sind sie ein Affront gegen die Götter noch bedrohen sie die gesellschaftliche Ordnung. Zudem würden es die hiesigen Autoritäten wohl nicht gerne sehen wenn sich ein mittelreichischer Inquisitor in ihre Justiz einmischt.“

„Siehst du?“ Die Diebin lächelte triumphierend. „Politik und Religion. Du sagst, du tust, was notwendig ist. Aber in Wirklichkeit bist du doch nur eine Spielfigur deiner hohen Herren. Ich bin zumindest frei.“

„Frei? So frei, dass du gezwungen bist zu stehlen und einzubrechen? Hast du nicht zuvor gesagt, du hättest niemals eine Wahl gehabt? Welches Leben hättest du gewählt, hättest du die Wahl gehabt?“

„Mit Freiheit meine ich, dass mir niemand vorschreiben kann, was ich zu tun und zu lassen habe!“, gab sie trotzig zurück. Der Satz war eine schnelle und emotionale Parade auf Darians verbalen Angriff. Die Art, wie sie ihre Verteidigung vorbrachte erinnerte ihn an die Leidenschaft, mit der sie am Vorabend mit ihm im Haus der Grisetti gerungen hatte. Sie machte einen tiefen Atemzug und sprach dann etwas ruhiger weiter: „Naja, es stimmt das Theodorus gewisse Dinge von mir verlangen kann. Aber wenn ich meine Schulden abbezahlt habe, dann bin ich frei. Wenn es mir hier nicht mehr gefällt gehe ich woanders hin. Wenn ich mich jeden Abend besaufen will tue ich das. Wenn ich bis Mittag schlafen will kann ich auch das tun. Was ist mit dir? Du gehst dorthin, wohin dich deine Herren schicken. Du tust, was man dir befiehlt. So könnte ich nicht leben.“

„Es war meine freie Entscheidung, diesen Weg zu wählen. Ich habe mich dafür entschieden zu dienen. Ich habe die Freiheit zu tun, was ich für richtig halte. Bin ich dadurch nicht freier als du, die du stets nur auf das reagierst, was dir im Leben widerfährt? Hebe ich mich dadurch nicht von dir ab, Frau Diebin?“

„Kannst du tatsächlich tun, was du für richtig hältst? Was ist, wenn deine Befehle das eine sagen, dein Gewissen aber etwas anderes?“

„Ich bin meinem Gewissen ebenso verpflichtet wie meinem Herrn Praios und der Inquisition. Das bedeutet nicht, dass nicht auch meine Entscheidungen Konsequenzen haben. Aber ich bin freier als du denken magst.“

Plötzlich ertönte ein Schrei. Ein Junge rannte auf sie zu, doch er wurde nach wenigen Augenblicken von seinem Verfolger eingeholt, der ihn am Kragen zu fassen bekam und brutal zurückriss.

„Jetzt erteil ich dir eine Lektion, die du so schnell nicht vergisst“, brüllte der ältere Bursche voll Befriedigung und begann den jüngeren zu ohrfeigen. Der schrie, strampelte und versuchte erfolglos, sich gegen den größeren Gegner zur Wehr zu setzen.

Darian machte einen Schritt auf die beiden zu und fragte: „Worum geht es hier?“

Der Bursche blickte hoch. Er hatte wohl kaum mehr als 15 Sommer gesehen. Er war gut genährt, die Kleidung etwas schäbig, aber nicht so heruntergekommen wie die vieler anderer in diesem Viertel.

„Die kleine Ratte hat Brot gestohlen, mein Herr. Ich bin der Lehrling des Bäckers Lorenzo. Ha, dachte wohl, er kommt damit davon, denn Lorenzo ist schon ein älterer Mann. Aber er hat die Rechnung ohne mich gemacht. Ich habe noch gesunde Beine. Und jetzt setzt es eine Tracht Prügel!“ Mit diesen Worten rammte er dem kleineren Jungen das Knie in den Oberschenkel und dieser sog Luft ein und versuchte, den Schmerz zu unterdrücken. Er war keine zehn Jahre alt, mager und schlaksig, die dreckige und löchrige Kleidung hing lose an ihm herab.

„Bitte, Gnade mein Herr!“ rief er.

„Stimmt es, dass du gestohlen hast?“

Der Kleine nickte.

„Weißt du, dass man die Waren, die man haben will, auch bezahlen muss?“

„Aber ich hatte Hunger! Und kein Geld. Soll ich verhungern, mein Herr?“

„Hast du keine Eltern? Niemanden, der für dich sorgt?“ Der Junge blickte zu Boden.

Darian seufzte, zog eine Silbermünze hervor und reichte sie dem Burschen: „Als Vergütung für das Brot und euer Ungemach. Das sollte außerdem dafür reichen, dass sich der Junge für die restliche Woche Brot von euch holt, nicht wahr?“

„Oh, gewiss mein Herr.“ Ehrfürchtig nahm der Bursche die Münze entgegen und ließ sie schnell in seinem Beutel verschwinden. Dann wandte sich Darian zum Jungen, der ihn mit großen Augen anstarrte: „Sieh unsere Begegnung heute als ein Zeichen der Götter. Sie geben dir eine zweite Chance. Suche dir eine ehrliche Arbeit.“ Mit einem Blick auf den Burschen fügte er hinzu: „Vielleicht kann dich sogar dieser Meister Lorenzo irgendwo unterbringen? Ich an deiner Stelle würde ihn das einmal fragen. Doch Diebstahl wird dich nicht aus deinem Elend befreien. Er bringt dich höchstens in den Kerker.“

„Vielen Dank, mein Herr. Mögen Euch die Götter segnen“, sagte der Junge. Dann befreite er sich aus dem nur noch lockeren Griff des Burschen, der wie paralysiert war, und rannte davon. Der Bäckerlehrling deutete eine Verbeugung an und ging dann ebenfalls seiner Wege, scheinbar noch immer verwirrt von dieser unerwarteten Wendung des Schicksals.

„Wie nobel. Doch glaubst du, du änderst etwas?“ Nicoletta war an ihn herangetreten sobald die beiden Jungen verschwunden waren. „Er wird nicht so einfach eine Arbeit finden, vorausgesetzt er beherzigt deinen Rat überhaupt. Und selbst wenn, es gibt hunderte Waisen hier. Du kannst nicht jedem eine Münze in die Hand drücken damit er sich Brot kauft.“

„Aber ich konnte diesem hier helfen. Hätte ich stattdessen danebenstehen und zusehen sollen? Du hast gesagt, du hattest niemals eine Wahl, Nicoletta. Vielleicht habe ich diesem Jungen gerade eben eine Wahl gegeben. Wie er wählt, das kann ich freilich nicht beeinflussen.“

„Hm. Trotzdem, ein Tropfen auf den heißen Stein.“

„Ist nicht alles, was wir tun, ein Tropfen auf den heißen Stein?“

„Warum bist du dann so versessen auf diese Scheibe? Wenn wir und alle unsere Taten ohnehin unwichtig sind, warum folgst du deiner Aufgabe dann so verbissen? Wäre es nicht sinnvoller, das Leben zu genießen?“

„Wer sagt, dass unsere Taten unwichtig sind? Ich habe mich schon vor langer Zeit damit abgefunden, dass ich die Welt nicht ändern kann. Aber ich kann kleine Dinge ändern. Und auch wenn sie unbedeutend erscheinen mögen, vergiss nicht: eine große Menge kleiner Tropfen vermag auch den heißesten Stein zu kühlen.“

Sie verschränkte die Arme erneut vor der Brust und musterte ihn misstrauisch. „Ehrlich gesagt hätte ich eher damit gerechnet, dass du den Jungen zu den Gardisten schleifst. Wäre das nicht das, was du dem Gesetz nach hättest tun sollen?“

„Das Gesetz kümmert sich nicht um Kleinigkeiten“, gab der Inquisitor lächelnd zurück. „Außerdem habe ich doch gesagt, dass ich vor allem auch meinem Gewissen verpflichtet bin. Ich denke Praios wird mir mein Verhalten nicht nachtragen.“

„Und du hast dieses kleine Intermezzo nicht bloß genutzt, um deine Sichtweise zu bestätigen und mich zu beeindrucken?“

Darian lachte laut auf. „Jetzt überschätzt du aber deine Wirkung auf mich, Nicoletta! Ich will, dass wir gut zusammenarbeiten und dass du mir vertraust. Aber mich in Szene setzen um dich zu beeindrucken? Hältst du mich für so oberflächlich?“

„Ich kenne dich nicht“, erwiderte sie kleinlaut.

„Nun, jetzt kennst du mich hoffentlich ein wenig besser als noch heute Morgen.“

„Das kann ich zumindest nicht abstreiten.“ Sie lächelte ihn nun an. „Du bist ein seltsamer Mann, Darian.“

„Und du bist eine interessante Frau, Nicoletta.“

„Interessant? Wie enttäuschend. Ich hatte gehofft etwas anderes zu hören.“

„Und was, Nicoletta?“

„Nico. Meine Freunde nennen mich Nico.“

Wenig später hatten sie das Haus des Kunsthändlers erreicht. Es war ein vierstöckiges, turmartiges Gebäude, eines von der schöneren Sorte in Alt-Bosporan. Vermutlich hatte es einmal einer Adelsfamilie gehört, die sich aus welchem Grund auch immer von ihrem Besitz getrennt hatte. Es sprach für den Reichtum von Gaius ya Cordaio, dass er für sich alleine ein Haus in diesem Teil der Stadt besaß. Nicoletta und Darian hatten das Gebäude umrundet und festgestellt, dass es keinen Hintereingang gab. Danach waren sie in den Schatten einer engen Gasse getaucht, von wo aus sie die Vorderseite des Hauses beobachten konnten. Wer ein- und ausging musste durch die Tür kommen, die sie im Auge behielten. Es war später Nachmittag und Diebin und Inquisitor stellten sich darauf ein, zu warten und zu beobachten.

Nach einigen Stunden versank die Praiosscheibe und die hohen Häuser Alt-Bosporans mit ihrer unregelmäßigen Architektur warfen faszinierende Schattenspiele durch die verwinkelten Gassen. Darian und Nicoletta warteten. Die Dämmerung tauchte das Viertel in fahle Dunkelheit und sie warteten. Es wurde Nacht und es wurde kalt und sie warteten.

Schließlich näherte sich eine einzelne Gestalt dem Haus von Gaius ya Cordaio. Sie war in einen Umhang gehüllt, groß und schlank. Ihre Schritte waren sicher und zielstrebig, doch machten sie keinen Laut auf dem Straßenpflaster. Sie klopfte dreimal an die schwere Holztür. Man hörte das Geräusch von Riegeln und Schlössern, dann wurde die Tür geöffnet und die Gestalt trat ein und wurde vom Gebäude verschluckt.

„Das muss er sein“, flüsterte Nicoletta.

„Zweifellos“, entgegnete Darian.

Sie schlichen näher an die Hausfassade. Die Diebin warf einen Haken auf das Dach und zerrte an dem daran befestigten Seil um zu prüfen, ob er hielt. Dann kletterte sie nach oben und hantierte an einem der unvergitterten Fenster im zweiten Stock. Nach einer kurzen Zeit war sie verschwunden und eine Hand winkte Darian und bedeutete dem Inquisitor, dass er nun hochklettern könne.

Sie befanden sich in einem dunklen Raum, der wohl ein Gästezimmer war. Ihre Augen waren ans Dunkel gewöhnt und so konnten sie die groben Umrisse eines Betts, Tischs und weiterer Möbelstücke ausmachen sowie die Tür, die aus dem Raum führte. Der Korridor den sie betraten war ebenso dunkel. Nicoletta voran schlichen sie ihn entlang, dann eine Treppe hoch. Das Gebäude war kleiner als das Haus der Grisetti, doch soweit sie im Dunkeln erkennen konnte war es nicht weniger prächtig ausgestattet. Es wirkte beinahe wie eine kleinere Version des Adelssitzes.

Im dritten Stock hörten sie Stimmen. Licht schien durch eine geschlossene Tür, hinter der sich zwei Männer miteinander unterhielten. Nicoletta und Darian schlichen vorsichtig näher und pressten die Ohren an das Holz.

„… zum Geschäftlichen also. Ich dachte mir schon, dass Ihr mich bald besuchen würdet, mein Lieber. Man erzählt sich von einem Diebstahl im Haus der Grisetti...“

„In der Tat? Was für eine Tragödie. Es ist heutzutage auch wirklich niemand mehr sicher. Ich habe noch gar nicht davon gehört, war ich doch die letzten Tage nicht in der Stadt. Ihr versteht, was ich meine? Ich kann auf Eure Diskretion vertrauen?“

„So wie immer, mein Lieber, so wie immer. Ich wäre nicht Gaius ya Cordaio wenn ich nicht die Privatsphäre sowohl meiner Kunden als auch meiner Lieferanten mit der allerhöchsten Vertraulichkeit behandeln würde. In diesem speziellen Fall aber, mein lieber Mercurio, werde ich dafür etwas vom Preis, den ich Euch zahle, abschlagen müssen. Nennen wir es einen Risikoabschlag.“

„Einverstanden, mein Freund. Aber nun lasst mich Euch den Gegenstand zeigen. Ich bin sicher, Ihr werdet – Risikoabschlag hin oder her – mit Freuden einen höchst angemessenen Preis für dieses Stück zu zahlen willig sein...“

Darian nickte Nicoletta zu und machte seine Armbrust schussbereit. Jetzt war der richtige Zeitpunkt. Die Diebin untersuchte das Schloss, doch die Tür war unversperrt. Nicoletta öffnete sie schwungvoll und trat mit gezogenem Florett in den Raum, Darian direkt hinter ihr.

Die zwei Männer im Raum drehten sich überrascht zur Tür um. Der linke war groß und schlank, mit kurzem Haar und Schnurrbart. Der rechte war klein und breit, mit Glatze und glattrasiert. Sie waren beim Anblick der Armbrust erstarrt, der Kleine die Arme hüfthoch erhoben, der Große die Hand halb zur Hüfte geführt, um nach der Waffe zu greifen, die zweifellos unter dem Umhang verborgen war. Hinter ihnen stand ein großer runder Tisch, darauf ein Kerzenleuchter und eine kleine Schatulle mit geöffnetem Deckel, deren Inhalt im Kerzenlicht lebendig schien.

„Weg vom Tisch. Dort hinüber“, befahl Darian. „Und gebt die Hände schön nach oben, sodass ich sie sehen kann.“

Die Männer gehorchten.

„Gut. Dürfte ich dich bitten, die Schatulle mitsamt ihrem Inhalt an dich zu nehmen, Nico?“

Die Diebin ging bedächtig und mit gezogener Waffe zum Tisch als der Große anfing zu sprechen: „Mich dünkt, wir haben uns schon einmal gesehen. Letzte Nacht, kann das sein?“ Der Stimme nach war das der Mann, den Gaius ya Cordaio Mercurio genannt hatte. Das Aussehen passte zu dem Dieb, der ihnen am Vorabend die Schatulle vor der Nase weggeschnappt hatte.

„Ruhe“, befahl Darian forsch.

„Aber, aber, wer wird denn gleich unhöflich werden? Das gehört sich doch nicht unter Kollegen.“

„Wir sind keine Kollegen“, knurrte der Inquisitor. Nicoletta hatte inzwischen die Schatulle verschlossen und an sich genommen.

„Befriedigt doch meine Neugier und sagt, was ihr mit der Schatulle vorhabt? Für wen auch immer ihr arbeitet, ihr solltet wissen, dass mein Freund Gaius hier“, Mercurio nickte mit dem Kopf zum Glatzköpfigen, „besser zahlt als jeder andere. Legt sie doch wieder zurück und lasst uns eine Lösung finden, die allen Parteien nützt.“

„Uns geht es nicht um Geld“, sagte Darian. „Würdest du die beiden fesseln, Nico?“

„Wie kommt es eigentlich, dass ihr zusammenarbeitet? Gestern hat das noch einen ganz anderen Eindruck gemacht“, sprach Mercurio mit spöttelnder Überheblichkeit.

„Bin ihm was schuldig“, antwortete Nicoletta während sie sich auf die beiden Männer zubewegte. „Er hat mich aus dem Kerker befreit, in dem ich wegen dir gelandet bin.“

„Na, na, na, wegen mir? Streng doch deinen hübschen Kopf an, Kleine. Ich konnte die Schatulle bloß an mich bringen, weil ihr beide euch gegenseitig in die Quere gekommen seid. Wäre dein Freund hier nicht gewesen, hättest du mir den Preis vor der Nase weggeschnappt, so ungern der Meisterdieb Mercurio auch zugibt, dass ihn ein Grünschnabel wie du beinahe ausgebootet hätte.“

Die Diebin hatte bei diesen Worten innegehalten. Sie stand nun auf halbem Weg zwischen Darian und den beiden Männern.

„Ruhe, habe ich gesagt! Los, fessle die beiden Nico und dann nichts wie weg.“ Der Inquisitor sprach laut und mit einem drohenden Unterton.

„Überleg doch. Was hat wohl die Hausbewohner gestern aufgeschreckt, wenn nicht euer Kampf? Dein Freund hat dich aus dem Kerker befreit? Ohne ihn wärst du gar nicht dort gelandet! Diese Schatulle ist ein kleines Vermögen wert. Deinem Freund geht es nicht um Geld? Was ist mit dir? Hilf uns und es soll dein Schaden nicht sein, das verspreche ich so wahr ich Mercurio Fiagra di Torrean heiße!“

Nicoletta steckte das Florett weg, hob die Schatulle vors Gesicht und betrachtete den Gegenstand wie in Trance. Der Schein der Kerzen flackerte über schwarzes Ebenholz und spiegelte sich in den braunen Augen der Diebin wieder.

„Hör nicht auf ihn! Du hast mir dein Wort gegeben, hast du das schon vergessen?“, schrie Darian.

„Ich habe ein ganz gutes Gedächtnis“, sagte sie zu Darian gewandt, ein Lächeln auf den Lippen. Dann drehte sie sich zu den beiden Männern und sprach: „Tut mir leid.“

Sie machte einen Schritt auf Mercurio zu.

„Aber er hat Recht.“ Mit diesen Worten holte sie mit dem Arm aus, drehte sich gleichzeitig in einer fließenden Bewegung zu Darian und schleuderte dem Inquisitor das Kästchen entgegen. Er wich dem Geschoss aus, doch die Ablenkung gab Nicoletta genug Zeit, das Florett zu ziehen und auf ihn zuzustürmen. Auch Mercurio zog seine Waffe, einen reich verzierten Säbel, mit einem Lächeln auf den Lippen und einem Funkeln in den Augen. Darian warf die Armbrust fluchend zu Boden und zog sein Schwert. Als Nicoletta ihren Angriff begann trafen sich die Augen von Inquisitor und Diebin für einen kurzen Moment. In den ihren loderte Leidenschaft, in den seinen Hass. Darian parierte ihre Attacke mit solcher Wucht, dass Funken stoben als die beiden Klingen aufeinanderprallten.

„Du hast deine Wahl also getroffen, Nico.“ Bitterkeit klang in seiner Stimme. Zorn, Enttäuschung und Abscheu wogten wie eine Welle durch den Inquisitor und brandeten gegen seine Beherrschung. Aus der Parade heraus schlug er in einer kraftvollen, fließenden Bewegung, in die er all seine Gefühle legte, nach seiner ehemaligen Partnerin. Sie hatte durch ihre gescheiterte Attacke das Gleichgewicht verloren und konnte seinen Gegenangriff nur mühevoll abwehren. Nicolettas hastig nach oben gerissener Arm zitterte als sein Schwert in die Parierstange des Floretts krachte, die ihr das Leben rettete. Mit schmerzerfülltem Gesicht löste sie ihre Klinge von der seinen. Hastig wich sie zurück und versuchte ihre Balance wiederzufinden während sie antwortete: „Nur Freunde nennen mich Nico.“

Dann war Mercurio bei ihnen und deckte Darian mit einem Wirbel von Hieben und Stichen ein, die der Inquisitor hektisch parierte während er selbst nun zurückwich. Unter den Attacken dieses selbsternannten Meisterdiebs kühlte Darians Gemüt schnell wieder ab. Dieser Mann war ein weitaus gefährlicherer Gegner als Nicoletta. Wie in den Augen der Diebin brannte auch in den seinen Leidenschaft, doch im Gegensatz zu ihr führte er die Waffe mit eiskalter Präzision und taktischem Kalkül. Seine Bewegungen waren die eines ausgebildeten Fechters. Das Gesicht war zur lachenden Fratze verzerrt. Offensichtlich bereitete ihm der Kampf Freude.

Der Meisterdieb war aber nicht der einzige ausgebildete Kämpfer im Raum. Auch Darian hatte gelernt wie man mit dem Schwert umging. Nach dem ersten Ansturm erlangte der Inquisitor schnell seine Fassung wieder und ging zum Gegenangriff über. Nun war es an Mercurio zurückzuweichen. Aus den Augenwinkeln sah Darian, wie Nicoletta an ihnen vorbeihuschte und etwas vom Boden aufhob. Mit einem Zornesschrei schlug der Inquisitor die Klinge seines Gegners zur Seite und riss den Arm blitzschnell zu einem Rückhandschlag herum. Der Knauf seiner Waffe traf Mercurio ins Gesicht und riss den Dieb von den Beinen. Darian wirbelte herum und rannte Nicoletta hinterher, die gerade die Tür zum Gang passiert hatte.

Die Diebin schoss durch Gänge und über Treppen, der Inquisitor beständig hinter ihr. Schließlich fanden sich beide auf dem Flachdach des Gebäudes wieder. Nicoletta stoppte vor der niedrigen Mauer, die die Dachterrasse an allen vier Seiten umgab und drehte sich um. Über ihr stand der volle Mond, dessen kühles Licht sich in der erhobenen Waffe fing und ihr einen seidenen Glanz verlieh. Kühle Nachtluft umspielte Darian, der sich nun gemächlich auf sein Ziel zubewegte. Ein Streich, eine Parade, ein Gegenangriff. Nicoletta kämpfte verzweifelt, denn der einzige Fluchtweg befand sich im Rücken ihres Gegners. Der Inquisitor begnügte sich damit zurückzuweichen und ihre hektischen Angriffe zu parieren. Es war nutzlos, eine in die Enge getriebene Beute noch weiter zu bedrängen. Die Ausweglosigkeit ihrer Situation machte die Frau gefährlich und er wollte, dass sie sich verausgabte bevor er zum Todesstoß ansetzte. Er gab ihr genug Platz dass sie hoffen konnte, aber zu wenig um ihm entwischen zu können. Schließlich wurden ihre Attacken ungenauer, weniger kraftvoll. Schweiß perlte von ihrer Stirn und ihr Atem ging schnell. Entschlossenheit wich langsam der Erschöpfung. Nun ging Darian zum Angriff über. Unbarmherzig hieb der Inquisitor auf sie ein, ihr Arm bebte unter jedem Schlag den sie parierte. Er drängte sie zurück bis sie an die Terrassenmauer stieß, dann schlug er ihr die Waffe aus der kraftlosen Hand und im nächsten Moment berührte seine Schwertspitze ihre Kehle. Sie starrte ihn aus weit geöffneten Augen an. Er spürte das Entsetzen der jungen Frau. Darian öffnete den Mund um zu sprechen als er einen kleinen Stich im Nacken spürte. Er fühlte im selben Moment ein Brennen durch seinen Körper jagen, seine Gliedmaßen gehorchten ihm nicht mehr. Er nahm noch wahr wie er fiel, doch er war bereits bewusstlos als sein Körper schwer am Boden aufschlug.

Mercurio nahm mit einer beinahe verträumt wirkenden Bewegung das kleine Metallrohr von den Lippen und verstaute es unter dem weiten Umhang. Lächelnd blickte er zuerst auf Nicoletta und dann auf die regungslose Gestalt zu ihren Füßen. Die Diebin stand einen Moment völlig fassungslos da und starrte ihren Retter an. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.

„Danke“, brachte sie schließlich mit trockener Kehle hervor. Sie fühlte sich schwach und verwirrt.

„Oh, ganz im Gegenteil. Ich danke dir“, entgegnete Mercurio amüsiert. Er stand aufrecht und gerade, eine hohe, schlanke Silhouette im Mondlicht. Der Mantel wehte in der aufkommenden Brise.

„Komm Kleine, die Nacht ist kalt.“ Er sprach mit ihr wie mit einem Kind, doch sie war zu erschöpft um Ärger zu empfinden. „Unten wartet Gaius auf uns. Wir wollen mit ihm über den Preis der Schatulle reden, die du in Händen hältst. Ich habe dir versprochen, dass ich dich für deine Hilfe entschädige und Mercurio Fiagra di Torrean hält immer was er verspricht.“

„Was ist mit ihm?“ Nicoletta deutete mit dem Kopf auf die regungslose Gestalt des Inquisitors zu ihren Füßen.

„Das Gift tötet nicht, doch er wird noch stundenlang bewusstlos sein. Mach dir um ihn keine Sorgen. Gaius wird sich um alles kümmern.“ Mit diesen Worten drehte er sich in einer Bewegung, die mühelose Eleganz ausdrückte, um und ging die Stufen ins Haus hinunter. Nicoletta hob ihr Florett vom Boden und steckte es zurück in die schmucklose Scheide. Ihr Blick fiel auf Darian. Sie verzog den Mund zu einem dünnen Lächeln, doch sie fühlte keinen Triumph. Ein kühler Nachtwind fuhr durch ihre verschwitzte Kleidung und ließ sie frösteln. Sie beeilte sich, Mercurio zu folgen.

* * *

„Ein Inquisitor?“ Das runde Gesicht des Händlers wurde blasser als es ohnehin schon war und seine kleinen Augen verengten sich. Mercurio verzog die Miene als hätte er gerade etwas sehr ekelhaftes geschluckt. Die Finger der rechten Hand rieben am Kinn während die der linken ungeduldig am Tisch trommelten. Sie saßen erneut in dem Raum, in dem er und Gaius verhandelt hatten, bevor sie unterbrochen worden waren. Ein Diener hatte ihnen auf die Strapazen des Kampfes hinauf ein warmes Mahl gebracht und nun saßen sie bei Wein und Kerzenschein zu dritt an dem runden Tisch.

Mercurio studierte nachdenklich das Gesicht der Frau, die sein Gegner Nico genannt hatte. Doch ihnen gegenüber hatte sie sich als Nicoletta vorgestellt. Kein Nachname. Ihre Kleidung und die Tatsache, dass sie das dargereichte Mahl wie ein ausgehungerter Wolf verschlungen hatte, ließen auf ihre niedere Herkunft schließen. Sie war jung und hübsch und Mercurio hätte vielleicht Gefallen an ihr finden können, wenn ihre Anwesenheit seine Pläne nicht derart verkomplizieren würde. „Nein, nicht ihre bloße Anwesenheit“, dachte er, „sondern das, was sie über die Scheibe weiß.“

Er hatte sich bereits mit Gaius auf einen Preis geeinigt gehabt, als das Mädchen sich verplappert hatte. Was für eine eingebildete Närrin! Die Summe, die er ihr als Anteil gegeben hätte, musste für sie ein Vermögen sein. Doch sie hatte zu feilschen versucht und erwähnt dass sie wusste, dass die Scheibe zu einem noch größeren Schatz führte. Nun konnte er sie nicht mehr gehen lassen. Er war sich sicher, dass sie noch nicht einmal lesen und schreiben, geschweige denn etwas mit den Zeichen auf der Scheibe anfangen konnte. Doch sie mochte mit jemandem reden, ihre Geschichte weitererzählen und er wollte nicht ausschließen, dass durch eine seltsame Wendung des Schicksals jemand zuhören könnte, für den ihre Worte Sinn ergaben. Es hatte schon genug Komplikationen gegeben. Mercurio wollte sich keine weiteren potentiellen Verfolger leisten. Zudem er seit einigen Augenblicken wusste, dass die Inquisition hinter der Scheibe und dadurch auch hinter ihm her war.

Nicoletta wirkte völlig unbekümmert und trank mit sichtlichem Genuss einen großen Schluck Wein.

„Ein Inquisitor also“, wiederholte Mercurio langsam, als würde ihn jede Silbe große Anstrengung kosten. Das Mädchen nickte. Ihre Geschichte machte Sinn. Das erklärte, wie beide dem Kerker entkommen waren. Und es erklärte unzweifelhaft woher diese Diebin so viel über die Scheibe wusste. Doch was sollten sie in der Sache unternehmen?

„Es wäre am besten ihn zu töten“, sprach Mercurio schließlich, ebenso langsam und angestrengt als zuvor.

Gaius zuckte zusammen und Nicoletta starrte ihn ungläubig an.

„Das ist im Abschlag nicht inbegriffen!“, protestierte der Händler. „Ich bin kein Mörder. In meinem Haus wird niemand getötet. Du kannst von Glück reden, wenn meine Diener den Mann auch nur anfassen. Müsste ich ihn nicht ohnehin aus meinem Haus schaffen würde ich keinen Finger krumm machen. Wer will es sich schon mit der Inquisition verscherzen?“

„Bitte, den Tod hat er doch nicht verdient“, sprach das Mädchen flehentlich als bereute es den Verrat, den es begangen hatte.

Ihre Reaktion überraschte Mercurio nicht, auch wenn er auf eine andere gehofft hatte. Gaius war ein Feigling und diese Nicoletta schien für eine Diebin ein ungewöhnlich sanftes Gemüt zu haben. Pah, Hoffnung! Er hatte Hoffnung stets für einen Strohhalm der geistig Schwachen gehalten und er würde seine Meinung jetzt nicht ändern. Er hatte sich immer auf die Schärfe seines Verstandes verlassen und das hatte er auch jetzt vor. Doch die Tatsache blieb, dass es sich bei der versammelten Runde um Händler und Diebe handelte, nicht um Mörder. Ganz im Gegensatz zu dem Mann, der bewusstlos auf dem Dach von Gaius‘ Haus lag. Dass der Inquisitor ausgeschaltet werden musste war eine weitere Tatsache. Doch wie ließe sich das bewerkstelligen wenn niemand von den Versammelten hier und jetzt selbst Hand anlegen wollte? Was war mit diesen drei Halunken, die das Mädchen erwähnt hatte? Langsam fügte sich ein Plan in Mercurios Kopf zusammen. Er lächelte, als er sprach: „Na schön, machen wir uns nicht die Hände schmutziger als sie ohnehin schon sind. Lassen wir jemand anderen die Drecksarbeit erledigen. Du hattest schon mit diesem Theodorus zu tun, den unsere Freundin hier erwähnt hat?“

„Ja, aber ich sehe nicht, was das jetzt für eine Bedeutung haben soll“, antwortete Gaius gereizt.

„Ganz einfach, mein Lieber. Du wirst deinen Dienern befehlen, den Schmutz auf deiner Terrasse in der Gosse abzuladen, wo er hingehört. Gleichzeitig wirst du ein Vögelchen losschicken, das deinem Bekannten flüstert wo er das Häufchen Elend finden kann. Wenn ich den Grobian richtig einschätze wird er sich die Gelegenheit auf eine Revanche nicht entgehen lassen.“

„Und du glaubst, er ist mutig oder dumm genug, sich an einem Inquisitor rächen zu wollen?“

„Idiot, dieser Theodorus weiß doch noch nicht einmal, dass das ein Inquisitor ist. Und dein Vögelchen sollte darauf achten, ihm nicht zu viel zuzuzwitschern.“

„Glaubst du, er wird ihn töten?“, fragte Nicoletta ängstlich.

„Was wenn er ihn nicht tötet?“, fragte Gaius noch ängstlicher.

„Ich denke, der Grobian weiß, dass es für ihn selbst besser ist, wenn sein Opfer die Augen nie wieder aufmacht. Aber wenn du Zweifel hast, dann sollte ihm dein Vögelchen vielleicht einbläuen was gut für ihn ist.“

„Und wenn die Inquisition diesen Theodorus schließlich findet und er sie zu mir führt?“ Das Gesicht des Händlers hatte eine fahle, ungesunde Farbe angenommen und auf seiner Stirn formten sich Schweißperlen. Hastig leerte er seinen Becher und schenkte sich mit zitternden Händen ein. „Das Ganze gefällt mir nicht, Mercurio. Das Ganze gefällt mir überhaupt nicht.“

Mercurio schnaubte verächtlich. „Natürlich wäre es einfacher, ihn gleich hier und auf der Stelle zu töten und die Leiche verschwinden zu lassen, aber dagegen hast du ja auch etwas. Entscheide endlich was du willst, Gaius!“

Der Händler knetete nervös die dicken Finger. „Nein, nein, nein! Warum tust du mir das an, Mercurio? Man wird sein Verschwinden untersuchen und dann...“

„Und dann was? Selbst wenn die Inquisition auf dich kommt – was ich ehrlich gesagt für unwahrscheinlich erachte – kannst du deine Hände in Unschuld waschen und mit dem Finger auf Theodorus zeigen.“

„Aber die Scheibe! Die Scheibe...“

„Hast du bis dahin weiterverkauft. Im schlimmsten Fall nennst du ihnen den Namen des Käufers und bist fein raus.“

„Aber, aber… Das Ganze gefällt mir noch immer nicht. Nein, ich glaube, ich werde eine Zeit lang fortgehen, mich aufs Land zurückziehen bis Gras über die Sache gewachsen ist.“

„Ich halte es für überzogen, aber es ist deine Entscheidung.“

„Der Abschlag! Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich dir so viel bezahle, bei all den Unannehmlichkeiten, die du mir verursacht hast, Mercurio.“ Noch immer klang Panik in der Stimme des Mannes, doch jetzt blitzte auch Gier in seinen Augen.

Der Meisterdieb seufzte resigniert. „Ach komm, das ist ganz schlechter Stil, Gaius. Wir hatten uns doch schon geeinigt. Man dreht nicht noch im Nachhinein am Preis. Außerdem habe ich gehört, dass die Landluft gut für die Gesundheit sein soll. Du solltest mir dankbar sein.“

„Dankbar!“ Gaius atmete hektisch, dann wurde er plötzlich ruhig und senkte nachdenklich das Kinn. „Zwanzig Prozent. Ich schlage dir noch einmal zwanzig Prozent von der Summe ab, auf die wir uns geeinigt haben.“ Er machte eine Pause und lächelte nervös. Winzige Schweißperlen glänzten im Kerzenschein. „Für die Reisekosten, verstehst du?“

„Mein Anteil bleibt hoffentlich gleich?“, schaltete sich Nicoletta ein.

Mercurio stöhnte müde und begrub das Gesicht in den Händen. Er hatte das Gefühl, mit kleinen Kindern zu verhandeln. Musste ihm heute wirklich jeder auf der Nase herumtanzen? Dann besann er sich. Das Geld um das sie feilschten war bedeutungslos verglichen mit dem Wert des Herzens, zu dem die Scheibe den Weg wies. Er sah Nicoletta an und setzte das charmanteste Lächeln auf, zu dem er unter diesen Umständen fähig war, bevor er mit honigsüßer Stimme sprach: „Aber natürlich, mein Täubchen. Ich habe dir mein Wort gegeben und als Ehrenmann stehe ich weiterhin dazu.“ Wenn er erst einmal das Herz besitzen würde, würde dieses eingebildete Luder eine Überraschung erleben. Dann würde er sich mit Zinsen zurückholen, was ihm zustand. Sein Blick glitt hinüber zu Gaius, seine Züge wurden hart und er sprach mit ernster Stimme: „Abgemacht. Wirst du nun tun, was ich vorgeschlagen habe?“

Gaius nahm erneut einen großen Schluck Wein, dann nickte er. „Ich werde es so veranlassen wie du vorgeschlagen hast, mein guter Freund.“ Ein nervöses Lächeln umspielte die Lippen des Händlers. Mercurio erwiderte es freundlich. Dieser Feigling war ein weiteres loses Ende in seinem Plan. Wenn er erst einmal das Herz besitzen würde, würde er sich seiner entledigen.

Mercurio ließ den Blick über Diebin und Händler schweifen. Zufriedenheit erfüllte ihn schließlich als er sprach: „Dann ist es also beschlossene Sache.“

* * *

Darian erwachte mit einem stechenden Schmerz im Schädel. Das Licht der Morgendämmerung fiel in seine Augen, die er mühsam öffnete. Er versuchte sich zu bewegen. Seine Glieder schmerzten und ihm war schlecht. Er spürte unter sich das harte Pflaster einer Straße. Der Geruch von Fäkalien drang in seine Nase und verstärkte seine Übelkeit. Er drehte vorsichtig den Kopf um sich umzusehen. Hauswände ragten steil über ihm auf. Er schien sich noch immer in Alt-Bosporan zu befinden, wenn auch in einem besonders heruntergekommenen Teil davon.

„Na sieh mal, wen wir da haben“, sprach eine spöttische Stimme die Darian irgendwie bekannt vorkam. Langsam kam die Erinnerung zurück, an eine junge Frau und einen Kampf im Mondlicht. Langsam drehte er den Kopf in Richtung der Stimme und er sah über sich einen Hünen thronen, der ihn mit funkelnden Augen und zufriedenem Grinsen ansah. Er erinnerte sich.

Und dann traf ihn ein Fußtritt in die Magengrube, der ihn beinahe erneut ohnmächtig werden ließ.

„Ich breche dir alle Knochen im Leib bevor ich dich umbringe“, knurrte Theodorus. Das Lachen von zwei anderen Stimmen, eine leise und hämisch, die andere hoch und schrill. Ein weiterer Tritt traf Darian und er hustete Blut. Er tastete nach seinem Schwert doch es war nicht da. Es hätte ihm in diesem Zustand aber wohl ohnehin nichts genützt. Schwäche hielt ihn noch immer umklammert. Jede Bewegung, die ihm möglich war, war unendlich langsam und unkoordiniert. Noch ein Tritt und wieder Gelächter. Das war also das Ende. Der Inquisitor schloss die Augen und schickte ein Stoßgebet zu seinem Herrn Praios. Einen Augenblick später wurde sein Kopf an den Haaren brutal zurückgerissen.

„Sieh mich an! Ich will, dass ich das letzte bin, das du Hundesohn in deinem erbärmlichen Leben siehst!“

Ein Faustschlag traf Darian ins Gesicht, doch er ließ die Augen geschlossen und betete. Schmerz und Übelkeit wogten durch ihn doch er zwang sich, zu lächeln, so verzogen und jämmerlich es auch wirken mochte. Bald würde es vorbei sein.

Ein weiterer Faustschlag und seine Haare wurden noch weiter hochgezogen. „Du lächelst? Wenn ich mit dir fertig bin, lächelst du nicht mehr du Stück Dreck!“ Theodorus ließ seine Haare los und versetzte ihm noch einen Tritt und dann noch einen. Darian lachte oder zumindest versuchte er es. Es war ein gurgelndes Geräusch und er schmeckte Blut in seinem Mund. Er öffnete nun doch die Augen und sah seinen Peiniger an. Er versuchte zu sprechen. Theordorus bemerkte es und beugte sich neugierig zu ihm hinunter.

„Noch ein letzter Wunsch?“, fragte der Hüne ironisch.

Der Inquisitor schüttelte schwach den Kopf und sprach, seine Stimme ein trockenes, halb ersticktes Raspeln: „Ich speise heute Abend mit meinem Herrn… aber wenn dich der Tod ereilt… wirst du dir wünschen… niemals geboren worden zu sein.“

Theordorus‘ Gesicht schnellte mit einem wütenden Schrei nach oben und dann sauste seine Faust herunter. Ein weiterer Tritt traf Darian und… der nächste blieb aus.

„Hörst du das, Boss?“, fragte eine der Stimmen.

„Ich bin nicht taub!“

Der Inquisitor glaubte, das Klirren von Metall wahrzunehmen.

„Verdammt, die haben uns gerade noch gefehlt!“

„Schnell, weg hier!“, Ein letzter, kräftiger Tritt malträtierte Darian, dann hörte er wie jemand davonlief. Er schloss die Augen und verlor das Bewusstsein.

Es war später Nachmittag als Darian erneut aufwachte. Licht fiel sanft auf sein Gesicht, ein weiches Bettlaken schmiegte sich um ihn, der Geruch von Blumen und frisch gewaschener Wäsche lag in der kühlen Luft. Er versuchte sich zu erheben, doch er war noch immer sehr schwach. Mit seinem Bewusstsein kam auch der Schmerz zurück. Er begrüßte ihn indes, denn er bedeutete, dass er noch am Leben war.

Wenig später kam der Heiler. Er erzählte Darian davon, wie ihn eine Gruppe von Gardisten halbtot bei ihm abgeladen hatte. Sie hatten gesagt, er wäre wohl Opfer eines Überfalls geworden. Drei Täter, die sofort die Flucht ergriffen hatten, als sie der nahenden Gesetzeshüter gewahr geworden waren. Er habe großes Glück gehabt, sagte der Heiler, denn hätte nicht ein Straßenjunge die Gardisten zum Ort des Verbrechens geführt, wäre er sicher schon tot gewesen bevor ihn jemand gefunden hätte.

Der Inquisitor fragte nach seiner Kleidung und suchte nach Brief und Siegel. Er fand beide in der versteckten Innentasche, die auch schon die Gardisten bei seiner Verhaftung vor zwei Tagen nicht gefunden hatten. Er verlangte vom Heiler, der heftig protestierte, ein starkes Schmerzmittel und ließ sich dann Feder, Tinte und Papier bringen. Er schrieb wie im Fieber, doch sein Verstand war klar. Als er fertig war unterzeichnete er den Brief mit seinem Namen, verschloss ihn mit Wachs und drückte das Siegel hinein. Dann bat er den Heiler, das Schriftstück eilends von einem Boten zum Praiostempel bringen zu lassen. Die Kirche würde ihn, den Heiler, und seinen Boten für ihre Mühe angemessen entlohnen, sobald sie den Brief erhalten hätte. Dann legte sich der Inquisitor zurück ins Bett und versuchte, noch ein, zwei Stunden Schlaf zu finden. Er hatte alles getan, was er im Moment tun konnte. Alleine konnte er nun nichts mehr ausrichten. Die Zeit der Subtilität war vorbei. Darian schloss die Augen und wartete.

* * *

Die Hand des Heilers rüttelte an seiner Schulter und weckte ihn. Rotes Abendlicht flutete in den Raum. Obwohl er nicht lange geschlafen hatte, fühlte sich Darian erholt.

„Herr Inquisitor, der Praetor Vicarius des Tempels des Gerechten Gottes zu Vinsalt, Greifmut Silem von Calven, will Euch sprechen.“

Der Heiler verließ den Raum und einige Augenblicke später stand der Stellvertreter des höchsten Praiosgeweihten der Stadt vor ihm. Greifmut war von großer und beeindruckender Statur für einen Horasier. Das aschblonde Haar war meliert, und der Mann wirkte weder jung noch alt. Unter dem Mantel trug er ein einfaches Gewand, das nichts von seiner Stellung offenbarte. Aus dem etwas dicklichen Gesicht, das von einer beeindruckenden Nase dominiert wurde, sahen ihn zwei kleine graue Augen interessiert an.

„Seid gegrüßt, Herr Inquisitor.“ Die Züge des Geweihten waren wie seine Stimme ruhig und entspannt. Darian musste plötzlich an die Oberfläche eines Sees an einem warmen, windstillen Sommertag denken.

„Seid gegrüßt, Herr Praetor Vicarius“, entgegnete der Inquisitor und fühlte, wie langsam Kraft in seine Stimme zurückkehrte.

„Schön, hätten wir die Floskeln also. Ihr seht beschissen aus, Darian.“

Ein dünnes Lächeln erschien auf den Lippen des Inquisitors und er antwortete: „Ihr wisst gar nicht, wie recht Ihr habt.“

„Eure Nachricht klingt besorgniserregend. Ihr könnt natürlich auf meine Unterstützung zählen.“ Greifmut begann vor Darian auf und ab zu gehen. Seine Stimme blieb allerdings sanft und seine Mimik unverändert. Darian musste wieder an einen See denken. „Verzeiht mir, wenn ich Euch damit aufhalte, doch ich fürchte, ich bin nicht im Detail über Eure Mission unterrichtet. Ich verstehe natürlich, dass ein einfacher Kirchendiener wie ich nicht erwarten kann, umfassend über die Aktivitäten der Inquisition im Verantwortungsbereich des Vinsalter Tempels unterrichtet zu werden. Aber um Euch helfen zu können solltet Ihr mir zumindest jetzt das Wesen Eures Auftrags näher erläutern.“

Darian seufzte und begann: „Ich verfolge schon seit Monaten die Spur eines magischen Gegenstandes von großer Macht. Eine Information führte mich hierher und schließlich zu einem Kunsthändler namens Gaius ya Cordaio.“ Der Praetor Vicarius blieb stehen und blickte Darian an, doch sein Gesichtsausdruck entzog sich jeder Deutung. „Kennt ihr den Mann vielleicht?“, hakte der Inquisitor nach. Sein Gesicht verfinsterte sich, als die Erinnerungen an die vergangene Nacht im Haus des Händlers sich einen Weg an die Oberfläche seines Bewusstseins kämpften.

„Oh, in der Tat“, gestand Greifmut gleichmütig. „Das Sammeln von Antiquitäten ist mein bescheidenes Steckenpferd, müsst Ihr wissen. Wenn es Euch besser geht wäre es mir eine Ehre, Euch meine Sammlung alter Münzen zu zeigen. Ich habe tatsächlich die eine oder andere Rarität von Gaius erstanden. Ich erinnere mich da zum Beispiel an diese seltene Prägung aus der Zeit von Obra-Horas…“ Der Geweihte führte die Hand zum Mund und räusperte sich hörbar. „Verzeiht, ich schweife ab. Ihr sagt, er wäre in irgendwelche unlauteren Machenschaften verstrickt? Was für ein schrecklicher Gedanke. Ich werde beten, dass Praios ihn auf den rechten Weg zurückführen möge.“ Die Stimme des Praetor Vicarius war melodisch und fließend wie Wasser, und von abgehobener Gleichgültigkeit. Sie wusch die dunklen Gedanken des Inquisitors fort und kühlte sein heißes Gemüt. Darian wollte beinahe wütend sein, den Zorn der letzten Nacht heraufbeschwören, mit dem er sein Schwert unbarmherzig in die Parade Nicolettas getrieben hatte. Zorn und Hass gaben ihm Kraft, und er würde Kraft brauchen für das, was bevorstand. Doch es schien ihm unmöglich, in der Gegenwart Greifmuts irgendetwas zu fühlen, außer gleichmütiger Gelassenheit. Er dachte an die Macht, die der Geweihte alleine mit seiner Stimme ausübte und ein anderes Gefühl stieg in ihm auf: Furcht. Und die Furcht ließ seinen Verstand zu seiner Aufgabe zurückkehren.

„Dieser Händler ist zur Zeit im Besitz des Gegenstandes, nach dem ich suche. Ich habe versucht, im Geheimen an das Objekt zu kommen, doch...“ Darian musste an Nicoletta denken. An ihr Gespräch in den Gassen Alt-Bosporans. An den kleinen Jungen. An den Kampf auf dem Dach von Gaius‘ Haus. An die drei Schläger. „Nun, die Details sind jetzt unwichtig“, sagte er schließlich langsam und mit Erschöpfung in der Stimme. „Wichtig ist vor allem, dass Ihr mir helft den Gegenstand sicherzustellen bevor ihn der Händler weiterverkaufen kann.“

„Macht Euch darum keine Sorgen. Während wir uns hier unterhalten spricht einer meiner Mitarbeiter mit den Verantwortlichen in der Stadtgarde. Das sind alles sehr fromme, praiosgefällige Leute. Sie werden uns nicht offen unterstützen können – immerhin liegt ja keine Anklage gegen den armen Gaius vor – aber sie werden uns auch nicht behindern. Die Diener des Tempels werden ausreichen, um den Gegenstand in unseren Besitz zu bringen. Doch sagt mir, worum genau handelt es sich?“

„Um eine goldene Scheibe aus der Zeit vor Bosparans Fall.“ Darian war dankbar für die Hilfe des Geweihten, ja, er war darauf angewiesen, und doch widerstrebte es ihm, ihm mehr als nötig zu erzählen.

„Wie interessant. Und sie besitzt magische Eigenschaften, sagt Ihr?“

„Nein, die Scheibe selbst nicht. Aber auf ihr befinden sich Schriftzeichen, die den Weg zu dem Gegenstand beschreiben, der das eigentliche Ziel meiner Mission ist. Es ist das Artefakt, zu dem die Scheibe führt, vor dem wir die Welt bewahren müssen.“

„Ich verstehe. Vielleicht kann ich Euch helfen, die alten Schriftzeichen zu entziffern, wenn Ihr diese Scheibe erst einmal habt. Wie Ihr Euch denken könnt, nachdem ich bereits meine Münzsammlung erwähnte, interessiere ich mich sehr für Geschichte, Kunst und Kultur des alten bosparanischen Reichs.“

„Könnt Ihr etwas mit grolmischen Schriftzeichen aus dem dunklen Zeitalter anfangen?“, fragte der Inquisitor müde.

„Ein Artefakt der Grolme also!“ Zum ersten Mal während des Gesprächs glaubte Darian so etwas wie Emotion in der Stimme des Praetor Vicarius zu hören. Die kleinen grauen Augen blitzten kurz auf, Gesichtsmuskeln spannten sich für einen Augenblick an, dann war der Ausdruck des Geweihten erneut so ruhig und unpersönlich wie immer. „Ich werde sehen, ob sich in meiner Bibliothek etwas findet, das Euch weiterhilft, Herr Inquisitor. Ich kehre zum Tempel zurück und erwarte Euch dort. Im Vorzimmer warten vier Tempelgardisten, die Euch zur Verfügung stehen.“ Noch einmal veränderte sich die Mimik Greifmuts, als er einen prüfenden Blick auf Darian warf. „Ihr fühlt Euch kräftig genug, um die Sache zu Ende zu bringen?“

Der Inquisitor nickte langsam. Er war müde und sein Schädel pochte, doch ansonsten fühlte er keinen Schmerz. Seine Glieder waren steif, aber ihre Bewegungen folgten seinem Willen. Er hoffte, die Wirkung des Schmerzmittels würde anhalten. Er zwang sich zu einem Lächeln und blickte Greifmut in die Augen: „Ich werde es zu Ende bringen.“ Bei sich dachte er daran, dass die Scheibe erst der Beginn einer neuen Suche war. Er dachte an Nicoletta und dann kam ihm noch etwas in den Sinn. Seine Hand fuhr instinktiv zur Hüfte und verweilte dort für einem Moment. Dann wandte sich der Inquisitor noch einmal an den Geweihten und sprach etwas verlegen: „Sagt, Greifmut, es hat nicht einer Eurer Gardisten noch zufällig ein Schwert zu erübrigen?“

Flackerndes Fackellicht erhellte die Finsternis unter Vinsalt als zwei dunkle Gestalten verlassene Gänge entlanggingen. Es war feucht und der Gestank der Kanalisation lag Nicoletta in der Nase. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie schon unter der Erde waren. Man verlor hier unten leicht das Zeitgefühl.

„Und du bist sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind?“, fragte sie ihren Begleiter misstrauisch.

„Natürlich, dummes Kind!“, fuhr sie Mercurio an. „Der Eingang muss ganz in der Nähe sein.“

„Der Eingang zu was?“

„Das würde dir ohnehin nichts sagen.“

„Dann versuch es mir zu erklären. Sieht so aus, als hätten wir ohnehin Zeit.“

Der Meisterdieb gab ein schmerzhaftes Stöhnen von sich, sodass Nicoletta zuerst glaubte, er hätte sich den Kopf gestoßen, doch dann wurde ihr klar, dass es ihr galt. „Hörst du auf, mich zu piesacken? Ich muss mich konzentrieren.“ Demonstrativ blieb er stehen, atmete hörbar ein und blickte auf ein Stück Pergament, das er die ganze Zeit über in seiner Hand hielt. Nicoletta war, als würden seine Lippen leise Worte in einer Sprache formen, die fremd und unheimlich für sie klang. Doch vielleicht bildete sie sich das alles auch nur ein.

Mercurio blickte hoch und drehte sich zu ihr. „Diese Richtung.“ Und sie gingen weiter durch die stinkende Dunkelheit in den Eingeweiden der Stadt.

* * *

Der Hausdiener hatte bereitwillig die Eingangstür geöffnet, als er durch den Türschlitz die Tempelgardisten in ihren reich verzierten Rüstungen gesehen hatte. Es war bereits Nacht. Die dritte in Folge, in der er ungebetener Gast in einem reichen Hause war, dachte Darian. Der Diener insistierte, dass sein Herr bereits zu Bett gegangen sei und er ihn unmöglich wecken konnte. Müde gab der Inquisitor einem der Gardisten ein Zeichen und sah zu, wie dessen Überzeugungskraft den Diener umstimmte.

Wenig später standen sie in Gaius‘ Schlafzimmer und beobachteten, wie sich ein verschlafener Mann fluchend aus einem voluminösen Himmelbett schälte und dann plötzlich erstarrte, als er im Kerzenschein seiner Besucher gewahr wurde. Mit heruntergeklapptem Kinn stand der Händler in seinem weißen Nachthemd vor den fünf Männern und starrte Darian mit weit aufgerissenen Augen an.

„Was ist los Gaius? Ihr tut ja so, als hättet Ihr einen Geist gesehen“, sprach der Inquisitor mit schwer zu deutender Stimme.

Der Händler fiel vor ihm auf die Knie, streckte ihm die Arme entgegen und rief: „Gnade, mein Herr, Gnade! Ich habe nichts mit alledem zu tun, ich bin bloß ein einfacher Händler. Ihr müsst mir glauben, bitte! Es war alles Mercurio. Jawohl, er ist an allem Schuld. Er ist für all Euer Leiden verantwortlich! Ich bin bloß ein Opfer so wie auch Ihr.“

„Steh auf, du Wurm, und übergib uns die Scheibe.“ Darian empfand Ekel beim Anblick des Mannes. Der führte sie in den Raum mit dem runden Tisch, den Darian schon kannte, und dort befand sich die Schatulle mit der Scheibe. Die Finger des Inquisitors strichen zärtlich über das schwarze Ebenholz und dann über das kühle Metall, fühlten die Ritzungen in einer fremden und alten Sprache. Dann gab er das Kästchen einem der Tempelgardisten und befahl Ihnen, draußen auf ihn zu warten. Seine Aufgabe hier war erledigt, doch bevor er ging hatte er noch eine persönliche Sache mit Gaius zu besprechen.

Der Eingang war eine Backsteinmauer am Ende eines einsamen Kanals. Nicoletta dachte zuerst, sie hätten sich nun vollends verlaufen und hatte schon eine spitze Bemerkung auf der Zunge, als Mercurio sich mit Bestimmtheit vor den Ziegeln aufbaute, die Hände in die Hüften stemmte und mit fester Stimme, mehr zu sich selbst als zu ihr, sprach: „Das ist es.“

Die Diebin betrachtete den Mann und schluckte ihre Bemerkung hinunter. Hatte er den Verstand verloren? Dann hieß er sie das Bündel, das sie für ihn tragen musste, abnehmen und löste die beiden Spitzhacken davon. Sie hatte sich gewundert, wozu sie sie mitgenommen hatten. Als er eines der Werkzeuge in die Hände nahm und mit einer Kraft, die sie ihm nicht zugetraut hätte, auf die Mauer eindrosch, wusste sie die Antwort. Und dann sah sie es auch. Schmutz und Schimmel und die Dunkelheit am Rande des Fackelscheins überdeckten die Spuren fast zur Gänze doch bei genauerem Hinsehen erkannte sie die Fuge. In der Wand befand sich ein Durchgang, den irgendjemand irgendwann einmal zugemauert hatte.

„Willst du hier bloß rumstehen? Los, hilf mir schon!“ Wie um seine Worte zu unterstreichen krachte die Hacke in Mercurios Hand erneut in den alten Mörtel.

Nicoletta legte ihre Fackel ab, nahm das Werkzeug in die Hand und begann, auf die Mauer einzuschlagen.

* * *

„Was für ein Schatz!“ Die Augen des Praetor Vicarius leuchteten und in seiner Stimme schwang etwas mit, das Darian als Ehrfurcht deutete. Die Finger des Geweihten glitten über das Metall und seine Lippen bewegten sich als wollten sie Worte in einer Sprache formen, die niemals dafür gedacht war, von Menschen ausgesprochen zu werden.

„Grolmisch, zweifellos“, sprach Greifmut mit der Gewissheit des Gelehrten. „Ich habe tatsächlich ein, zwei Bücher gefunden, die uns behilflich sein können. Kommt, Darian, machen wir uns an die Übersetzung.“

* * *

Nicoletta wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihre Unterarme taten weh. Sie war die Anstrengung dieser Arbeit nicht gewohnt. Auch Mercurio atmete schwer und tupfte sich sein Antlitz mit einem Tuch ab. Die Mauer hatte Ihren Anstrengungen einigen Widerstand entgegengesetzt, doch schlussendlich war sie unter ihren Schlägen zerfallen.

„Wer diesen Zugang wohl zugemauert hat?“, fragte Nicoletta halb bei sich und erwartete kaum eine Antwort von ihrem griesgrämigen Kameraden zu bekommen. Doch der lächelte sie nun an, sichtlich zufrieden nach der Überwindung dieses Hindernisses. Beinahe sanft sprach der ältere Mann: „Ein paar namenlose bosparanische Maurer. Unwichtig. Interessant ist vielmehr, wann, aus welchem Grund und auf wessen Befehl der Zugang verschlossen wurde. Wenn du Erfolg im Leben haben willst musst du lernen, die richtigen Fragen zu stellen, Mädchen.“

„Hör endlich auf, mich wie ein Kind zu behandeln! Ich bin eine erwachsene Frau.“

Seine Finger massierten das Kinn während er sie, noch immer lächelnd, betrachtete. Dann sprach Mercurio: „Durchaus. Aber genug gerastet. Komm, auf uns wartet noch ein langer Weg.“

„Warte, was hat es nun mit dieser Mauer auf sich?“

„Das erkläre ich dir im Gehen. Und jetzt komm schon.“

Die Fackel in der Hand schritt der Dieb durch das Loch in der Mauer und Nicoletta folgte ihm. Nach wenigen Schritten wusste sie, dass sie sich in einer gänzlich anderen Welt befanden.

* * *

„Es befindet sich hier?“, fragte Darian ungläubig. „Es war die ganze Zeit unter unseren Füßen?“

„Das ist nicht verwunderlich. Bosparan hatte einst eine große grolmische Bevölkerung. Die Ruinen ihrer Zivilisation befinden sich noch immer irgendwo in der Sotterranea unter dem Pflaster der heutigen Stadt.“ Greifmut lächelte nichtssagend, seine Stimme war melodisch und ausdruckslos wie immer.

„Nicht irgendwo. Euren Übersetzungskünsten zum Dank kennen wir nun den Weg, der zum Herzen führt.“

„Das Herz von Prak‘tol. Schade, dass die Inschrift nicht näher darauf eingeht, worum es sich genau handelt.“ Der Geweihte blickte den Inquisitor an als erhoffe er sich von ihm eine Antwort auf seine unausgesprochene Frage. Darian seufzte.

„Auch sonst gibt es nur wenige Quellen, die darauf eingehen oder es auch nur erwähnen. Aber es ist deutlich, dass eine große Macht von ihm ausgeht. Grolme haben eine natürliche Begabung für Magie und ein guter Teil dieser Begabung wird wohl in die Herstellung des Artefakts geflossen sein. Grund genug, dass es skrupellose Leute in ihre Finger bekommen wollen.“

„Grund genug, das Artefakt sicherzustellen, zweifellos. Doch nun, da die Scheibe in unserem Besitz ist, ist auch die Information über den Ort, an dem sich das Herz von Prak‘tol befindet, in sicheren Händen. Ihr solltet Euch ausruhen, Darian.“

Der Inquisitor schüttelte den Kopf. „Diese Scheibe ist durch zu viele Hände gegangen. Die Familie Grisetti, Euer Bekannter Gaius, der Dieb, der sie ihm verkauft hat. Sie alle hatten Gelegenheit, die Inschrift zu entschlüsseln. Wer weiß, wer sie sonst noch zu Gesicht bekommen hat. Alleine bei Gaius bin ich mir sicher, dass er uns nicht mehr in die Quere kommen wird. Doch ich will nicht riskieren, dass uns jemand so knapp vor dem Ziel zuvor kommt.“

„Ihr denkt also, jemand anders könnte sich gerade jetzt dem Herzen nähern?“

„Ich will es nicht ausschließen.“

„Dann nehmt die Gardisten, die ich Euch zur Verfügung gestellt habe, und findet das Artefakt bevor es jemand anders tut. Sprecht mit meinem Assistenten. Er wird Euch alle Ausrüstung, die ihr benötigt, zur Verfügung stellen. Bringt das Herz von Prak‘tol zu mir, wenn Ihr es habt. Wo könnte es sicherer sein als hinter Tempelmauern, direkt unter dem wachsamen Auge unseres Herrn Praios?“ Die Stimme des Geweihten hatte sich die gesamte Unterhaltung hindurch nicht verändert und seine Züge waren ruhig und emotionslos. Und doch regte sich in Darian ein Gefühl, das er nicht einordnen konnte, eine dumpfe Vorahnung, die sich wie Nebel in der Morgensonne verflüchtigte sobald er seine Aufmerksamkeit darauf lenkte.

„Habt Dank für Eure Unterstützung, Greifmut“, sprach der Inquisitor nach einigen Augenblicken, drehte sich um und verließ den Raum.

Sie gingen einen langen Gang entlang, dessen Wände und niedrige Decke aus einem schwarzen Stein bestanden, der das Licht der Fackeln aufzusaugen schien. Es waren große, unregelmäßige Blöcke, die doch perfekt aneinanderpassten. Die Fugen formten ein netzartiges Muster, das eine unheimliche Faszination ausübte. Der Gang hatte ein leichtes Gefälle. Nicoletta fragte sich, wer wohl diese Mauern errichtet hatte, während sie immer tiefer in die unbekannte Unterwelt hinabstiegen.

„Du wolltest mir erzählen, warum man den Zugang einst zugemauert hat…“, begann die Diebin mit leiser Stimme und blickte sich weiterhin um. Der Ort flößte ihr Ehrfurcht ein. Die Antwort kam, als sie schon gar nicht mehr damit rechnete.

„Hast du schon einmal etwas von Grolmen gehört?“

„Nein.“

Mercurio seufzte. „Stell sie dir einfach wie dünne, hässliche Zwerge vor.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Du weißt doch, was Zwerge sind, oder?“

„Blöd bin ich auch nicht“, gab Nicoletta beleidigt zurück.

„Grolme gibt es übrigens auch heute noch, doch sie meiden die Menschen normalerweise. Sie leben unterirdisch, in Höhlen und Kavernen. Sie sind eine uralte, magiebegabte Rasse, aber die heutigen Grolme sind nur noch ein schwacher Abglanz ihrer Vorväter. Vor langer Zeit lebten im alten Bosparan Grolme und Menschen zusammen – die Menschen an der Oberfläche, die Grolme im Untergrund. Nach dem Fall des alten Reiches vor zehn Jahrhunderten wurde Vinsalt auf den Ruinen Bosparans gegründet. Die Reste der alten Hauptstadt befinden sich noch immer in der Sotterranea unter Vinsalt. Sowohl die Ruinen von Menschenhand als auch die der Grolme. Doch Grolme gab es hier schon Jahrhunderte vor dem Fall Bosparans nicht mehr.“

„Warum sind sie verschwunden?“

„Du lernst ja doch, die richtigen Fragen zu stellen, Mädchen.“ Nicoletta ignorierte diese Bemerkung und nach einer kurzen Pause erzählte Mercurio weiter: „Es gab Zwistigkeiten. Die listigen Grolme nutzten ihre Magie, um ihre menschlichen Handelspartner zu übervorteilen. Die Spannungen entluden sich schließlich in den sogenannten Grolmenkriegen vor tausendfünfhundert Jahren. In diesen Kriegen wurden alle Grolme in Bosparan entweder getötet oder vertrieben.“

„Und dann hat der damalige Kaiser befohlen, die Zugänge zur Stadt der Grolme unter Bosparan zu verschließen. Das hat es also mit der Mauer vorhin auf sich.“

„Genau“, antwortete Mercurio zufrieden.

„Das heißt also, wir befinden uns bereits im alten Grolmenreich?“ Nicoletta fuhr ein Schauer über den Rücken als ihr in den Sinn kam, dass sie die ersten Menschen seit eineinhalb Jahrtausenden waren, die sich in diesen Gängen bewegten. „Und der Schatz den wir suchen befindet sich hier? Haben ihn auch die Grolme erschaffen? Und warum haben ihn die Bosparaner nicht einfach mitgenommen, bevor sie die Tunnel verschlossen haben?“

„Genug Fragen für den Augenblick, Mädchen. Wir betreten gleich die alte Grolmenstadt und sie ist mindestens so verwinkelt wie Alt-Bosparan über dem Straßenpflaster. Du willst nicht, dass wir uns hier unten verlaufen. Sieh, da ist es!“

Der schmale, niedrige Gang öffnete sich in eine gewaltige Kaverne, deren Decke sich in der Dunkelheit verlor. Sie gingen weiter und Finsternis schloss sich von allen Seiten um sie. Nicoletta fühlte sich unendlich klein und verloren. Dann schälte sich ein Umriss vor ihnen aus dem Dunkel: ein gewaltiges schwarzes Tor, in demselben merkwürdigen Mauerwerk errichtet wie die Wände des Ganges. Wenn es einmal Türen gegeben hatte, dann existierten sie nicht mehr. So schritten sie durch die Toröffnung. Es kam Nicoletta vor als beträten sie eine Höhle in der Höhle, als wären sie nicht mehr unter der Erde sondern an der Oberfläche einer völlig anderen Welt der Schatten.

Sie durchquerten quadratische Höfe und niedrige Gänge; das netzförmige Muster des nackten Mauerwerks war überall. Viel hatten die Bewohner dieser Stadt nicht für Putz und Dekorationen übriggehabt, überlegte Nicoletta. Oder, dachte sie und spürte ein seltsames, undefinierbares Gefühl in sich aufsteigen, diese Wesen hatten ein völlig anderes Verständnis von Ästhetik gehabt, eines das ein Mensch weder erfassen, noch verstehen konnte.

Das Geräusch ihrer Schritte war der einzige Laut in dieser vergessenen Stadt. Mercurio bewegte sich langsam, vorsichtig, aber nicht zögerlich. Es schien als kenne er die Wege auf denen sie gingen, auch wenn sie kein zu ihrer Zeit lebender Mensch jemals gegangen sein konnte. Beschrieb diese seltsame Inschrift auf der Scheibe einen Weg durch diese dunkle Stadt? Sie versuchte, sich den Weg einzuprägen, doch die immer gleichen Gänge und Höfe verwirrten sie. Zumindest hielt sie die Strukturen für Höfe, denn eine Decke war nicht zu sehen. Aber vielleicht handelte es sich stattdessen um hohe Hallen? Die Diebin entschied, dass das keinen Unterschied machte. Jedenfalls schien es hier nichts zu geben, das einer Straße entsprach: Es gab nur niedrige Gänge, von denen weitere Gänge in rechten Winkeln abzweigten; und quadratische Plätze. Die ganze Stadt folgte einer wirren Geometrie. Ihre Architektur wirkte geordneter als die menschliche, gleichzeitig hatte sie aber auch etwas Verwirrendes an sich, das sich der Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Geistes entzog.

„Die Brücke!“ Mercurio atmete erleichtert auf und offenbarte damit, dass er unsicherer war als seine Haltung glauben gemacht hatte. Die Fläche, auf die sie hinausgetreten waren, war größer als die bisherigen Höfe. Kein Mauerwerk war in der Dunkelheit zu sehen, doch vor ihnen lag ein vielleicht drei Schritt breiter, flacher Weg, der eine bodenlose Kluft überspannte. Er schien aus massivem Fels zu bestehen, doch sein schnurgerader Verlauf ließ jeden Gedanken an eine natürliche Entstehung absurd erscheinen. Sie betraten das Konstrukt und schritten ins Unbekannte voran. Hinter ihnen schloss sich die Dunkelheit, vor ihnen wallte sie wie ein Vorhang, von den Seiten schien sie aus der unergründlichen Tiefe hochzukriechen. Die Brücke auf der sie gingen war wie ein Band aus Realität auf dem sie sich durch ein gestaltloses Nichts bewegten. Was wäre, wenn ihre Fackeln ausgehen würden? Nicoletta erschauderte und verdrängte den Gedanken. Sie zwang sich, ruhig zu atmen und einen Schritt vor den anderen zu setzen.

Schließlich hatten sie die andere Seite erreicht und vor ihnen tauchte erneut das Netzmuster einer Mauer auf, in dem die rechteckige Dunkelheit eines Durchgangs zu erkennen war. Nicoletta hätte niemals gedacht, dass ein solcher Anblick Erleichterung bei ihr auslösen könnte. Sie gingen durch weitere Gänge und Höfe, doch hier unterschied sich die Geometrie vom Rest der Stadt. Nicoletta bemerkte, dass sie unregelmäßiger wurde. Gänge zweigten im spitzen Winkel ab, Höfe waren rechteckig oder hatten mehr als vier Ecken. Gleichzeitig schien das Netzmuster des Mauerwerks regelmäßiger zu werden. Die Diebin mutmaßte, dass sie vielleicht einen älteren – oder neueren? – Teil der Grolmenstadt betreten hatten.

Mercurio schien nervöser zu werden. Sie traten in einen weiteren, großen Hof und in seiner Mitte nahm Nicoletta eine Öffnung wahr: Eine breite Rampe führte in die Tiefe. Sie stiegen hinab in die Eingeweide der Stadt unter der Stadt. Weiter ging es durch Gänge und Kammern. Hier handelte es sich nun eindeutig um geschlossene Räume, deren Decken nur wenig höher waren als die der Gänge. Doch irgendeine Art von Einrichtung konnte die Diebin nirgendwo erkennen. In diesem Teil der Stadt gab es auch Treppen. Manche führten nach oben, die meisten nach unten. Mercurio führte sie stets tiefer hinab. Dann standen sie vor einer Mauer.

„Sag bitte nicht, dass wir uns verlaufen haben.“ Nicoletta unterdrückte die Panik, die ihrer Stimme anhaften wollte.

„Sei still!“ fuhr Mercurio sie an. Er drehte sich zu ihr um und für einen Moment lag ein böses Funkeln in seinen Augen. Dann war es verschwunden und die Diebin fragte sich, ob sie es sich vielleicht nur eingebildet hatte. „Wenn es dich beruhigt: Wir haben uns nicht verlaufen. Und jetzt lass mich denken.“ Er rieb sich das Kinn und starrte auf das Mauerwerk. „Wir sollten zu einer Tür kommen,“ murmelte er mehr zu sich selbst. „Das kann nicht sein. Ich habe mich nicht geirrt...“

Nicoletta starrte resigniert auf die Mauer vor ihnen. Sollten sie versuchen, sich einen Weg hindurch zu hacken? Der schwarze Stein würde ihnen wohl mehr Widerstand entgegenbringen als die Ziegelmauer. Und was mochte schon dahinter sein? Wahrscheinlich gar nichts. Die Tür, die Mercurio erwähnt hatte, musste sich wohl anderswo in diesem Labyrinth verbergen. Sie hatten sich verlaufen und er wollte es nicht wahrhaben. Eine Tür war eine Tür und eine Mauer war eine Mauer. Ihr fiel ein, dass sie nirgendwo in der Grolmenstadt so etwas wie eine Tür gesehen hatte. Kannten diese Wesen das Konzept der Tür nicht? Doch wenn die Schriftzeichen auf der Scheibe eine Wegbeschreibung waren, der Mercurio folgte, dann mussten die Grolme ein Wort für „Tür“ haben. Sie seufzte und hockte sich auf den kalten Felsboden. Es brachte sie nicht weiter, sich über solche Fragen den Kopf zu zermartern. Sie betrachtete ihren Gefährten, dann die Wand. Ihr Blick glitt erneut über das Mauerwerk, folgte den Linien der Fugen, fiel auf einen faustgroßen Stein, kleiner als die anderen, der die Geometrie des Netzmusters störte. Die Diebin runzelte die Stirn. Ihr Intellekt konnte nicht erklären, welchen Regeln das Muster folgte, doch sie wusste intuitiv, dass dieser Stein nicht hineinpasste. Ein Schauer fuhr ihr über den Rücken. So instinktiv wie sie wusste, dass der Stein fehl am Platze war, wusste sie auch, dass ein gesunder menschlicher Verstand zu einer solchen Erkenntnis nicht in der Lage sein sollte. Dann fielen ihr drei Vertiefungen in der Oberfläche des Steins auf. Langsam, wie in Trance, erhob sie sich und ging auf die Mauer zu. Mercurio stand noch immer da und murmelte vor sich hin: „Die Übersetzung kann nicht falsch sein...“

Ihre Finger tasteten über die raue Oberfläche, fanden die Vertiefungen.

„Der Lokativ war eindeutig...“

Sie übte Druck aus. Ein Knirschen ertönte und Nicoletta zog schnell die Hand zurück. Langsam schob sich die Wand zurück und dann zur Seite und gab einen Durchgang frei. Mercurio starrte sie mit aufgerissenen Augen an, die Kinnlade heruntergeklappt. Sie lächelte und sprach spöttisch: „Wir haben uns wohl wirklich nicht verlaufen. Du hast recht gehabt, aber scheinbar ist es dir nicht gelungen, die richtige Frage zu stellen.“ Die Zornesröte schoss dem Mann ins Gesicht, doch sie hob ihre Fackel auf und trat durch den Durchgang, bevor er etwas erwidern konnte. Die kleine Rache an ihrem Gefährten fühlte sich gut an.

* * *

Darian blickte auf die herumliegenden Ziegelbruchstücke und dann auf das Loch, das jemand vor nicht allzu langer Zeit in die Mauer geschlagen hatte. Das bedeutete, dass ihm jemand zuvor gekommen war. Und er hatte einen Verdacht, wer das sein könnte. Darians Herz begann schneller zu schlagen und er nahm ein paar tiefe Atemzüge. Ein grimmiges Lächeln erschien auf dem Gesicht des Inquisitors und er wandte sich zu den vier Tempelgardisten um, die ihn begleiteten. Zwei von ihnen wies er an, dazubleiben und den Durchgang zu bewachen. Es war ein Risiko, seine Kräfte aufzuteilen, doch Darian wollte nicht riskieren, dass ihn seine Feinde ausmanövrierten und ihm so ein weiteres Mal entkamen. Sie mochten ihm voraus sein, doch sie mussten auf dem Rückweg diesen Durchgang passieren. Der Inquisitor schüttelte den Kopf wie um seine Zweifel abzuschütteln, dann zog er das Schwert und trat durch das Loch in der Mauer. Er dachte an den Mann, der sich Mercurio genannt hatte, an das Herz von Prak‘tol und an Nicoletta. Und ein weiterer Gedanke schob sich in sein Bewusstsein, einer vor dem er selbst Abscheu empfand: Der Gedanke an Rache.

Sie stand in einem achteckigen Raum mit niedriger Decke. Exakt in der Mitte befand sich ein ebenfalls achteckiger Block aus einem polierten schwarzen Stein, dessen Oberfläche das Fackellicht brach und in vielfacher Intensität zurückwarf, sodass es die Augen der Diebin beinahe blendete. Nicoletta starrte einen Augenblick lang in faszinierter Lähmung auf das Lichtspiel. Flamme und Schatten schienen einen Tanz für sie aufzuführen, der wunderschön und unverständlich war.

„Endlich, das Herz von Prak‘tol.“ Mercurio war neben sie getreten und sie folgte seinem Blick zur gegenüberliegenden Seite des Raums. Dort in den Schatten hockte auf einem Sockel aus demselben polierten Stein eine grässliche Figur. Sie war menschenähnlich, doch an ihr war nichts Menschliches. Vom voluminösen Bauch ausgehend spreizten sich acht dürre Gliedmaßen in den Raum, die schmalen Schultern trugen einen viel zu großen, runden Kopf, der eine schreckliche Grimasse schnitt. Um den kurzen Hals der Statue hing eine silberne Kette an deren Ende, auf der steinernen Brust aufliegend, ein großer roter Edelstein in feinmaschigem Silberdraht gefasst war. Der Stein schien selbst zu leuchten und nicht bloß den Fackelschein zu reflektieren. Und das Leuchten pulsierte wie der Herzschlag eines lebenden Wesens.

Mercurio ging mit hastigen Schritten auf die Statue zu, seine Hand fuhr über das Silber und er blickte zu Nicoletta zurück, seine Augen funkelnd und sprühend wie Vulkane. Sie sahen sich durch den Raum hindurch an und Nicoletta fühlte eine Furcht in sich hochkriechen, die sie nicht erklären konnte. Unmerklich glitt ihre Hand zum Griff des Floretts. Mercurio wendete den Blick ab und löste die Kette von der Statue. Sie sah den Edelstein an seiner Hand pendeln, dann legte er sich die Kette um den Hals und ging lächelnd auf sie zu. Zwei Schritt entfernt blieb er stehen und blickte ihr in die Augen, doch er sagte nichts.

„Und das war es?“, brachte Nicoletta schließlich mit unsicherer Stimme heraus. Sie konnte ihre Gefühle nicht erklären, doch zu ihnen gesellte sich nun eine Empfindung, die ihr bekannt war: Zweifel. Jetzt, da sie ihr Ziel erreicht hatten, konnte sie nicht glauben, dass es so einfach gewesen war.

„Ja, das war alles.“ Mercurio machte eine Pause und sein Lächeln wurde breiter. „Das heißt, noch nicht ganz. Hier trennen sich unsere Wege, Nicoletta. Wärst du bitte so freundlich, deine Waffen abzulegen?“

„Ich zeige dir gleich, wie freundlich ich sein kann“, dachte sie und Kampflust flackerte in ihr auf. Ihre Finger schlossen sich enger um den Griff des Floretts und – ließen wieder los. Sie löste die Schnalle des Gürtels und reichte ihn Mercurio. Sie versteifte sich innerlich. Sie wollte andere Bewegungen ausführen, doch sie hatte keine Kontrolle mehr über ihre Gliedmaßen. Nein, das stimmte nicht. Sie selbst war es, ihre eigenen Gedanken, die dem Körper befahlen, so zu handeln. Etwas in ihr krümmte sich vor Schmerz. Etwas, von dem sie zuvor nicht gewusst hatte, dass es überhaupt da war.

Sie zog den Dolch aus dem Stiefelschaft und übergab ihn ihrem Feind. Ihrem Feind? Etwas in ihr, etwas, das schwächer wurde, sah in dem Mann vor ihr ihren Feind. Sie wusste nicht warum. Sie schien die Welt um sich herum schärfer wahrzunehmen. Sie blickte Mercurio an und empfand … Vertrauen. Und etwas in ihr schrie auf.

Auf seinen Befehl hin drehte sie sich um und er band ihr die Hände. Es war ihr egal. Sie wusste, dass es notwendig war. Er würde sie niemals verraten. Sie legte sich auf den Boden und er band ihr die Beine. Sie würde hierbleiben und auf ihn warten. Sie drehte den Kopf und lächelte Mercurio an. Es war ein ehrliches Lächeln. Sie empfand Frieden. Und etwas in ihr erstarb.

* * *

Mercurio fühlte sich lebendig wie schon lange nicht mehr. Er schritt rasch durch die Gänge der Grolmenstadt. Das Herz von Prak‘tol pulsierte auf seiner Brust. Es hatte den ersten Test zu seiner höchsten Zufriedenheit bestanden. Seine Finger strichen zärtlich über das Silber und er lächelte bei dem Gedanken, wie einfach sich das dumme Mädchen dem Herzen ergeben hatte. Er bedauerte beinahe, dass er es so kurz und schmerzlos für sie gemacht hatte. Er hätte gerne noch mit ihr gespielt, sie ein wenig gequält, sie ein bisschen erniedrigt für ihre Anmaßung ihm gegenüber. Fast schmeckte sein Sieg fahl, denn er wusste, was das Herz von Prak‘tol mit dem Verstand seiner Opfer machte. Die Seele mochte unkorrumpiert bleiben, doch hatte sich jede Faser von Nicolettas Persönlichkeit ihm ergeben. Sie war sich dessen, was er ihr angetan hatte, nicht wirklich bewusst gewesen, und dieser Gedanke störte ihn. Hätte er sich mehr Zeit gelassen hätte er vielleicht einen Weg gefunden, sie ihre Ohnmacht tatsächlich erleben zu lassen, sie ihre Bestrafung bei voller Bewusstheit erleben zu lassen. Mercurio schüttelte amüsiert den Kopf und ging beschwingt weiter. Es spielte keine Rolle. Sie würde schon bald wieder bei Sinnen sein. Sie würde sich an die Zeit unter dem Einfluss des Herzens nur wie an einen Traum erinnern, doch sie würde verstehen. Und sie würde alleine und gefesselt in der Dunkelheit liegen und auf ihren Tod warten, sein Gesicht – das letzte, das sie gesehen hatte – in ihren Geist eingebrannt. Ob sie wohl schreien würde? Ob sie wohl den Verstand verlieren würde? Oh, sie würde Qualen erleiden, auch wenn er nicht dabei sein konnte. Dieser Gedanke versöhnte Mercurio. Er beschleunigte seine Schritte. Er wollte diese toten Ruinen so schnell wie möglich verlassen. Erst einmal an der Oberfläche angekommen, würde ihm das Herz von Prak‘tol ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. Nun, da er es hatte, würde sich ihm niemand mehr in den Weg stellen können.

* * *

Darian stand für einen Moment in stiller Ehrfurcht vor dem großen schwarzen Tor, das in die Grolmenstadt führte. Die gigantischen Ausmaße der Kaverne und die Massivität des Mauerwerks beeindruckten den Inquisitor. Er fragte sich, wie viele damals auf beiden Seiten umgekommen waren, als Kaiser Olruk-Horas vor eineinhalb Jahrtausenden die Grolme aus Bosparan vertrieben hatte. Dann zuckte er mit den Schultern und schritt durch das Tor. Er hatte hier Arbeit zu tun.

Absolute Schwärze umgab Nicoletta, als sie wieder zu sich kam. Oder besser gesagt: als sie wieder sie selbst war. Sie erinnerte sich an alles, doch es war als läge ein zäher Nebel über ihren Erinnerungen. Sie fühlte sich, als würde sie aus einer Betäubung aufwachen. Sie konnte sich nicht erklären, was mit ihr geschehen war. Sie erinnerte sich an Mercurios lächelndes Gesicht. Sie erinnerte sich an den pulsierenden roten Stein, der an einer Silberkette um seinen Hals hing. Das Herz von Prak‘tol hatte er den Schatz genannt. Das Grolmenartefakt musste es gewesen sein, das es ihm erlaubt hatte, sie auf eine Art und Weise, die sie noch immer nicht verstand, zu kontrollieren. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und sie begann zu zittern. Der Felsboden war kalt. Sie spürte die Fesseln an Knöcheln und Handgelenken. Sie spannte die Muskeln an. Sie wand sich. Sie schrie.

Auf ihrer Stirn formten sich kalte Schweißperlen. Ihr Gefährte hatte sie hier in der Dunkelheit und Kälte zum Sterben zurückgelassen. Sie warf sich auf dem Boden hin und her. Sie wollte nicht sterben. Nicht alleine. Nicht hier in diesem schwarzen, kalten Grab. Sie musste an Darian denken und Tränen formten sich in ihren Augen. Sie hatte ihn verraten. Sie hatte gedacht, der Gewinn aus ihrem Verrat würde ihr ein neues Leben ermöglichen. Das hatte sie nun davon. Warum musste immer alles in ihrem Leben so schrecklich schief gehen? Sie schluchzte. Sie hatte gedacht, einen nahezu Unbekannten zu hintergehen wäre ein geringer Preis. Sie hatte sich vor ihrem Gewissen damit gerechtfertigt, dass der Inquisitor sie ohnehin bloß benutzt hatte. Sie dachte an Theodorus, an Mercurio, an das Gespräch mit Darian am Vortag. Konnte es sein, dass der Fremde der einzige Mensch gewesen war, der es jemals ehrlich mit ihr gemeint hatte? Und sie hatte ihn verraten und in der Dunkelheit der Nacht zum Sterben zurückgelassen. Und nun hatte man sie verraten und zum Sterben zurückgelassen. War das hier die Strafe der Götter? Sie lachte.

„Ihr habt einen seltsamen Humor.“ Ihre Stimme hallte fremdartig von den Wänden wider, sie klang trocken und metallisch. Wie die Stimme einer Toten, dachte Nicoletta. Vielleicht war sie schon tot und das hier war ihre Bestrafung für alle Ewigkeit? Sie fühlte bei diesem Gedanken eine seltsame Ruhe in sich aufsteigen, eine losgelöste Distanz, die ihr fremd war. Es war, als würde sie über das Schicksal einer anderen nachdenken, nicht über ihr eigenes. Ihre Erinnerungen, ihre Gefühle, alles was sie gewesen war, schien in weiter Ferne zu liegen. Sie weinte – nicht aus Scham, nicht aus Reue, nicht aus Angst, sondern einfach weil es das war, was in diesem Moment für sie richtig war.

Nach einer Weile rollte und robbte sie auf dem Boden herum. Sie wusste nicht, in welche Richtung sie sich bewegte, ob sie sich überhaupt in eine Richtung bewegte. Es war egal. Sie bewegte sich, weil es das Einzige war, das sie tun konnte. Sie schob sie nach vor und drehte den Kopf dabei und plötzlich zuckte Schmerz durch ihre Schädeldecke. Sie presste die Zähne aufeinander und schnitt eine Grimasse. Woran hatte sie sich gestoßen? Vor ihrem inneren Auge flackerte das Bild eines achteckigen Steinblocks auf, über dessen polierte Oberfläche rötliches Feuer tanzte. Sie fühlte Blut ihr Haar benetzen. Das verdammte Ding hatte nach all der Zeit noch immer scharfe Kanten…

„Scharfe Kanten!“ Erkenntnis zuckte wie ein Blitz durch ihren Geist und Aufregung belebte ihren Körper. Sie manövrierte sich vorsichtig in Position und begann, ihre Fesseln an der Kante des Steins zu reiben.

Schließlich war sie frei. Sie konnte noch immer nichts sehen, doch Hoffnung kehrte zurück. Sie hatte zumindest eine Chance, aus diesem Labyrinth lebend wieder herauszukommen. Sie ging in die Richtung, die ihr ihre Intuition eingab, die Hände suchend vor dem Körper ausgestreckt. Sie fand den Rahmen der Tür. Sie war noch immer offen. Entweder hatte Mercurio keinen Weg gefunden, sie zu verschließen, oder er hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht. Sie schritt durch den Durchgang hindurch und tastete sich die Wand entlang, folgte mit den Fingern dem Netzmuster des Mauerwerks. Sie betete zu Phex, dass sie sich gut genug an die komplizierte Route durch Gänge und Kammern erinnerte, um den Weg zurück zu finden.

* * *

Mercurio fluchte. An diesen Gang konnte er sich nicht erinnern. Wo war er falsch abgebogen? Er ging den Weg zurück. Er schalt sich in Gedanken einen Narren. Er war so vertieft in seine Fantasien von Macht und Reichtum gewesen, dass er nicht richtig auf den Weg geachtet hatte. Er ermahnte sich selbst zu Sorgfalt und Disziplin. Sie waren es gewesen, die ihn zu dem gemacht hatten, was er war, nicht blinder Eifer und berauschender Enthusiasmus. Das Herz von Prak‘tol pulsierte auf seiner Brust. Er fühlte sich Jahrzehnte jünger. War es der Rausch der Macht, waren es all die verführerischen Möglichkeiten, die ihm durch den Kopf gingen, oder hatte das Artefakt noch andere, subtilere magische Eigenschaften? Er würde es herausfinden. Er zweifelte nicht daran, dass er dem Herzen noch viele Geheimnisse entlocken würde. Doch jetzt musste er sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Mercurio trat in einen Hof, drehte den Kopf in die Richtung, aus der er zuvor gekommen war und erinnerte sich an den zurückgelegten Weg. Er zählte Gänge und Höfe in Gedanken, dann schnaubte er und seine Augen verengten sich, als er den Kopf in eine andere Richtung drehte. Zwei, nicht drei.

„Du Narr bist einen Hof zu früh abgebogen“, schalt er sich. Mit gemäßigteren Schritten ging er weiter, auf die Umgebung konzentriert. Er würde keinen Fehler mehr begehen. Bald würde er die Brücke erreichen…

* * *

Sie traten in einen großen Raum und bewegten sich entschlossen, doch vorsichtig in ihn hinein, Schwerter und Fackeln fest umklammert. Kein Mauerwerk war mehr zu sehen, doch vor ihnen schälte sich eine Art Brücke aus der Dunkelheit. Der Boden unter ihren Füßen brach links und rechts davon weg und ließ somit auf einen Abgrund schließen, dessen Tiefe unmöglich zu schätzen war. Doch es war wohl jeder von ihnen froh, es nicht genau zu wissen, dachte Darian. Er führte die beiden Gardisten näher an die Brücke. Sie war flach und ohne Geländer. Es war beinahe so, als würde der Boden einfach in einem etwa drei Schritt breiten Band weiterlaufen.

Leise klirrte das Metall von Rüstungen hinter dem Inquisitor. Er konnte die Nervosität seiner Männer beinahe fühlen. Dieser Ort hatte mehr mit einem Traum gemein als mit der Realität und es erschien Darian surreal, als Mercurio aus der Dunkelheit trat und über die Brücke auf sie zuging. Ein Lächeln umspielte das Gesicht des Diebes und auf seiner Brust pulsierte ein großer, roter Edelstein, der an einer Kette aus Silber hing. Das Herz von Prak‘tol. Darian und seine Begleiter wichen instinktiv einen Schritt zurück. Der Mann ging gemächlich auf sie zu, Fackel in der Hand, doch sein Säbel steckte in der Scheide. Zwei Schritt vor ihnen, am Rande der Brücke, blieb er stehen und blickte dem Inquisitor in die Augen.

Darian wollte auf seinen Feind zugehen, ihn mit dem Schwert niederstrecken und die Sache ein für allemal beenden. Doch etwas hielt ihn zurück, ließ seine Glieder ihm den Dienst versagen. Dann erkannte er, dass es tatsächlich sein eigener Geist war, der sich weigerte seinem Körper die notwendigen Befehle zu geben. Was ging hier vor? Der Inquisitor sah das rote Juwel vor sich pulsieren. Es musste die Macht des Grolmenartefakts sein, die ihn lähmte. Mit all seiner Willenskraft versuchte er, dagegen anzukämpfen.

„Gut, du wehrst dich ein bisschen mehr als das Mädchen. Ein richtiges Stehaufmännchen. Wie hast du es bloß geschafft, dass du diesem Rüpel Theodorus entgehst und hier nun munter vor mir stehst? Aber egal, an diesem Ort, zu dieser Stunde, endet es. Ich habe dich zweimal unterschätzt, Inquisitor. Ein drittes Mal werde ich diesen Fehler nicht machen. Spüre die Macht des Herzens.“

Eine Welle von Schmerz umspülte den Teil seines Bewusstseins, der Widerstand leistete. Darian konnte sich nicht bewegen, wollte sich nicht bewegen. Hinter sich vernahm er Bewegung. Er drehte sich instinktiv in einer fließenden Bewegung, die sich so natürlich und mühelos anfühlte als hätte er niemals die Kontrolle über seine Bewegungen verloren gehabt. Mit der Intuition eines Kriegers parierte er den Hieb des Tempelgardisten. Er blickte in die Augen des Mannes und sah darin Hass und Feindschaft. Und in diesem Augenblick erwiderte der Inquisitor diese Gefühle aus vollem Herzen. Der Mann war ein Verräter. Er wollte das Artefakt für sich haben. Er dachte an Nicoletta. Der zweite Gardist griff ihn an und er parierte auch diesen Angriff. Leidenschaft übermannte ihn. War er denn von Verrätern umgeben? Er würde sie alle töten und dann würde das Herz von Prak‘tol ihm gehören! Sie sollten für ihren Verrat büßen!

Etwas in ihm, am Rande seines Bewusstseins, flüsterte andere Worte: „Das ist die Macht des Herzens. Mercurio spielt mit uns und lässt uns wie Puppen tanzen.“ Etwas in ihm versuchte sich aufzulehnen. Automatisch parierte er die nächste Attacke, stieß den Angreifer fort und drang auf den zweiten Gegner ein. Er schlug das Schwert des Gardisten zur Seite und versetzte ihm einen Schlag gegen den Helm, der den Mann zurücktaumeln ließ. Er parierte den Hieb des zweiten Gegners und deckte ihn seinerseits mit Hieben ein, die der zurückweichende Gardist mühevoll parierte. Etwas in Darian brach und verstummte. Diese Männer hatten für ihren Verrat den Tod verdient und er würde das Urteil hier und jetzt vollstrecken. Hinter sich hörte er Mercurio lachen, doch er konnte nicht begreifen, warum.

Nicolettas Herz machte einen Satz, als sie vor sich Lichtschein wahrnahm. Sie trat aus dem engen Gang auf eine weite Fläche und aus einiger Entfernung strahlte ihr Fackelschein entgegen. Laute drangen zu ihr. Das Klirren von Waffen und das Lachen einer Stimme, die sie kannte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Was hatte das zu bedeuten? War ihnen jemand gefolgt? Vorsichtig schlich sie näher. Sie hoffte, dass dieses Grolmenartefakt Mercurio nicht die Möglichkeit gab, ihre Gegenwart zu entdecken. Sie schauderte erneut bei dem Gedanken. Sie bewegte sich lautlos und sie hatte den Vorteil, dass der Fackelschein die Szene vor ihr deutlich sichtbar machte, während sie für die Männer, die sich im Licht der Fackeln befanden, unsichtbar war, solange sie sich nicht zu nahe an sie heranwagte.

Mercurio stand auf der Brücke, die sie bereits beim Hinweg überquert hatten, den Blick auf die drei Gestalten am anderen Ende gerichtet, noch immer lachend. Einer der anderen Männer war Darian – und ihr Herz machte erneut einen Satz. Der Mann, den sie verraten hatte. Der Mann, der eigentlich tot sein müsste. Er kämpfte gegen zwei gerüstete Krieger. Selbst aus der Ferne konnte sie die Intensität des Kampfes erahnen, den Hass, den die Fechter aufeinander hatten. Umhang und schwarzes Haar des Inquisitors flatterten und er kämpfte wie ein Dämon. Doch warum bekämpften sich die drei Männer und warum stand Mercurio lachend und untätig daneben? Sie musste an den Schatz der Grolme denken und sie verstand. Ein Zittern durchfuhr sie, als sie sich daran erinnerte, wie ihr früherer Komplize mit dem Artefakt Macht über sie ausgeübt hatte. Sie wusste mit einem Mal, wie der Kampf ausgehen würde. Einer der Männer würde überleben. Mercurio würde ihn mit einem grausamen Lächeln auf den Lippen töten. Er könnte ihm einfach befehlen in den Abgrund zu springen und sie wusste mit einer furchtbaren Gewissheit, dass dieser Mann es ohne zu zögern tun würde. Sie fasste einen Entschluss.

Leise und geduckt schlich sie näher, setzte den Fuß auf das Ende der Brücke. Ihr Blick fixierte Mercurio mit einer Intensität, dass alles um ihn herum zu verschwinden schien. Seine Gestalt war das Einzige, was sie sah, sein Lachen das Einzige, was sie hörte. Sie fühlte jede Faser ihrer Muskeln, als sie sich weiter vortastete, jederzeit bereit, die restliche Distanz zu ihrem Feind in einem verzweifelten Sprint zu überwinden, sollte er sich plötzlich umdrehen. Sie hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Mit jedem vorsichtigen Schritt wurde die Silhouette Mercurios größer, bedrohlicher. Sie sah das Silber der Kette um seinen Hals im Fackelschein blitzen.

Sie war noch etwa drei Schritt von ihrem Ziel entfernt als Mercurios Kopf hochzuckte und er seinen Oberkörper drehte, während sein Arm zur Hüfte glitt wo sein Säbel in der Scheide steckte. Ihre Beine katapultierten sie nach vorne und sie sah für den Bruchteil einer Sekunde das Gesicht des Mannes. Es war eine Grimasse grausamer Belustigung, doch in seinen Augen erkannte sie Schrecken und Verwirrung. Sie rammte die Schulter in seinen Brustkorb und riss ihn von den Beinen noch bevor er seine Waffe ziehen konnte. Sie landete auf ihm, ihre Hand umfasste den großen roten Edelstein und mit einem kräftigen Ruck riss sie ihm die Kette vom Hals. Mercurio schrie auf. Stein und Metall fühlten sich kalt an und in das Glücksgefühl des Triumphs mischte sich Unbehagen. Einen Moment war sie abgelenkt und sie bezahlte dafür als sie die Faust ihres Feindes auf die Wange traf. Sie stürzte zur Seite und schlug auf dem harten Fels der Brücke auf. Ihre Hand öffnete sich und die Kette schlitterte davon. Sie war benommen und als sie ihre Sinne zurückerlangte, traf sie bereits der nächste Faustschlag. Dann sah sie über sich Metall aufblitzen und einen Moment später spürte sie die Spitze des Dolches in Mercurios Hand an ihrer Kehle.

„Sieh mich an, du kleine Hure“, zischte ihr Feind. Sie war noch immer benommen von seinen Schlägen. „Ich will, dass du mir in die Augen siehst bevor ich dich töte. Du hast das letzte Mal meine Pläne durchkreuzt.“

Unwillkürlich blickte sie ihn an. Es war fast so, als stünde sie erneut unter dem Einfluss des Herzens von Prak‘tol. Mercurios Lippen waren weit geöffnet und seine Zähne schienen ihr entgegen, die Augen funkelten grausam. Im Fackellicht wirkte die einst so gepflegte Gestalt des Diebes nun wild und animalisch. Sie erwartete den Todesstoß.

Mercurios Augen weiteten sich plötzlich. Nicoletta senkte den Blick etwas und sah eine Schwertspitze aus seiner Brust ragen. Das Kinn des Diebes klappte nach unten, er ließ den Dolch los und fasste sich mit beiden Händen an die Wunde. Die Schwertspitze verschwand und sie hörte das Surren einer Klinge. Einen Moment später löste sich Mercurios Kopf von seinem Körper und kullerte auf den Boden, noch immer ein ungläubiges Starren in den toten grauen Augen. Blut spritzte auf Nicolettas Kleidung und Gesicht. Darians Stiefel stieß den Leib des Diebes zur Seite und er klatschte leblos neben ihr auf den Fels.

Die Diebin und der Inquisitor blickten sich in die Augen. Beide verharrten regungslos. Schließlich fragte Nicoletta: „Und nun?“

Darians Blick glitt über ihre blutbesudelte Gestalt hinweg zu einer Stelle auf dem Fels und der ihre folgte. Dort lag, wenige fingerbreit vom Abgrund entfernt, das Herz von Prak‘tol. Es war nahe. Der Inquisitor sah sie schweigend mit einem fragenden Blick an.

„Wenn ich es erreichen würde...“, sagte die Diebin leise und wunderte sich, ob das tatsächlich ihre eigenen Worte waren.

„Ich würde dich töten bevor du es erreichst.“

„Und so lässt du mich am Leben? Was hast du mit mir vor?“

„Ich hätte jeden Grund, dich so oder so zu töten.“ Der Inquisitor seufzte und bewegte sich langsam um sie herum auf das Grolmenartefakt zu. Er behielt die Diebin wachsam im Auge, hielt Abstand und ließ die Spitze seiner Klinge auf sie gerichtet. Seine Bewegungen wirkten lässig, doch sie zweifelte nicht daran, dass er jederzeit bereit war, seine Drohung in die Tat umzusetzen. Im Gehen sprach Darian weiter, einen Plauderton anschlagend: „Der Praetor Vicarius des Tempels des gerechten Gottes zu Vinsalt war so freundlich, mich bei meiner Mission zu unterstützen. Er bat mich, das Artefakt zurück an die Oberfläche zu bringen, damit es sicher hinter Tempelmauern und unter dem wachsamen Auge von Praios aufbewahrt werde und keinen Schaden mehr anrichte.“ Nicoletta war sich nicht sicher, ob sie einen Hauch von Ironie in der Stimme des Inquisitors ausgemacht hatte. Er stand nun am Rande des Abgrunds, direkt neben der Silberkette mit dem rot leuchtenden Edelstein und blickte sie an.

„Sag mir: Nun, da du weißt, wo es in Zukunft verwahrt werden soll, würdest du versuchen, es zu stehlen?“ Seine Stimme war klar und hell wie Glockenschlag.

Sie lachte laut auf und fühlte sich plötzlich wieder wie sie selbst: „Bei allen Göttern! Lieber würde ich mein restliches Leben im Kerker verbringen.“

„Meinst du das ernst?“ Die Stimme des Inquisitors war frei von jeglichem Misstrauen, obwohl er jeden Grund dazu gehabt hätte. Die abgrundtiefe Ehrlichkeit seiner Frage erschütterte sie mehr, als es jedes Urteil des Mannes gekonnt hätte. „Das Herz von Prak‘tol könnte dir ein neues Leben verschaffen. Es könnte dir die Türen zu Macht und Reichtum öffnen. Hört sich das nicht verlockend für dich an?“

Noch immer am Boden liegend schüttelte sie den Kopf und lächelte. „Du hast selbst gesagt: ich bin eine miserable Lügnerin. Erlaubst du mir, mich aufzusetzen? Dieser Fels ist verdammt kalt und ich verrenke mir den Hals wenn ich dich ansehen will. Ich bewege mich auch ganz langsam. Versprochen.“ Sie sah sein Nicken, setzte sich auf und sprach weiter: „Ich will nichts von alledem, wenn ich dieses verdammte Ding dafür um den Hals tragen muss.“ Erneut trafen sich ihre Blicke, sie fühlte etwas in sich erzittern und sie wusste in diesem Augenblick, dass er dasselbe fühlte. Sie dachte daran, dass sie beide unter dem Einfluss des Herzens gestanden waren und ihr wurde plötzlich klar, dass dies eine besondere Verbindung zwischen ihnen geschaffen hatte. Sie wusste, dass er verstand, was sie meinte.

Er sah sie schweigend an und sie erwiderte seinen Blick. Schließlich zuckte sie die Achseln und sprach: „Nun, ich schätze es gibt Dinge, die nicht in die Hände von Menschen gehören.“

„Du meinst, auch nicht in die Hände eines Geweihten?“

„Was bedeutet es schon, was ich meine? Du hast gewonnen. Und du hast deine Befehle. Bring dem Praetor Vicarius seinen Schatz. Ich bitte dich nur um eines, wenn du schon nicht vorhast, mich zu töten: nimm mich mit an die Oberfläche. Lass mich nicht in der Dunkelheit inmitten der Toten zurück.“ Unwillkürlich glitt ihr Blick zum kopflosen Leichnam Mercurios.

Nun war es der Inquisitor, der lachte. Dann sprach er nachdenklich: „Erinnerst du dich an unser Gespräch vom Vortag?“

Sie nickte. Es schien ihr eine Ewigkeit her zu sein.

„Ich bin meinem Gewissen und Praios ebenso verpflichtet wie meinen Vorgesetzten. Ich bin freier, als du denken magst.“ Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, dann gab er dem Herzen von Prak‘tol mit dem Stiefel einen Tritt und beförderte es über den Rand der Brücke. Der rote Stein blitzte in der Finsternis des Abgrundes, das Funkeln wurde kleiner und schließlich verschwand es. Ein Aufprall war nicht zu hören.

„Vielleicht hast du recht, Nicoletta. Es gibt Dinge, die besser vergessen bleiben. Ich muss den Praetor Vicarius wohl enttäuschen.“

Sie stand auf und blickte ihm in die Augen. „Darian...“

„Du brauchst nichts zu sagen.“ Seine Stimme war hart. „Meine Aufgabe hier ist beendet. Du wirst uns zurück an die Oberfläche begleiten, ich werde die Sache mit dem Tempel regeln und dann werde ich Vinsalt verlassen und du bist frei deiner Wege zu gehen.“

Sie senkte den Blick. Das Leder seines Handschuhs berührte sanft ihr Kinn und drückte es nach oben bis sich ihre Augen erneut trafen.

„Wenn ich es mir recht überlege, bevor ich gehe habe ich in der Stadt noch eine kleine private Angelegenheit zu regeln. Wenn du willst könntest du mir dabei behilflich sein. Ich denke, es würde dir gefallen. Was meinst du?“

Nicoletta blickte gedankenverloren die winzigen Staubkörnchen an, die im Licht der Sonnenstrahlen tanzten. Sie saß alleine in ihrem Zimmer. Es war beinahe Mittag. Sie wunderte sich, wie lange es noch dauern mochte. Dass sie kommen würden, daran bestand kein Zweifel. Sie dachte über die vergangenen Tage nach. Sie erschienen ihr unwirklich, wie ein Traum. Vielleicht träumte sie noch immer.

Die Tür schwang auf und Theodorus trat ein, gefolgt von seinen beiden Kumpanen. Nicoletta blickte erst hoch, als sein Schatten die Tischplatte verdunkelte.

„Du hast echt Nerven, noch einmal hier aufzutauchen, Nico. Aber diesmal redest du dich nicht raus. Um deinen Freund haben wir uns schon gekümmert und jetzt werden wir dir für deinen Verrat eine Lektion erteilen, die du nie wieder vergisst.“

Sie blickte dem Hünen in die Augen und lächelte.

„Findest du das etwa witzig? Wenn wir mit dir fertig sind lächelst du nicht mehr, das verspreche ich dir.“

Theodorus baute sich vor ihr auf und schob demonstrativ die Hemdsärmel zurück während Horatio und Yppolito den Tisch umrundeten. Sie hielten inne, als sie von draußen das Geräusch schwerer Stiefel auf Holz hörten.

„Schnappt sie euch, ihr Trottel!“, brüllte Theodorus wütend, doch die Diebin war bereits aufgesprungen und schmetterte den Stuhl auf dem sie eben noch gesessen hatte ins Gesicht des völlig überraschten Horatio. Dann zog sie ihr Florett. Es war eleganter und besser ausbalanciert als das alte und lag gut in der Hand. Sie griff Yppolito ohne zu zögern an und er hatte Mühe, ihre Attacken zu parieren. Die Waffe war eine gute Wahl gewesen, überlegte sie.

Theodorus hatte inzwischen seine Waffe gezogen, doch er kam nicht dazu, einzugreifen, denn in der Tür erschienen neue Gegner. Er drehte sich um und stieß einen ungläubigen Schrei aus, als er Darian erblickte. Hinter dem Inquisitor drängten ein halbes dutzend schwarz gekleidete Gestalten mit blitzenden Klingen in den Raum – Angehörige der Vinsalter Kriminalpolizei. Der Kampf war vorbei, bevor er richtig begonnen hatte. Theodorus und seine beiden Komplizen wurden gefesselt und abgeführt und dann waren Darian und Nicoletta alleine im Raum. Sie standen sich gegenüber und blickten sich an.

„Schönes Florett.“

„Danke. Hat ein kleines Vermögen gekostet.“

„So? Nun, es freut mich, dass du bei diesem kleinen Abenteuer anscheinend doch nicht leer ausgegangen bist.“

„Eines muss man Mercurio lassen: er hat sein Versprechen, mich für meinen Seitenwechsel zu entlohnen, gehalten. Freilich hat er mich schließlich selbst hintergangen...“

„Verrat gebiert Verrat.“

„Haben wir diesen Kreislauf nun nicht durchbrochen? Darian...“

„Ich weiß, was du sagen willst. Sag es nicht.“

„Was wirst du nun tun?“

„Meine Angelegenheiten hier sind beendet. Ich kehre nach Gareth zurück. Sicherlich warten bereits neue Aufgaben auf mich.“

„Sicherlich hast du dir nach alledem ein wenig Ruhe verdient? Was hältst du davon, gemeinsam eine gute Flasche Wein zu köpfen und das Gestern und das Morgen für heute zu vergessen?“

Sie sah ihm tief in die Augen und seine Hand strich durch ihr Haar, dann senkte er den Blick und sprach: „Ich breche sofort auf. Vielen Dank für deine Kooperation, Nico.“

Er drehte sich um und ging.

Sie rief ihm nach: „Werde ich dich jemals wiedersehen?“

Er wendete sich noch einmal zu ihr um und lächelte sie an: „Wer weiß?“

„Wenn wir uns wiedersehen, dann hoffentlich nicht als Feinde.“

„Das hoffe ich auch, Nico. Leb wohl.“

Der Inquisitor schritt durch die Tür und war verschwunden. Nicoletta blickte ihm lange nach, dann ließ sie den Blick über den Raum schweifen, der so lange ihr Zuhause gewesen war. Sie würde noch an diesem Tag verschwinden. Es gab nichts mehr, das sie hier hielt. Ein neues Leben erwartete sie und sie fragte sich, was es wohl für sie bereithalten mochte.

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Kapitel: 17
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Kurzbeschreibung

Eine geheimnisvolle Schatulle soll aus dem Haus einer reichen Adelsfamilie gestohlen werden. Doch die Vinsalter Diebin Nicoletta ist nicht die Einzige, die an dem Gegenstand interessiert ist. Ehe sie es sich versieht steht sie im Mittelpunkt einer nervenaufreibenden Schatzsuche.

Kategorisierung

Diese Fanfiction wurde mit Fantasy und Abenteuer getaggt.