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Blickwinkel

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03.04.20 08:19
12 Ab 12 Jahren
In Arbeit

Blickwinkel

Ernte - Kapitolskind Anna

​​​Sonnenlicht fiel in weichen Strahlen in das Zimmer und tauchte den Raum in ein helles Licht. Die Vorhänge am Fenster bauschten sich in der weichen Brise, die durch das offene Fenster drang.
Anna schlug die Augen auf und das erste was sie sah, war Rosa, ihr pinkes Schaf. 
Grummelnd drehte sie sich zur Seite, als sie Schritte auf der Treppe hörte und dann das charakteristische Geräusch einer Klinke ertönte, die hinabgedrückt wurde.
„Anna“, hörte sie ihre Mutter leise sagen, „das Frühstück steht schon am Tisch, möchtest du nicht auch kommen?“
Anna blieb still und mit geschlossenen Augen liegen, sie wollte ihre Mutter austricksen und konnte sich bei dem Gedanken ein kleines Grinsen nicht verkneifen.
„Schäfchen, schläfst du noch?“ Die Stimme ihrer Mutter hatte einen amüsierten Ton angenommen und leise Schritte, vom Teppich gedämpft, verrieten Anna, dass sie sich dem Bett näherte.
„Ist mein Schäfchen noch auf seiner Traumwiese?“
Mittlerweile wurde Annas Körper vom Kichern geschüttelt und als die Hand ihrer Mutter unter die Decke fuhr und begann, sie an den Fußsohlen zu kitzeln, quietschte sie.
„Nein!“, jauchzte sie und zog die Beine an. Sie bekam kaum Luft vor Lachen, während ihre Mutter sie weiter kitzelte, bis sie schließlich japsend dalag.
Die smaragdgrünen Locken ihrer Mutter waren bei dem Spiel durcheinandergekommen, doch die schönen goldenen Blumen um ihre Augen waren unverändert. Schon oft war Anna mit ihren Fingern darübergefahren um herauszufinden, ob sie nicht doch wuchsen, doch Mama hatte ihr erklärt, dass es sich um Tinte handelte, die unter die Haut gestochen wurde. Keine echten Blumen.
Daraufhin hatte Anna das Gesicht verzogen.
„Tut das nicht weh?“ hatte sie gefragt und ihre Mutter skeptisch angeschaut.
Ihre Mutter hatte gelacht. „Ein bisschen“, hatte sie erklärt. „Aber schau, wenn man etwas möchte, wodurch man schöner ausschaut, dann muss man auch manchmal Schmerzen ertragen.“
Anna hatte nachgedacht. „Ich glaube, ich will das auch. Dann ist man schön. Und ich will schön sein.“
„Du bist schön, mein Schäfchen“, war die liebevolle Antwort gewesen. „Aber noch darfst du dir kein Tattoo machen lassen. Wenn du ein bisschen größer bist, dann darfst du.“
Anna war enttäuscht gewesen, doch zu ihrem Geburtstag hatte ihre Mutter sie zum Friseur mitgenommen und Anna hatte sich Strähnchen färben lassen dürfen.
„So viele, wie ich alt bin“, hatte sie gesagt und eine Hand mit fünf gestreckten Fingern in die Höhe gehoben, woraufhin der Friseur ihr lächelnd fünf Strähnen pink gefärbt hatte.

„Na komm, Anna. Meine Güte, bist du schwer geworden.“
Anna klammerte sich an den Hals ihrer Mutter, während diese sie die Stufen hinuntertrug. Durch die hohen Fenster des Stiegenhauses schien die Sonne, die jetzt schon hoch am Himmel stand.
Unten angekommen wand Anna sich, sodass sie auf den Boden gelassen wurde und lief voraus in das Esszimmer. Es war mit cremefarbener Stofftapete ausgekleidet und der lange Tisch war wie üblich mit einem weißen Tuch bedeckt. Frische Blumen standen in einer Kristallvase in der Mitte des Tisches. An einer kurzen Seite war ein Fernseher befestigt, welcher in einem schwachen Blau glühte und leise vor sich hinsummte.
Ihr Bruder Antonius saß schon auf seinem Platz rechts neben ihrem Vater Liam. Seine hellbraunen Locken bildeten einen gewissen Kontrast zu ihren dunklen Haaren, doch die blauen Augen des Dreizehnjährigen waren die gleichen wie ihre eigenen.
„Heute finden die Ernten statt, Anna“, jauchzte er mit vollem Mund. „Heute startet ein neues Jahr der Hungerspiele.“
Anna konnte sich nur dunkel an die letzte Ernte erinnern. Am stärksten war da die Erinnerung an die Freude ihres Bruders, welcher noch Wochen danach von den spannenden Spielen gesprochen hatte, die für Abwechslung im Kapitol gesorgt hatten.
„Immer mit der Ruhe, Antonius“, sagte ihre Mutter streng. Lynn hatte sich von einer Bediensteten Tee nachschenken lassen und legte nun Wurst auf ihr Brötchen. Anna hatte schon immer gefunden, dass der Brotkorb ein Kunstwerk war. Oder besser gesagt, die Brötchen darin. Blumen-, vogel- und kreisförmige Brötchen, manche süß, manche salzig. Einmal war sie mit ihrer Mutter bei einem Bäcker gewesen, der merkwürdige grüne Brotlaibe verkauft hatte. Lynn hatte ihr erklärt, dass dies Brot aus Distrikt 4 sei, das zu Ehren des Siegers der Hungerspiele verkauft wurde, doch Anna hatte gefunden, dass das Brot komisch geschmeckt hatte. Warum machte man das Brot so grün, wenn man es doch wunderbar flaumig und weiß haben konnte?
Das Frühstück verlief lustig und Anna hatte sich ihren Kakao ganz alleine eingeschenkt und dabei auch nur ganz wenig danebengeschüttet. Doch das machte nichts, das Tischtuch würde schon heute beim Mittagessen wieder sauber sein. Eine der Frauen, die nie etwas sagten, was Anna oft sehr unhöflich von ihnen fand, weil man doch seine Mitmenschen grüßte, hatte ihr einen Teller Waffeln gebracht. Sie waren pink und hellblau kariert und Anna klatschte freudig in die Hände. Waffeln in ihrer Lieblingsfarbe gab es nur zu besonderen Anlässen. Sie bedankte sich nicht, denn ihr Vater hatte ihr einmal gesagt, es seien Verräter, die man nicht ansprechen durfte. Außerdem wollte sie sich nicht bedanken, die Bediensteten sahen ihr ja nicht einmal in die Augen.

Irgendwann blickte Liam auf die Uhr.
„Jetzt sollten die Ernten bald beginnen.“ Tatsächlich schaltete sich, kaum, dass die Worte verklungen waren, der Bildschirm an der Wand ein.
Anna war der Mann vertraut, den man nun sah. Ceaser Flickerman war häufig im Fernsehen zu sehen und Anna gefiel es, dass er sich so oft die Haare neu färbte. Dieses Jahr waren sie blau. Taubenblau nannte ihre Mutter diese Farbe, doch Anna fand das komisch. Wann waren Tauben jemals blau?
„Willkommen Ladys und Gentleman an diesem wunderschönen Tag zu der mitunter wichtigsten Zeremonie des Jahres. Heute wird sich entscheiden, welche tapferen jungen Frauen und tapferen jungen Männer bei den diesjährigen 74. Hungerspielen ihre Distrikte vertreten dürfen.“
Ceaser machte eine kurze Pause, welche Anna sofort nutzte.
„Warum dürfen eigentlich nur die Distrikte diese Spiele spielen?“, fragte sie. Doch niemand antwortete ihr und so beobachtete sie auch wieder gebannt den Fernseher.
„In wenigen Minuten werden die Erntezeremonien durch die Ernte in Distrikt 1 eingeleitet werden. Freuen Sie sich mit mir, unsere Tribute kennenzulernen und gemeinsam mit ihnen die diesjährigen Spiele zu erleben.“

„Lass uns ins Wohnzimmer gehen, Liam.“ Lynn hatte sich erhoben und auch Antonius sprang auf. Als Anna mit ihren Eltern ins Wohnzimmer kam, hatte sich ihr Bruder schon auf einem der hübschen weißen Sessel niedergelassen und beobachtete mit angezogenen Knien die Geschehnisse auf dem Bildschirm. Hier war dieser größer und hing, eingerahmt von goldenem Stuck, an der Längsseite des Raumes, gegenüber von den hohen Fenstern, welche ein Bediensteter auf einen Wink ihres Vaters hin mit den Vorhängen bedeckte. Gut, jetzt sah man auch viel besser.
„Warum heißen die Ernten Ernten?“, fragte sie ihren Vater, als sie sich gemeinsam auf dem größten Sofa niederließen. „Es wird ja kein Getreide geerntet. Und warum dürfen bei uns keine Ernten stattfinden?“
Ihr Vater lachte. „Bei den Ernten werden die mutigsten jungen Menschen ausgelost, welche ihre Distrikte vertreten dürfen. Genauso wie bei der Ernte von Getreide werden die rohen Tribute hier ins Kapitol gebracht, wo sie dann eine kleine Ausbildung erhalten und sich beweisen müssen, gleich Weizen, der gemahlen wird, bevor sie in den Spielen kämpfen.“
„Und warum kämpfen sie?“, fragte Anna. „Wäre es nicht viel schöner, wenn sie miteinander spielen würden?“
„Anna, sei doch kein Kleinkind. Natürlich kämpfen sie, sonst wäre es ja langweilig.“ Antonius hatte einen begeisterten Ausdruck in den Augen. „Die Distrikte haben das Kapitol einmal hintergangen, also ist es jetzt ihre Pflicht, für uns zu kämpfen, damit wir Spaß haben. Und bei uns gibt es keine Ernten, weil wir nie was Schlimmes gemacht haben, wie die Distrikte.“
Anna überlegte. Wenn das so war … ihnen wurde ja gezeigt, wie es ging, wie man kämpfte. Ganze drei Tage lang, also waren sie selbst schuld, wenn sie die Spiele verloren. Außerdem würden sie ja wieder nach Hause kommen, in einer Holzkiste. Wahrscheinlich waren sie nach den Spielen müde und so konnten sie in einer Kiste schlafen, während sie nach Hause gebracht wurden. Allerdings würde Anna an ihrer Stelle ein Bett bevorzugen, in einer Kiste zu liegen musste sehr unbequem sein.

Im Fernsehen sah man nun einen Platz voller Menschen, umgeben von wunderschönen Häusern. Anna erinnerte sich, dass ihr Vater sagte, dass das Distrikt 1 sei, ein schöner Ort, wo ganz viele Juwelen und Schmuck und auch das Armband hergestellt wurde, welches sie immer um ihr linkes Handgelenk trug. Wo war das überhaupt? Sie sah sich um. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter vergessen, es ihr mitzunehmen, als sie sie zum Frühstück geholt hatte. Schnell stand sie auf und lief hinauf.
Dort auf dem kleinen Schreibtisch lag es, ein schönes Armband mit rosa Glitzersteinen. Sie nahm es an sich und lief wieder hinunter.

„Willkommen, Menschen aus Distrikt 1, willkommen zur Ernte der diesjährigen 74. Hungerspiele.“ Der Mann auf der Bühne hatte schöne Augen, ganz violett, obwohl Anna sich sagte, dass rosa noch viel schöner wäre. Auf einer Leinwand wurde ein kurzer Film gezeigt, was Anna ein bisschen langweilte, da sie nicht genau verstand, was das sein sollte. Was bedeutete ‚Aufstand‘ und ‚Hochverratsvertrag‘? Aber war ja auch egal.
Nun ging der Moderator, denn kein anderer war der Mann mit den violetten Augen, zu einer der großen Kugeln, welche mit Papierstücken gefüllt waren. Die Kugeln waren sehr groß und Anna war sich sicher, dass sie in einer von ihnen bequem sitzen könnte.

„Glimmer Shew!“
Auf den Ruf kam aus einer Reihe ganz vorne bei der Bühne ein Mädchen hervor und Anna war sich sicher, es war das schönste Mädchen, dass sie je gesehen hatte. Als man sie von ganz nah zeigte, sah Anna, dass sie grüne Augen hatte. Und so schöne blonde Haare, nur ein bisschen dunkler als die von Tara, eine Freundin ihrer Mutter. 
Glimmer ging zur Bühne, wo sie von dem Moderator lächelnd empfangen wurde.
Gleich darauf wurde ein zweiter Name verlesen. Der Junge, Marvel, hatte braune Haare und sah irgendwie nett aus. 
„Ich will, dass das Mädchen gewinnt“, sagte Anna. „Sie ist so schön.“ Begeistert beobachtete sie, wie die beiden Tribute sich die Hände schüttelten, während ihre Finger mit dem Armband spielten. Die glänzenden Steine hatten längst ihre Hauttemperatur angenommen und fühlten sich inzwischen leicht klebrig an.
Es gab einen Schnitt und Ceaser war wieder zu sehen, der die Ernte aus Distrikt 2 ankündigte.
„Sei nicht dumm, Anna.“ Antonius warf ihr einen verächtlichen Blick zu. „Man soll nicht gewinnen, weil man schön ist, sondern weil man gut kämpfen kann und mutig ist.“

Der Hauptplatz von Distrikt 2 lag im Schatten eines Berges. Es war nicht so schön, wie in Distrikt 1, aber immer noch waren die Häuser gepflegt und die Menschen schienen sich zu freuen. Das Mädchen, was ausgelost wurde, war eher klein, aber Anna fand, dass sie mutig aussah. Genau wie ihr Bruder gesagt hatte, was ein Sieger sein sollte. Dann sollte halt dieses Mädchen gewinnen. Der Junge sah unfreundlich aus, außerdem fand Anna ihn unhöflich, weil er den Moderator unterbrochen hatte, der gerade den eigentlichen Gewinner der Ernte begrüßen wollte. Er hatte einfach reingerufen und dann durfte er auch noch den Platz des Gezogenen einnehmen. Das fand Anna unfair.

Die Wärme des Zimmers machte Anna schläfrig und sie lehnte sich an ihren Vater, der den Arm um sie legte. Zwölf Ernten sollten es sein, hatte er gesagt. Jetzt waren sie schon bei der vierten und langsam wurde Anna langweilig. Bei der fünften Ernte wurde ein Mädchen ausgewählt, das echte rote Haare hatte, wie Feuer, was Anna noch nie gesehen hatte. Sie kannte bloß die komischen Orangetöne der Perücken im Schaufenster ein paar Straßen weiter. Die Leute, die sie kannte, hatten blondes, oder blaues Haar. Oder grünes, wie ihre Mutter. Einmal hatte sie sogar goldenes Haar gesehen. Doch das Mädchen, Finch hieß sie, erschien ihr nicht sehr mutig, also durfte sie auch nicht gewinnen, weil Gewinner mussten mutig sein, hatte Antonius gesagt.
Je länger die Ernten dauerten, desto unschöner wurden die Distrikte. Die Häuser bei der zehnten Ernte waren nur sehr klein. Die beiden Gewinner der Ernte waren vielleicht so alt wie Antonius, aber Anna fand, dass Antonius mutiger war. Das Mädchen begann sogar zu weinen, als sie auf der Bühne stand. Anna verstand nicht, warum, sie würde doch nicht lange von Zuhause weg sein. Sie würde zurückkommen in einer schönen Holzkiste, die konnte man bestimmt auch noch verwenden. Vielleicht für Blumen. Aber womöglich hatte das Mädchen einfach sehr schnell Heimweh.

Die Häuser bei der elften Ernte sahen aus, als würden sie gleich auseinanderfallen. 
„Warum reparieren sie die Häuser nicht?“, fragte Anna. 
„Wahrscheinlich können sie es sich einfach nicht leisten“, erklärte ihr Vater. „Sie sind so weit von hier entfernt, dass das Kapitol ihnen nicht so leicht helfen kann, also müssten sie es selbst tun.“
Anna fand es komisch, dass sie es nicht taten. Sie hatte gehört, dass in Distrikt 11 Lebensmittel angebaut wurden, vielleicht fanden sie Häuser dann einfach nicht so wichtig. In Distrikt 2 gab es Bauarbeiter, die auch wussten, wie das ging, also waren dort die Häuser schön.
Sie fand auch, dass die Menschen in den ‚äußeren Distrikte‘ wie ihre Mutter sie manchmal nannte, nicht so schön aussahen, sie waren zwar schlank, wie ihre Mutter immer sein wollte, aber ihre Gesichter waren faltig, schon bei den ganz jungen Menschen, wie Anna fand. Außerdem sahen sie bei der Ernte nie mutig aus, eher ängstlich.

Anna gähnte und war froh, als Ceaser die Ernte in Distrikt 12 ankündigte. Sie fand die ganze Sache irgendwann immer langweilig, weil es sich letztendlich immer wiederholte, aber ihre Mutter sagte, dass Anna es genießen sollte, wenn die Spiele waren. Denn immerhin fanden diese nur einmal im Jahr statt und auch die Vorbereitung auf die Spiele sei wichtig, da könne man die Tribute kennenlernen.
Das Mädchen, welches gezogen wurde, hatte genauso blondes Haar wie Glimmer und war sehr klein. Anna erinnerte sich, dass in Distrikt 11 auch so ein kleines Mädchen gezogen worden war. Was für ein Glück sie hatten. Sie waren so jung und trotzdem durften sie in den Spielen mitmachen. Doch ein Schrei war zu hören und ein älteres Mädchen in einem hellblauen Kleid stürzte nach vorne. Hellblau! Eine von Annas Lieblingsfarben.
Das Mädchen schob die Gezogene nach hinten. „Ich melde mich freiwillig“, keuchte sie. „Ich melde mich freiwillig als Tribut.“ Wahrscheinlich klang sie so ängstlich, weil sie sich sorgte, nicht schnell genug gewesen zu sein und dem kleinen Mädchen ihren Platz überlassen zu müssen. Doch die Sorge war unbegründet, die Betreuerin mit dem rosa Haar bat sie lächelnd auf die Bühne.

Sie hieß Katniss und Primrose, deren Platz sie eingenommen hatte, war ihre Schwester. 
„Warum hat sie ihrer Schwester nicht ihren Platz gelassen?“, fragte Anna. „Hätte sie nicht stolz auf sie sein sollen, dass sie die Ernte gewonnen hat? Vielleicht hätte sie ja sogar die Spiele gewonnen.“
„Ach Anna, so kleine Kinder können nicht gewinnen“, lachte Antonius und sah seine Schwester mit amüsiert funkelnden Augen an. „Und jetzt ist immerhin mal was los, Distrikt 12 hatte schon seit Jahren keinen Freiwilligen mehr. Es ist besser, dass sie sich freiwillig gemeldet hat. Bei älteren Leuten wird das Spiel spannender.“
Liam lachte. „Natürlich, mein Sohn. Aber es kommt auch darauf an, was sie können. Distrikt 12 kann nie etwas sonderlich gut, auch nicht sehr gut kämpfen.“
„Warum nicht?“, fragte Anna. „Sie können es ja lernen.“ 
„Sie haben hier im Kapitol ja drei Tage Zeit, zu trainieren, aber da sie zu Hause nie kämpfen müssen, können sie mit Distrikt 1, 2 und 4 nicht mithalten. Die sind immer die Besten, da sie auch schon zu Hause trainiert haben.“
Anna überlegte. Das klang logisch. Und während sie beobachtete, wie ein blonder Junge auf die Bühne kletterte und mit Katniss die Hand schüttelte, nahm sie sich vor, so bald wie möglich ihren Bruder zu überreden, mit ihr zu üben, falls sie doch einmal in den Spielen kämpfen durfte. Dann wollte sie auch so mutig aussehen, wie das Mädchen aus 2.

Als die Ernte aus 12 zu Ende war, war das Wappen von Panem zu sehen. Anna fand immer, dass das Wappen langweilig aussah, nur ein Adler, aber ihr gefiel, dass es golden war. Wichtige Dinge waren immer aus Gold, damit man ihren Wert sah. So wie der Schmuck ihrer Eltern zum Beispiel. Das Lied, die Hymne, wie ihre Mutter sie nannte, war dasselbe, was Anna schon seit ihrer Geburt immer wieder hörte, aber trotzdem mochte sie es. Es klang wichtig und elegant. So elegant, wie die Damen, die manchmal zum Abendessen kamen, wo Anna dann immer das weiche weiße Kleid anziehen musste, das sie auf gar keinen Fall schmutzig machen durfte. Und so wichtig wie das goldene Wappen und wie die Spiele, die Abwechslung in das Kapitol bringen sollten.

Die Sonne stand schon tief, als Anna in ihr Zimmer ging. Sie legte das Armband auf ihren Nachttisch und blickte aus dem Fenster. Die Häuser waren alle ganz bunt, genauso wie die Menschen. Wie schön es doch war, in so einer bunten Stadt zu leben, wo niemand aussah wie der andere. Es war so viel schöner als die kaputten Häuser in den Distrikten. Aber dafür durften die Leute von dort in die Spiele. Wenn sie es sich überlegte, dann gefiel es ihr in ihrer Stadt besser. Immerhin gab es die Spiele nur einmal im Jahr, aber sie war immer hier in dieser bunten, lebendigen, von freudiger Erwartung erfüllten Stadt.

Wagenparade – Stallmeister Callum


Der Stall im Erdgeschoss des Erneuerungsstudios war einer von Callums liebsten Orten. Nicht nur, weil Callum selbst schon seit gut fünf Jahren für die Pferde und den Ablauf der Parade verantwortlich war, sondern auch, weil es der mit Abstand komfortabelste Stall war, in dem er je gearbeitet hatte. Seit beinahe zwanzig Jahren war er hier angestellt.
Der Boden bestand aus glattem Beton, doch die Boxen waren dick mit Stroh ausgelegt und geräumig.
Callum war schon seit dem Morgen damit beschäftigt, seine Leute für die letzten Vorbereitungen auf Trab zu halten. Die Streitwagen mussten ein letztes Mal kontrolliert, die Pferde auf Hochglanz gebracht, das Lederzeug geölt und die Tiere vor die Wagen gespannt werden. Die ersten Streitwagen befanden sich schon an ihren Plätzen.

Die Pferde standen in ihren Boxen, der Großteil war zudem bereits geputzt. Callum beobachtete zufrieden, wie ein Mann, welcher das Haar zu rosa Stacheln gegelt hatte, mit Tuch und Wassereimer das Fell eines Schimmels reinigte. Nicht ein Hauch Schmutz durfte auf dem weißen Fell zu sehen sein, immerhin würde das Schimmelpaar den Wagen aus Distrikt 1 ziehen und damit als erstes ins Freie treten. Sie waren sein Aushängeschild. Und zudem sah man auf dem weißen Fell jeden noch so geringen Dreck.
Nicht minder wichtig war es allerdings, dass die Pferde mit dunklerem Fell sauber waren. Es durfte keine staubige Mattheit haben, sondern musste wie Seide glänzen. Vor allem bei den Rappen für Distrikt 12 war dies entscheidend.
Als Callum vor mehreren Jahren Stallmeister geworden war, hatte er eingeführt, dass die Fellfarbe der Pferde zu dem jeweiligen Distrikt passte. Vorher waren es samt und sonders Rappen gewesen, doch er hatte hier eine Veränderung gebracht. Sein persönlicher Fingerabdruck sozusagen. Und er war stolz darauf.
Rappen für Distrikt 12, schwarz wie Kohle. Falben für 9, so golden wie die Weizenfelder. Schimmel für 1, graue Tiere für 2. Schecken, die Flickenteppiche unter den Pferden, für 8. Callum hatte seine Freude daran gehabt, jeder Fellfarbe eine Bedeutung zu verpassen. Und hatte der Parade damit eine neue Portion Lebendigkeit gegeben.

Jedes dieser Tiere war von Callum persönlich als Fohlen aus den Beständen, die aus Distrikt 10 kamen, ausgesucht worden, um für die Aufgabe der Parade trainiert zu werden. Es durften nur Pferde sein, welche schöne Proportionen und einen geeigneten Körperbau hatten - kräftig genug, um die Wagen zu ziehen und doch mit ausreichender Eleganz gesegnet, um im Kapitol für Begeisterung zu sorgen – sowie gelehrig waren und aufmerksam arbeiteten. Natürlich wusste er, dass die Tribute die eigentlichen Stars der Parade waren, doch dies war für ihn kein Grund, nicht auf die Perfektion seiner Tiere zu achten. Er war immerzu mit den Jungtieren beschäftigt und auch die erwachsenen Tiere brauchten ständiges Training. Das Training war mühsam und dauerte seine Zeit, doch am Ende kamen gehorsame Tiere heraus, welche ohne Zügelhilfen die Paradewagen durch die Stadt zogen, selbstständig vor dem Präsidentengebäude hielten und die Streitwagen schließlich in das kleinere Stallgebäude beim Trainingscenter brachten. Callum war schon als Kind davon fasziniert gewesen. Er hatte zunächst in kleineren Ausbildungszentren gearbeitet, doch sehr schnell den Sprung geschafft und einen der begehrten Plätze als Stalljunge bei den Pferden für die Parade bekommen. Es war schwierig, in dieses Team hineinzukommen, da die Bezahlung sehr gut war und bei dem größten Ereignis des Jahres mitzuarbeiten, wurde als Ehre gesehen. Auch von Callum. Aufgrund seines Talentes war er schnell aufgestiegen und schließlich hatte der damalige Stallmeister ihn in das Training der Pferde eingeführt. Jedes Paar war darauf trainiert, zu einer bestimmten Stelle des Großen Platzes zu gehen und dort, in die Richtung des Palastes schauend, still stehenzubleiben, bis sich auf einen für Menschen unhörbaren Pfiff das Paar von Distrikt 1 in Bewegung setzte. Der Rest folgte diesem Streitwagen in das Trainingscenter. Es war einfache Koordinierung, die überraschend gut funktionierte – wenn man früh genug mit dem Training begann. Aus diesem Grund durften diese Pferde niemals in der Stadt geritten werden, da sie sonst von der Route abweichen konnten. Bei jedem Pferd wurde von Beginn an festgelegt, welchen Distriktwagen es einmal ziehen würde und damit gleichzeitig die spätere Position auf dem Platz bestimmt.

„Ist das Lederzeug schon eingeölt?“, fragte er einen Jungen mit blondem Haar, welcher den Kopf schüttelte.
„Das wollte ich gerade machen.“ 
Callum schnaubte. „Die Tribute kommen in wenigen Stunden und das Lederzeug für vierundzwanzig Pferde ist noch nicht einmal eingeölt? Muss ich hier alles selbst machen?“
Der Junge zuckte bei den scharfen Worten zusammen und beeilte sich, in die Sattelkammer zu gelangen, in welchem unter anderem die Gurte gelagert wurden, mit denen die Pferde später vor die Wagen gespannt wurden. Ein älterer Mann ging ihm nach. 
Gut. Zu zweit waren sie vermutlich schneller.
„Hices!“, rief er. Der Mann drehte sich um und sah ihn mit seinen roten Augen fragend an. 
„Achte darauf, dass der Neuling sorgfältig arbeitet. Wenn später an den Gurten Ölflecken sind, mache ich dich dafür verantwortlich.“
„Ich achte schon darauf, dass alles in bester Ordnung sein wird.“ Hices lächelte. Er war der einzige der Truppe, die sich nichts aus Callums scharfen Worten machte. Normalerweise war der oberste Stallmeister die Ruhe in Person, doch der Paradetag bedeutete immer Stress für ihn. Immerhin hatte er die Verantwortung, dass alles perfekt lief.

Callums Sorge war nicht unbegründet. Bei der Parade zu den 52. Hungerspielen, zwei Jahre, bevor Callum zum ersten Mal bei den Paradepferden gearbeitet hatte, war ein Pferd durchgegangen. Vermutlich war es vor irgendetwas erschrocken, worauf sich seine Panik auf das Pferd neben ihm übertragen hatte und das Gespann von Distrikt 6 mitten in die Zuschauermenge gerast war. Drei Zivilisten waren damals zu Tode gekommen, mehrere verletzt worden. Das Tributpaar hatte bis auf ein paar Schrammen nichts abbekommen, doch der Stallmeister hatte noch am selben Tag sehr unangenehmen Besuch bekommen. Man hatte ihn danach nie wieder gesehen.
Seit diesem Unglück wurde darauf geachtet, die Pferde an alle möglichen Situationen zu gewöhnen, von Blumen, die ihm auf den Kopf geschüttet wurden, bis hin zu flatternden Fahnen, lodernden Flammen und lautem Geschrei. Es hatte Wirkung gezeigt. So ein Unfall hatte sich nicht wiederholt.

„Das geht so nicht, Acory“, erklärte er. Die Frau, welche die Stirn nachdenklich in Falten gelegt hatte, folgte mit ihrem grünen Blick den Bewegungen Callums genau. Callum wischte sich eine Strähne seines schwarzen Haares, welche aus seinem Pferdeschwanz entwischt war, zurück und legte den Hufkratzer neu an. „Siehst du? Da sind noch immer mehr Steine drinnen, als der Pflastersteine am Großen Platz. Das Pferd kann so nicht laufen. Kontrolliere alle vier Hufe noch einmal.“ Er ließ den Huf vorsichtig los und der Fuchs schüttelte schnaubend seine Mähne. 
„Und bürste den Schweif noch einmal. Da ist noch Stroh drinnen.“
„Ja, Callum.“ Acory strich sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht und bückte sich. Ihre Schnurrhaare zuckten leicht.

Ein lauter Knall ließ alle im Stall zusammenzucken. Überall strecken Leute ihre Köpfe aus den Boxen und gleich darauf ertönten Wutschreie, welche Callum ohne zu zögern als die seines Stellvertreters Magnus ausmachte. Dieser war mit einigen Leuten für die Wagen zuständig und seit dem Morgen damit beschäftigt, diese einer letzten Kontrolle zu unterziehen.
„Du Idiot!“, fauchte Magnus gerade, als Callum näherkam. Sein Stellvertreter beugte sich über einen der Streitwagen und deutete zornig auf einen seiner Helfer. „Wie konntest du so dumm sein? Sieh dir diese Kratzer an! Das muss ausgebessert werden, als hätten wir nicht schon genug zu tun!“
Das Ziel seines Zornes, ein neunzehnjähriger Junge namens Tatus, der das erste Jahr bei den Paradevorbereitungen dabei war, duckte sich erschrocken. 
„Es tut mir leid“, entgegnete er mit leiser Stimme. „Ich kümmere mich darum.“
Magnus schnaubte, seine blauen Augen blitzten zornig. „Das will ich auch hoffen. Wehe dir, wenn der Wagen in einer Stunde nicht wieder auf Vordermann gebracht worden ist.“
Tatus zog den Wagen auf seinen Platz in der Linie, es war der Wagen für Distrikt 10, und beeilte sich dann, einen Eimer Farbe zu holen.
Callum trat näher und als Magnus ihn bemerkte, gingen die Klagen von vorne los.
„Diese dämlichen Anfänger“, schnaubte er. „Immer machen sie irgendeinen Blödsinn. Man müsste sie praktisch an der Hand halten und durch ihre Aufgaben führen, um sicherzustellen, dass nichts passiert.“
Callum besah sich die Kratzer näher. „Er wird es nicht wieder tun. Du kennst die Neuen, die machen einen Fehler einmal, aber nicht wieder. Beim nächsten Wagen wird er sich geschickter anstellen.“
Die letzten Worte hörte auch Tatus, der mit Pinsel und Lackfarbe zurückkehrte und mit feuerrotem Gesicht begann, die Farbe umzurühren und aufzutragen.
„Denk dran, der Wagen muss komplett neu lackiert werden“, schnaubte Magnus. „Zica!“
Eine Frau, die gerade damit beschäftigt war, den Boden zu kehren, sah auf. „Ja?“
„Lass das, der Boden ist jetzt nicht wichtig. Hilf lieber Tatus, den Wagen neu zu lackieren. Du weißt ja, wie es geht.“
Zica legte den Besen beiseite und band ihre rot gefärbten Haare zurück, wodurch die hellgelben Sternentattoos bei ihren Augen ins Blickfeld kamen. „Natürlich, Magnus.“

Der oberste Stallmeister kehrte kopfschüttelnd zu den Pferdeboxen zurück, wo Hices gerade damit beschäftigt war, die Zaumzeuge und Brustgeschirre den einzelnen Pferden zuzuordnen und vor die Boxen zu hängen. Das schwarze Leder glänzte frisch geölt und zu Callums Zufriedenheit war es fleckenlos.
„Wir haben noch drei Stunden. Ich hoffe, die beiden werden mit dem Wagen rechtzeitig fertig.“ Mit wenigen Worten hatte er Hices auf den neuesten Stand gebracht und von dem Malheur bei den Streitwagen erzählt.
„Die beiden schaffen das schon.“ Hices lächelte beruhigend. „Zica ist eine unserer besten Streicherinnen und der Lack trocknet ja dank der neuen Inhaltsstoffe schnell.“
Er begegnete Callums Blick. „Es wird schon alles gut gehen“, sagte er ruhig. „Wie jedes Jahr gibt es ein paar kleine Schwierigkeiten, aber es hat bisher immer alles funktioniert.“
Ja, bisher hatte immer alles funktioniert. Es war nur das übliche Chaos vor der Parade. Diese Worte sagte Hices sich im Laufe der nächsten zwei Stunden immer wieder vor.

Der Rappe schnaubte und warf den Kopf hoch, doch Callum legte eine Hand auf dessen Kopf und zog die Nüstern sanft wieder nach unten, damit er dem Pferd das Zaumzeug anlegen konnte. 
„So ists brav, Großer“, lobte er. Mit geübten Griffen schloss er die Schnallen und legte das Brustgeschirr an, bevor er das Pferd zu dem Wagen für 12 führte. Dort war das zweite Pferd bereits eingespannt worden und ein Stallbursche übernahm den Rappen, um auch ihn anzuschirren.
„Danke“, lächelte dieser. Callum nickte nur.
In einer Stunde mussten sie fertig sein, denn dann würden die ersten Tribute herunterkommen, um ihre Positionen einzunehmen. 
Der Wagen für Distrikt 10 war zu Magnus vollster Zufriedenheit neu lackiert worden, wie Callum aus der Miene des Mannes lesen konnte und die ersten Pferde waren bereits eingespannt. Doch weiter vorne schien es Probleme zu geben.

„Du Mistvieh!“
Der Ausruf war von einer großen Frau gekommen, welche gerade mit dem Anschirren eines Pferdes an den Distrikt 8-Wagen beschäftigt war. Der große Schecke jedoch schien mit dieser Behandlung so gar nicht einverstanden zu sein. Er stemmte sich gegen den Griff der Frau und warf den Kopf hin und her. Dann bäumte er sich auf, krachte mit den Vorderhufen wieder auf den Boden und schlug mit den Hinterbeinen aus. Einer seiner Hufe traf die Stute, welche gerade neben ihm angeschirrt wurde. Diese machte einen Satz zur Seite und trat ihrem Betreuer auf den Fuß. Callum war binnen Sekunden zur Stelle, schnappte der Frau die Zügel aus der Hand und ruckte einmal kurz daran.
„Hörst du auf!“
Das Pferd legte die Ohren an, doch ein Klaps von Callum auf seine Nüstern brachte es zur Räson. 
„Ist alles in Ordnung bei euch beiden?“ Er sah erst die Frau, auf deren hellblau gefärbten Oberarm rote Flecken zu sehen waren und dann den Mann an, der fluchte, nickte und dann humpelnd seine Arbeit fortführte.
Er besah sich den Arm näher. „Ist nicht schlimm, Olivia. Nur ein blauer Fleck.“
Olivia wirkte blass unter ihrer blauen Haut, doch nickte. „Es geht schon wieder. War nur der Schreck.“
Callum nickte. „Geh und hilf bei den Blumengestecken. Ich kümmere mich um ihn hier.“
Die Frau sah ihn dankbar an und verschwand.
Der Schecke schlug unwillig mit dem Schweif, während Callum die Schnallen schloss. Er hoffte, dass dieses Pferd keine Probleme machte, es war zu spät, ein anderes zu nehmen. Man musste das beste hoffen.

„Wieder einmal geschafft.“ Hices stellte sich neben Callum und besah sich die Reihe der Pferde, die vor ihren jeweiligen Wagen standen. „Warum machst du so ein bedrücktes Gesicht, Callum? Die Pferde sind geschniegelt, die Zaumzeuge poliert, die Blumengestecke am rechten Fleck und die Wagen tipptopp gestrichen.“ Er lachte. „Wir haben alles zur rechen Zeit geschafft. Worüber machst du dir Sorgen?“
„Ich weiß nicht, Hices.“ Callums Stimme hörte sich erschöpft an. Der Mann wirkte müde, sein schwarzes Haar war im Laufe des Tages zum Großteil aus dem Zopf entflohen und in seinen silbernen Augen lag pure Erschöpfung. „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass etwas schieflaufen wird. Vor allem mit diesem Pferd.“ Er deutete zu dem aufmüpfigen Schecken, der sich immer wieder unwillig schüttelte. „Vielleicht hätte ich bei ihm doch noch ein Jahr warten sollen.“
Hices legte ihm einen Arm um die Schulter. „Er wird das schon machen, bei der Probe lief alles wie am Schnürchen. Die Parade wird reibungslos ablaufen.“
Callum wünschte, er könne den Optimismus des älteren Mannes teilen, doch ein ungutes Gefühl blieb.
„Ich werde erst aufatmen können, wenn diese Parade vorbei ist.“
Hices sah ihn sanft an. „Es wird alles gut werden. Du hast die Pferde so gut trainiert und du hast ein gutes Team hinter dir, auf das du dich verlassen kannst. Magnus ist schon unterwegs. Und wir sollten jetzt auch losgehen und uns Plätze suchen.“
Magnus übernahm dieses Jahr die Aufgabe, das Pfeifsignal für die Pferde zu geben, aus diesem Grund würde er sich auf dem Großen Platz unter die Menge mischen. Auch die anderen Helfer waren bereits bis auf wenige Ausnahmen gegangen. Drei Leute würden hierbleiben und dafür sorgen, dass bei der Abfahrt alles glattlief.
Ein letztes Mal strich Callum über den Hals eines Pferdes, dann folgte er Hices. Hinter ihm hörte er bereits die ersten Tribute eintreffen.

Callum reckte den Hals, um über die Köpfe der Menschen hinwegzusehen. Die Straße war voller Leute, nur in der Mitte war ein Streifen abgesperrt, auf welchem die Tributwagen in Kürze vorbeifahren würden. Lang konnte es nicht mehr dauern.
Tatsächlich ertönte wenige Minuten später der Anfang der Parademusik. Sie schallte laut und deutlich durch das ganze Kapitol und in Callums Umfeld begannen die Leute zu jubeln, obwohl die Tribute noch mindestens zehn Minuten brauchen würden, bis sie ihre Stelle passieren würden. 
Auf großen Bildschirmen jedoch konnte man beobachten, wie die Wagen nacheinander aus dem Stallgebäude des Erneuerungsstudios fuhren. Die langen Mähnen der Schimmel schimmerten wie Perlmutt und die beiden Tribute in ihren silbernen Tuniken passten wunderbar zu ihren Pferden. Beide Tribute hielten sich aufrecht und stolz, lächelten und winkten in die Menge. Und diese dankte es ihnen mit lautem Jubelgeschrei.

Callum hatte es immer interessant gefunden, was sich die Stylisten jedes Jahr ausdachten, um ihre Tribute zur Geltung zu bringen. Natürlich gab es auch schwarze Schafe, wie beispielsweise die Stylistin für Distrikt 7, die ihre Tribute seit dem Beginn ihrer Karriere vor vierzig Jahren als Bäume zur Parade schickte. Doch der Großteil der Stylisten schien sich zumindest einigermaßen Mühe zu geben.
Gerade fuhren die Tribute aus Distrikt 8 auf die Straße und zu Callums großer Erleichterung schien der vorher so aufmüpfige Schecke keinen Versuch zu unternehmen, den Wagen in die Zuschauermenge rasen zu lassen. Nicht einmal das Flattern der Stoffstreifen, welche das Kostüm der Tribute aus 8 bildeten, schien ihn zu stören. Erleichtert seufzte er auf.

Das kleine Mädchen aus 11 ragte kaum über den Rand des Streitwagens und Callum stöhnte auf. Nächstes Jahr würde er den Rand niedriger machen müssen. Die dichten Locken des Tributs wurden von einem Kranz aus silbernen Getreideähren umrahmt, was ihr trotz ihres jungen Alters würdevoll erscheinen ließ. 
Als jedoch der Wagen aus 12 herausfuhr, lief es Callum kalt über den Rücken. Flammen züngelten an den Körpern der Tribute entlang und es schien, als würden sie eine Schleppe aus Feuer hinter sich herziehen. Zunächst rechnete Callum jede Sekunde damit, dass die wehenden Schweife der Pferde Feuer fingen, bis er merkte, dass das Feuer nichts verbrannte. Es war künstlich. 
Er lächelte. Ein dramatischer Auftritt, das musste man 12 lassen. Die Rappen, die den Wagen zogen, ließen sich von den Flammen zum Glück nicht stören und liefen im gleichmäßigen Trab dahin.

Wenige Minuten später konnte man von Callums Standort Hufgeklapper hören. Stetig wurde es lauter, bis der erste Wagen in Sicht kam. 
Es dauerte weniger als zwei Minuten, bis alle zwölf vorbeigefahren waren. Und für einen Moment, nur für einen Moment, gestattete Callum sich den Gedanken, dass dreiundzwanzig der Kinder in der Arena sterben würden. Dann schob er den Gedanken beiseite. 
Es lohnte sich nicht, näher darüber nachzudenken. Denn er konnte ihnen nicht helfen. Das einzige, was er tun konnte, war dafür zu sorgen, dass die Pferde und die Wagen bei der Parade in exzellentem Zustand waren. Er war dabei darauf bedacht, den Wagen aus 12 genauso sorgfältig herzurichten, wie den aus 1. Denn er wollte jedem Tribut die gleichen Chancen auf den Sieg geben. Soweit dies in seiner Macht stand, natürlich.

Strategiebesprechungen – Avoxfrau Victoria

Durch die großen Panoramafenster konnte man den Nachthimmel sehen, doch kein einziger Stern leuchtete. Das Kapitol, ein blinkendes Lichtermeer, verschluckte jegliches Sternenlicht. Nur der Mond schien matt vom schwarzblauen Himmel. Sie vermisste sie manchmal, die Sterne, die sie von den Wäldern ihrer Heimat aus so oft beobachtet hatte, doch sie wusste auch um ihr Glück, überhaupt in der Lage zu sein, den Nachthimmel zu sehen.

Das Mädchen hatte noch kein Wort gesprochen, seitdem das Essen begonnen hatte, sondern starrte in die Flamme der weißen Kerze, die in dem modisch geschwungenen Halter aus silberfarbenen Metall in der Mitte des Tisches stand und den Raum erhellte. Die dunklen Wände schienen im Licht dieser Kerze und der Lampen an den Wänden zu schimmern und die Beleuchtung verlieh dem cremefarbenen Marmorboden einen perlmuttartigen Glanz.
Victoria hatte die kleine Gesellschaft besser im Blick, als sie sollte, zwar hielt sie den Kopf stets gesenkt, doch die Gespräche der Mentoren mit ihren Tributen boten meist etwas Abwechslung während der Arbeit. Wenn es denn Gespräche gab.
Nachdem Victoria ihre Zunge verloren hatte, denn verloren klang doch ein bisschen schöner, als herausgeschnitten, wie sich Victoria oftmals mit beißendem Zynismus dachte, hatte sie in der Zeit nach ihrer Verurteilung zunächst in den Tunneln unterhalb des Kapitols gearbeitet, bis sie schließlich versetzt wurde. Warum das passiert war wusste sie nicht und sie hatte auch nie nachgefragt. Nicht, dass sie das gekonnt hätte. Doch es war passiert und nun arbeitete sie bereits seit fast acht Jahren während der Zeit der Spiele für die Tribute. Meistens war sie für die Tribute, den Betreuer und die Mentoren aus Distrikt 5 während deren Aufenthalt im Trainingscenter verantwortlich. Es war eine weitaus angenehmere Arbeit als Stunde um Stunde in den nassen, dunklen und gefährlichen Gängen ihres alten Arbeitsplatzes zu verbringen. Waren die Spiele vorbei, bediente sie normalerweise in einem der großen Häuser einer reichen Person in der Innenstadt.

Victoria wusste nicht genau, was der Grund für ihre Verurteilung gewesen war. Sie vermutete aber, dass jemand der Obrigkeit gesteckt hatte, dass sie oftmals Holz zurückbehielt und dieses für den eigenen Verkauf bearbeitete. Damit hatte sie sich ganz gut über Wasser halten können, denn wenn es eines gab, was sie konnte, war es Holzbearbeitung. Sie hatte glatte Bretter herstellen können, welche wie von selbst ineinanderpassten und für Fußböden ideal war. Nur leider dürfte sie es mit der Menge irgendwann übertrieben haben. Deshalb war sie nun hier. Konnte dabei aber noch froh sein, dass sie nicht gleich erschossen worden war.

Während sie den zweiten Gang auftrug und einen Teller mit herrlich duftendem Lammeintopf vor das rothaarige Mädchen stellte, fragte sie sich zum wiederholten Mal, warum um alles in der Welt das Kapitol derart feines Porzellan verwenden musste. Was nützte es, wenn ein Teller zwar wunderschön aussah, fein gemalte Muster am Rand, die optisch wunderbar mit den Gerichten auf dem Teller harmonierten, aber das Porzellan gleichzeitig so dünn war, dass es dazu tendierte, in ihrem Griff zu brechen? Einmal war es ihr bereits passiert und was darauf gefolgt war, hatte sie verdrängt. 
Immerhin waren die Tribute aus Distrikt 5 keine verwöhnten Rotzgören, wie die Karrieros. Sie beneidete die Avoxe nicht, die sich um deren Bedürfnisse kümmern mussten und dabei auch noch herablassend betrachtet wurden. Oder Dinge wurden extra liegengelassen, weil die Herrschaften zu bequem waren. Wofür hatte man schließlich Diener.
Das Tributpaar aus Distrikt 5 hingegen war bisher ganz anständig. Keine Sonderwünsche, die es zu beachten gab, keine scharfen Worte, wenn man das Glas zu voll anfüllte. Oder zu wenig anfüllte. Oder es beim Eingießen zu schräg hielt. Das Mädchen schien in ihrer eigenen Welt zu sein, doch der Junge lächelte ihr immer dankbar zu, wenn sie einen vollen Teller hinstellte. Oder das Glas nachfüllte. Er tat es, trotz der strafenden Blicke des Betreuers. Es freute sie, denn als Avox wurde man nur selten beachtet und wenn, dann meist nur für eine Strafe.
Und doch würde dieser freundliche Junge in wenigen Tagen sterben. Merkwürdigerweise war dieser Gedanke Victoria plötzlich derart unbequem und sie schob ihn von sich. Wenn sie jedem Tribut nachtrauern würde, den sie bediente, wäre ihr Leben noch unschöner, als es eigentlich war. Sie hatte sich angewöhnt, nicht über das Schicksal ihrer Schützlinge nachzudenken, sondern still ihre Aufgaben zu erfüllen. Doch der Gedanke, dass dieses freundliche Lächeln bald für immer der Vergangenheit angehören sollte, gefiel ihr gar nicht.

Der zweite Gang war aufgetragen, die Gläser aufgefüllt und Victoria stand wieder an ihrem Platz an der Wand. Sie trug ihren üblichen emotionslosen undurchdringlichen Ausdruck, welcher für einen Avox unentbehrlich war, im Gesicht, doch sie lauschte der Unterhaltung interessiert. War es zwar jedes Jahr in etwa die gleiche Tour, so bot es doch eine gewisse Abwechslung im eintönigen Alltag des Bedienens. Und solange sie ihre Aufgaben zu aller Zufriedenheit erfüllte, hatte niemand etwas dagegen, wenn Avoxe Strategiebesprechungen lauschten. Weitererzählen konnten sie es sowieso nicht.

Finch, das Mädchen mit den roten Haaren, welches appetitlos in ihrem Lammeintopf herumstocherte, war sehr wortkarg und ihre Mentorin, eine Frau in den Vierzigern namens Ashleen Ballyregan, konnte nur sehr schwer ihre Stärken und Schwächen aus ihr herausbekommen.
„Ich bin schnell“, kam es irgendwann mit leiser Stimme. „Und man übersieht mich leicht. Ich weiß, wie man sich versteckt.“
„Das wird dir aber nicht helfen“, schnaubte der Betreuer. Mit seinen hellgelben, schulterlangen glatten Haaren und dem weißen Anzug, der sein Markenzeichen zu sein schien, hatte Sean Tealstone eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem Gänseblümchen, auch wenn ihm das natürlich niemand sagte. Victoria wusste nicht einmal, ob es sonst jemandem auffiel. Das Kapitol war in dieser Hinsicht schon komisch. Immerhin hatte dieser Betreuer keine merkwürdigen Tattoos im Gesicht. Viel mehr wirkte es wie eine starre Maske, so künstlich, dass Victoria nicht so genau wissen wollte, was man damit angestellt hatte. Sie selbst, die aus Distrikt 7 stammte, war von der Selbstzerstörungswut mancher Kapitolbewohner merkwürdigerweise noch immer überrascht. Selbst nach den fast zehn Jahren, die sie nun schon hier verbracht hatte und es nun eigentlich besser wissen sollte.

Sean hielt dem rothaarigen Mädchen immer noch einen Vortrag darüber, warum es besser sei, zu kämpfen, als sich zu verstecken und Victoria konnte sich nur mühselig ein Schnauben unterdrücken. Er kannte Finch jetzt wie lange? Einen Tag? Und meinte, er wüsste, was gut für sie war? Wenn schon, dann konnte dies die Mentorin wohl noch am besten beurteilen, diese hatte immerhin praktische Erfahrungen in der Arena gemacht.
Was diese offenbar genauso sah.
„Sean, ich will dir wirklich nicht zu nahe treten, aber meiner Meinung nach kannst du nicht beurteilen, ob für einen Tribut Verstecken eine gute Wahl ist, oder nicht.“ Ashleens Hände hatten sich auf dem Tisch liegend verkrampft, als sie den Betreuer anfunkelte. 
Sean warf Ashleen einen abwertenden Blick zu. „Ich arbeite seit über zehn Jahren für die Tribute dieses Distrikts. Haben dir die Tipps deines damaligen Betreuers geschadet, als du in den Spielen warst? Nein, also lass diese Besserwisserei.“
Victoria spürte die Feindseligkeit zwischen den beiden wie glühende Stiche.
„Verstecken kann eine sehr gute Strategie sein“, behaarte Ashleen auf ihren Standpunkt. „Erinnere dich an Johanna Mason. Sie hat nach der Masche der Schwachen gespielt und damit gewonnen. Diese Strategie ist nicht weniger komplex wie die des Starken und Unnahbaren.“
Sean fuhr sich verärgert durch die Haare, die allerdings wieder in ihre perfekte Form zurückfielen. Wie machte er das bloß? Victoria runzelte die Stirn. Für eine Sekunde tauschte sie einen Blick mit der Avox an der Wand ihr gegenüber. Orphelia hieß sie, sie schlief in dem Bett über Victoria und hatte ihr einmal ihren Namen in den Staub des Bodens ihres Schlafraumes geschrieben. Ein winziges Zucken von Orphelias Mundwinkeln verriet, dass sich die junge Frau köstlich amüsierte. Das schätzte Victoria an ihr so. Dass sie trotz ihrer Lage noch einen Funken Fröhlichkeit behalten hatte.
„Es bringt dir aber keine Sponsoren“, schnaubte Sean. 
Der Junge verfolgte das Streitgespräch mit großen Augen und schien seinen Teller vergessen zu haben. Finch jedoch hatte die Augen zu Schlitzen verengt.
„Auch das kann Strategie sein. Man wird, wenn man keine Sponsoren hat, von den anderen Tributen ignoriert und hat daher seine Ruhe. Und man wird unterschätzt, was einem viele Vorteile bringen kann.“
Auf Finchs Kommentar schnaubte Sean nur, doch Ashleen sah ihn mit einem triumphierenden Blick an. „Siehst du? Genau das meine ich. Lern einmal etwas über Strategien, das sage ich dir jedes Jahr.“
Auf diese Aussage hin warf Sean seine Serviette auf den Tisch und verließ den Raum ohne ein weiteres Wort, die gelben Haare wütend in den Nacken werfend.
Ashleen verlor keine Zeit, sondern wandte sich ihrem Schützling mit einem ernten Gesichtsausdruck zu.
„Finch, wenn du meinst, dass du mit deiner Strategie des Versteckens gut klarkommen wirst, dann habe ich nicht vor, dir das auszureden. Aber ich würde dir trotzdem raten, dich mit dem Gebrauch einer Waffe vertraut zu machen.“ Finch antwortete etwas, doch dies hörte Victoria nur halb, da sie bereits mit dem Auftragen des dritten Gangs beschäftigt war und das Geklapper der Teller sämtliche Gespräche schluckte.

Der Junge lächelte ihr zu und bedankte sich leise und für eine Sekunde schwang auch ein winziges Lächeln über Victorias Lippen. Doch dann senkte sie den Blick und ging still ihrer Arbeit nach. 
„Was kannst du denn gut, Chris?“, fragte Ashleen ihn? 
Victoria sah für eine Sekunde auf. In den braunen Augen der Mentorin lag Sorge, als sie Chris ansah. So hieß der Junge also. 
Chris wandte den Blick von Victoria ab und scharrte mit der Fußspitze am Boden, den Blick auf seinen halbvollen Teller gerichtet. „Ich kann ein bisschen mit einem Messer umgehen. Ich habe … meiner Mutter häufig beim Kochen geholfen.“ Die letzten Wörter flüsterte er, als habe er Angst, dass er dafür ausgelacht werde. Doch niemand lachte.
„Also weißt du zumindest, wie man ein Messer hält.“ Die Mentorin hatte mehr zu sich selbst gesprochen, als zu den Tributen. Chris nickte leicht. 
„Für dich gilt das Gleiche. Such dir eine Waffe und versuch, dir den Umgang einzutrainieren so gut es geht. Und geht beide zu Überlebensstationen.“
Die beiden Kinder nickten, doch Chris schien noch etwas auf dem Herzen zu haben.
„Sollen wir uns Verbündete suchen?“, fragte er. Finch warf ihm einen Blick zu, aus dem Victoria eindeutig lesen konnte, wie dumm sie diese Frage fand.
Ashleen selbst schien nicht ganz zu wissen, was sie sagen sollte. Sie öffnete mehrmals leicht den Mund, bis sie schließlich antwortete: „Dies ist keine leichte Entscheidung. Bündnisse können schlimmstenfalls deinen Tod bedeuten. Aber sie bieten auch in gewisser Hinsicht Schutz. Bei dieser Frage musst du auf deinen Instinkt achten. Bündnisse sind gefährlich, aber mit den richtigen Leuten sind sie Gold wert.
„Ich geh sicher kein Bündnis ein“, meinte Finch, die blauen Augen zu Schlitzen verengt. „Ich kann mich auf niemanden verlassen, besser, man bleibt alleine und weiß, woran man ist.“
„Wenn du mit dieser Entscheidung am besten klarkommst, wird sie für dich die richtige sein“, erklärte Ashleen sanft. Sie winkte und Victoria beeilte sich, ihr Glas erneut zu füllen. Der Wein hinterließ rote Schlieren auf dem dünnen Glas, als die Flüssigkeit zunächst herumschwankte und dann zum Stillstand kam.

Sie selbst erinnerte sich noch gut an die Anweisungen, die in ihrem Distrikt gang und gäbe gewesen waren, was die Hungerspiele angingen. Ihre Mutter hatte ihr immer eingeschärft, den Umgang mit einer Axt gut zu erlernen, denn sollte sie gezogen werden, würde ihr das Vorteile bringen. Und Distrikt 7 lebte für die Holzverarbeitung. Dort fand man fast niemanden, der nicht schon von klein auf mit einer Axt umgehen konnte. Doch letztendlich war es nicht notwendig geworden. Sieben Ernten waren an ihr vorbeigezogen und sie gehörte zu jenen, auf die nie das Los gefallen war. Zu jenen, die Glück gehabt hatten.

Ein Klatschen riss sie aus ihren Gedanken. Sean, immer noch wütend aussehend, war in den Raum zurückgekehrt und hatte sich gesetzt, ohne Ashleen auch nur anzusehen. Jetzt deutete er auf sein Weinglas, woraufhin Victoria sich beeilte, dieses nachzufüllen. Die Teller waren so gut wie leer, der Nachtisch würde jetzt bald serviert haben. Sämtliche Gespräche waren verstummt, doch mit Seans Eintreten war der Eindruck geweckt worden, die Luft sei zum Schneiden dick. Doch Victoria kannte das schon. Sean und Ashleen hatten jedes Jahr ihre kleinen Dispute, weil Sean immer mehr für den offenen Kampf plädierte und Ashleen zur Vorsicht mahnte. Dabei hatte die Frau selbst aufgrund von ungewöhnlich gutem Talent mit dem Schwert gewonnen und war auch nicht vor Kämpfen zurückgeschreckt. Vielleicht mahnte sie ja gerade deshalb zur Vorsicht.
Die Torte, die von zwei Avoxen in den Raum getragen wurde, war drei Stockwerke hoch und wunderschön verziert mit einem silbrigen Zuckerguss, welcher im flackernden Licht der Kerze herrlich glitzerte und funkelte. Wie das Knistern der Elektrizität. Distrikt 5, unverkennbar.
Zitronentorte. Der Geruch war unverkennbar, ein zart saurer Geruch, welcher aufstieg, als die Torte angeschnitten wurde, der Victoria das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Sie schüttelte unwillig den Kopf. Sinnlos zu versuchen, sich den Geschmack auf die Zunge zu rufen, denn sie hatte in ihrem Leben noch nie eine Zitronentorte gegessen. Doch der Geruch ließ sie jedes Mal aufs Neue schwach werden, er ließ die Torte in ihrer Vorstellung auf der Zunge zergehen. Sie stellte es sich frisch vor. Süß und gleichzeitig sauer. 

Schließlich erhoben sich die vier Personen vom Tisch und begaben sich ins Wohnzimmer, wahrscheinlich, um sich die Wiederholung der Parade anzusehen. Victoria und zwei ihrer Kollegen räumten unterdessen den Tisch ab, mit gesenkten Blicken. Mittels Handbewegungen verständigten sie sich und Orphelia deutete zunächst in Richtung Wohnzimmer, dann bewegte sie ihre Hand, als würde ein Mund reden und verdrehte anschließend die Augen.
Jedes Jahr der gleiche Streit. Victoria musste sich das Kichern verkneifen. Sie hasste es, wenn sie Geräusche von sich gab, sie ertrug den Klang nicht, der erzeugt wurde, wenn sie ohne Zunge versuchte zu sprechen. Selbst das Lachen schmerzte ihr in den Ohren. Oder eher im Herzen.
Als die Klappe, hinter der ein kleiner Aufzug versteckt war, der das Geschirr in die Küche bringen würde, schließlich geschlossen war, nahm Victoria ihren Platz in einer Ecke des Wohnzimmers ein. Der schwarze Marmor, aus dem die Wände bestanden, war so glatt poliert, dass sie in ihm ihr Spiegelbild sehen konnte.

Die Wiederholung der Wagenparade stellte für Victoria auch immer die Möglichkeit, selbst die Eröffnungsfeier zu sehen. Auch, wenn ihr die Tribute eher leidtaten, so zur Schau gestellt zu werden in Kostümen, die weder sonderlich bequem sein konnten, noch, zumindest in den allermeisten Fällen, sonderlich gut aussahen. Oft wirkten sie sogar unvorteilhaft.
Während Victoria die Gläser auf einen Wink Ashleens hin füllte, spähte sie zum Fernseher, wo die Tribute aus 5 gerade zu sehen waren. Die glitzernden Kostüme spiegelten den Distrikt sehr schön wieder und Victoria erkannte auf der Stelle, wo die Idee für die Torte des Abendessens gekommen war.
Als die Tribute aus ihrem eigenen Distrikt auf die Straße rollten, schnaubte Victoria leise, was ihr einen mahnenden Blick Sean einbrachte. Schnell senkte sie den Kopf. 
Bäume. Als wäre das alles, was Distrikt 7 zu bieten hatte. Nun gut, viel was anderes war da auch nicht. Aber konnte sich die Betreuerin nicht mal was anderes einfallen lassen?
Mit dem feurigen Auftritt von Distrikt 12 war die Wagenreihe vollständig. Die Tribute zu beleuchten fand Victoria tendenziell eine gute Idee, sie war innovativ und bedeutete bestimmt viel Aufmerksamkeit für die Tribute und den Stylisten, dennoch hatte sie bei dem Anblick ein ungutes Gefühl in der Magengrube. Sie hasste Feuer, hasste es, seit der Waldbrand im Distrikt gewütet hatte, als sie acht Jahre alt gewesen war. Viele Menschen waren damals umgekommen. Feuer war tödlich. Und sie wusste zwar nicht viel über Distrikt 12, aber Feuer hatte auch dort bestimmt schon Menschenleben gekostet. War dieses Kostüm dann nicht eher eine traurige Erinnerung? Vor allem, wo es doch so aussah, als stünden zwei Menschen in Flammen.

Finch war ein bisschen grün um die Nase, als sie nach der Hymne ohne ein Wort aufstand und still den Raum verließ, Chris dicht auf den Fersen. Der Junge linste unter seinen braunen Stirnfransen nach Victoria, doch diesmal reagierte die Avox nicht auf sein Lächeln. Leise begann sie, das Wohnzimmer aufzuräumen, nachdem ihn auch die Mentorin und der Betreuer verlassen hatten. Durch die großen Panoramafenster hatte man einen guten Blick auf die glitzernde Stadt, selbst hier im fünften Stock. Victoria war noch nie weiter oben gewesen, doch die Aussicht vom Dach musste herrlich sein. Herrlich und gemischt mit dem Gefühl von Freiheit.
Dennoch ging sie nach getaner Arbeit nach unten, in die Tiefen des Trainingscenters, noch unter die Krankenstation. Dort, wie vergraben, lagen die Quartiere der Avoxe, die in dem Trainingscenter arbeiteten. Man hatte wenig Zeit für soziale Kontakte, es sei denn, man wollte wertvollen Schlaf dafür opfern. Anfangs hatte sie es oft getan, zu sehr war sie ausgehungert gewesen nach Nähe, doch nun waren diese Nächte selten geworden. Zu wichtig war der Schlaf.

Nur leises Atmen war zu hören. Der Raum, den sich Victoria mit neun anderen Avoxen teilte, lag in einer Ecke des Gebäudes, unter der Erde. Ein niedriger, fensterloser Raum mit fünf Stockbetten, die nah beieinander standen. Sie selbst lag in dem Bett, das am weitersten von der Tür entfernt war, ganz am Ende des Raumes. Im unteren Bett, was ihr manchmal die Illusion einer geschützten Höhle gab. Wenn sie die Hand ausstreckte, konnte die den Lattenrost des oberen Bettes berühren, verrostete dünne Metallschnüre, auf der, wie bei ihr auch, eine durchgelegene Matratze lag. Leises, kehliges Schnarchen war zu hören. Orphelia schnarchte seit Victoria denken konnte, doch verursachte das Geräusch immer noch eine Gänsehaut.
Sie drehte sich in ihrem Bett auf die Seite, was dieses mit einem leisen Quietschen quittierte und starrte die Wand an.
Morgen begann das Training für die Tribute. Sie selbst würde beim Frühstück und beim Abendessen bedienen, das Mittagessen blieb den Avoxen glücklicherweise erspart. Doch Victoria würde schon früh aufstehen müssen und bei den Vorbereitungen des Frühstücks helfen, damit alles fertig war, sollte ein Tribut beschließen, besonders früh zum Frühstück zu erscheinen. Deshalb sollte sie eigentlich schlafen und nicht wach liegen. 
Seufzend drehte Victoria sich auf die andere Seite und strich sich die langen dunklen Haare aus dem Gesicht, die sie für die Arbeit stehts in einem festen Knoten trug. Die roten Haare des Avoxes im Bett neben ihr lagen ausgebreitet über dem Kissen und leichte Bewegungen bewiesen, dass das Mädchen schon tief und fest schlief. Lavina hieß sie, sie arbeitete oben im zwölften Stock. Noch nicht sehr lange, erst drei oder vier Jahre. Ein junges Mädchen war sie gewesen, als sie gekommen war, in der Nacht an Alpträumen leidend, in denen sie im Schlaf den Namen ihres verstorbenen Freundes geschrien hatte. Daniel hatte er geheißen. Victoria hatte Lavinia zu sich ins Bett gelassen, sie gehalten, bis sie schließlich schluchzend eingeschlafen war. Das Mädchen hatte ihr einmal pantomimisch dargestellt, was man mit ihrem Freund gemacht hatte. Auf der Flucht getötet, mit einem Speer durchbohrt. Im Gegensatz zu Victoria kam Lavinia aus dem Kapitol, war aber geflohen. Und damit zur Verräterin geworden.
Ich wollte weg von dieser Falschheit und der Grausamkeit, hatte das rothaarige Mädchen in den Staub geschrieben. Einfach nur weg. Aber vor dem Kapitol kann man nicht fliehen. Das wurde mir aber erst später klar.
Anfangs hatten die beiden Nächte damit verbracht, Fluchtpläne zu schmieden, stets vorsichtig, um nicht erwischt zu werden, hatten Strategien entwickelt, aus dem Trainingscenter zu entkommen. Zeichnungen im Staub, Pantomime mit den Händen. Es war fast wie ein Spiel gewesen, ein bisschen Freude in ihrem Leben. Es hatte sie zusammengeschweißt. Die anderen Avoxe hatten sich nicht beteiligt, jedoch wusste jeder, dass niemand sie verraten würde. Niemand wollte, dass einem Kollegen übel mitgespielt wurde. Doch natürlich hatten sie diese Pläne nie umgesetzt. Denn vor dem Kapitol kann man nicht fliehen.
Mit diesem Gedanken streckte Victoria eine Hand aus und berührte die Rechte des schlafenden Mädchens. Körperkontakt war tröstlich in der Stille. Und dann glitt sie schließlich in den Schlaf.

Es war noch stockdunkel draußen, als Victoria das Frühstück in das Speisezimmer im fünften Stock trug. Die Tische waren schon überladen mit Nahrungsmitteln, Brot, Aufstriche, Süßspeisen, Obst. Was das Herz begehrte. Sie nickte der Frau zu, die bei den Brotaufstrichen stand und die Frühstückenden dort bedienen würde. Sie selbst stellte sich an ihren üblichen Platz in der Ecke.
Chris war der erste, der den Raum betrat, gerade als die Sonne über die Häuser gestiegen war. Er wirkte ein wenig schüchtern, wie er fragte, ob er sich etwas nehmen dürfe, woraufhin Victoria leicht nickte. Daraufhin lud er sich den Teller mit verschiedenen Brötchen und ein wenig Schinken voll, setzte sich an den Tisch und begann zu essen. Immer wieder blickte er auf und sah die Avoxe im Raum an, es schien ihm nicht gänzlich zu behagen, beim Essen beobachtet zu werden.
Er hatte seine Trainingskleidung schon an. Ein Trainingsanzug mit roten, grauen und schwarzen Flächen und die Nummer 5 an beiden Schultern und am Rücken. Die übliche Trainingskleidung, bequem und trotzdem nicht zu locker.

Schließlich kam auch der Rest des Teams ins Zimmer. Finch hatte ihre roten Haare zu einem Knoten aufgesteckt und schien wieder völlig in Gedanken versunken zu sein. In ihren Augen lag ein finsterer Blick.
Ashleen wiederholte ihren Anweisungen für das Training. Sich mit einer Waffe vertraut machen und die Überlebensstationen nicht vergessen.
Auf dem Weg zum Aufzug sprach niemand ein Wort. Victoria hörte nur noch, wie Sean einige unverständliche Worte mit Ashleen wechselte, bevor der Aufzug abfuhr. Ashleen kam alleine zurück und in ihren Augen konnte Victoria erkennen, wie sie die Chancen der Tribute sah. 
Zwei weitere tote Kinder. Wie so viele zuvor. Und wer wusste, wie viele noch folgen würden.

Training – Friedenswächter James

Das Wasser plätscherte in das stählerne Becken, während James den Rasierschaum auf seinem Gesicht verteilte. Er drehte den Hahn ab und begann sich zu rasieren, viel sorgfältiger als sonst, denn heute war ein besonderer Tag. Heute war sein erster Tag im Dienst als Friedenswächter und er gehörte zu der Gruppe, die das Training der Tribute in der Turnhalle überwachen sollten.
Es war ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Regeln eingehalten wurden und bei eventuellen Handgreiflichkeiten einzuschreiten, immerhin befanden sich viele gefährliche Gegenstände in der Halle und man brauchte die Tribute bei den Spielen im Regelfall in einem Stück. James wusste, dass die Aufgabe der Friedenswächter bei den Spielen unterste Klasse war, niemand fand es besonders anziehend, tagelang in einer Turnhalle herumzustehen und die Tribute zu beobachten. Allerdings war der Job weitaus angenehmer, als in einen Außendistrikt geschickt zu werden und dort die gesamte Zeit als Friedenswächter, sowie die komplette Ausbildung abzusitzen. Zwanzig Jahre in Distrikt 12. Schon allein bei dem Gedanken daran schüttelte es James. Ihm konnte es noch passieren, dass er nach seiner Ausbildung in einen Distrikt versetzt wurde. Doch er hegte die Hoffnung, dass dies nicht passieren würde. Nein, da stand er sich eindeutig lieber in einer Turnhalle die Beine in den Bauch. Aber den Tributen live beim Training zusehen zu können, war auch eine gewisse Entschädigung. Schon als kleines Kind hatte er die Spiele gebannt verfolgt und besonders die Karrieros immer bewundert. Da war das Live-Training der einzige Grund, warum es ihn nicht störte, keine Ausbildungsstelle von Einfluss erhalten zu haben. Im Präsidentenpalast zum Beispiel.

Die weiße Uniform des Friedenswächters lag unangenehm steif an seinem Körper. Er fühlte sich ungelenkig und schwer und die ersten Schritte, die er tat, bewirkten, dass es ihn beinahe auf die Nase legte. Doch nach wenigen Schritten gewöhnte er sich langsam an das merkwürdige Gefühl des Eingesperrtseins und er hegte die Hoffnung, dass er spätestens am Ende der Woche gelernt hatte, sich etwas eleganter darin zu bewegen. Während der letzten Wochen hatte er die Uniform nicht gebraucht, eine Theoriestunde und eine Waffenübung hatte sich an die andere gereiht. Doch jetzt, bei seinem allerersten realen Einsatz war sie nun mal Vorschrift.

Mit dem Helm unter dem Arm betrat er, immer noch mit steifen Schritten, durch einen Hintereingang das Trainingscenter. Es war den Friedenswächtern nicht gestattet, die Lobby zu betreten, sie mussten durch den engen Gang, der vom Hintereingang zu einer Treppe führte, direkt in den Turnsaal gehen. Bevor er eintrat, setzte er sich noch den Helm auf und schob das Visier hinunter. Perfekt.
Erst wenige seiner Kollegen waren hier, aber das Training würde auch erst in gut einer Stunde beginnen. Also noch mehr als genug Zeit. Selbst die Spielmacher waren noch nicht da, obwohl das Buffet oben auf dem Balkon bereits aufgebaut wurde. Der köstliche Essensduft ließ James das Wasser im Mund zusammenlaufen, obwohl er gut gefrühstückt hatte.

Den Erklärungen Atalas zu den verschiedenen Trainingsmöglichkeiten folgte James nur mit halbem Ohr, zu sehr war er damit beschäftigt, sich die einzelnen Tribute genauer anzusehen. Alle trugen sie die gleiche Kleidung, die an Schultern und Armen mit ihrer Distriktnummer versehen war. Ihm fiel es nicht schwer, die Karrieros auszumachen, nicht an ebendiesen Nummern, sondern an ihren Gesichtsausdrücken. James hatte ein gutes Gefühl für andere Menschen und allein das Gesicht des großen Jungen, Cato, wenn er sich richtig erinnerte, zeugte von enormem Selbstbewusstsein. Wenn es nach diesem Jungen ging, so war James sich sicher, brauchte es die Spiele nicht, um zu zeigen, dass er der Sieger war. Und seinem gekonnten Umgang mit dem Schwert nach zu schließen, welches er gleich darauf zeigte, hatte er dafür durchaus seine Gründe. James hatte die Karrieros immer bewundert, für ihre Stärke, ihr Selbstbewusstsein, ihre Beliebtheit. Ihre Kraft. Er selbst war eher schmächtig und hatte bei den wenigen Prügeleien, zu denen er in der Schule gezwungen gewesen war, meistens den Kürzeren gezogen. Und gelernt, dass es besser war, sich zurückzuziehen und nicht aufzufallen. Auf diese Art hatte er schließlich begonnen, Menschen zu beobachten.
Doch es war seine Entscheidung gewesen, zu den Friedenswächtern zu gehen. Das Stoffgeschäft seiner Eltern hatte schwere Zeiten durchgemacht, die Einnahmen waren Großteiles ausgeblieben. Schulden häuften sich. Mit James‘ Eintritt zu den Friedenswächtern waren diese Schulden erlassen worden. Mit den Auflagen, dass er selbst sich den Friedenswächtern auf zwanzig Jahre verpflichtete. Doch auch diese Zeit würde vergehen. Und die Möglichkeit, als erste Praxisübung den Tributen live beim Training zusehen zu können, hatte ihn gereizt und er war der erste gewesen, der sich für diesen Auftrag gemeldet hatte. Auch, wenn James klar war, dass der Auftrag nicht für seinen Spaß gedacht war. Aber was sollte schon groß passieren?

Die Tribute hatten sich mittlerweile verteilt, die Karrieros waren die einzigen, die in einem Haufen zusammensteckten. Die beiden Tribute aus 12 standen ebenfalls zusammen bei der Knotenstation. James erinnerte sich noch sehr gut an die Parade, wo alle beide in Flammen eingehüllt durch die Stadt gefahren waren. Jetzt sahen sie weit weniger pompös aus, eher ein bisschen schwächlich. Doch der Junge hatte breite Schultern, vielleicht schlummerte doch etwas Kraft in ihm.
Das Mädchen aus 2, Clove, hatte sich zum Messerwerfen verzogen und schleuderte nun zielsicher ein Messer nach dem anderen ins Ziel. Der Junge aus 6, der in einiger Entfernung stand und selbst etwas unsicher zu sein schien, zu welcher Station er gehen sollte, sah ihr zu, in seinen Augen konnte James Angst sehen. Clove legte es eindeutig darauf an, die anderen Tribute einzuschüchtern. Ihr Lächeln, als sie der Station den Rücken zudrehte und ihr Blick auf den Jungen aus 6 fiel, bestätigte James seine Theorie. Arrogant, sich ihrer selbst sehr sicher. Aber das machte die Faszination aus, machte aus, dass James‘ Blick mehr an ihr, denn an dem Jungen aus 6 hängenblieb, der sich jetzt mit einem verunsicherten Blick von der Messerstation abwandte und zum Feuermachen ging.

Obligatorische Übungen, hatte Atala sie genannt. Schwertkampf, Klettern, Pflanzenkunde und Messerkampf. Bei der Kletterstation, wo die Tribute nacheinander an einer Art Leiter entlanghangeln mussten, zeigte sich, dass Kraft auch seine Tücken hatte. Cato schien sich zwar halten zu können, aber schwerfällig und langsam, während das kleine Mädchen aus 11 ohne Probleme auf die andere Seite kam und zwar mit einer Geschwindigkeit, dass James sprichwörtlich die Augen aus dem Kopf fielen. Körpergewicht hatte natürlich Vor- und Nachteile. Der Junge aus 8, zart und ohne jegliche Muskeln jedoch kam mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht gerade bis zur Hälfte, ehe er stürzte und dabei so ungeschickt landete, dass er sich den Fuß verletzte. James und einer seiner Kollegen halfen ihm, aufzustehen und geleiteten ihn nach draußen, wo bereits ein Arzt wartete. Dann nahmen die beiden Friedenswächter wieder ihre Plätze ein. Schwacher Tribut, dachte James. Wird wahrscheinlich noch am Füllhorn sterben, so wehleidig, wie er ist. Denn aus der Nähe hatte er die Tränen in den Augen des Jungen glitzern sehen.

In der Mittagspause durften auch die Friedenswächter eine kleine Mahlzeit einnehmen. Die Rüstungen mussten zwar angezogen bleiben, aber immerhin durften sie die Helme abnehmen.
„Und, Lucas, wie lautet deine Prognose?“ James erkannte Ethans fröhliche Stimme, als er den Speiseraum betrat. Ethan war ein Friedenswächter aus 2, dessen Eltern ihn gedrängt hatten, in den Militärdienst zu gehen, um nicht für den Rest des Lebens die knochenbrecherische Arbeit im Steinbruch verrichten zu müssen. James mochte Ethan, denn obwohl er aus einem Distrikt stammte, hatte er ausgesprochen ordentliche Manieren und war zudem schnell bereit gewesen, sich in die Gepflogenheiten des Kapitols einzuleben. Er war zudem ein Scherzbold, der sich selten ein Blatt vor den Mund legte (oder legen ließ) und damit seine Kollegen aus der Reserve zu locken wusste.
Lucas rieb sich nachdenklich über das Kinn und verengte die dunklen Augen zu Schlitzen. „Hmm, die Karrieros sowieso, bis auf den Jungen aus 4, der ist dieses Jahr eine Enttäuschung, ich verstehe nicht, warum sich niemand für ihn gemeldet hat.“ Er zuckte die Achseln und aß ein Stück seines Lammkoteletts. „Außerdem gefällt mir der Junge aus 11 sehr gut.“
„Es gibt aber nur einen Sieger, nicht sechs“, grinste Evelin. Die junge Frau hatte sich mit einem Tablett Eintopf mit Reis zu ihnen gesellt. Sie waren allesamt im ersten Jahr und hatten gemeinsam die Theoriestunden besucht.
„Es ist doch gerade ein halber Tag herum, Evelin.“ James strich sich ungeduldig die schwarzen Haare aus den Augen und warf Evelin einen raschen Blick zu. Diese lachte nur und begann zu essen. Auch Evelin stammte aus 2, aus einer Familie von Waffenschmieden und hatte ein derart umfangreiches Wissen über die verschiedenen Klingenarten, was sie anderen auch gerne demonstrierte, sodass James‘ Kopf an manchen Abenden buchstäblich geraucht hatte.
„Was haltet ihr von den anderen?“, fragte Lucas und tippte mit seiner Gabel am Teller herum.
„Würdest du damit aufhören“, fragte Ethan betont höflich. „Es nervt. Du machst das ständig.“ Betreten legte Lucas die Gabel weg. „Entschuldige bitte.“
„Na ja, die Karrieros schüchtern ein, die Kleine aus 11 klettert wie der Wind, die aus 12 basteln nur Fallen und das Mädchen aus 5 kann ziemlich schnell tippen“, fasste James zusammen.
„Was ist das eigentlich für ein Ding, was die aus 5 da ständig benutzt?“, fragte Evelin. „Wie heißt sie nochmal?“
„Finch“, sagte Lucas. „Und ehrlichgesagt weiß ich das auch nicht so genau, aber ich glaube, es geht irgendwie darum, Giftpflanzen auszuwählen, oder Giftpflanzen und ähnlich aussehende essbare Pflanzen zu Paaren zusammenzufügen, um sich die Unterschiede besser einprägen zu können.“ Er zuckte mit den Schultern. Auch die anderen hatten keine genauen Antworten.

Ein streng dreinblickender Friedenswächter befahl ihnen kurze Zeit später, ihre Plätze wieder einzunehmen. James beeilte sich, seinen Teller wegzubringen und seinen Helm aufzusetzen. Als er einen schnellen Laufschritt einlegte, wurde er jedoch zurückgerufen. Es war genau der Friedenswächter, der sie angewiesen hatte, zurück in die Halle zu gehen.
„Mag sein, dass für dich das alles hier neu und fürchterlich aufregend ist, Junge“, knurrte er. „Aber du hast dich dennoch angemessen zu verhalten. Geh normal und gerade, wie man es euch beigebracht hat.“ Sein Blick war unversöhnlich und James beeilte sich, diesmal mit soldatischen, steifen Schritten, seinen Platz in der Turnhalle wieder einzunehmen.
Der Rest des Trainingstages verging ohne größere Komplikationen. Die Tribute trainierten, die meisten davon allein. Die Karrieros waren auf Einschüchterung aus. Doch James war der Meinung, dass man dies nur dann versuchen sollte, wenn man auch wusste, was man tat.

James gähnte noch immer, während er Glimmer beobachtete, welche seit dem heutigen Trainingsbeginn am Bogenschießstand stand und bisher noch keinen einzigen Treffer erzielt hatte. James wusste, er sollte den Tributen nicht zuschauen, sondern sich auf das Gesamtbild konzentrieren. Allerdings konnte er nicht anders und seit gut zehn Minuten unterdrückte er bereits das Lachen. Warum gab Glimmer sich immer noch mit dem Bogen ab? Schon gestern Nachmittag hatte sie Stunden an dieser Übung verbracht, aber nie mehr als den Rand der Scheibe getroffen. Scheinbar hatte sie sich jedoch in den Kopf gesetzt, ihre gesamte Trainingszeit dort zu verplempern. Marvel, ihr Distriktpartner, stand neben ihr und warf gekonnt seine Speere. Glimmers nächster Pfeil ging hingegen schon wieder ins Nichts neben der Zielscheibe. James hatte normalerweise viel für die Karrieros übrig, auch, wenn die Tribute aus 1 oftmals sehr eitel waren und oft bei weitem nicht diese Art von Gefährlichkeit ausstrahlten, die einen guten Karriero ausmachte. Allerdings war Glimmer tatsächlich einer der unfähigsten Karrieros, den er je gesehen hatte. Nun gut, der Junge aus 4 hatte es noch schlechter getroffen, aber schon bei der Ernte hatte sich James gewundert, dass niemand seinen Platz eingenommen hatte. Der zwölfjährige Junge war noch nicht alt genug, um die Waffen wirklich gut zu beherrschen, zudem von zarter, schwächlicher Gestalt. Er war allein unterwegs, seine Distriktpartnerin hatte sich den Karrieros angeschlossen und ihn zurückgelassen. Nun, mit Kindern gab man sich in der Arena auch besser nicht ab.

Heute stand als Pflichtübung Schwertkampf auf dem Programm. Cato stand auf der Matte, schwang das Schwert, als sei es eine Feder und schlug den Übungspuppen Arme und Köpfe ab. Und das alles mit einer Leichtigkeit, die den anderen Tributen buchstäblich die Angst in die Gesichter trieb. Das Mädchen aus 10, in der Warteschlange an vorderster Stelle, wich zurück, als Cato die Matte verließ und betrat ebendiese erst, nachdem das Mädchen aus 4 ihr einen Stoß in den Rücken verpasst hatte, begleitet von hämischem Gelächter.
Doch just in dem Moment, als sie mit zitternder Hand das Übungsschwert in die Hand nahm (der Trainer schien gesehen zu haben, dass sie sich mit einer scharfen Klinge wohl eher selbst verletzt hätte) und vom Trainer die ersten Grundübungen gezeigt bekam, ertönte ein Schrei vom Ende der Schlange.
„Mein Messer! Wo ist mein Messer!“ Cato stapfte mit schnellen Schritten auf den Jungen aus 6 zu, der auf einer Bank saß und bei dem Anblick seines wutschnaubenden Mittributes aufsprang. Cato packte ihn an der Schulter, im selben Moment, als der Trainer der nächstgelegenen Station zwischen die beiden trat und versuchte, sie sanft aber bestimmt voneinander zu trennen. James und Ethan beeilten sich im Laufschritt zu den Streitenden hin, während der Junge aus 6 versuchte, den wutschnaubenden Cato zu übertönen.
„Ich habs nicht angerührt, ich schwörs!“
„ER hat mein Messer geklaut“, fauchte Cato, während Ethan ihn an der Schulter packte und James seine Arme auf den Rücken bog. Cato hatte Kraft, kämpfte aber dennoch nur halbherzig gegen die beiden Friedenswächter. Er war stark, aber nicht dumm und hatte bestimmt die schweren Schlagstöcke gesehen, die jeder Friedenswächter bei sich trug. Und sie waren angehalten worden, diese im Fall der Fälle auch zu benutzen.
Während Ethan und er den Jungen von seinem Mittribut wegzog, spuckte er noch aus: „Ich mach dich kalt. Warte nur, bis wir in der Arena sind. Du bist als erster fällig, also pass auf!“

„Cato ist stark, nicht dumm, aber unbeherrscht“, meinte Ethan später beim Abendessen. „Die Unbeherrschtheit könnte ihn den Sieg kosten.“
„Oder ihn ihm bringen“, wiedersprach Lucas und türmte sich sorgfältig eine weitere Portion Reis mit Bratensoße auf die Gabel. „Wenn er wie ein Berserker durch die Meute tobt, wird ihn nichts aufhalten können.“ Er schob sich den Bissen in den Mund, kaute und schluckte. „Doch, für mich ist er im Moment der Favorit“, fuhr er fort.
„Habt ihr das mit dem verschwundenen Messer eigentlich mitbekommen?“, fragte Ethan in die Runde.
Evelin verdrehte die Augen und sortierte das Besteck auf ihrem leergegessenen Teller neu. „Erklär mir, wie man das nicht hätte bemerken können. Ihr habt dermaßen Aufsehen erregt, da hätte man blind und taub sein müssen.
Ethan winkte ungeduldig ab. „Ja ja, aber ich meine nur damit, dass ich gesehen habe, wer das Messer genommen hat. Als ich Cato weggezogen habe, hab ich sie gesehen, oben in den Kletterseilen.“
„Und wen?“, fragte Lucas ungeduldig mit der Gabel auf den Teller tippend.

„Du machst es schon wieder“, murmelte Evelin, während Ethan grinste. Lucas Entschuldigung ging in dem Lachen unter, dass seine Antwort untermalte. „Die Kleine aus 11. Keiner hat gesehen, wie sie ihm das Messer genommen hat. Und sie war so schnell weg, dass Cato nicht mal auf die Idee gekommen ist, jemand anderes als der Sechser könnte es gewesen sein. Das sind die wahren Fähigkeiten, die man in der Arena braucht. Schnelligkeit, Schläue und Mut. Nicht blinde Kraft.“
„Das hast du mitbekommen?“, fragte James erstaunt. „Ich war mehr mit Cato beschäftigt.“
„Na ja, du standest auch mit dem Rücken zu ihr“, gab Ethan zu. „Und warst damit beschäftigt, Catos Fäuste von der Sechs fernzuhalten.“
„Aber Schnelligkeit nützt dir nichts, wenn du mal in der Falle sitzt“, gab James zu bedenken. Immerhin war das Mädchen körperlich sehr schwach, zudem hatte er sie in den beiden Tagen kein einziges Mal an einer Kampfübung gesehen, die nicht obligatorisch war. Nur die Schleuder beherrschte sie einwandfrei. Aber was war ein kleines Mädchen mit Schleuder gegen jemanden wie Cato? „Da müsste sie schon wirklich gut sein. Und Kämpfen aus dem Weg gehen. Möglich ist es, aber sehr schwierig.“ Beinahe unmöglich. Wer nicht kämpfen konnte, würde früher oder später ausgeschaltet werden. Außer, er versteckte sich bis zum Schluss. Doch er war sich sicher, dass Rue, gerade war ihm der Name wieder eingefallen, sich nicht verstecken würde. In dem kleinen Mädchen schlummerte Kampfgeist.

Der letzte Tag war angebrochen. James war mit guter Laune am Trainingscenter eingetroffen und selbst die Uniform, in der er sich inzwischen viel leichter bewegen konnte, konnte seine Laune nicht trüben. Heute war der letzte Tag dieses Einsatzes, morgen würde er schon wieder in der Akademie sitzen und dann mit einem ihm zugeteilten Vorgesetzten in den Straßen der Stadt für Ordnung sorgen. Ganze vier Wochen lang. Bei dem Gedanken verzog er das Gesicht. Ja, die Zeit im Trainingscenter war kurz und im Kapitol für Ordnung sorgen war allemal besser, als in einem Außendistrikt zu sitzen. Aber dennoch gab es schöneres.
„Du machst es für deine Eltern“, murmelte er, als er die Trainingshalle betrat und seinen Platz einnahm. „Und zwanzig Jahre vergehen auch. Irgendwann.“
Bis zur Mittagspause hatte sich nichts Besonderes ereignet. Die meisten der Tribute schienen darauf aus zu sein, sich in letzter Minute noch einige Fähigkeiten einprägen zu wollen. Die Klügeren von ihnen hatten sich zumindest mit einer Waffe vertraut gemacht, wie der Junge aus 9, dessen Bewegungen beim Messerkampf schon viel geschmeidiger aussahen als am Anfang. Jedoch wusste James, dass es nicht reichen würde. Er war noch zu zögerlich im Umgang mit der Waffe und er würde im Zweifelsfalle nicht schnell genug sein.

Nach dem Essen beobachtete James weiterhin die Tribute. Es schien ein ruhiger Tag zu werden, alle waren in ihr Training vertieft und nicht an Streitereien interessiert. Zumindest fast alle.
James konnte die Szene nicht genau erkennen, da sie auf der anderen Seite der Halle stattfand, aber irgendwas schien die Karrieros dort höchst faszinierend zu finden. Als jedoch ein ohrenbetäubendes Klirren durch die Turnhalle hallte, beobachtete James belustigt, wie die fünf Tribute leicht erstarrten. Und dann erkannte er auch den Gegenstand ihres Interesses. Der Junge aus 12, welcher offensichtlich gerade den schweren Medizinball weit über die Zielmarkierung hinausgeworfen hatte. James tauschte einen Blick mit Lucas, welcher näher an der Medizinballstation stand als er und erkannte in den Augen seines Kollegen eben das Gefühl, welches gerade in ihm war. Anerkennung.

Ihnen gebührt Anerkennung, dachte er später, als er auf dem Heimweg war. Anerkennung dafür, dass sie sich nicht von vornherein abschrieben und den Karrieros zeigten, was sie konnten. Zumindest manche. Die den Mut hatten, ihr Ding durchzuziehen, ohne sich einschüchtern zu lassen. Oder dies zumindest nicht offenzeigten.
Der dumpfe Geruch nach Stoffen drang ihm in die Nase, als er die Haustür öffnete. Schwach, aber dennoch immer allgegenwärtig.
Genauso allgegenwärtig wie der Geruch nach Metall in der Trainingshalle, dem Klirren von Waffen und das Wissen, dass sich in wenigen Tagen der Geruch von Blut unter diese mischen würde.
Wenn es in die Arena ging. Oh, was war er gespannt.

Einzelbewertungen - Wettbuchmacher Noah

Die Abendsonne tauchte das kleine Dorf in warmes Licht, als Noah mit schnellen Schritten in Richtung seines Hauses ging. Die Erde des Weges wirkte durch die Bestrahlung rötlich und für eine Sekunde blitzte ein Bild an Noahs innerem Auge vorbei. Blut, das den Sand rot färbte, zertrampelter Boden, ein Körper, starre Augen. Und überall Blut … Mit Mühe gelang es ihm, die Bilder zu verscheuchen und kaum, dass er zu Hause war, legte er sich seine Unterlagen zurecht, um sich auf andere Gedanken zu bringen.
Seine Unterlagen, alles, was er in den letzten Tagen zu den Tributen gesammelt hatte. Die Wetteinsätze der Ernte und die ersten Wetten auf die Einzelbewertungen, welche morgen stattfinden würden. Ein gutes Geschäft hatte er gemacht, durch die unerwartete Wendung in Distrikt 12 hatten einige Leute ihre Wetten verloren. 
„Aria, sieh mal!“ Er hob den gefüllten Beutel mit Geldstücken. „Unser Abendessen für heute ist gesichert.“ Seine Stimme verhallte im dunklen Zimmer, ungehört, unbeachtet. Noah legte den Beutel vorsichtig wieder auf den Tisch. Die Geldstücke in seinem Inneren klimperten und für den Mann war dies das Geräusch der Sicherheit. Essen auf dem Tisch, kein Hunger, vielleicht sogar etwas Fleisch für Aria. „Hörst du das, Aria?“, fragte er in die Dunkelheit. „Wenn es gut läuft, können wir nach den Spielen uns vielleicht sogar einige Monate lang Fleisch leisten. Ich weiß, dass du es nicht magst, wenn ich wette, aber du kennst meine Gründe. Ich werde diese Diskussion nicht nochmal mit dir führen.“ Ich weiß, dass du es nicht magst, wenn ich wette, aber du kennst meine Gründe. Ich werde diese Diskussion nicht nochmal mit dir führen.“ 
Er verstaute den Beutel sorgfältig unter der Matratze des ungemachten Bettes. „Niemand soll uns den wegnehmen, Aria.“ Wieder verhallte seine Stimme in der Stille des kleinen Raums. Das Zimmer maß nicht viel mehr als vier Quadratmeter, das winzige Bett und der Tisch mit Stuhl passten kaum rein und was die Feuerstelle anging, man hatte schon immer aufpassen müssen, beim Kochen das Haus nicht in Brand zu stecken. Oder wohl eher, die Hütte.
Der Boden war von Schmutz bedeckt und die Feuerstelle schon lange kalt und leer. Seit dem letzten Regen war sie überdies feucht, es würde sich beinahe als Unmöglichkeit herausstellen, dort in nächster Zeit ein Feuer zu entzünden. Aber Noah hatte dies ohnehin nicht vor.
Seine Rippen konnte man beinahe durch das schmutzige Hemd sehen, sein Gesicht war eingefallen und knochig und seine früh ergrauten Haare klebten ihm fettig am Kopf, doch seine braunen Augen leuchteten in einer Art kindlichen Freude, als er mit einem seiner wertvollen Streichhölzer die Kerze entzündete, die vor dem Foto seiner Tochter auf dem Tisch stand. Die Kerze, einer seiner größten Schätze.
„Siehst du, Aria?“ Er breitete seine Unterlagen aus. „Oliver hat heute seine Quote erhöht, er meint, alle Karrieros bekämen mindestens zehn Punkte. Oh, und Daniel hat heute gewettet, dass das Mädchen aus 12 eine Überraschung bei den Punkten bereithält. Bin gespannt wie das wird, du?“
Die braunen Augen seiner Tochter blickten unergründlich aus dem Bild.

Die Einzelbewertungen standen heute Abend an, doch bis zur Übertragung würde Noah noch auf dem Feld beschäftigt sein. Das Getreide glänzte goldgelb in der Sonne, so weit das Auge reichte. Noahs Gesicht glänzte vor Schweiß, genau wie die aller anderen Menschen auf dem Feld, welche in der Hitze das Getreide ernteten. Die Sense blitzte auf, wann immer Noah sie bewegte und die Halme hinter ihm lagen bereits in einer ordentlichen Reihe am Boden. Hinter ihm und den anderen, die das Getreide schnitten, waren Männer und Frauen damit beschäftigt, die am Boden liegenden Getreidehalme zu Gaben zu binden und auf einen Wagen zu werfen. Früher hatte seine Tochter ihn immer unterstützt, hatte sein geschnittenes Getreide eingesammelt und zu Gaben gebunden, kaum, dass sie richtig hatte laufen können. Noah hatte seine Tochter stehts mitnehmen müssen, hatte es sich nicht leisten können, der Arbeit fernzubleiben. Bei den meisten anderen Arbeitern des Distrikts war es während der Erntezeit nicht anders. Jede Hilfe wurde gebraucht. Und Aria war stets geduldig und mit Begeisterung bei der Sache gewesen, auch, als Noah ihr beigebracht hatte, die Sense zu schwingen und wie man mit möglichst wenig Kraft möglichst viel Getreide abschneiden konnte. Das hatte ihr besonders viel Spaß gemacht und so hatte sie ihm bei der Arbeit geholfen. Bewacht von Friedenswächtern, die allerdings nur beobachteten und selten eingriffen. Die Menschen erledigten ihre Arbeit, ohne aufzubegehren. Und ein Kind war keine Bedrohung, sondern bloß eine weitere Arbeitskraft, eine Hilfe, wenn sie gut mitarbeitete. Und wer früh mit der Arbeit anfing, lernte auch früh, sie richtig auszuführen.

Der Tag verging langsam, doch als die Sonne tief stand und die Arbeiter auf dem Feld ihre Wagen zu den Lagerhäusern geschleppt und dort geleert hatten, machten sie sich auf zum Hauptplatz. Morgen würden sie weiterernten und Ende der Woche konnten sie vielleicht schon mit dem Dreschen beginnen. Dann würde das Getreide zu den Mühlen im Süden von Distrikt 9 gebracht werden, wo Mehl daraus gemacht wurde. Das meiste davon würde ins Kapitol wandern. Die leeren Halme jedoch würden zu Ballen gebunden und als Stroh nach Distrikt 10 geschickt werden. Auf anderen Feldern wurden auch andere Pflanzen angebaut, Sonnenblumen beispielsweise, deren Kerne zu Öl gepresst wurden. Irgendwo im Osten des Distrikts gab es auch eine geringe Anzahl an Feldern, auf denen Hopfen für die Bierherstellung angebaut wurde. Für das Kapitol selbstverständlich.

Nach der Arbeit machte sich Noah auf den Weg nach Hause, hielt nur kurz beim Brunnen an, um sich den Schweiß von der Stirn zu waschen und beeilte sich dann, in seine Hütte zu kommen. Er musste die Unterlagen holen, wo er die Wetten verzeichnet hatte, denn immerhin hatten einige Leute auf mögliche Ereignisse von heute gewettet. Und vielleicht kamen noch mehr dazu. Er sammelte seine Zettel und sein Schreibzeug ein, welches er aus dem Versteck unter dem Bett herausgeholt hatte und steckte es in die Tasche, wobei er nicht auf die Schmutzflecken achtete, die das Papier abbekommen hatte. Dann machte er sich auf den Weg zum Hauptplatz.
„Was denken Sie“, sprach er eine junge Frau mit hellbraunem glatten Haar an, welche am Rand der Menschenmenge auf dem Platz ihres Dorfes stand. „Was wird die höchste Bewertung sein.“
„Ich wette nicht“, sprach sie freundlich, aber bestimmt. Sie machte eine abwehrende Handhaltung und wich ein paar Schritte zurück, sodass Noah sich wieder zurückzog. Er kannte das schon. Die meisten Menschen wollten nicht wetten, sie fanden es abstoßend, dass Leute es taten. Doch Noah konnte nicht anders. Er musste es einfach. Es hielt ihn davon ab, genauer über die Spiele nachzudenken. Und vor allem bei den wohlhabenderen Leuten und den Friedenswächtern fanden sich immer ein paar Leute, die sein Angebot annahmen.

„Noah!“, hörte er plötzlich jemanden aus der Menge rufen. Es dauerte nicht lange und Noah entdeckte die alte Frau mit dem grauen Haarknoten und der gebräunten Haut.
„Grace.“ Er umarmte die alte Frau stürmisch. „Ich habe dich jetzt schon lang nicht mehr gesehen, wie geht es dir?“
„Wie es einem so geht“, sprach Grace. „Ich war heute bei Emilys Grab und habe die Rosen zurückgeschnitten. Aber das Unkraut sollte gezupft werden.“
Noah wirkte daraufhin etwas geknickt. Er war zu lange nicht mehr bei dem Grab seiner Frau gewesen, die gestorben war, als ihre gemeinsame Tochter zur Welt gekommen war.
„Ich werde morgen gleich hingehen und nach dem Rechten sehen“, versprach er seiner Schwiegermutter. „Und ich werde auch das Unkraut auszupfen.“
Doch Grace schien ihm nicht richtig zuzuhören. Ihr Blick war auf die Papiere in seiner Hand gefallen, den stumpfen Bleistiftstummel, die Notizen. „Warum machst du das?“, fragte sie mit belegter Stimme. „Es ist nicht richtig, mit dem Tod von Kindern Geld zu verdienen und du …“ Noah bedeutete der Frau hastig, still zu sein. 
„Sowas darfst du nicht sagen, Grace“, flüsterte er. „Wenn dich wer hört … und ich kann nicht anders. Außerdem bedeutet es gutes Geld. Gestern habe ich so viel gewonnen, dass Aria, wenn sie wiederkommt, wahrscheinlich keine Tesserasteine mehr brauchen wird. Ich werde so viel sparen wie es nur geht.“
Graces Blick wurde düster. „Noah“, sprach sie leise. „Noah, Aria kommt nicht zurück. Es tut mir so leid, aber sie wird nicht zurückkommen, das weißt du. Sie lebt nicht mehr, sie starb in …“
„Sie ist erst tot, wenn ich sie gehen lasse“, widersprach Noah. „Solange ich sie lebendig halte, lebt sie noch.“
Graces Hand zitterte, als sie sie auf die Schulter des Mannes legte. „Noah, du musst sie gehenlassen. Es frisst dich noch auf.“
„Ich kann nicht“, entgegnete Noah. „Das musst du verstehen, ich kann nicht aufhören, an sie zu denken, ich verliere sie sonst. Wenn ich mit ihr spreche, ist sie lebendig. Sie sagte mir schon, dass ich nicht mehr wetten soll, aber ich kann nicht anders. Ich muss, verstehe das doch, Grace, bitte.“ Sein flehender Blick traf auf den der alten Frau, welche seufzte.

Die Menge wurde still, als sich die Bildschirme anschalteten und Ceaser Flickerman erschien, hinter seinem Tisch sitzend.
„Willkommen, Menschen von Panem, zu den diesjährigen Einzelbewertungen. Die Tribute werden mit einer Punktzahl von eins bis zwölf bewertet. Die Spielmacher möchten wie immer bestätigen, dass die Bewertungen fair und frei von Vorurteilen, Einmischungen oder Geschehnissen außerhalb des Trainings entstanden sind.“ Er legte eine kurze Pause ein und lächelte. Dann senkte er den Blick auf das Papier.
„Beginnen wir mit Distrikt 1. Marvel, mit einer Punktzahl von 9.“ 
Noah grinste. Oliver würde bei dieser Sache schön durch seine Finger schauen, seine Wette hatte er bereits verloren. Glimmer, welche gleich danach an der Reihe war, bekam sogar nur eine acht. 
„Aria, wir machen heute ein gutes Geschäft“, erklärte er seiner Tochter. Doch natürlich kam keine Antwort.
„Cato, mit einer Punktzahl von 10. Clove, mit einer Punktzahl von 10.“ So ging es weiter. Die meisten Punktzahlen waren nicht außergewöhnlich spannend, die üblichen drei bis fünf Punkte. Die beiden Tribute aus seinem Distrikt machten dabei keine Ausnahme. Annie bekam eine fünf, Immanuel eine vier. Noah hatte beide Kinder nicht gekannt, sie stammten aus anderen Teilen des Distrikts. 

Noah war schon bei den ersten Wettern, die ihre Gewinne kassierten, oder die Beträge abgaben. Währenddessen hörte Noah immer wieder mit halbem Ohr zu. Rue aus 11 hatte tatsächlich eine sieben bekommen. Aria hatte damals auch eine sieben bekommen, sie war sehr geschickt gewesen im Umgang mit der Sichel. Eine Sieben, die jedoch nicht verhindert hatte, dass … doch Noah brach den Gedanken ab.
Überraschte Rufe lenkten ihn vorübergehend ab und als er den Blick auf die Leinwand richtete, sah er das Gesicht von Katniss, mit einer Elf daneben. Elf Punkte! Das musste Rekord für Distrikt 12 sein! Wenn nicht sogar überhaupt, zumindest erinnerte sich Noah nicht daran, jemals zuvor eine Elf bei den Punkten gesehen zu haben.
„Was meinst du, Aria“, murmelte er leise vor sich hin. „Gilt das schon als Überraschung? Meinst du, Daniel hat damit die Wette gewonnen?“ Er merkte kaum, wie die Leute neben ihm ihn halb irritiert, halb mitleidig ansahen, er war viel zu sehr in die Debatte verstrickt. Klar, eine Elf war eine Überraschung, aber galt die Wette da als gewonnen? Er würde ja sagen, ja, aber er wollte auf Nummer sicher gehen. Aria hatte immer eine gute Beurteilungsgabe verfügt, sie könnte ihm bei diesem Problem jetzt bestimmt helfen. Wie oft hatte sie ihm geholfen, das Getreide zu rationieren, sodass sie immer einige Tage länger durchhielten, als viele Nachbarn. Aber man musste zugeben, dass sie nur zu zweit gewesen waren und damit weniger Probleme auftraten, als wenn man zu siebt in einem Raum lebte.
„Aria?“ Er sprach lauter nun. „Aria! Bitte, ich brauche deine Hilfe. Ohne dich kann ich das nicht entscheiden.“ Einige Leute in seinem Umfeld begannen leise miteinander zu flüstern. Die Menge löste sich bereits auf, die Hymne von Panem erklang aus den Lautsprechern. Die Einzelbewertungen waren vorbei, die Menschen machten sich nun auf den Weg nach Hause. Noah merkte kaum, wie manche Leute ihm Blicke zuwarfen, teils genervte, teils mitfühlende.
„Komm schon, Aria. Jetzt sei nicht beleidigt. Ich weiß, du willst nicht, dass ich wette, aber es muss sein, du musst es verstehen. Bitte!“ Seine immer lauter werdenden Rufe übertönten schon die Geräusche der Menschen, die den Heimweg antraten. 
Doch dann spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Erschrocken zuckte er zusammen, doch dann erkannte er die Person. „Noah, Noah beruhige dich.“ Graces Stimme klang sanft, aber dennoch bestimmt, als sie den Mann zu sich zog und ihm schließlich tief in die Augen sah. „Beruhige dich.“
„Sie antwortet nicht mehr, Grace“, sagte er mit panischer Stimme. „Immer habe ich sie gehört, aber jetzt nicht mehr. Ich kann nicht mehr, Grace, bitte.“ Seine Schwiegermutter nahm in den Arm. Er schluchzte an ihre Schulter, weinte alle Tränen, die sich seit Jahren in seinem Körper angestaut hatten. Und Grace hielt ihn einfach nur fest, gab ihm ein wenig Halt in seinem Kummer.
Nach einer Weile lösten sie sich voneinander. „Komm mit mir“, sagte Grace und nahm seine Hände in ihre. Sie fühlten sich warm an. Und Noah folgte ihr.

Der Friedhof lag still da, nur einzelne Vögel sprangen im hohen Gras herum und suchten Futter. Die Bäume warfen lange Schatten über die Reihen der Grabsteine. Einige, jeder ein Spiegelbild des anderen, standen an der Südwand. Helle, einfache Grabsteine, etwa sechzig Zentimeter hoch. So viele Gräber, so fürchterlich junge Kinder. Zwölfjährige, die starben, bevor sie leben konnten. Achtzehnjährige, die noch im letzten Moment gezogen wurden.
Noah ging langsam durch die Reihen, Grace neben ihm, schweigend. Die Rose in seiner Hand stach ihm in die Finger, doch er merkte es nicht. Die Welt schien ihm fern. Er kannte den Weg, obwohl er ihn bisher nur einmal gegangen war. Vor fast fünf Jahren.
Fast am Ende der Reihe blieb er schließlich stehen. Für einen Moment geschah wirkte er wie erstarrt, in seinen Augen konnte man das Grauen sehen, dann sank er vor dem Grab auf die Knie.
 

Aria Harsen
Ehrenvoll gefallen für Distrikt 9 in den 69. Hungerspielen.


Seine Finger umklammerten den Stiel der Rose noch fester, die Stacheln bohrten sich tief in seine Hand, einzelne Blutstropfen landeten auf der Erde zu seinen Knien.

Aria lief über den Sand, ihre Füße versanken bei jedem Schritt bis zu den Knöcheln in dem weichen Untergrund. Sie lief, man konnte nicht sehen, ob sie vor etwas weg-, oder auf etwas zulief. Doch als sie über einen Stein stolperte und der Länge nach hinfiel, holten ihre Verfolger sie ein.
Drei Karrieros, bis an die Zähne bewaffnet. Das dreizehnjährige Mädchen hatte trotz der kurzen Sichel in ihrer Hand keine Chance. Einer von ihnen hob das Beil. 
Das Blut färbte den Sand rot und die Spritzer zogen sich meterweit. Die Kanone ertönte. 


Noah bemerkte die Tränen erst, als sie bereits in Sturzbächen über seine Wangen rannen. „Es tut mir so leid, Aria“, flüsterte er. „So fürchterlich leid.“ 
Grace sank neben ihm nieder und nahm ihn in die Arme. So knieten sie eine ganze Weile einfach nur da.

„Ich werde mit den Wetten aufhören“, erklärte Noah schließlich leise und mit belegter Stimme. „Es ist nicht richtig. Mir hätte es auch nicht gefallen, wenn jemand auf Aris Tod gewettet hätte.“ Demjenigen hätte Noah wohl eher sämtliche Gliedmaßen ausgerissen.
„Sie bleibt in deiner Erinnerung lebendig“, flüsterte Grace. „Sie wird nie vergessen werden. Aber Aria hätte nicht gewollt, dass ihr Vater ein solches Leben lebt. Und ich bin immer für dich da. Das weißt du.“
Noah nickte leicht. Dann beugte er sich vor und legte er die Rose auf Arias Grab. Die roten Blätter wirkten auf der schwarzen Erde wie Blutstropfen. Er hätte eine andere Blume nehmen sollen. „Ruhe in Frieden, mein kleines Mädchen.“
Er erhob sich und für eine Weile standen sie nur da. 
„Wie lange soll das noch gehen“, fragte er mit brüchiger Stimme. „Sieh dir die Gräber hier an. So viele tote Kinder. Und das in jedem Distrikt.“ Er schluckte.
„Irgendwann ist es vorbei“, Graces Stimme war zittrig. „Ich verspreche es dir.“ Doch sie wusste, sie würde nicht in der Lage sein können, dieses Versprechen auch zu halten.

Interviews – Friseurmeisterin Josephine

Der Lärm der laufenden Föhns mischte sich mit dem Absatzgeklapper der Passanten, welches aufgrund der offenen Tür im Salon zu hören war. Die Hauptstraße vor dem Geschäft war immer noch voll mit Menschen, die sich in die Richtung des großen Platzes bewegten.
„Man sollte meinen, die Leute würden es vorziehen, in behaglicher Atmosphäre den Interviews zu lauschen, anstatt sich aneinandergedrängt wie Sardinen auf dem Platz die Beine in den Bauch zu stehen.“ Abfällig blickte Josephine durch die Scheiben, bevor sie sich rechts neben ihrer Kundin platzierte und mit geübten Scherenschnitten die Stirnfransen in scharfe Zacken schnitt. „So, du bist fertig, Alicia.“
Alicia drehte und wendete sich vor dem Spiegel und bewunderte ihre neue Frisur. Die blaue Farbe stand in schönem Kontrast zu ihren roten Augen, für welche Josephine allerdings wie immer nur einen abfälligen Blick übrighatte. Aber natürlich nur insgeheim, immerhin war Alicia immer noch ihre Kundin – und zwar eine der besten.

Josephine hatte sich nie beschwert, am Tag der Interviews in ihrem Salon arbeiten zu müssen, im Gegenteil, es hatte sich zu einer Tradition entwickelt, sich mit ihren Stammkundinnen gemeinsam die Interviews anzusehen. Nach dem Haare schneiden, dem Färben und dem maniküren der Nägel ihrer Kunden würden sie alle in einer Gruppe im Verkaufsraum sitzen und bei Kaffee, Sekt und Mehlspeisen das Event gemeinsam genießen. Wobei Josephine sich meistens eher für die Aufmachung der Tribute interessierte, als für die Jugendlichen selbst.
Josephine hatte nur eine Angestellte, nämlich ihre Tochter, die sich um das leibliche Wohl der Gäste kümmerte, doch niemandem würde sie es zutrauen, ihre eigentliche Arbeit des Beratens, des Schneidens und Färbens, sowie des Manikürens zu übernehmen. Sie machte alles selbst, weswegen ihre Warteliste lang war – und ihre Preise gesalzen. Aber wer konnte sich in dieser Stadt schon rühmen, bei ihr bedient worden zu sein, wo nur das Beste vom Besten gemacht wurde. Die Führer des Kapitols wussten um ihr Talent, nicht umsonst hatten sie ihr einen Platz als Stylistin für Distrikt 1 angeboten. Sie hätte nicht bei Distrikt 12 starten müssen, als Neuankömmling unter den alteingesessenen Stylisten.
Doch sie hatte abgelehnt, offiziell hatte sie es mit zu viel Arbeit in ihrem Salon begründet, weiters hatte sie sich für die Ehre bedankt, jedoch gesagt, sie wolle sich den Zauber der Hungerspiele bewahren und jedes Jahr aufs Neue überrascht werden.
Insgeheim jedoch hatte sie noch ganz andere Gründe. Sie war nicht lebensmüde. Sie wusste, was mit Stylisten passierte, die ihre Arbeit nicht richtig gemacht hatten, denen Fehler passiert waren (nicht, dass sie selbst welche machen würde), die zu alt wurden. Manche starben, manche wurden auch bestraft und die, die zu alt wurden, versanken in dem Dunst der Vergessenheit. Josephine war schon lang genug im Geschäft, sie hatte Generationen von talentierten Stylisten und Stylistinnen gesehen, welche nach zwei oder drei Spielen nie wieder auftauchten. Natürlich gab es auch wiederkehrende Gesichter, die seit vierzig oder mehr Jahren für ein und denselben Distrikt verantwortlich waren, doch das wollte Josephine nicht.
„Ich habe mich nicht abgerackert, um diesen Salon aufzubauen, um ihn jetzt zu vernachlässigen“, pflegte sie zu sagen.
Das Kapitol stand ihr allerdings freundschaftlich gegenüber. Man wusste schließlich nicht, ob sie sich nicht doch noch anders entscheiden würde … Josephine wusste, sie brauchte die Stelle nur zu verlangen, sie würde sie bekommen. Nicht umsonst galt sie als eine der exklusivsten Frisöre der Stadt. Sogar die High Society des Kapitols kam zu ihr.

„Die Menschen wollen eben live bei den Interviews dabei sein, Mutter.“ Ihre Tochter Felicia, welche einem Mann, der am Fenster wartete, gerade ein Glas Sekt gereicht hatte, sah sehnsüchtig aus dem Fenster. Es war offensichtlich, dass sie sich eben dies selbst sehnlichst wünschte, doch Josephine war wie jedes Jahr hart geblieben. Sie brauchte Felicia, um die Gäste zufriedenzustellen, sie selbst konnte (oder wollte) sich nicht auch noch um die wartenden Gäste kümmern, oder ihnen die Haare waschen. 
„Das mag sein, Mädchen, ich jedenfalls halte nichts davon. Man sitzt weit weg und bekommt von der Aufmachung der Tribute nichts mit.“ Josephine rümpfte die Nase. „Auch, wenn es da nicht viel Sehenswertes gibt.“
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Felicia die Augen verdrehte. „Und das habe ich genau gesehen. Verschwinde ins Hinterzimmer und mach Kaffee. Jetzt!“
Felicia huschte auf leichten Füßen ins Hinterzimmer, dabei löste sich eine braune Strähne aus ihrem lose geflochtenen Zopf, der ihr fast bis zur Taille fiel. Wie immer schüttelte Josephine nur den Kopf über diese Nachlässigkeit, sie würde sich das Mädchen einmal vornehmen müssen. Eigentlich könnte sie an ihr die neuesten Frisuren ausstellen … das würde eine gute Werbung machen. Und das dichte lange Haar ihrer Tochter eignete sich perfekt dafür. Anders als ihre eigenen feinen Haare, die sie meistens mit modischen Perücken verdeckte. Allerdings waren diese meist nicht halb so knallig, wie die ihrer Kunden, sondern in einer tiefen Ebenholzfarbe gehalten. Josephine war eine Verfechterin des stilvoll Eleganten.

„Entschuldige, dass du warten musstest, Hector.“ Sie wandte sich ihrem Kunden zu, der bereits mit gewaschenem Haar auf sie wartete. „Wie üblich?“
Der junge Mann nickte und Josephine machte sich daran, das von Felicia frisch gewaschene Haar mit verschiedenen Färbemitteln zu bearbeiten.
Eine Stunde später konnte Hector seine Haarfarbe bewundern. Das tiefe grün mit den dunkelgrünen Strähnen passte hervorragend zu seinem Augenmakeup in der selben Farbe. Die Haare selbst hatte Josephine etwas gekürzt und lagen ihm nun in gekonnt verwuschelten Strähnen am Kopf. So, wie der Mann es seit über acht Jahren trug. Josephine konnte sich zumindest nicht daran erinnern, ihn jemals mit einer anderen Haarfarbe oder anderer Frisur gesehen zu haben. Schon, als er zum ersten Mal bei ihr aufgetaucht war, hatte er auf genau diese Frisur und Farbe bestanden.

Die Stunden vergingen und allmählich wurde es spät. Die Interviews würden bald beginnen und Felicia hatte bereits begonnen, die Sessel zu einer Gruppe zusammenzustellen, sodass man den Fernseher gut im Blickfeld hatte. Sie versorgte die Kunden, die noch geblieben waren, mit allerlei Erfrischungen. Josephine hatte sie zudem vor einer Stunde in die Konditorei am nächsten Eck geschickt, um Mehlspeisen zu besorgen. Immerhin wollte sie ihre Gäste bei ihrem traditionellen Abend im Zeichen der Interviews gut versorgt wissen.

Es war spät geworden, vor den Schaufenstern war der Himmel hinter dem Schein der Stadt dunkel geworden. Doch wie üblich zeigte sich kein Stern, das Licht der Stadt verschluckte alles. Josephines Salon war immer noch hell erleuchtet und im Verkaufsraum hatten sich die Stammkunden auf Sessel niedergelassen, mit einem Glas Sekt in der Hand, vor sich Kaffeetassen und warteten auf den Beginn der Interviews.
Felicia huschte immer wieder ins Hinterzimmer, um den Gästen Kaffee oder Erfrischungen zu besorgen. Josephine, welche in einem Sessel im Zentrum ihrer Gäste saß, beobachtete sie genau. Sie sollte ja nichts falsch machen und die Kunden, die geblieben waren, möglichst gut versorgen. So gehörte es sich.
„Ich bin gespannt, ob Emmilia die Taille für die Tribute immer noch so hoch ansetzt“, flüsterte Alicia. „Eigentlich sollte man die Stylistin verklagen, für Vergiftung des Blickfelds. So fürchterlich altmodische Kleider.“
Josephine schwenkte das Glas in ihrer Hand, der Wein hinterließ rote Schlieren am Glas. „Von einer Stylistin, die seit vierzig Jahren ein und dasselbe Kostüm für die Wagenparade verwendet, erwarte ich nichts mehr. Sie ist in ihrer Zeit stehengeblieben und hat nie gemerkt, dass diese voranschreitet und die Zeiten sich ändern. Und mit dieser auch die Geschmäcker der Zuschauer. Bäume, also wirklich. Ihr Interviewkleid wird genauso scheußlich sein wie immer.“

Der große Fernseher im Eck über der Tür zum Hinterzimmer sprang plötzlich an und die Nationalhymne ertönte. Niemand sprach, während das goldene Wappen auf dem Bildschirm zu sehen war, bis es von dem Blick auf die große Bühne vor dem Trainingscenter abgelöst wurde. Ceaser Flickerman, dieses Jahr mit taubenblau gefärbten Haaren, die Josephine schon bei der Eröffnung der Ernte scheußlich gefunden hatte, (passten sie doch überhaupt nicht zu der Form seines Gesichtes), stand vor einem Sichelkreis aus vierundzwanzig Sesseln.
„Ladys und Gentleman, willkommen, willkommen!“ Er setzte sein gewinnendes Lächeln auf und schritt am Vorderteil der Bühne hin und her, immer zum Publikum gewandt und bezog diese mit weiten Handbewegungen in seine Rede ein. „In wenigen Minuten werden sie alle hier sein, all die Tribute, über die wir berichtet haben. Sind sie schon gespannt?“ Die Menge antwortete mit lautem Jubelgeschrei und Josephine war sich sicher, dass man dieses Geschrei bis zu ihrem Salon hören konnte, doch die dicken Glasscheiben der Schaufenster, sowie die geschlossene Tür hielten jeglichen Lärm ab.

Gleich nachdem Ceaser seine Rede beendet hatte, traten die Tribute auf die Bühne. Und wie jedes Jahr konnte Josephine über manche Kleider und Anzüge nur den Kopf schütteln.
„Was trägt denn der Junge aus 1?“ fragte sie angeekelt. „Er sieht aus wie ein Junge aus dem Zirkus. Dieser helle Anzug ist einfach fürchterlich.“
„Er sieht aus wie ein Clown“, stimmte Hector ihr zu. „Ich würde mich nicht in so einen hellen Anzug stecken lassen. Man sollte doch wissen, dass dunkel der Trendton des Sommers ist. Ein dunkles Blau wäre viel angemessener, als dieses … was ist das eigentlich, türkis?“
„Azurblau“, beantwortete Abigal mit schriller Stimme. „Wer trägt heute noch Anzüge in azurblau?“ Sie verfiel in haltloses Gekicher.
„Also, ich finde azurblau ja schön“, meldete sich Felicia mit schüchterner Stimme. „Ich weiß nicht, was ihr alle habt, der Anzug macht ihn lebendiger, wie ich finde.“
Josephine scheuchte ihre Tochter mit einer Handbewegung zurück ins Hinterzimmer. „Du rede nicht von Sachen, von denen du keine Ahnung hast. Kümmere dich lieber um den Kaffee.“
Sie beobachtete ihre Tochter, welche kopfschüttelnd im Hinterzimmer verschwand. 

Inzwischen hatten die Interviews begonnen und Josephine war wie jedes Jahr von keinem Tribut wirklich begeistert. Glimmer war viel zu geschmacklos gekleidet, sie sah ja aus, als würde sie sich dem nächsten Mann an den Hals werfen. Außerdem war der Goldton ihres Kleides viel zu hell und brachte die blonden Haare nicht gut zur Geltung. Einzig und allein das Augenmakeup segnete sie ab, das Grün von Glimmers Augen kam wirklich wunderbar hervor.
„Trotzdem finde ich Glimmer einen guten Anwärter auf den Siegerthron“, sprach Porthus. „Sie findet in diesem Aufzug sicherlich genug Sponsoren.“ An dem glasigen Blick ihres Kunden konnte Josephine auch ganz genau ablesen, wer als erstes ins Wettbüro laufen und Sponsorengeld einzahlen würde. Sie schnaubte leise. Manchmal waren Männer so oberflächlich. Wie so oft beglückwünschte sie sich, sich von ihrem Mann getrennt zu haben.
„Ich bin ja ein Fan von Cato“, mischte sich jetzt Hector ein. „Glimmer mag zwar ganz nett glitzern und funkeln, aber bei Cato ist wirklich Stärke dahinter. Und Grips, Marvel wirkt zwar auch stark, aber auch nicht so, als sei er der Hellste.“
„Was haltet ihr von Katniss?“, fragte Alicia. Josephine hatte bei ihr schon bemerkt, dass sie das Mädchen aus Distrikt 12 sehr genau im Auge behalten würde. „Sie hat die höchste Trainingsbewertung. Und ich fand ihren Auftritt bei der Ernte und der Parade sehr stark. Sie ist eindeutig mutig und fest entschlossen, zu tun was sie tun muss.“
„Sie mag im Vorfeld mutig sein, aber im direkten Kampf wird sie nie gegen Cato bestehen“, behauptete Hector. „Dafür ist sie viel zu klein und zu schwach, egal, wie mutig sie ist. Sie bringt sich so allenfalls ins Grab.“
Josephine mischte sich nicht in die Diskussion ein. Ihr war es im Prinzip gleich, welcher Tribut die Spiele gewann, es würde sich für sie selbst doch nichts ändern. Es war eine nette Unterhaltung, vermochte sie aber nicht in den Rausch mit hineinzuziehen, in den die meisten Menschen des Kapitols verfielen, wenn es um die Spiele ging. Sie interessierte sich mehr für ihren Salon und um die Erweiterung ihres Kundenstammes.

Die Interviews liefen weiter und immer wieder ließ Josephine abfällige Bemerkungen über Frisur und Kleidung der Tribute fallen. Seltener hatte sie einmal ein gutes Wort übrig, wie bei dem Jungen aus 10, bei dem ihrer Meinung nach die Hose so raffiniert geschnitten war, sodass sie seinen Klumpfuß kaschierte. Doch bei Rue konnte sie nur schnauben.
„Reicht es nicht, dass sie die Jüngste der Truppe ist?“, mokierte sie sich. „In diesem Kleid sieht sie aus wie eine Puppe. Man hätte wenigstens versuchen können, sie etwas älter wirken zu lassen.“
„Sowas ist auch Strategie, Josephine“, erklärte Mason. Der junge Mann trank mit elegant abgespreiztem kleinem Finger seinen Kaffee, die blond gebleichten Haare fielen ihm in die Augen. Nachlässig strich er sie zurück. „Wenn man sie klein und schwach wirken lässt, kann man unter Umstände Talente kaschieren und so die anderen Tribute von ihr ablenken.“
„Was bringt ihr das, wenn sie so schwach aussieht, dass kein Sponsor auch nur einen Blick auf sie wirft?“, fragte Josephine.
„Josephine hat recht“, meinte Abigal abwertend. „Aber ich glaube, dass sowieso kein Sponsor etwas für sie ausgeben wird. Sie wird sterben, bevor die erste Nacht zu Ende geht.“
„Dicht gefolgt von deiner Katniss, Alicia“, spottete Hector.
Alicia schnaubte nur abfällig.

Katniss‘ Interview war das nächste und wie von allen erwartet hatte Josephine auch an diesem Kleid etwas auszusetzen. „Es ist so grell. Und diese weißen Schuhe passen überhaupt nicht dazu. Immerhin ist ihr Haar einigermaßen passabel“, fügte sie noch hinzu.
Das Interview verging schnell, doch die ganze Zeit war Katniss die Nervosität anzumerken. Erst zum Schluss wurde sie ruhiger, als sie von ihrer Schwester erzählte, was Alicia ein entzücktes Aufseufzen entlockte. Hector hingegen verdrehte nur die Augen.
„Kaum steht sie wirklich auf der Bühne, ist sie nicht mehr so mutig, was?“
Alicia versetzte ihm einen vernichtenden Blick, doch zu ihrer Verblüffung war es Porthus, der antwortete: „Immerhin ist sie nicht so selbstverliebt, wie dieser Cato. Er tut so, als hätte er den Sieg schon in der Tasche. Dieses Mädchen ist wenigstens ehrlich.“
Hector murmelte etwas, was Josephine als ‚War klar, dass das kommt‘ deutete.

„Und nun kommen wir zu unserem letzten Tribut!“, rief Ceaser Flickerman ins Mikrofon. „Begrüßen Sie Peeta Mellark aus Distrikt 12!“
Der Jubel war immer noch da, aber inzwischen leiser geworden.
„Ich verstehe nicht, wieso man zum Großen Platz geht, um live zuzuschauen, wenn einem zum Ende hin ohnehin langweilig wird“, beschwerte sich Alicia. Josephine hingegen konnte es sehr gut nachvollziehen. Es dauerte Stunden und die meisten Tribute sprachen ohnehin nicht über irgendetwas Spannendes. Wenn es nach ihr ginge, wäre nach Distrikt 5 Schluss.
Porthus schien denselben Gedanken gehabt zu haben, wenn auch etwas abgewandelt.
„Ich bitte dich, Alicia, du kannst doch nicht behaupten, dass die Außendistrikte irgendetwas Spannendes abzuliefern hätten. Die Interviews der Karrieros sind die Interessanten, danach kommt nur noch Müll.“
Alicia öffnete den Mund, um weiterzustreiten, doch Hector versetzte ihr einen wütenden Blick, woraufhin sie verstummte.

Auf der Bühne beschnupperten sich Ceaser und Peeta, was tatsächlich Begeisterung bei den Zusehern auslöste. Dann sprach Peeta über die verschiedenen Tribute, verglich sie mit den Broten aus dem jeweiligen Distrikt, was Porthus ein Schnauben entlockte. 
„Dieses Jackett sieht aus, als käme es direkt aus der Arena“, murmelte Josephine. „Man sollte meinen, bei den Interviews trüge man etwas Elegantes. Und diese Farben erst.“
„Josephine geht wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung nach“, murmelte Mason. „Nämlich meckern.“
„Ich meckere nicht“, erklärte Josephine mit Ungeduld in der Stimme. „Ich bewerte den Stil der Kleider.“
„Was hast du gegen Schwarz einzuwenden?“, fragte Alicia interessiert und mit überlauter Stimme, sodass Masons ‚Ja ja‘ unterging. 
„Nicht das Schwarz, obwohl ich Dunkelblau bevorzugen würde, aber diese roten Streifen sind fürchterlich. Sie passen so überhaupt nicht dazu.“
„Wahrscheinlich sollen sie zu dem Kleid von Katniss passen“, riet Alicia.
Josephine nickte erhaben. „Das ist gut möglich, allerdings hätte es da weitaus schönere Möglichkeiten gegeben. Dieser Anzug ist einfach so unelegant.“
Inzwischen war es im Zuschauerraum vor der Bühne still geworden.
„Da gäbe es schon jemanden“, sagte Peeta gerade mit nervösem Blick in Richtung Boden.
„Worum geht es“, fragte Alicia flüsternd.
Hector verdrehte die Augen über diese Unaufmerksamkeit. „Hör doch zu. Ceaser hat ihn gefragt, ob er eine Freundin hat.“
„Ich sag dir was“, sagte Ceaser. „Du gehst da raus und du gewinnst das Ding. Dann muss sie einfach mit dir ausgehen, nicht wahr?“ Die Menge jubelte.
Josephine konnte darüber nur den Kopf schütteln. Sie hatte nie viel von Frauen gehalten, die sich an den Hals von Männern warfen, nur weil diese erfolgreich waren.
„Gewinnen, das funktioniert nicht in meinem Fall“, wand sich Peeta immer noch unter dem Blick Ceaser.
„Und warum nicht?“, fragte dieser.
Endlich gab Peeta die Deckung auf und sah Ceaser geradeheraus an. „Weil wir zusammen hergekommen sind.“
Eine Sekunde war es im Zuschauerraum und in Josephines Salon gleichermaßen ruhig. Dann wurde Katniss Gesicht eingeblendet, verblüfft starrte sie Peeta an, bevor sie mit hochroten Wangen auf den Boden blickte.
Alicia kreischte plötzlich schrill auf, wobei Felicia zusammenzuckte und beinahe die Tassen fallen ließ, die sie in der Hand hielt, was ihr einen wütenden Blick ihrer Mutter einbrachte.
„Habt ihr sie gesehen? Habt ihr das gesehen! Ein Liebespaar, in der Arena! Siehst du, Porthus, die Außendistrikte sind auch für Überraschungen gut. Die armen Kinder!“
Josephine jedoch verdrehte die Augen. „Beruhige dich, Alicia und benimm dich nicht wie ein Teenager.“
„Aber ein Liebespaar! Sowas gab es noch nie. Das wird ein Spektakel!“
„Ja“, sagte Porthus gehässig. „Wenn die beiden als letzte übrigbleiben, werden wir ja sehen, wie groß diese Liebe tatsächlich ist.“
„Du bist so unromantisch, Porthus“, beschwerte sich Alicia. „Das ist doch allerliebst. Ein tragisches Liebespaar! Ich werde gleich morgen auf das Sponsorenkonto der beiden einzahlen. Liebe darf nicht getrennt werden. Ach, wird das spannend!“
„Wetten, dass ist alles nur Strategie der beiden?“, meinte Porthus.
Jetzt mischte sich Hector ein. „Ich weiß nicht, aber Katniss Reaktion wirkte doch echt. Dementsprechend …“
„Egal, wie verliebt sie sind, es sollte sie nicht davon abhalten, das zu tun weshalb sie hier sind. Wollen wir hoffen, dass sie, wenn es hart auf hart kommt, sich daran erinnern, dass nur einer überleben kann.“ Josephine hatte die Arme verschränkt und betrachtete grimmig den Bildschirm, der sich soeben verdunkelte. Die Interviews waren zu Ende.
„Du bist auch so unromantisch, Josephine“, beschwerte sich Alicia. „Du wirst sehen, das werden die besten Spiele aller Zeiten.“
„Ja ja“, murmelte Josephine und stand auf, um die ersten Gäste zu verabschieden.

Es war dunkel im Salon, Josephine verabschiedete an der Tür die letzten Kunden. Aus dem Hinterzimmer kamen noch leise Geräusche, wahrscheinlich war Felicia immer noch mit dem Abspülen der Tassen beschäftigt. Immer wieder hatte das Mädchen ihre Mutter bekniet, sich endlich im Salon eine Spülmaschine zuzulegen, aber Josephine war hart geblieben. Sie wollte das Geld anders verwenden und die paar Tassen und Gläser, die anfielen, würde das Mädchen schon selbst spülen können. Sie sollte sich nicht so haben.
‚Ich habe meinen Erfolg auch nicht vom Nichtstun‘, pflegte Josephine zu sagen, wann immer das Gespräch auf dieses Thema fiel.
„Bist du endlich fertig?“, fragte sie, als die letzten Gäste den Salon verlassen hatten. Felicia kam aus dem Hinterzimmer, sich die Hände an einem Tuch abtrocknend. Sie sah müde aus, auch die leichte Schminke konnte ihre Erschöpfung nicht verbergen. Es war ein langer Tag gewesen und inzwischen war es weit nach Mitternacht.
„Ja, Mutter.“ Josephine drehte sich um und ging voraus aus dem Laden. Mit schnellen Schritten die Straße hinunter, das Abschließen überließ sie wie immer ihrer Tochter. Für das Verantwortungsgefühl, pflegte Josephine zu sagen.
Es waren immer noch viele Menschen unterwegs, die vom Trainingscenter aus in ihre Wohnungen zustrebten. Alle fröhlich und immer noch begeistert von den eben stattgefundenen Interviews. Morgen begannen die Spiele und Josephine konnte die aufgeregte Spannung spüren, die in der Luft lag. Auch an ihrer Tochter war sie merklich vorhanden. Josephine wusste, dass Felicia die Spiele zwiespältig betrachtete. Einerseits war da die Aufregung, die Freude auf das Großereignis des Jahres. Andererseits konnte sie Blut nicht gut sehen, weswegen sie oft den Blick abwandte. Aber trotzdem siegte oft die Neugier. Anders als viele andere fieberte sie zudem oft mit Außendistrikten mit.

„Warum meckerst du eigentlich immer so an den Kleidungen der Tribute herum, Mutter?“ Felicia hatte zu ihrer Mutter aufgeschlossen und sich mit sanfter Stimme an sie gewandt. „Kannst du es nicht einfach einmal sein lassen und die Spiele anschauen?“
„Nicht, wenn mich diese fürchterlichen Farben ablenken. Denk nur an das grelle Gold von Glimmer. Fürchterlich.“
„Ach Mutter“, sagte das Mädchen mit einem Lächeln. „Gold ist die Trendfarbe dieses Jahrs, hast du das bei der Parade nicht gemerkt? Dreiviertel der Tributpaare waren in Gold gekleidet.“
„Na na, übertreib mal nicht“, mahnte Josephine. „Ich kann mich an genau drei Paare erinnern, die Gold getragen haben. Das macht noch keine Trendfarbe daraus.“
„Nur weil du die Farbe nicht magst, heißt das nicht, dass andere sie nicht mögen. Dir mag sie nicht stehen, aber Glimmer stand sie sehr gut. Warum gehst du nicht nächstes Jahr selbst als Stylistin zu den Spielen, dann bräuchtest du dich zumindest bei einem Tribut nicht mehr zu beschweren?“
„Du kennst meine Meinung dazu“, war Josephines einziger Kommentar. Diskutieren brachte bei ihrer Tochter nichts, sie war einfach noch nicht so versiert, um feine Nuancen in Farben zu erkennen. Ein Grund, warum sie sie noch nicht an die Haarfarben der Kunden gelassen hatte.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Felicia die Augen verdrehte, doch sie beschloss, dies unkommentiert zu lassen.

Sie hatten ihr Haus erreicht und Josephine betrat als erste die Eingangshalle, wo sie gleich von einem Avox empfangen wurden, der ihnen die Jacken abnahm. Im Salon erwartete sie bereits eine Kanne Tee und zwei Tassen, doch Felicia verabschiedete sich mit dem Grund, sie sei fix und fertig. Josephine bemerkte allerdings den genervten Unterton in ihrer Stimme nicht, doch ihr machte dies nichts aus. Felicia ertrug keine Meinungsverschiedenheiten. So war dies immer gewesen.
In ihrem Salon konnte man die fröhlichen Geräusche der Leute auf der Straße ganz leise hören, außerdem war die Luft sehr frisch. Wahrscheinlich war irgendwo ein Fenster offen.
Sie goss Tee in eine Tasse, rührte Zucker hinein und lehnte sich dann zurück. Morgen begannen die Spiele. Eine Zeit, wo in ihrem Salon weniger los war, weil die Leute lieber zu Hause blieben, um sich das Spektakel anzusehen. Aber auch bei ihr würde ab zehn Uhr ununterbrochen der Fernseher laufen. Wahrscheinlich schon früher, schließlich kam vorher noch die Begrüßung durch Ceaser Flickerman und Claudius Templesmith.
Doch Josephine würde nicht groß mitfiebern, das tat sie nie. Sie sah die Spiele und vergaß die Gesichter der Tribute sogleich wieder. Nur ihre Kleider blieben ihr im Kopf. Jahr um Jahr um Jahr. Mehr kümmerte sie sich nicht darum.

Eröffnung – Spielmacher Octavian

Obwohl der Kommandoraum voller Menschen war, war es totenstill. Nur die Geräusche der Anzeigen waren zu hören, wenn jemand letzte Funktionstests durchführte. Ansonsten war jeder auf sich konzentriert. Fast jeder.
Octavian warf immer wieder verstohlene Blicke über den Rand seines Bildschirms zur kleinen Treppe am Eingang des Raumes, wo der oberste Spielmacher Seneca Crane wie ein Herrscher über seine Untertanen wachte. Oder auch: wie ein oberster Spielmacher, der alles im Blick behalten wollte. Doch Octavian kam immer, wenn er aufblickte, das Bild des Herrschers in den Kopf.
Zum wiederholten Mal zog er an dem Kragen des weißen Hemdes, welches zu der Uniform der Spielmacher gehörte und verfluchte innerlich den Avox, der ihm dieses zu kleine Hemd zugeteilt hatte. Nach seiner Schicht würde er den Verantwortlichen suchen gehen.

Er senkte den Blick wieder. Sein Platz war fast in der Mitte des Raumes, direkt an dem großen, Hologramm der Arena. Weiters standen vor ihm noch zwei Bildschirme. Während die Hungerspiele liefen, würde er auf ihnen die Lebensanzeigen der Tribute überwachen, vor allem die Herzschläge. Wenn das Herz stillstand, würde er die Kanone zünden. Außerdem gehörte er zu dem Team für die Kameraüberwachung. Viel war es nicht, was in seinen Aufgabenbereich fiel. Eigentlich waren es Aufgaben für Anfänger, was ihn kränkte. Viel lieber würde er ein paar Reihen hinter ihm sitzen, wo die Verantwortlichen für die Natur der Arena saßen, welche direkt in das Geschehen eingreifen konnten und nicht nur wie er stumpf beobachteten. Doch er hatte gute Hoffnungen, nächstes Jahr aufzusteigen. Seneca Crane hatte ihm zugesagt, bei den Besprechungen mit den Mutationsentwicklern dabei sein zu dürfen. Etwas, was ihn ehrte und ihm Hoffnung schenkte, vielleicht nächstes Jahr in eine bessere Abteilung wechseln zu dürfen. Und als hätte man seine Gedanken gelesen, ertönte prompt Senecas leise Stimme.

 „Octavian, du wirst im Besprechungsraum gebraucht.“
Octavian sah endlich offen auf, bevor er einige Knöpfe betätigte, welche die Bildschirme auf ‚Standby‘ stellten und folgte dem hochgewachsenen Spielmacher in den nebengelegenen Raum, während er erneut an seinem Hemdkragen zog.
Die Sessel, die rund um einen großen Tisch standen, waren bereits fast alle belegt. Die meisten Leute kannte Octavian nicht, sie arbeiteten in der Mutationsentwicklung und erschienen fast nie im Kommandoraum. Manche jedoch kannte er, wie zum Beispiel Augustus, ebenfalls ein erfahrener Spielmacher und seit zwei Jahren bei den Mutationsentwicklern. Für mehr als eine kurze Begrüßung blieb allerdings keine Zeit, denn Seneca begann sofort mit dem ersten Punkt.

„Die Jägerwespennester wurden von uns in den Sektoren vier, fünf, sechs und acht im Kiefernwald verteilt“, erklärte ein Mann, der mit zischelnder Stimme sprach. Auf dem Tisch erschien ein Hologramm der Arena und mittels eines Stiftes deutete er auf die entsprechenden Bereiche. „Die Bäume sind dort hoch und recht dicht gesät, sodass die Tribute die Nester nicht schon auf weite Entfernung erkennen können. Wie wir vor wenigen Wochen besprochen haben.“
Seneca nickte nachdenklich. Octavian versuchte, etwas aus seinem Gesichtsausdruck zu lesen, doch der oberste Spielmacher verbarg seine Gedanken gut.
„Einwandfrei“, schloss er schließlich. Er beugte sich über das Hologramm und ließ seinen Finger über einer Stelle kreisen, tief im Wald, doch nahe an dem Fluss, der die Arena durchfloss. „Dies wird wahrscheinlich ein zentraler Punkt für die Tribute werden. Nah beim Fluss und auf einer einfachen Strecke zwischen Fluss und Füllhorn. Sie haben meine Anweisungen zufriedenstellend durchgeführt. Nicht zu wenige Nester, aber auch nicht zu viele. Wir wollen die Tribute, die diesen Abschnitt durchqueren, ja nicht gleich töten.“ Er lachte leise.
Auch Octavian lächelte. Ja, er erkannte die Feinheiten dieser natürlichen Falle. Die Nester hingen hoch in den Bäumen, sodass Tribute, die darunter durchgingen, nicht angegriffen wurden, doch sollte sich ein unvorsichtiger Kletterer in die luftigen Höhen wagen, könnte es kritisch werden. Es war genial.

„Sind die Jägerwespen die einzige Mutation in dieser Arena?“, fragte eine Frau zwei Plätze rechts von Octavian mit gerunzelter Stirn. Octavian kannte sie, doch im Moment fiel ihr ihr Name nicht ein. „Könnte das nicht zu wenig sein?“
Augustus wischte mit seinem Finger über das Touchpad, welches vor ihm lag und runzelte die Stirn, wobei sich die violetten Tattoos über seinen Augen leicht verzogen. „Im Moment die einzige, die den Tributen schadet, ja.“ Er bewegte die Lippen, als er lautlos einige Zeilen las. „Aber im Grunde war unsere Aufgabe, eine möglichst natürliche Arena zu schaffen, da hätten mehr Mutationen keinen Platz gehabt. Und natürliche Räuber haben wir immer noch im Wald. Nicht zu vergessen die Feuerfallen, die wir im nördlichen Wald eingebaut haben.“
„Hättest du denn noch Vorschläge gehabt?“, fragte Seneca sie. „Und wenn ja, warum bist du nicht früher damit zu mir gekommen. Die Spiele beginnen bereits in zwei Stunden.“
„Ich war verhindert“, erklärte die Spielmacherin. „Jedoch habe ich die Zeit genutzt und tatsächlich etwas entwickelt. Die Verspätung wird, denke ich, keine besonderen Auswirkungen haben.“ Sie betätigte einen Knopf auf dem Bedienfeld vor ihr. Das Hologramm der Arena verschwand und an seine Stelle trat ein Wolf.

Es war kein normaler Wolf, das erkannte man sofort. Größer, wie man an dem Metermaß erkannte, das neben dem Modell eingeblendet war.
„Ein Wolf?“, fragte Basil verwundert. Der ältere Mann, dessen graue Haare das Gesprächsthema im Stadtgeklatsche war, da der alteingesessene Spielmacher konsequent auf Perücken verzichtete, dieses dafür in die absonderlichsten Frisuren legen ließ, wirkte mehr spöttisch, denn beeindruckt. „Nadia, denkst du, ein Wolf wird den Spielen die nötige Würze verpassen.“ Seine Mundwinkel zuckten jetzt leicht.
Nadia hieß sie, genau. Jetzt erinnerte sich Octavian auch wieder. Sein Hemdkragen kratzte und während er zum wiederholten Mal an ihm zog, hörte er sich selbst sagen: „Na ja, er fügt sich vollkommen in die Natürlichkeit der Arena ein und man vermutet nicht gleich eine Mutation. Hat er besondere Verhaltensweisen?“
Nadia warf ihm einen erfreuten Blick zu, offenbar hatte er die Hintergründe ihrer Tierwahl auf den Punkt getroffen.
„Das hat er tatsächlich. Sehen Sie.“ Sie drückte ein paar Knöpfe auf dem Bedienfeld. Das Hologramm des Wolfes erwachte zum Leben, rannte quer über den Tisch, eher er sprang und auf den Hinterbeinen landete.
„Sie haben menschliche Züge“, erklärte sie. Das wird die Tribute irritieren. Weiters habe ich ihre Augenform menschlich gemacht, ihr ganzes Verhalten ist eine Mischung. Sie werden sich im Rudel teils wölfisch, teils menschlich verhalten. Außerdem können sie wahnsinnig schnell rennen und sehr hoch springen. Zur Verdeutlichung sprang der Wolf auf dem Tisch in die Höhe, das Metermaß bewies, dass die Sprunghöhe über drei Meter betrug.

Seneca schien jedoch nicht überzeugt zu sein, hörte jedoch weiter zu, als sich eine rothaarige Spielmacherin meldete. Sie war noch nicht lang dabei, Octavian meinte, dass dies sogar erst ihre zweiten Spiele waren, doch ihre guten Ideen hatte nicht nur er von Anfang an geschätzt.
„Vielleicht sollte man das Menschliche noch mehr hervorheben. Spezifizieren.“
„Vielleicht sollten wir gleich Menschen draus machen, Leticia“, brummte ein Mann an der Tischecke, der bisher mehr mit seinen Papieren beschäftigt gewesen war.
Leticia strich sich die Haare zurück und fuhr unbeirrt fort. „Na ja, ich dachte daran, dass wir die Wölfe im Endspiel verwenden könnten, um die Tribute zusammenzutreiben. Zum einen hätte dann Nadia genug Zeit, um den Feinschliff an den Wölfen vornehmen zu können. Außerdem dachte ich, dass es interessante Reaktionen gäbe, wenn wir die Wölfe den bis dahin verstorbenen Tributen angleichen. Sprich, Augenfarbe, Fellfarbe, vielleicht die Distriktnummer.“
Tatsächlich brachte dieser Vorschlag zustimmendes Gemurmel. Ein Mann beugte sich vor und flüsterte seinem Nachbarn etwas ins Ohr, welcher nachdenklich nickte.
Octavian zog an seinem Kragen. „Man könnte Halsbänder für die Distriktnummern verwenden. Ist denke ich recht einfach und man kann für die jeweiligen Distrikte auch verschiedene Materialien verwenden.“

Leticia wirkte erfreut, dass ihr Vorschlag so guten Anklang fand. Selbst Seneca wirkte interessiert. „Kriegst du das in der kurzen Zeit hin, Nadia?“, fragte er.
Nadia lächelte. „Solange das Finale nicht morgen stattfindet, kriege ich das hin. Leticia, ich möchte, dass du mir assistierst, ich möchte noch genauere Informationen, wie du dir das vorstellst. Und Zeichnungen, wenn es geht.“
Leticia nickte. „Ich werde noch heute welche anfertigen.“

„Hat sonst noch jemand etwas zu sagen?“, fragte Seneca. Niemand antwortete und der oberste Spielmacher schloss die Sitzung. Octavian sah auf die Uhr, die an der Wand gegenüber von ihm befestigt war. Acht Uhr. Die Tribute mussten jetzt schon auf dem Weg zu den Hovercrafts sein. Die letzten Vorbereitungen mussten getroffen werden.

Die Tribute betraten nun das Hovercraft und die Aufspürer wurden in die Unterarme eingesetzt. Octavian tippte auf seinem Touchfeld herum, während auf den Monitoren vor ihm mit leisen Piepgeräuschen die Aufspürer die Aktivität anzeigten. Bei jedem Tribut stand nun der Name, die Distriktnummer, sowie der Lebensstatus. Im Moment standen alle auf „lebend“. Wenn er mehr Informationen wollte, konnte er ein Menü aufrufen, wo für jeden Tribut genauere Daten wie Puls, Herz- und Atemfrequenz angezeigt wurden. Der Puls war für das Zünden der Kanone entscheidend. War kein Herzschlag mehr vorhanden, zündete er die Kanone. Am Eröffnungstag tat er dies allerdings erst, wenn alle Kämpfe vorbei waren. In den ersten Ausgaben der Spiele, wo die Spielmacher noch nicht solche ausgefeilten technischen Hilfsmittel gehabt hatten, gab es in dem Gemetzel nicht genug Überblick, um den Tod eindeutig festzustellen. Heute war dies strenggenommen nicht mehr nötig, doch es war zu einer Art Tradition geworden.
Es gab jetzt nicht viel für ihn zu tun, bis die Spiele begannen. Alle Aufspürer waren ordnungsgemäß eingestellt. Dies nahm er nicht für selbstverständlich, mit einem Anflug von Ärger erinnerte er sich an die Spiele vor drei Jahren, wo die Aufspürer von drei Tributen noch während der Reise zur Arena den Geist aufgegeben hatten, unmögliche Herzfrequenzen anzeigten und ständig zwischen ‚lebend‘ und ‚gefallen‘ hin und her sprangen. Octavian hatte alle Hände voll zu tun gehabt, die Aufspürer in kürzester Zeit zu ersetzen und dafür Sorge zu tragen, dass sie den Tributen vor dem Start noch eingesetzt wurden.

Es war soweit. Auf den großen Bildschirmen an der Wand gegenüber der Treppe konnte man beobachten, wie die Tribute in die Arena gefahren wurden. Nacheinander kamen sie oben an, bildeten einen Halbkreis um die Öffnung des Füllhorns. Octavian warf einen blick auf das Hologramm der Arena. Sämtliche Positionsmarken waren am Füllhorn versammelt, zeigten die Position eines jeden Tributes an. Für jeden ein Pfeil und darüber die jeweilige Distriktnummer. Perfekt, die Positionsanzeigen in den Aufspürern funktionierten einwandfrei. Ein Mann fuhr mit seinem Stift auf dem Bedienfeld vor ihm nach oben und begann dann zu zählen.

„60. 59. 58. 57.“

In Octavian stieg jetzt auch die Spannung und er wusste, dass in diesem Augenblick Menschen im ganzen Land vor den Bildschirmen saßen. Der Mann neben ihm schaltete auf eine andere Kamera um und machte einen Schwenk bei allen Tributen vorbei. Die Gesichtsausdrücke variierten zwischen Angst, Entschlossenheit und Kampflust. Oh ja, es ging wirklich los.

„26. 25. 24.“

In der Arena konnte man die blecherne Stimme hören, die den Countdown hinabzählte. Die orangenen Zahlen über dem Eingang des Füllhorns gaben eine zusätzliche visuelle Hilfe. Nicht mehr lange. Nicht mehr lange, dann würde es losgehen und das, worauf er sich seit einem Jahr freute, würde beginnen. Die Hungerspiele. Das Event des Jahres.

„4. 3. 2. 1.“

Der Gong ertönte in der Arena, ein lang gezogener, tiefer Ton. Und das Chaos brach aus.
Octavian und seine Leute waren vollauf damit beschäftigt, möglichst alles einzufangen, jeden Tod. Dabei filmten sie auch mit mehreren Kameras gleichzeig und zeigten dies auf einem geteilten Bildschirm. Jeder Tod musste gezeigt werden. Auch, wenn man im Chaos des Blutbades leicht den Anschluss verlieren konnte.
Octavian schaltete auf das Mädchen aus 12, dass sich gerade mit dem Jungen aus 9 um einen orangenen Rucksack stritt. Clove aus 2 hatte die beiden ins Visier genommen. Der Junge spuckte Blut, als ihn das Messer in den Rücken traf. Das Mädchen aus 12, Katniss, sah alarmiert auf und es gelang ihr gerade noch, den Rucksack vors Gesicht zu ziehen. Als das Messer sich hineinbohrte, sprang sie auf und rannte in Richtung Wald.

Die Ebene vor dem Füllhorn war bereits mit Körpern übersäht, viele kämpften noch, manche lagen aber nur da. An seinen Anzeigen erkannte er, dass das Mädchen aus 10, der Junge aus 5 und eben auch der Junge aus 9 bereits das Zeitliche gesegnet hatten. Und sie würden nicht die Letzten sein.
Thresh, der riesige Junge aus 11 schwang seine Sichel, um aus dem Füllhorn zu entkommen. Eine Kamera fing den kleinen Jungen aus 4 ein, der ein gelbes Bündel an sich gedrückt hatte und verzweifelt versuchte, den richtigen Moment abzupassen, um aus dem Füllhorn zu entkommen. Doch das Glück war ihm nicht hold. Octavian hatte gewusst, dass es der Junge nicht weit schaffen würde. Er war zwar ein Karriero, aber zu jung, um wirklich kämpfen zu können. Wie es schien, war er nicht in das Karrierobündnis aufgenommen worden.
Just in dem Moment, als der Junge sich entschied zu fliehen, betrat Cato das Füllhorn. Ein Schwerthieb reichte, der das Blut auf Ausrüstungsgegenstände spritzen ließ, um den Tod zu bringen. Keine zwei Minuten später ertönte ein leiser Piepton, als der Status des Jungen auf ‚gefallen‘ sprang.

Die Kämpfe waren so gut wie vorbei. Octavian und seine Leute konzentrierten sich mit ihren Kameras teils auf Cato und die anderen Karrieros, die dabei waren, das Füllhorn auszuräumen und allen Körpern, die sich noch bewegten, Todesstöße versetzten. Sie türmten die Beute zu einer Pyramide auf, auf der Ebene, nahe des Waldrandes.
Andere Kameras verfolgten die Tribute, die geflohen waren und sich nun in verschiedene Richtungen davonmachten. Teils in den Wald, teils in das Feld, welches im Süden an die Ebene angrenzte. Octavian wusste, dass die Perspektiven sich im Fernsehen abwechselten, damit die Zuschauer wussten, wer noch unterwegs waren.
Er zog am Hemdkragen und tippte auf seinem Bedienfeld herum, gab einige Kommandos ein. Dann ertönte in der Arena Kanonenschüsse. Elf Stück. Auf allen Bildschirmen konnte man sehen, dass die Tribute innegehalten hatten und mitzählten. Natürlich wollten sie wissen, wie viele Gegner noch im Rennen waren. Als die Schüsse aufhörten, schien es, als wachten manche aus einer Art Trance auf. Langsam nahmen sie ihre Wege wieder auf.

Auch die Karrieros hatten innegehalten.
„Fast die Hälfte“, hörte man den Jungen aus 1 freudig sagen.
„Dann fehlen nur noch 12“, frohlockte Cato.
Just in dem Moment brach eine Gestalt aus den Büschen. Es war Peeta, der Junge aus 12. Sofort gingen die Karrieros in Angriffsstellung und nur die Tatsache, dass Peeta sofort zum sprechen begann, verhinderte einen Angriff.
„Wartet, bitte.“ Seine Stimme zitterte leicht. „Ich … ich möchte mich euch anschließen. Ich kann euch helfen.“
„Womit könntest du uns helfen?“, fragte Clove mit spöttischer Stimme. „Eine 12, die wahrscheinlich noch nie in seinem Leben eine Waffe in der Hand gehalten hatte. Ich schlage vor, wir töten ihn gleich, dann haben wir ihn aus dem Weg“, sprach sie zu ihren Verbündeten.
Cato öffnete den Mund, seinem Gesichtsausdruck zu schließen gefiel ihm die Idee nicht schlecht. Doch bevor er etwas sagen konnte, sprach Peeta weiter.
„Ich kann euch helfen, sie zu finden.“
„Sie?“, fragte Glimmer, das Mädchen aus 1.
„Katniss. Ihr wollt sie doch töten. Ich kann euch helfen, sie zu finden. Ich kenne sie gut.“ Peetas Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Verschlossen, doch mit einem Qualvollen Ausdruck in den Augen.
Doch Cato schien bei diesen Worten aufgehorcht zu haben. „In der Arena ist wohl jede Liebe vergessen, was?“, spottete er.
„Es kann nur einer von uns überleben“, sprach Peeta mit gequälter Stimme.
„Du wist dies nicht sein“, sprach Clove mit spitzer Stimme. „Gut, du kannst bleiben. Solltest du irgendwelche Tricks versuchen, bringen wir dich ohne Vorwarnung um. Nur das das gesagt ist.“

Octavian zoomte mit der Kamera näher an Cato und Clove heran, die jetzt die Köpfe zusammengesteckt hatten.
„Er ist ungefährlich. Er kann mit keiner Waffe umgehen und körperlich ist er mir garantiert nicht überlegen“, erklärte Cato. „Soll er uns zu ihr führen und dann töten wir ihn.“
Clove nickte. „Ich behalte ihn im Auge. Sollte er irgendwelche Tricks versuchen, steche ich ihn ab.“

„Das ich das noch erleben darf“, murmelte Octavian. „Ein 12er, der sich den Karrieros anschließt. Die Spiele dürften sehr sehr interessant werden.“

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Kapitel: 7
Sätze: 1.522
Wörter: 22.844
Zeichen: 136.018

Kurzbeschreibung

Die Tribute sind die Stars der Hungerspiele. So war es auch bei den 74. Hungerspielen. Doch wie sah es mit den Leuten im Hintergrund aus? Was sah ein Kapitolskind die Ernte? Was hielt ein Wettbuchmacher aus Distrikt 9 von dem Ergebnis des Einzeltrainings? Was dachte Präsidentin Coin, als Katniss die Beeren in die Höhe hielt? Verschiedene Blickwinkel auf die Spiele, verschiedene Meinungen und verschiedene Hoffnungen.

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