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Einhundert

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12.05.20 11:21
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Autorennotiz

Bei dem nachfolgenden Text handelt es sich um eine Übersetzung eines englischen Textes. Er ist wirklich großartig und meine erste (und wahrscheinlich einzige) Übersetzung kann ihm absolut nicht gerecht werden. Von daher: Schaut unbedingt beim Original vorbei! Ich danke Book 'em Again für die Erlaubnis für die Übersetzung.

Autor: fanfiction.net/u/2094994/Book-em-Again
Text: fanfiction.net/s/11085760/1/One-Hundred

Alle gesprochenen Dialoge in der letzten Szene stammen aus dem sechsten Kapitel von „Der Weg der Könige“ von Brandon Sanderson.

Vielen Dank an Pikku für die Betaarbeit und die Hilfe beim Übersetzen! Ohne dich wäre das hier weitaus katastrophaler.

Eins

Jod war ein Narr. Ein sturmverdammter Narr. Er war ein Narr, der es gewagt hatte, zu denken, dass man bloß mit gesundem Menschenverstand einen Streit gewinnen konnte. Ein Narr, zu glauben, dass er den größten Idioten in den zehn Armeen davon abbringen konnte, eine schlechte Entscheidung zu treffen. Aber, Sturmvater, er hatte dieses Pferd doch nicht einfach in den Tod schicken können. Ein zu stark belasteter Riemen auf dem Schlachtfeld konnte sowohl für den Reiter als auch für das Pferd den Tod bedeuten. Aber Hellherr Nolin hatte seinen Bericht abgewiesen und das Pferd dennoch mitgenommen. Und als das Pferd inmitten der Schlacht gestrauchelt war und dabei einen von Hellherr Sadeas' Generälen abgeworfen hatte, war sein Todesbefehl unterzeichnet worden. Es hatte keine Rolle gespielt, dass er versucht hatte, den General zu warnen. Er war verantwortlich für die Pflege des Pferdes und er hatte versagt.

Also war der dunkeläugige Pferdepfleger an jenen Ort verbannt worden, an dem alle Versager unter Hellherr Sadeas endeten: die Brückenmannschaften.

Ein Teil von ihm wünschte sich, dass sie ihn einfach an Ort und Stelle hingerichtet hätten. Es war ehrenhafter. Er war nun seit vier Jahren ein Teil von Großprinz Sadeas‘ Armee. er wusste, welchen Zweck die Brückenmänner erfüllten. Er machte sich nichts darüber vor, was nun mit ihm passieren würde, wo er einer von ihnen war.

Er war ein toter Mann, der einfach noch nicht zum Sterben gekommen war.

Nun hatte Jod jedoch die Geschichte gehört, dass ein Brückenmann, der einhundert Läufe überlebte, wieder für eine andere Pflicht eingeschrieben werden würde. Doch er war sich außerdem bewusst, dass dieses Versprechen gegeben wurde, um die Hoffnungen verdammter Männer ein wenig zu heben. Denn niemand überlebte jemals einhundert Brückenläufe. Niemand.

Er hatte Glück, wenn er seinen ersten überlebte.

Dann ertönten die Hörner. Jod reihte sich bei den Männern von Brücke Zwölf ein. Sein Brückenführer begann Befehle zu brüllen und gab ihm dann rasch einige gesonderte Anordnungen. Es war das erste Mal, dass er den Mann sprechen hörte, und er war seiner Mannschaft schon vor Stunden beigetreten.

Jod nahm seinen Platz in der äußeren Reihe ein und wuchtete die Brücke auf seine Schultern. Die Brücke zu tragen, war ungewohnt, und seine Muskeln protestierten schmerzhaft. Glücklicherweise hatte er zuvor störrische Kriegspferde herumgeführt, ansonsten hätte er mit dem Gewicht zu kämpfen gehabt. Dennoch, mit vierzig Mann stundenlang eine Brücke zu tragen, verlangte seinem Körper mehr ab als alles, was er je getan hatte. Als also sein ermüdeter Körper strauchelte, hätte er beinahe seinen Teil der Brücke zum Fallen gebracht. Als er sich zurück auf seine Füße zwang, knurrte der Mann neben ihm: „Sturmverdammter Narr, atme tief und zähle deine Schritte oder du bringst uns noch alle um.“

Jod knirschte mit den Zähnen und nahm die Beleidigung als Ansporn. Der Rat war gut, auch wenn die Art, wie er vorgebracht worden war, harsch gewesen war. Seine Schritte zu zählen, machte alles einfacher, da er in einen Rhythmus verfiel.

Der Brückenführer begann Befehle zu brüllen, als sie die erste Kluft erreichten. „Brücke runter! Schieben!“

Zusammenbrechen.

Der letzte Befehl war nicht ausgesprochen worden. Aber sobald die Brücke platziert war, stolperten die Männer rasch zur Seite und legten sich auf den Boden, während die Armee passierte. Es war ein Moment gesegneter Ruhe, welcher viel zu kurz war. Allzu bald erhob er sich erneut und begann weiterzulaufen.

Als das letzte Plateau in Sichtweite der Brückenmänner war, traf ihn eine Welle der Erleichterung. Sie hatten die Parschendi zum Kluftteufel zurückgetrieben. Der grausame Tod, welchen er sich ausgemalt hatte, würde nicht auf ihn herab regnen.

Er würde überleben, um einen weiteren Tag zu bestreiten.

 

Vier

Jod konnte sich glücklich schätzen, und er wusste es. Die einfachen Läufe würden nicht für immer andauern. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er ein Plateau erstürmen musste, welches die Parschendi bereits eingenommen hatten, und wenn er die Reihen der singenden, marmorhäutigen   Monster sah, fürchtete er, dass sein Glück vorüber war.

Die einzige kleine Gnade war, dass er in einer der inneren Reihen lief. Trotz allem rannte er immer weiter, als die Pfeile heranflogen, denn er wusste, er würde niedergetrampelt werden, wenn er es nicht tat.

Männer starben überall um ihn herum, wodurch die Brücke schwerer wurde, aber er hörte nicht auf zu laufen, indem er sich dazu zwang mitzuhalten. Schließlich erreichten sie die Kluft, warfen die Brücke nieder und schoben sie über die Kluft. Als die Brücke an ihrem Platz lag, brach Jod auf dem Boden zusammen. Er schaffte es kaum noch, sich aus dem Weg zu rollen, bevor die Kavallerie über die gerade angelegte Brücke angriff.

 

Sieben

Todeslinie. So nannten alle Brückenmänner sie. Die Reihe aus fünf Brückenmännern, welche die letzte Etappe an der Front der Brücke liefen. Fünf Männer, welche bevorzugte Ziele für Parschendi-Pfeile waren.

Dies war die Position, die alle Brückenmänner einzunehmen fürchteten. Man betete, dass der Wechsel in die hinteren Reihen kam, wenn die eigene Armee zuerst auf dem Plateau ankam. Aber es schien, als würde dies nie geschehen.

Als sie angriffen, hatte Jod  freie Sicht nach vorn, und es war ein Anblick, der ihn wünschen ließ, dass er Zeit haben würde, seinen Frieden mit dem Allmächtigen zu schließen.

Die Pfeile flogen, und Jod war sich sicher, dass er tot war, doch er stand noch immer, als die anderen schließlich fielen. Weiterrennen, sagte er sich.

Ein Pfeil ritzte seine Wange und fällte den Mann hinter ihm. Die dritte Welle war reinste Folter, denn er stand allein in der Todeslinie.

Die Mannschaft platzierte die Brücke, bevor die vierte Welle kam, was hieß, dass sie sicher waren. Die Parschendi bedrängten die Brückenmänner nicht mehr, wenn deren Brücke lag. Sie hatten dringendere Anliegen, als Soldaten auf ihr Plateau drängten.

Jod sah nicht zu. Stattdessen lag er lediglich flach auf seinem Rücken und starrte zum Himmel. Er wusste nicht, wie, und er wusste nicht, wieso, aber er hatte einen schlechten Lauf in der Todesposition überlebt. Er lebte, und die vier, die mit ihm an der Front gewesen waren, waren tot.

Wachte der Allmächtige über ihn oder sparte Gott ihn nur für einen noch grausameren Tod auf?

Entgegen jeder Erwartung hatte Jod irgendwie fünf, sechs … nein, sieben Läufe überlebt.

Sieben. Es fühlte sich so weit entfernt von den benötigten hundert an – die Anzahl, die er nie lebend erreichen würde. Aber wenn er sieben geschafft hatte, war es da zu viel, daran zu glauben, dass er acht schaffen könnte? Er hatte heute dem Tod ins Gesicht geschaut und  es überlebt. Er konnte zumindest einen weiteren Tag in der Verdammnis überleben, die Brücke zwölf war.

 

Dreizehn

Der Junge wusste nicht, in was er da hineingeraten war. Er war ein dürrer Wicht von einem Herdazianer. Er sah aus, als  wäre er kaum in der Lage, eine Brücke zu halten. Doch er lächelte breit, weil er Brücke Zwölf zugeschrieben worden war. Jod hatte nicht vergessen, wie er geradewegs auf ihn zugekommen war, die Hand ausgestreckt und gesagt hatte: „Mein Name ist Rafen. Wie lautet deiner, Haken?“

Jod hatte sich abgewandt. Ein Junge wie dieser würde es nicht lange machen. Er konnte es nicht riskieren, sich ihm verbunden zu fühlen.

Es hatte nicht funktioniert.

Denn als er begann, die Toten nach Kugeln zu durchsuchen, entdeckte er den Jungen. Er war von einem der Pfeile getroffen worden und dann von den Nachfolgenden niedergetrampelt. Der Anblick dieses hoffnungsvollen, freundlichen Gesichts, nun verstümmelt bis zur Unkenntlichkeit, war zu viel, und er stieß einen erstickten Schrei aus.

Lachen ließ seinen Kopf nach oben schnellen. Zwei Soldaten blickten in seine Richtung. Ihre Mienen sagten ihm, dass sie seinen Schmerz erheiternd fanden. So sehr Jod auch die Männer in ihre Gesichter schlagen wollte, zwang er sich doch ruhig zu bleiben. Es würde nicht gut enden.

Doch als die Soldaten vorbei zogen, kam er zu einer sehr wichtigen Erkenntnis.

Die Parschendi waren nicht die wahren Monster in diesem Krieg.

 

Achtundzwanzig

Brückenführer.

Dies war keine Verantwortung, die er jemals hatte haben wollen. Er hatte niemals Männer in ihren Tod befehlen wollen. Befehle zu geben, die nichts dazu beitrugen, dass ihre Überlebenschancen stiegen. Aber Brückenführer zu sein, brachte einen kleinen Lohn mit sich: Sicherheit. Er würde niemals wieder in der Todeslinie laufen. Er würde das meistgeschützte Mitglied der Mannschaft sein. Selbst wenn die Brücke fiel, würden seine Aussichten auf Überleben höher sein als die jedes anderen Mannschaftsmitgliedes.

Als Brückenführer hatte er vielleicht eine Möglichkeit, die einhundert Läufe zu erreichen.

Allerdings flüsterte ein Teil seines Geistes, dass dies eine Lüge war. Er hatte zwei Brückenführer in Brücke Zwölf sterben sehen wie gewöhnliche Brückenmänner. Es hatte kaum einen Sinn, weiterzuleben. Es gab keinen Grund, weiterhin zu zählen. Keinen Grund, das unvermeidliche Ende hinauszuzögern.

Doch er zögerte es hinaus. Rational gesehen wussten er, dass er niemals lange genug leben würde, um die Hundert zu erreichen. Doch er konnte nicht aufhören. Er musste es versuchen.

Das Zählen war das einzige, wofür er noch lebte.

 

Sechsunddreißig

Schlechter. Er wusste, dass es möglich war, dass es noch immer schlechter werden konnte. Viel schlechter.

„Aufstehen, ihr Kremlinge!“, brüllte Gaz, der einäugige Unteroffizier, der damit beauftragt war, die Brückenmannschaften in Reihe zu halten, die mitleiderregenden und unterdrückten Männer von Brücke Vier an.

Brücke Vier wirkte erschöpft. Sie hatten Kluftdienst gehabt in der letzten Nacht, und es sah aus, als habe keiner von ihnen geschlafen. Sie hatten zudem zu wenige Männer; wenn die Parschendi vor ihnen das Plateau erreichten, würde es keinen Weg geben, Brücke Vier zu platzieren.

Aber soweit es die Alethi betraf, musste Brücke Vier für ihren Erfolg nicht platziert werden. Sie mussten einfach nur sterben. Jeder Brückenmann, der starb, war ein Soldat, der es nicht tat. Und jedes Mal, wenn Brücke Vier fiel, schaffte es eine andere Brückenmannschaft lebendig dort heraus. Das war die Begründung für Brücke Vier – eine Mannschaft, geschaffen komplett aus den Gescheiterten, Zurückgewiesenen und dem Abfall der Brückenmannschaften. Und das sagte einiges, wenn auch der Rest der Brückenmannschaften nichts weiter als die Gescheiterten, die Zurückgewiesenen und der Abfall der menschlichen Rasse waren.

Brücke Zwölf mochte vielleicht ihr eigener Höllenkreis sein, doch gab es mindestens eine Ebene der Hölle, von der Jod betete, dass er sie niemals erleben würde.

 

Zweiundvierzig

Was war Ehre? Das war die Frage in Jods Geist, als er über die Zerbrochene Ebene trottete. Die Mannschaft, seine Mannschaft, hatte einen Mann verloren. Der fehlende Mann hatte die Ehrenkluft letzte Nacht besucht.

Ein Mann war in seinen Tod gesprungen; er hatte eine Wahl getroffen, welche die Armee ehrenhaft nannte. Brückenmänner verwiesen im Allgemeinen darauf als die letzte ehrenhafte Wahl, die ihnen geblieben war. Doch Jod war sich nicht so sicher.

War es mutig, einen Tod zu wählen, der der Armee keinen Gewinn brachte, wenn diese doch hoffte, vom sicheren Tod ihrer Brückenmänner zu profitieren? Oder war es feige, das Kämpfen aufzugeben und jene gewinnen zu lassen, welche einen zum Tode verurteilt hatten?

Und wenn er glaubte, dass dies eine ehrenhafte Wahl war, was hielt Jod davon ab, dieselbe Entscheidung zu treffen? Was brachte ihn dazu, einem unsicheren Tod zweiundvierzigmal zu begegnen, wenn ein sicherer Tod gleich hier zum Greifen nahe war?

Was war die ehrenhaftere Wahl – die Zahl oder der Sprung?

 

Fünfzig

Jod sank inmitten des Gemetzels auf den Boden. Tote Brückenmänner lagen rechts und links bei ihm. Doch er bemerkte es kaum. Die Toten waren gewohnte Begleiter dieser Tage.

Seine Brücke war ein zertrümmerter Haufen Holz hinter ihnen. Sie hatten versagt. Ihre Brücke konnte nicht platziert werden. Er war einer der wenigen Männer, die überlebt hatten. Es war nicht das erste Mal, und, sollte er überleben, auch nicht das letzte Mal. Er würde seinen Vorgesetzten nicht einmal den Verlust seiner Brücke erklären müssen. Sein Versagen würde sie nicht einmal beunruhigen. Wenn er zum Lager zurückkehrte, würden sie ihm eine neue Brücke geben, eine neue Mannschaft. Die Armee würde fortfahren, seine Männer den Parschendi vorzuwerfen, bis sie starben. Brückenmännerleben waren keinen Pfifferling wert. Es gab immer eine andere arme Seele, die sie finden konnten, um sie in ihren Tod zu senden.

 

Einundsechzig

Die Sonne brannte auf die Erde. Die Steine bohrten sich in seine Füße, die Parschendi sangen, und alles, was Jod tun konnte, war weiter zu rennen, weiterhin die Schritte zu zählen. Eins, zwei drei vier …

Er konnte es sich nicht leisten, an die Pein zu denken, an das Gewicht der Brücke zu denken, an die Möglichkeit zu denken, dass er sterben könnte … Elf, zwölf, dreizehn …

Er zählte seine Schritte. Er zählte seine Läufe.

Zählen war das einzige, was ihn bei Verstand hielt.

Zumindest so lange er nicht die wachsende Zahl der Toten zählte.

 

Achtundsiebzig

Erschöpft schleppte Jod sich und seine Brücke zurück zum Lager. Seine Befehle an Brücke Zwölf waren leblos und müde. Und doch sammelte jeder Mann jedes Fünkchen Energie, das er besaß, um sie weiterzutragen. Sie konnten es sich nicht leisten , als schlaff angesehen zu werden. Nicht, nachdem die Armee das Plateau verloren hatte. Die Armee würde in einer verbitterten Stimmung sein, und seine Mannschaft wollte den Soldaten keinen Anlass geben, ihren Ärger an ihnen auszulassen.

Doch während Jod arbeitete, konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dass er beobachtet wurde. Als er fertig damit war, die Brücke an ihren Platz zu schieben, blickte er sich um und machte Gaz aus, wie er ihn mit seinem einen Auge anstarrte.

Sich abwendend setzte sich Jod auf den Boden. Er musste seinem Körper Rast gönnen, während die Armee die Kluft überquerte, doch er konnte Gaz nicht aus seinen Gedanken verbannen, denn in den Brückenmannschaften war Aufmerksamkeit gefährlich. Einer der Gründe, warum Jod so lange überlebte, lag an der Sorgsamkeit, die er an den Tag legte, um unbemerkt zu bleiben. Doch er realisierte, dass es sein Überleben war, das ihn bemerkbar machte. Er glaubte nicht, dass es einen Mann gab, der in den Brückenmannschaften länger gedient hatte als er. Und Gaz wusste dies. Der Mann musste wissen, dass er nahe an die einhundert Läufe herankam.

Nun, sollte dieser verdammte Mann weiter beobachten. Er würde weiterhin überleben.

 

Sechsundachtzig

Jod fragte sich, welche Sorte Mann inmitten der Schlacht schlafen konnte, denn er lag auf dem Grund und war stark versucht es auszuprobieren. Der Fakt, dass Alethi und Parschendi nicht weit entfernt damit beschäftigt waren, einander zu töten, wurde kaum von ihm bemerkt. Er war all dem gegenüber desensibilisiert. Nach all dem war seine Haut mit dem Blut anderer Männer bedeckt und sein einziger Gedanke war der Ärger, dass er Trinkwasser würde verschwenden müssen, um es abzuwaschen.

Ein kleiner Teil von ihm war besorgt, dass ihm, je länger er überlebte, umso weniger Menschlichkeit blieb. Dieser Teil von ihm fragte sich, ob es überhaupt noch einen lebenden Mann geben würde, wenn sein Körper seine Läufe in der Brückenmannschaft überstand. Glücklicherweise konnte er diesen Teil von ihm immer leichter und leichter ignorieren.

Nachdem er flüchtig zur Schlacht hinüber geblickt hatte, welche keine Anzeichen davon trug, sich dem Ende entgegen zu neigen, schloss Jod seine Augen. Jemand würde ihn wecken, wenn sie seinen Körper nach Kugeln absuchten.

 

Neunundneunzig

Pfeile wurden losgelassen. Männer schrien. Brückenmänner starben. Jod ignorierte all dies. Es spielte keine Rolle, dass die halbe Parschendi-Armee auf sie schoss. Er weigerte sich zu sterben. Er würde seine Brücke platzieren. Er musste.

Seine Männer anbellend, dass sie schneller rannten, konzentrierte sich Jod ganz auf das Aufrechterhalten seines Griffs und das Stampfen seiner Füße. Er war zu nahe, um jetzt zu scheitern.

Er würde diesen Lauf überleben.

Er würde diese Schlacht überleben.

Er würde es bis zu seinem hundertsten Lauf schaffen.

 

Hundert

Nach allem, was er durchlebt hatte, nach allem, was er erlebt hatte, konnte Jod nicht glauben, dass alles so einfach enden würde. In seinem letzten Lauf war der Kluffteufel auf dem ersten Plateau nach den dauerhaften Brücken erschienen. Sie konnten laufen, wohin auch immer sie mussten, um ihre Brücken zu platzieren. Die Soldaten hatten das Edelsteinherz geborgen, bevor ihre Späher die ersten Parschendi erblickt hatten.

Und als er half, seine Brücke zurück zum Lager zu bringen, konnte nichts, absolut nichts das Lächeln von seinem Gesicht wischen.

Jod blieb im Hof, während die anderen zu den Barracken zurückkehrten. Er wollte nicht darauf warten, dass Gaz nach ihm schicken ließ. Er war begierig darauf, endlich frei zu sein. Nachdem er den Hof abgesucht hatte, machte er Gaz aus, wie er Hellherr Lamiral Bericht erstattete. Der Brückenmann schob sich näher an die beiden Männer heran, aber er kam nicht zu nahe. Er würde darauf warten, dass sie fertig wurden.

Gaz runzelte die Stirn, als er ihn dort stehen sah. „Verschwinde, Brückenmann.“

Als er Gaz' Feindseligkeit bemerkte, wusste er, dass er sein Anliegen jetzt vorbringen musste, während der Hellherr zusah. Gaz musste seine Beförderung erlauben, wenn sein Vorgesetzter dies befahl. „Bitte entschuldigt meine Unterbrechung, Hellherr Lamiral, Feldwebel“, sagte Jod und nickte beiden Männern zu. „Ich warte auf meine neue Aufgabe.“

 Gaz stotterte: „Deine … neue Aufgabe? Für wen hältst du dich?“

„Feldwebel, ich habe soeben meinen einhundertsten Lauf beendet. Ich muss nach einhundert Läufen für eine neue Pflicht eingetragen werden.“

Gaz' Gesicht wurde leuchtend rot. „Wie kannst du es wagen, den Hellherrn mit solch einer lächerlichen Geschichte zu behelligen!“

Jod begann, Furcht zu empfinden, aber er ließ nicht zu, dass Gaz ihn einschüchterte. Er hatte das verdient. Er hatte das Unmögliche geschafft. Er hatte einhundert Läufe überlebt.

Zum Glück schien der Hellherr eher neugierig als verärgert zu sein. „Diese Angelegenheit ist rasch geprüft“, sagte er, während er seiner Frau bedeutete, zu ihm zu kommen. „Die Berichte lügen nicht.“

„Vielen Dank, Hellherr.“

„Name?“, fragte die Dame desinteressiert.

„Jod, Hellheit.“

 Die Dame studierte ihre Rolle. „Brückenmann Jod hat an dreiundvierzig Läufen teilgenommen.“

Dreiundvierzig! Er hätte es akzeptieren können, wenn die Zählung ein wenig abgewichen wäre. Doch das war weniger als  die Hälfte! Die Zählung konnte nur deswegen so falsch sein, weil die Hellaugen es beabsichtigt hatten.

„Lügner!“, schrie er und stürzte sich auf Hellherr Lamiral.

Lamirals Wache ergriff ihn und schlug ihn zu Boden. Jod rollte sich zu einer Kugel zusammen, als der Schmerz des Schlags verblasste im Vergleich zu der Täuschung, der er zum Opfer gefallen war. Der alle Brückenmänner zum Opfer fielen.

„Halt“, befahl Lamiral, bevor die Schläge zu weit gingen. „Ich denke, ich bin in der Lage, seiner Nachfrage stattzugeben, ihm eine neue Aufgabe zuzuschreiben. Gaz, schreibe diesen Kremling für Brücke Vier ein.“

„Ja, Hellherr.“

Brücke Vier. Er konnte kaum atmen, als er diesen Satz hörte. Es bestand keinen Zweifel. Sie wollten ihn tot. Er würde keinen Monat in Brücke Vier überleben. Nicht bei ihrer momentanen Verlustrate.

Gaz starrte ihn an. Als sie erst einmal allein waren, zischte er: „Sprich auch nur ein Wort darüber zu den anderen Männern, und ich werde nicht auf einen Parschendi-Pfeil warten, der dich tötet.“

Jod erhob sich langsam auf seine Füße. „Gaz, du weißt, dass ich nicht lüge. Ich habe Monate länger gedient als jeder andere Mann.“ Er wusste, dass diese Worte nichts Gutes hervorbringen würden, aber er würde nicht nachgeben.

Der vernarbte Mann lehnte sich vor, sodass er nicht überhört werden konnte. „Brückenmann, dann bist du lange genug hier, um zu wissen, dass niemand einhundert Läufe überlebt. Niemand. Nun melde dich in deiner neuen Baracke oder ich werde diese Soldaten zurückrufen.“

Zu kraftlos, um zu protestieren, zu kraftlos, um sich zu wehren, schlich Jod zu seiner neuen Aufgabe. Er hatte verloren. Er war nie etwas anderes gewesen als ein wandelnder Toter. Ein Körper, geschaffen für einen Parschendi-Pfeil.

In dieser Nacht, als er schlaflos auf seinem Lager lag, war er überrascht, als sein neuer Brückenführer über ihm stand. Jod blinzelte; was wollte dieser Mann? Niemand war an einer freundlichen Konversation in den Brückenmannschaften interessiert, besonders nicht in Brücke Vier. Zudem hatte dieser Mann  die verzweifelte, ruhelose Ausstrahlung eines Mannes, dessen Arbeit es war, Männer in ihren Tod zu befehlen, ohne es verhindern zu können. Dies war kein Idealist, der ein freundliches Gespräch suchte.

„Ist es wahr?“, fragte der Mann.

Gaz' Warnung hallte in seinem Geist wieder, als Jod antwortete: „Spielt es eine Rolle? Hellherr Lamiral sagt, ich habe es nicht geschafft.“

„Es spielt für mich eine Rolle.“

Er sollte lügen, doch er konnte es nicht. Sollten die verfluchten Hellaugen ihn doch im nächsten Großsturm aufhängen. Er war bereits tot. „Ich habe mich nicht verzählt.“

Der Mann nickte, drehte sich dann auf dem Absatz um und ging in die Nacht hinaus. Jod fragte nicht, wohin er ging. Er brauchte es nicht. Er hatte soeben diesem Mann den letzten Hoffnungsschimmer genommen.

Der Brückenführer hatte ihn verlassen, um die letzte ehrenhafte Wahl zu treffen, die ihm geblieben war.

Die einzige Frage, die blieb, war: Warum begleitete Jod ihn nicht?

 

Einhunderteins

Als Jod am nächsten Morgen erwachte, fehlte den Lagern wie erwartet ein Mann. Keiner in der Baracke sagte etwas dazu. Bis zuletzt nicht, als die Hörner bliesen und Gaz zu wissen verlangte, was mit ihrem Brückenführer passiert war.

Die Wahrheit hob Gaz' ohnehin schon schlechte Stimmung nicht wirklich, auch wenn sich sein Zorn hauptsächlich gegen einen jungen Sklaven richtete, der ihm folgte. Jenen, welchen er kleiner Herr nannte. Jod sollte dankbar sein, dass Gaz ihn nach dem gestrigen Ereignissen ignorierte, doch er war von dem jungen Mann sonderbar fasziniert.

Sag nichts, sagte er sich selbst. Mische dich nicht ein. Überlebe.

Doch als der Sklave sich ohne Sandalen und Weste neben ihm aufstellte, fragte sich Jod, was es ihm gebracht hatte, alles zu tun, um zu überleben. Er hatte überlebt, doch er befand sich in keiner besseren Position als an dem Tag, als er für die Brückenmannschaften eingetragen worden war. Er hatte das Unmögliche erreicht und an einhundert Läufen teilgenommen, doch er war noch immer hier. Er war noch immer ein toter Mann, der einfach noch nicht zum Sterben gekommen war.

Immerhin hatte er für eine Weile überlebt, da es aussah, als wolle Gaz nicht, dass dieser Junge seinen ersten Lauf überlebte.

„Armer Narr.“ Die Worte entflohen sich Jods Mund, bevor er sie zurückhalten konnte.

„Redest du …“, begann der Sklave, „redest du mit mir?“

Es war zu spät, um noch ruhig zu sein. Seine Augen sprachen von einer Reife jenseits seiner Jahre. Er verstand, was vor sich ging. Dies war ein Überlebenskünstler. Daher ließ Jod ihm ein paar Hinweise zukommen, als der Sklave mit dem Gewicht zu kämpfen begann. „Atme tief ein und aus. Konzentriere dich auf deine Schritte. Zähle sie. Das hilft.“

Vielleicht würde dieser Mann überleben. Er hatte sicher den Willen dazu. Das würde es Gaz schon zeigen.

Jod folgte seinem eigenen Rat und verbannte die Gedanken an den jungen Mann aus seinem Geist, sich nur noch auf seinen Atem und seine Schritte besinnend. Dann, als sie die Brücke über der ersten Kluft platziert hatten, sank er wie jeder andere auch zu Boden.

Nun, wie fast jeder andere. Was tat dieser närrische Junge da nur?

Der Junge saß, während alle anderen am Boden lagen. Und er sah fragend zu Gaz, welchem das Verhalten des Sklaven freilich nicht entgangen war. „Er wundert sich, warum du dich nicht hinlegst“, sagte Jod, hoffend, dass das Kind den Hinweis bemerkte. Der junge Mann jedoch ignorierte ihn, und Jod fiel in sein übliches Schweigen zurück. Doch dann bemerkte der Sklave Sadeas, und Jod fand sich erneut in ein Gespräch verwickelt. Auch wenn er zugeben musste, dass es ihn amüsierte, als der Junge den Großprinzen fälschlicherweise für den König hielt.

Gaz begann Befehle zu brüllen und die Pause war vorüber. Jod verschwendete keine Zeit dabei, seinen Platz an der Brücke einzunehmen; er wollte dem einäugigen Mann keinen Grund geben, seinen Zorn wieder auf ihn zu richten.

Ein Aufflackern der Erleichterung zeigte sich auf dem Gesicht des Neuen. „Ich bin froh, wenn wir wieder zurück sind.“

„Zurück?“, fragte Jod.

„Wir kehren nicht um?“

Jod konnte nicht an sich halten und lachte. „Junge, wir sind noch nicht einmal da. Sei froh, dass wir es nicht sind. Das Ankommen ist das Schlimmste.“

Der folgende Marsch war einer der längsten, die Jod je mitgemacht hatte. Und das bedeutete nur eins. Dies würde ein schlechter Lauf werden. Sie würden den Pfeilen der Parschendi nicht ausweichen können.

„Wechsel!“, befahl Gaz.

Jod bewegte sich automatisch an die Front der Brücke und die anderen eilten an ihre Plätze. Der Sklave, den Gaz Herr nannte, stand zu seiner Rechten. Er würde den Jungen sterben sehen, es sei denn, er starb zuerst.

Die Parschendi kamen in Sicht.

Einer der anderen rief aus: „Talenelat'Elin, Überbringer allen Leides. Es wird ein schlimmer Lauf. Sie haben bereits Stellung bezogen! Es wird ein schlimmer Lauf!“

Jod wusste es. Er wusste in diesem Moment, dass es bei diesem Lauf kein Überleben gab. Er hoffte nur, dass entgegen jeder Wahrscheinlichkeit der junge Mann neben ihm es schaffen würde. Irgendjemand musste diese Verdammnis überleben. Jemand musste leben.

Eine Welle von Pfeilen wurde in Richtung der Brückenmänner losgeschickt. Als er fiel, sah Jod eine Vision des jungen Sklaven. Er war erfüllt mit Licht und hielt einen leuchtenden Speer, als er allein einem unbeschreiblichen Monster aus Dunkelheit gegenüberstand. Sturmvater, es war schrecklich.

Dann schlug der Brückenmann auf dem Boden auf und es wurde schwarz um ihn.

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ViennaVampires Profilbild
ViennaVampire Am 02.05.2017 um 15:01 Uhr
Hallo, ActrixMundi.

Du empfiehlst, ich folge - und ich stimme vollkommen zu. Dieser OS hat mir besser gefallen, als "Shash". Ich verstehe, warum du das Bedürfnis hattest, ihn einem deutschen Publikum zugänglich zu machen. :)

Auch hier kann ich über die literarischen Aspekte nicht meckern. Saubere Rechtschreibung, korrekte Grammatik. Außerdem hatte ich nicht das Gefühl, eine Übersetzung zu lesen, was ein großer Pluspunkt ist - es gibt nichts Schlimmeres als Übersetzungen, denen man anmerkt, dass es eben nur Übersetzungen sind (meistens macht sich das durch eingedeutschte Redewendungen und holprige Grammatik bemerkbar). Davon kann hier nicht die Rede sein, daher großes Lob. Sehr gelungene Übersetzung.

Auch inhaltlich hat mir dieser OS mehr zugesagt - eben weil er einen neuen Aspekt zu den Büchern hinzugefügt hat. Am Anfang dachte ich ja, dass es darauf hinauslaufen würde, dass Jod knapp vor seinem hundertsten Lauf durch Kaladins Verteidigungs-Manöver (die Brücke seitlich tragen und als Schild benutzen) sterben würde, wie es im Buch ja viele Brückenmannschaften passiert ist... das hätte so eine richtig schöne, boshafte Ironie gehabt, dass ausgerechnet Kaladins Überlebenswille letztlich Jods Ende gewesen wäre.

Die tatsächliche Pointe hat dann aber ebenfalls super gepasst. Vor allem kam dadurch noch mal die Gnadenlosigkeit der Sturmwelt und des Kriegsalltags richtig raus. Die Gleichgültigkeit der Hellaugenn gegenüber allen, die sie als weniger wert betrachten. Die Abwertung von Leben, der alle Brückenmänner in den Büchern ausgeliefert sind. Die Brutalität, mit der systematisch alle Hoffnungen der ohnehin schon Hoffnungslosen zerschlagen werden. Das alles wurde wirklich toll vermittelt.

Danke für diese tolle Übersetzung, ich habe sie sehr genossen - vor allem, weil ich so selten in den englischen Fandoms lese, dass ich den OS ansonsten vermutlich nie gelesen hätte.

Liebe Grüße
Vienna
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Sätze: 295
Wörter: 4.507
Zeichen: 26.008

Kurzbeschreibung

Niemand überlebt einhundert Brückenläufe. Niemand.

Kategorisierung

Diese Fanfiction wurde mit canon aware, Angst, Tragödie, OneShot, Übersetzung und Gen getaggt.

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