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Kapitel: | 5 | |
Sätze: | 721 | |
Wörter: | 10.185 | |
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× Erzähler-Sicht – Damals ×
Der Wecker klingelte und widerwillig öffnete das junge Mädchen ihre Augen. Sie wollte weiter schlafen, weil sie erst spät in der Nacht ins Traumland gewandelt war.
Das Buch, welches neben ihrem Kopfkissen lag, hatte sie gefesselt und einfach nicht losgelassen. Es handelte von Rittern und Königen. Sie hatte sich das Buch von ihrem ersten Taschengeld gekauft, auch wenn ihre Mutter das Buch am liebsten wieder in den Laden zurückgebracht hätte.
„Was soll das? Das ist ein Buch für Jungs“, meinte sie, als sie es entdeckte.
„Aber ich mag es!“, wehrte sich das Mädchen, während sie das Buch fest an sich drückte. „Ich möchte es behalten!“
Dass in dem Buch mehr Bilder enthalten waren, als dass Text darin stand, war ihr egal. Sie mochte die Vorstellung, einer von den Rittern zu sein, die ihren König beschützten und für ihn kämpften. Sie wollte eine Rüstung tragen, ein Schwert besitzen und kämpfen. Sie wollte nicht wie die Prinzessinnen eingesperrt sein, jemanden heiraten müssen, den sie nicht kannte und vor allem wollte sie kein Kleid tragen. Es mochte sein, dass diese schön waren, aber das Mädchen konnte sich nicht vorstellen, jemals ein Kleid dieser Art zu tragen.
„Aufstehen!“, rief ihre Mutter von unten. „Komm, Leonie, es wird ein langer Tag! Du musst aufstehen!“
Ihre langen, blonden Haare kitzelten sie in der Nase, als sie ihre Decke widerwillig über das Gesicht zog, um nicht aufzustehen. Sie hasste diese lange Mähne. Sie wollte kurze Haare haben. Aber ihre Mutter war dagegen, dass sie ihre Haare kürzer schneiden ließ. Sie rollte sich zusammen, denn sie wollte absolut nicht aufstehen.
Heute würde sie in die Schule müssen. Sie würde in eine Klasse gesteckt werden, wo sie niemanden kannte und wo sie ganz alleine war.
Nur wenige Momente später hörte sie, wie die Tür geöffnet wurde und ihre Mutter ins Zimmer gestapft kam.
„Komm. Du musst aufstehen“, sagte diese. „Du musst dich noch waschen und ich dir die Haare machen. Das geht nicht so einfach. Außerdem musst du noch frühstücken!“
Sie zog die Decke von dem kleinen Körper herunter und entblößte ein junges Mädchen, welches in einem weiten T-Shirt und einer kurzen Hose im Bett lag.
„Ich mag aber nicht...“, murrte Leonie. „Ich will nicht aufstehen!“
Doch der Widerstand war zwecklos, denn ihre Mutter zog die Vorhänge auf, damit das helle Sonnenlicht ins Zimmer drang. Ihr Bett stand genau so, dass die Strahlen direkt in das Gesicht des Mädchens schienen. Sie drehte sich weg, doch es half nichts. Die Sonne erhellte das ganze Zimmer und an Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Leonie stand auf, setzte ihre nackten Füße auf den Boden und fröstelte, als die Kühle von unten herauf in ihren Körper kroch und ihr eine Gänsehaut bereitete.
Als die Mutter das Zimmer verließ, blieb sie alleine zurück und drückte sich vom Bett ab. Sie lief zu ihrem Schrank, nahm sich eine dunkle Hose und eine Art helle Bluse heraus, um sie anzuziehen. Sie wusste, heute war ein besonderer Tag und sie musste sich feiner anziehen, als sie es sonst tat.
Leonie tappte weiter ins Badezimmer, stellte sich auf die kleine Trittbank, um in den Spiegel zu sehen und putzte die Zähne, bevor sie ihren Mund ausspülte. Sie wechselte ihre Schlafbekleidung gegen die herausgesuchte Hose und das Oberteil. Dann lief sie über einen kleinen Flur und eine Treppe hinab in die Küche, wo ihre Mutter bereits eine Schüssel mit Müsli auf den Tisch gestellt hatte.
Sie setzte sich auf ihren Stuhl, nahm den Löffel in die Hand und begann, das Müsli zu essen. Es schmeckte nicht. Es war eine Mischung, die ihr absolut nicht gefiel. Sie wollte etwas mit Schokolade, etwas Süßes, aber sie bekam etwas mit getrocknetem Obst und Nüssen.
„Sag mal, was hast du denn eigentlich an?“, erkundigte sich ihre Mutter und sah sie aus hellen Augen an.
Sie musterte ihre Tochter mit einem missbilligenden Blick, während Leonie unsicher auf ihrem Stuhl herumrutschte.
„Wieso? Es ... sind doch gute Sachen“, sagte sie leise. „Was ist daran falsch?“
„Du kannst heute keine Hose anziehen. Ich hab so ein schönes Kleid gekauft. Es wird dir gefallen“, sagte die Mutter und ihr Gesicht begann zu strahlen, als sie an das neue Kleidungsstück dachte.
„Ein Kleid?“, wiederholte das Mädchen die Worte. „Warum? Kann ich nicht einfach so bleiben?“
Die Mutter schüttelte den Kopf.
„Das geht nicht. Heute ist deine Einschulung. Mädchen tragen nun einmal Kleider und die Jungs Anzüge. Das ist schon immer so gewesen“, erklärte sie und wandte sich dann wieder dem Abwasch zu, den sie gerade angefangen hatte.
Leonie ließ den Kopf sinken. Aber Kleider gefielen ihr überhaupt nicht. Sie wollte lieber anbehalten, was sie jetzt trug und sich selbst herausgesucht hatte.
Es verging einige Zeit, in der ihre Mutter sie mit sich ins Schlafzimmer genommen, ihr die Hose und die Bluse wieder ausgezogen und sie auf einem Stuhl platziert hatte. Sie fühlte sich wie eine Puppe. So wie die, die in den Einkaufsläden der Stadt hinter dem Glas standen. Die hatten auch kein Eigenleben. Die wurden auch einfach angezogen, ohne sich dagegen wehren zu können.
„Muss das wirklich sein?“
Die Mutter nickte, als Leonie diese Frage stellte und holte aus dem Schrank ein schwarzes Kleid heraus. Leonie verzog augenblicklich das Gesicht und zog einen Schmollmund.
„Ich möchte das nicht anziehen!“, protestierte sie und schwieg augenblicklich, als ihre Mutter sie mit einem ernsten Blick ansah.
„Du musst es anziehen! Es ist vorgeschrieben“, sagte sie und stemmte eine Hand in ihre Hüfte. „Du kannst keine Hose anziehen, auch wenn du das vielleicht möchtest!“
Leonie öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, entschied sich dann aber, lieber nicht auszusprechen, was sie im Kopf hatte. Ihre Mutter würde nur weiter mit ihr schimpfen, so wie es bisher immer war. „„
Also ließ sie es einfach zu, dass ihr eine helle Strumpfhose angezogen, dieses schwarze Kleid mit den weißen und rosafarbenen Blüten übergestreift und diese schwarzen Lack-Ballerinas über ihre Füße gezogen wurden. Widerwillig ließ sie es über sich ergehen.
Nachdem sie sich auf den Stuhl setzen sollte, damit ihre Mutter ihr die Haare machen konnte, verschränkte sie die Arme vor der Brust und ließ den Blick nach unten gleiten. Diese Sachen passten nicht zu ihr. Das war nicht richtig! Sie wollte eine Hose anziehen. Schuhe, die deutlich bequemer waren. Sie wollte eine Krawatte tragen, so wie die Männer, die große Firmen leiteten. Sie wollte solch einen Anzug anziehen. Sie stellte es sich toll vor. Doch ihre Mutter würde es nie zulassen.
Als sie kurz alleine im Schlafzimmer zurückblieb, weil ihre Mutter etwas holen wollte, wagte sie es, aufzustehen und sich in dem großen Spiegel des noch gigantischeren Kleiderschranks anzusehen. Sie riss die Augen weit auf, weil sie nicht glauben konnte, was sie dort sah. Das war nicht sie! Das war ... sie einfach nicht! Das Mädchen, das sie dort erblickte, war nicht sie, auch wenn sie es sein müsste.
„Das bin nicht ich...“, entwich es ihr erschrocken.
Am liebsten hätte sie dieses Kleid wieder ausgezogen, es in eine Ecke geworfen, sich die Strumpfhose vom Körper gerissen und die Lackschuhe ebenfalls dorthin geknallt, wo auch immer sie den Stoff des Kleides hingeworfen hätte. Sie fühlte sich einfach nicht wohl.
„Du siehst so schön aus“, sagte ihre Mutter, als sie mit einer Haarbürste zurückkam und sie vor dem Spiegel erblickte.
Leonie war nach weinen zumute. Doch sie würde es nicht offenbaren. Sie schluckte, zuckte nur mit den Schultern und ließ sich von ihrer Mutter wieder auf den Stuhl ziehen. Dort kämmte sie ihr die langen, blonden Haare, strich sie mit den Händen glatt und fuhr erneut mit der Bürste durch die einzelnen Strähnen.
Ohne es zu wollen, sammelten sich Tränen in ihren Augen und sie brauchte all ihre Kraft, um die kleinen Tropfen nicht über ihre Wange laufen zu lassen. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und versuchte zu verhindern, dass sie begann, zu weinen.
Nach einiger Zeit sagte ihre Mutter: „So, wir sind fertig. Geh ins Wohnzimmer und warte dort auf mich. Ich komme auch gleich.“
Leonie nickte kurz, rutschte vom Stuhl und huschte schnell aus dem Schlafzimmer. Sie lief noch hastiger ins Wohnzimmer und wollte sich auf das Sofa werfen, endlich weinen, doch dann hörte sie ihre Mutter, die lautstark im Schlafzimmer schimpfte und sich darüber beschwerte, dass sie nicht mehr in ihr Kleid passte.
Das junge Mädchen entschied sich dazu, sich auf den Rand des Sofas zu setzen und sich zusammenzureißen. Sie entschloss sich ebenfalls dafür, den heutigen Tag einfach über sich ergehen zu lassen und es einfach irgendwo in ihrem Kopf abzuspeichern, als irgendeinen Tag in ihrem Leben, der nicht von Bedeutung war. Sie würde versuchen, stark zu sein und sich nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm es ihr war, dieses Kostüm zu tragen. Ja, dieses Kleid und dieses ganze Outfit war für sie eine Verkleidung. Es passte einfach nicht zu ihr.
Als sie mit ihrer Mutter, welche einen dunkelblauen Hosenanzug trug, zur Schule kam, wurde sie von ihr an die Hand genommen. Sie liefen ins Innere der Schule und hier und da erhaschten sie Blicke auf die anderen Erstklässler und ihre Eltern.
„Sieh nur“, sagte die Ältere. „Das sind wahrscheinlich einige deiner Klassenkameraden.“
Leonie zuckte nur mit den Schultern, ließ den Kopf sinken und ihr fielen blonde Wellen über die Schultern nach vorne, so dass sie ihr Blickfeld verdeckten.
„Ich will nach Hause...“, sagte sie leise. „Ich möchte nicht hier sein...“
Sie blieb stehen und ihre Mutter drehte sich zu ihr um.
„Ach, Mäuschen... Es ist doch nicht so schlimm. Du hast es bis hierher geschafft. Das wirst du jetzt auch noch schaffen. Sieh mal, die anderen Kinder sind doch auch hier. Du wirst dich mit ihnen anfreunden und dann ist alles in Ordnung. Hörst du?“
Erneut zuckte das Mädchen mit den Schultern. Dieses Mal, weil sie nicht wusste, was sie dazu sagen sollte.
Sie ließ sich von ihrer Mutter weiter in das Innere der Schule ziehen und ließ die Eröffnungsfeier über sich ergehen. Sie musste auf die Bühne, ihr wurde eine dieser Zuckertüten übergeben und sie nahm diese nur missmutig entgegen. Sie war rosa, hatte große, gelbe Sterne darauf und eine Puppe ragte oben heraus.
„Danke...“, flüsterte sie, weil es sich so gehörte, wenn man etwas geschenkt bekam.
Freuen würde sie sich nicht darüber. Ihr Blick glitt in die Tüte, weil sie dennoch irgendwie neugierig war, aber das, was sie zuerst erblickte, gefiel ihr ebenso wenig, wie die Puppe, die einem sofort ins Auge sprang. Sie sah weitere rosafarbene Gegenstände und mittlerweile hatte sie das Gefühl, sie mochte diese Farbe nicht mehr.
Als sie sich wieder neben ihre Mutter setzte, ließ sie die Zuckertüte auf den Boden sinken und hielt sie weiter fest, achtete aber darauf, sie nur mit einigen ihrer kleinen Finger festzuhalten, damit sie nicht zu viel Kontakt mit der Verpackung hatte. Sie wollte es so wenig wie möglich berühren.
Nachdem die Feier vorbei war, ließ sich Leonie von ihrer Mutter auf den Schulhof ziehen, wo noch Bilder gemacht wurden, sowohl Gruppen- als auch Einzelfotos. Leonies Blick fiel auf die Jungs, die sich freudestrahlend mit ihrer Schultüte befassten. Einer von ihnen hatte eine blaue bekommen. Darauf waren mehrere rote Autos zu sehen. Sie wollte auch so eine haben! Sie wollte auch eine Tüte, wo Fahrzeuge darauf waren!
Das Mädchen bemerkte, wie sich erneut Tränen in ihren Augen sammelten und es war zu spät, denn die ersten kleinen Tropfen rollten bereits über ihre Wange. Ihre Mutter kniete sich sofort vor sie und wischte ihr mit dem Daumen über das Gesicht.
„Du musst nicht weinen. Es ist doch alles gut“, sagte sie und wollte ihre Tochter beruhigen.
Doch diese schüttelte den Kopf und ließ die Zuckertüte auf den Boden fallen.
„Ich ... Ich bin kein Mädchen! Ich bin ein Junge! Ich bin ... so wie er“, sagte Leonie und deutete dann in die Richtung, wo der Junge mit der blauen Schultüte und seinen Eltern stand.
„Das ist doch Quatsch! Du bist ein Mädchen! Du bist kein Junge! Das geht doch gar nicht!“, widersprach ihre Mutter und schüttelte den Kopf. „Hör auf, dir so etwas einzureden, Leonie!“
„Wieso muss ich ein Kleid anziehen? Wieso habe ich keinen Anzug an? Wieso?!“, bahnten sich ihre Tränen nun in reißenden Flüssen ihren Weg aus den Augenwinkeln. „Wieso bin ich kein Junge?“
Sie weinte bitterlich und alles, was ihre Mutter zu ihr sagte, machte ihr Gefühl im Inneren nicht besser. Es ließ den Schmerz nur noch mehr heranwachsen. Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen und wohin sie dieses Empfinden stecken sollte.
„Jetzt beruhige dich erst einmal und putz dir die Nase“, sagte Leonies Mutter und gab ihr ein Taschentuch.
Sie nahm es, wischte sich damit die Tränen von den Wangen und putzte sich die Nase, so wie es von ihr verlangt wurde.
„Was sollen denn die anderen von dir denken, wenn du weinst?“, fragte ihre Mutter. „Du bist stark und solltest dich auch so zeigen.“
Kurz nickte das Mädchen und wischte sich zusätzlich mit dem Handrücken über die Augen, auch wenn es eher wenig mädchenhaft war.
„Du musst in die Klasse. Du darfst nicht zu spät kommen“, strich ihre Mutter ihr über das blonde Haar. „Ich warte hier auf dich.“
Erneut nickte die Kleine und nahm ihren Rucksack, den sie mitbringen musste, entgegen. Langsam und mit zögerlichen Schritten ging sie zu ihrem Klassenzimmer, wo bereits einige Kinder warteten. Ihr Blick glitt zu ihnen und sie stellte fest, dass sich die Klasse in zwei Gruppen, die der Jungs und der Mädchen, teilte. Unschlüssig blieb Leonie stehen und spielte mit ihrem Kleid, auch wenn sie es nicht mochte. Die Berührung des Stoffs und das Reiben mit ihren Fingern darüber beruhigte sie fast schon.
„Hallo“, stammelte Leonie, als sie an den Jungs vorbeiging.
Sie wollte sich mit ihnen reden und sich mit ihnen anfreunden. Doch einer von ihnen sah sie an, als wäre sie ein Monster, was nicht zu ihnen gehörte.
„Geh weg! Du gehörst nicht hierher!“, sagte er und schob sie weiter, damit Leonie nicht stehenblieb.
„Aber...“, wollte sie protestieren, als sie sah, wie die anderen Mädchen sie ansahen und begannen, lautstark zu lachen.
„Guckt euch die an! Die denkt, sie könnte bei den Jungs mitspielen!“, sagte eine von ihnen.
Leonie ließ den Kopf nach unten sinken, so dass ihre Haare wieder nach vorne fielen und ihre Sicht bedeckten. So konnte sie die anderen nicht sehen und diese konnten sie nicht sehen.
Mit eiligen Schritten lief sie zum anderen Ende des Klassenraums und ließ sich auf einem Stuhl in der hintersten Reihe sinken. Ihren Rucksack stellte sie demonstrativ neben sich, damit niemand diesen Platz einnehmen konnte. Es half auch, denn als die Lehrerin den Raum betrat, hatten sich die anderen Schüler und Schülerinnen über die restlichen Sitzplätze verteilt.
„Guten Morgen“, sagte sie freundlich. „Mein Name ist Eileen Yamada. Ich bin ab heute eure Klassenlehrerin.“
Leonie bekam in dieser Informationsstunde viele Zettel, die sie ihrer Mutter später geben musste, damit sie alles kaufen konnte, was darauf stand. Es waren Schulbücher, Hefter, Blöcke, Stifte und andere nützliche Sachen, die für das Schuljahr wichtig waren.
„Gut, dann werden wir uns morgen früh wiedersehen“, sagte Frau Yamada, als die Stunde durch das Klingeln beendet wurde.
Alle Schüler rannten schnell aus der Klasse, achteten nicht darauf, dass sie sich gegenseitig wegschubsten und aneinander vorbeiliefen.
Als auch Leonie sich auf den Weg machen wollte, um zu ihrer Mutter zu gelangen, sah Frau Yamada sie an und stellte sich ihr in den Weg.
„Ist alles in Ordnung bei dir?“, sagte sie und kniete sich vor sie. „Leonie war dein Name, oder?“
„Nur ... Leo“, sagte das Mädchen und blickte in haselnussbraune Augen, die sie aufmerksam beobachteten. „Einfach nur Leo.“
„Gut, dann nur Leo, hat dir die Stunde heute gefallen?“
Sie nickte und presste dann ihre Lippen aufeinander.
„Ich... Ich muss zu meiner Mama. Sie wartet auf mich.“
„Okay, dann sag ihr liebe Grüße und bis morgen“, sagte die Lehrerin und ließ Leonie gehen.
„Ja, mach ich. Auf Wiedersehen“, flüsterte sie und ging eilig aus dem Klassenzimmer.
× Heute - Leos Sicht ×
Was wäre eigentlich, wenn ich mich in meinem Körper nicht wohl fühle? Wenn ich mich nicht zu Hause fühle? Was wäre, wenn ich diesen Körper verabscheue? Was würdet ihr mir raten, wenn ihr von all meinen Problemen wüsstet?
„Leo?“, hörte ich die Stimme meiner Mutter und seufzte.
Ich betrachtete mich im Spiegel und schüttelte den Kopf. Das, was ich da sah, das war nicht ich. Ich war nicht diese Person, die da im Spiegel zu sehen war.
Durch einen stechenden Schmerz in meinem Unterleib wurde ich aus meinen Gedanken gerissen und auch die Stimme meiner Mutter ertönte noch einmal.
„Fräulein, komm endlich runter. Du musst in die Schule“, rief sie durch das ganze Haus.
„Jaja, ich komme gleich“, gab ich hastig von mir und zog mir meinen Lieblingspullover an, der mir deutlich zu groß war, und eine Jeans, die nicht zu eng an meinem Körper lag.
Ich wollte nicht mit ihr reden und schon gar nicht mit ihr in einen Konflikt geraten, weil ich wieder einmal von ihr 'Fräulein' genannt wurde. Ich hatte ihr schon unzählige Male gesagt, dass ich diesen Begriff nicht mochte und doch verwendete sie ihn immer wieder.
Ich schob meine Schultern nach vorne und ging deutlich gebeugt aus meinem Zimmer, nachdem ich mein Handy in die Hosentasche gesteckt hatte. Den Rucksack trug ich dabei lässig über meiner Schulter. Nachdem ich mir noch mein Pausenbrot genommen hatte, lief ich in den Flur und schlüpfte in meine Sneakers.
„Bis dann“, murmelte ich leise, nahm meinen Haustürschlüssel und lief hinaus auf die Straße.
Ich steckte mir die Kopfhörer ins Ohr, schaltete die Musik an, um meine Umgebung auszublenden. Mir war egal, dass ich bei Rot über die Ampel lief. Mir war es egal, dass sich andere darüber aufregten, wenn ich sie anrempelte. Mir war es egal, was andere über mich dachten. Aber eines war mir nicht egal… Mir war nicht egal, wie die Leute mich sahen. Mir war es nicht egal, wie sie mich wahrnahmen. Sie sollten mich so sehen, wie ich es wollte… Auch wenn sie es meist nicht so machten.
Der ganze Tag ist einfach nur eine Maskerade und ich habe keine Lust mehr auf dieses Versteckspiel. Versucht doch bitte alle einfach, mich so zu sehen, wie ich es für richtig halte. Versucht mich zu verstehen. Versucht zu verstehen, wieso ich mich abgrenze, wieso ich gerne allein bin und wieso ich nicht in irgendeine Schublade gesteckt werden will.
Am heutigen Tag hatten wir Mathematik, zwei Stunden lang, wo wir eine Kontrolle geschrieben hatten, um den aktuellen Wissensstand der Klasse herauszufinden. In Deutsch hatten wir einen Aufsatz geschrieben, der für einige vollkommen unangekündigt war, obwohl es bereits seit Wochen feststand. Danach stand Chemie auf dem Stundenplan und wir hatten ein Experiment durchgeführt. Jeder hatte einen Partner zur Seite, doch ich war alleine gewesen. Ich hatte niemanden, der mir half. Ich war seit Jahren immer der Außenseiter.
In der Grundschule war ich mal eine Zeitlang bei den Jungs gewesen, hatte es geschafft, mich ihnen anzupassen, aber das war mit dem Wechsel der Schule eingebrochen und ich wurde wieder ausgegrenzt.
Nach Chemie stand Physik auf dem Programm und ich hasste dieses Unterrichtsfach wie die Pest. Ich kam einfach nicht damit klar. Was interessierte es mich, was passierte, wenn Licht auf ein Prisma fiel und der Lichtstrahl sich darin brach? Ich würde so etwas im späteren Leben nie wieder brauchen!
In der nächsten Stunde hatten wir Kunst und mussten uns ein Objekt aussuchen, was wir malten. Ich hatte versucht, ein Handy zu malen, aber es sah eher nach einer Kindergartenzeichnung aus, als das es irgendwie meinem Alter entsprechend aussah.
In der siebten Stunde hätten wir eigentlich Erdkunde gehabt, aber der Lehrer war krank und somit wurde diese Stunde durch die Letzte ersetzt und wir hatten Musik. Wir lernten etwas über Johann Sebastian Bach. Er war Komponist, soviel hatte ich mir gemerkt, aber mehr war nicht in meinem Kopf hängengeblieben.
Nachdem der Unterricht endlich vorbei war, lief ich schnell vom Schulgelände und ging in die Richtung der Stadt. Meine Klassenkameraden folgten mir, sprachen immer wieder über verschiedene Dinge. Sie ignorierten mich und liefen einfach an mir vorbei, als wäre ich einfach Luft.
„Wollen wir nachher noch ins Schwimmbad?“, fragte einer die anderen und grinste dabei breit. „Mit Sicherheit kann man dort hübsche Mädchen aufreißen.“
Sie sagten noch etwas, was ich aber nicht mehr wahrnahm, weil ich einfach weiterging und sie nicht mehr beachtete. Sie würden mich mit Sicherheit nicht fragen, ob ich mitkommen würde. Ich wollte mir auch nicht anhören, dass ich ein Außenseiter war und ich nirgendwo dazu gehörte. Ich wollte auch noch nicht nach Hause gehen, wollte noch nicht in der Einsamkeit festsitzen, weil meine Mutter nicht zu Hause war.
Ich sah auf dem Weg in die Innenstadt einen neuen Friseur. Er hatte vor kurzem erst eröffnet und es war gerade keine Menschenseele dort. Ich entschied mich, hineinzugehen und mir endlich einen großen Wunsch zu erfüllen.
„Hallo“, sagte ich und nahm allen Mut zusammen. „Meine Haare sollen deutlich kürzer werden.“
„Bist du dir wirklich sicher?“, erkundigte sich der Friseurmeister und ich nickte als Zeichen, dass ich fest entschlossen war. „Wie kurz sollen sie denn werden?“
„So mindestens fünf Zentimeter sollen schon noch auf dem Kopf bleiben. Der Rest kann weg“, gab ich von mir. „Mein Freund hat vor ein paar Wochen Schluss gemacht und es muss einfach eine Veränderung her.“
Ich versuchte damit meine Handlung zu erklären, in der Hoffnung, ich würde keine weitere Frage deswegen gestellt bekommen.
„Wie du willst. Wir fangen erst einmal mit dem Waschen an und dann sehen wir weiter“, lächelte der Friseur mich an und ich nickte erneut.
Ich folgte ihm zu einem Waschbecken, wo er mir die Haare wusch. Meine Mutter meinte, es wäre eine Bestimmung, solch schöne lange und blonde Haare zu haben. Doch ich fand es einfach nur grauenhaft. Ich wollte keine langen Haare haben. Ich wollte kurze Haare. Haare, bei denen ich mit Gel spielen konnte.
Ich schloss meine Augen und genoss die Behandlung mit dem warmen Wasser und der Kopfmassage, die ich gerade bekam. Nachdem er fertig war, brachte er mich zu einem Platz und legte mir ein Tuch um, damit meine Kleidung am Ende nicht voll mit Haaren war.
Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, aber ich fühle mich nicht wohl. Wenn du mich nicht mit dem Namen ansprichst, den ich für richtig halte, dann tut es einfach nur weh. Es schmerzt in meinem Inneren und ich will einfach nur anfangen zu weinen. Ja, es ist schwer, dass du dich umgewöhnen musst, weil du mich seit Jahren anders kennst und doch, ist es so schwer? Ist es so schwer, sich selbst zu ermahnen?
Ich blickte in den Spiegel und begann zu grinsen: „Es ist perfekt.“
Meine Stimme strahlte meine Freude aus und ich stand stürmisch auf und umarmte meinen Friseur.
„Danke. Genau so habe ich es mir vorgestellt!“
Ich hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, bezahlte eilig und gab ein großzügiges Trinkgeld dazu.
„Bis zum nächsten Mal“, verabschiedete ich mich und ging hinaus.
Ich lief noch ziemlich lang durch die Stadt und ging auf dem Weg nach Hause an einem Sportplatz vorbei. Es war das erste Mal, dass ich hier Personen sah, die trainierten.
„Wirf uns mal den Ball wieder her“, rief mir ein Junge mit braunem Haar zu.
Ich sah mich kurz um und sah den Ball neben mir liegen. Mit einem gekonnten Kick schoss ich den Ball wieder zu ihm und wollte weitergehen, doch ich wurde erneut von der Stimme aufgehalten.
„Ein guter Schuss! Willst du nicht mal zum Training vorbeikommen? Wir trainieren Montag, Mittwoch und Freitag! Immer so gegen 18 Uhr. Vielleicht hast du ja mal Lust und irgendwann mal Zeit hierherzukommen!“
„Ich überlege es mir“, rief ich zurück und versuchte meine Stimme tiefer wirken zu lassen.
Langsam setzte ich mich wieder in Bewegung und lief weiter. Meine Mutter war arbeiten, als ich nach Hause kam. Also konnte sie sich noch nicht über meinen Besuch beim Friseur beschweren und ich ging kurz am Kühlschrank vorbei, um mir ein Sandwich zu machen und mich dann im Wohnzimmer auf das Sofa fallen zu lassen. Mit einem kurzen Klick auf die Fernbedienung schaltete ich das Fernsehprogramm ein.
Doch ich aß nicht wirklich etwas, stellte den Teller einfach nur neben mich und schloss die Augen. Es war mir egal, was andere dachten. Obwohl ich eigentlich wollte, dass sie dachten, ich wäre kein Mädchen.
Der Junge vom Fußballplatz dachte wahrscheinlich, ich wäre einer von ihnen. Ich nahm mein Smartphone in die Hand und ging zu Google. Ich suchte nach einer guten Möglichkeit für mich, meine Brüste zu verstecken. Ich fand auch etwas und las mir einige Bewertungen, darunter auch Erfahrungsberichte, durch und überlegte, ob ich mir einfach mal etwas bestellen sollte. Es konnte am Ende nicht schlimmer werden, sondern nur besser.
Ich suchte in den Unterlagen, die sich im Schrank befanden, nach den Kontodaten meiner Mutter. Ich müsste ihr nur das Geld zurückgeben, dann dürfte es eigentlich in Ordnung sein. Vielleicht könnte ich es über das Taschengeld abrechnen?
Kurze Zeit später hatte ich die Daten eingegeben und auf „Kaufen“ gedrückt und jetzt hieß es für mich nur noch warten. Warten, dass das Paket ankam. Warten, dass ich endlich sehen konnte, wie es an mir aussah.
Es ist für mich nicht leicht, mich zu verstecken. Es ist nicht leicht, zu sagen, was ich denke. Es ist nicht leicht, zu verbergen, was ich wirklich will. Es ist die Angst, die mich davon abhält. Angst, dass ich zurückgewiesen werde. Angst, dass ich abgelehnt werde. Angst, dass ich weiter an diesem Punkt stehen bleibe. Angst, dass ich nicht vorankomme. Angst, dass ich einfach nur ausgelacht werde.
Einige Tage später kam ich nach der Schule nach Hause, warf meinen Rucksack im Flur auf den Boden und streifte mir die Schuhe von den Füßen. Heute war der Unterricht eine reine Katastrophe!
Alles, was schief gehen konnte, war auch schief gegangen. Erst hatte ich die falschen Hefter und Lehrbücher dabei. Dann hatte ich absolut in einer Klassenarbeit versagt. Ich hatte Ärger mit jemand aus meiner Klasse, weil ich angeblich im Weg gestanden hatte. Es war aber schnell wieder vorbei, weil der Lehrer dazwischen gegangen war.
Ich schüttelte den Kopf, denn ich wollte nicht weiter darüber nachdenken. Ich lief in die Küche, öffnete den Kühlschrank und seufzte, als ich sah, dass kaum etwas darin vorhanden war, was ich essen wollte. Es sprach mich nichts an. Also nahm ich mir notgedrungen einen Joghurt und einen Apfel, der neben der Spüle auf einem kleinen Schrank lag. Ich schnitt diesen klein und gab ihn und den Joghurt in eine Schüssel. Ich nahm einen Löffel und sank gelangweilt auf den Stuhl, der am Tisch stand.
„Oh man“, entwich es mir, als ich mir den ersten Löffel in den Mund schob. „Wie lange soll das noch so weitergehen?“
Ich kaute kurz, seufzte anschließend und schob mir noch etwas vom Essen in den Mund.
Es war doch einfach alles frustrierend! Ich war den ganzen Tag alleine. Es fing am Morgen an, wenn ich aufstand, ging in der Schule weiter und den Abschluss fand es, als ich nach der Schule nach Hause kam und immer noch in der Einsamkeit gefangen war.
Meine Mutter war als Altenpflegerin tätig und das meistens ziemlich lange. Auch wenn sie nur acht Stunden arbeiten musste, so blieb sie oft länger, um ihre Kolleginnen zu helfen. Auch heute hatte sie wohl entschieden, noch an dort zu bleiben.
Ich zuckte zusammen, als die Haustür lautstark ins Schloss fiel und meine Mutter schnaufend in die Küche kam.
„So ein Mist“, stieß sie aus, als sie schwere Einkaufstüten auf den Tisch stellte. „Glaubst du es denn? Mir sind unterwegs die Griffe vom Beutel gerissen und ich musste alles vom Parkplatz aufheben!“
Sie atmete tief durch, was man deutlich hörte, und sah dann sie mich an.
„Was ... ist eigentlich mit deinen Haaren passiert?“
Ihre Stimmlage zeigte deutlichen Unmut.
„Also...“, begann ich und sah zur Seite.
Wie sollte ich das erklären? Ich konnte ihr noch nicht die Wahrheit sagen. Ich konnte noch nicht erklären, was in mir vorging. Ich wusste es ja noch nicht einmal selbst zu einhundert Prozent. Ich war mir noch vollkommen unschlüssig, ob das, was ich gerade tat, richtig war. Kurz holte ich tief Luft, sah zu meiner Mutter und überlegte noch immer, was ich sagen konnte, um sie zu beschwichtigen. Doch sie sprach einfach weiter.
„Du hast deine Haare abgeschnitten? Weißt du, wie viel Arbeit es macht, die Haare auf solch eine Länge zu bringen? Wie schwer es ist, sie zu pflegen? Seitdem du ein kleines Kind warst, sind sie gewachsen. Es hat so viel Arbeit gemacht, sich um sie zu kümmern.“
„Mir hat gestern jemand ein Kaugummi ins Haar geklebt“, unterbrach ich sie und sorgte dafür, dass sie augenblicklich schwieg.
„Was?“
„Ich hatte keine andere Wahl“, murmelte ich leise und blickte zur Seite, damit ich ihre finstere Miene nicht sehen konnte. „Ich hätte auch damit leben können, wenn dir das lieber gewesen wäre!“
„Hast du einen Lehrer benachrichtigt? Hast du es irgendjemanden gesagt? Es muss zur Rechenschaft gezogen werden! So kann das nicht weitergehen!“
„Sei doch froh, die Pflege wird für dich und mich jetzt deutlich einfacher!“, sagte ich weiter und verschränkte die Arme vor meiner Brust.
Ich beobachtete, wie sie zum Telefon ging und eine Nummer eintippte.
„Ich weiß, was du vorhast. Es war nicht in der Schule. Es war auf dem Weg nach Hause. Mich haben irgendwelche Typen geärgert, mich geschubst... Dann landete ich in einer Pfütze... Und irgendwie bin ich zudem im Dreck gelandet... Ich weiß nicht, wer es war und ich will es auch nicht wissen... Also wird es dir nichts bringen, wenn du meinen Lehrer anrufst...“
Sie blickte über die Schulter zu mir und ich sah erneut zur Seite.
„Wieso sagst du das nicht gleich? WARUM?“, stieß sie wütend hervor. „Sag mir, was dein Problem ist!“
Ich zuckte bei ihrem Tonfall zusammen und presste die Kiefer aufeinander, um mich nicht gleich lautstark zu äußern.
„Ich habe kein Problem! Ich weiß nur, wie du reagierst und hatte keine Lust auf Stress! Aber das kann ich ja nun vergessen!“
Ich stand auf und sah ihr direkt in die Augen. Sollte sie doch jetzt über mich denken, was sie wollte.
„Und damit du dich noch weiter aufregen kannst: Ich habe außerdem etwas im Internet bestellt. Meinetwegen ziehe es mir vom Taschengeld ab, wenn du willst oder verlange das Geld auf irgendeine andere Art und Weise von mir zurück!“
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ich verhinderte es, indem ich sofort weitersprach.
„Du kannst mich nicht immer wie ein Kleinkind behandeln! Ich muss auch mal meine eigenen Entscheidungen treffen! Und wenn es falsch ist, dann muss ich eben mal damit auf die Nase fallen!“
Ich holte Luft, um mich wieder etwas zu beruhigen, bevor ich mich weiter hineinsteigerte. Ohne auf eine weitere Reaktion zu warten, nahm ich meinen Joghurt und verließ die Küche. Ich ging in mein Zimmer, knallte die Tür zu und hörte kurze Zeit später, wie meine Mutter lautstark begann zu schimpfen.
Die nächsten Tage schwieg ich meine Mutter zum Großteil an und ignorierte sie, soweit es mir möglich war. Sie war ebenfalls auf mich sauer, denn auch von ihr kam nicht wirklich ein Annäherungsversuch. Aber wir sahen uns im Moment relativ wenig, denn sie war die meiste Zeit an der Arbeit.
Als ich heute nach Hause kam, entdeckte ich im Briefkasten eine Benachrichtigung, dass versucht wurde, ein Päckchen zuzustellen, aber niemand angetroffen wurde. Das Päckchen wurde zur Abholstation der Post gebracht und ich nahm den Zettel gleich mit, so dass meine Mutter ihn erst gar nicht in die Finger bekam. Wer wusste, was sie tun würde, wenn ihr das Paket in die Hände fiel.
Am nächsten Tag ging ich freudestrahlend zur Poststation. Wieso war es heute so voll? Ich hüpfte quasi von einem Fuß auf den anderen und je näher ich dem Schalter kam, desto mehr wuchs meine Nervosität heran.
Als ich endlich an der Reihe war, grinste ich über das ganze Gesicht. Die Frau dachte wahrscheinlich, ich wäre aus der Irrenanstalt entlassen worden und jetzt wieder auf freiem Fuß.
„Guten Tag“, sagte ich freundlich, reichte ihr den Benachrichtigungsschreiben und sie nahm ihn entgegen, las kurz, was darauf stand und ging dann nach hinten, wo die Pakete gelagert wurden.
Nach einiger Zeit kam sie wieder hervor und reichte mir das Päckchen.
„Muss ich noch irgendwo unterschreiben?“, erkundigte ich mich, als ich danach griff, um es an mich zu nehmen.
„Nein, müssen Sie nicht. Es ist alles gut“, erwiderte die Frau und ich nickte ihr zu.
„Okay, dann auf Wiedersehen“, verabschiedete ich mich und ging mit dem Paket in meinem Arm davon.
Ich war absolut aufgeregt und hatte das Gefühl, in meinem Bauch würden unzählige Schmetterlinge auf und ab fliegen und alles in mir durcheinander bringen.
Als ich endlich nach Hause kam, warf ich meinen Rucksack wieder achtlos auf den Boden, streifte meine Schuhe von den Füßen, schleuderte sie in einem hohen Bogen in die gleiche Richtung und eilte dann mit großen Schritten in mein Zimmer.
Ich wollte mein Paket auspacken, endlich in der Hand halten, was ich bestellte und vor allem wollte ich wissen, was der Binder für eine Wirkung auf mein Aussehen hatte...
× Killians Sicht ×
„Du kennst ihn doch gar nicht“, ging ich meinen Teamchef an und sah ihm in die braunen Augen.
Er konnte doch nicht einfach so irgendwelche Passanten ins Team holen und sie zu einem Probetraining einladen! Das musste mit dem Trainer besprochen werden! Und das nicht erst seit heute! Es war die ganze Zeit schon so…
„Er kann gut schießen und das ist das Wichtigste! Der Rest wird sich noch ergeben. Außerdem… Wir werden ihn schon noch kennenlernen und uns mit ihm anfreunden“, brachte Fynn mir als Gegenargument entgegen. „Wir brauchen Verstärkung, wenn wir die Meisterschaft endlich mal gewinnen wollen! Oder hast du das vergessen?“
Ich seufzte und schüttelte den Kopf. Eigentlich hatte er sogar recht, auch wenn ich es mir noch nicht eingestehen wollte.
„Nein, ich habe es nicht vergessen. Du erinnerst uns ja auch bei jedem Training daran“, sagte ich leise und ließ den Kopf etwas hängen.
Im Moment war ich einfach nur von seiner Anwesenheit genervt, davon, dass er sich einfach alles herausnahm, dass er dachte, er wäre der Boss über das Team und konnte demzufolge alles machen. Ich nahm meine Trainingssachen und stopfte sie unachtsam in meine Tasche. Ich wollte nur noch hier weg. Und das, so schnell es ging.
„Wir sehen uns übermorgen“, verabschiedete ich mich bei ihm und lief nach Hause.
Allerdings ging mir dieser Blonde von heute Abend nicht aus dem Kopf. Er hatte wirklich einen sehr genauen und guten Pass, als er den Ball zu Fynn geschossen hatte.
Doch er sah etwas feminin aus, was ich allerdings nicht als schlimm empfand, denn er war wirklich niedlich. Moment! Stopp! Was dachte ich da gerade?
Ich schüttelte den Kopf und warf mich, zu Hause angekommen, auf mein Bett, nachdem ich mich frisch geduscht und mir neue Kleidung angezogen hatte.
Wieso dachte ich bitte an einen Typen? Ich war nicht schwul und auch nicht daran interessiert, es zu werden! Wieso ging er mir also nicht aus dem Kopf? Ich wüsste auch nicht, wieso ich auf einmal Interesse an Männern haben sollte…
× Leos Sicht ×
Ich hatte mich gerade in meinem Zimmer an den Schreibtisch gesetzt und sah mir das Päckchen erst einmal genau an. Es juckte mich in den Fingern, es auspacken zu wollen. Aber ich zügelte mich und ließ meinen Blick über die Sendung gleiten. Es war nicht sonderlich groß und es war ziemlich neutral verpackt.
Mein Herz schlug bis zum Himmel, als ich langsam versuchte, die Verpackung zu öffnen, ohne den Inhalt zu beschädigen. Es dauerte ein paar Momente, bis ich den Anfang gefunden hatte und dann endlich den Binder in der Hand hielt. Auf meinen Lippen breitete sich erneut ein Grinsen aus, was meine Freude deutlich zeigte.
Der Binder würde mir helfen, meine Brüste zu verstecken. Er saß stramm um die Haut und drückte die Oberweite zusammen.
Ich zog meine Oberbekleidung aus und legte sie auf den Schreibtisch, vor dem ich saß. Ich vermied es dabei, in den Spiegel meines Schranks zu blicken, denn ich wollte nicht sehen, was mich dort erwartete.
Als ich den Binder wieder in der Hand hielt und aus der Schutzfolie genommen hatte, sah ich ihn mir genau an.
Im ersten Moment war ich skeptisch, dass dieses Teil etwas bringen würde. Ich war dennoch nicht in der Lage, mein Vorhaben zu unterbrechen und fuhr weiter fort.
Es war schwierig, denn er gab im ersten Augenblick nicht nach und ich wusste noch nicht, wie ich ihn mir richtig anziehen sollte. Doch beim dritten Anlauf hatte ich das Stück Stoff über meinen Oberkörper gezogen und sah an mir hinab.
Ich presste die Kiefer aufeinander, als ich meine Brüste etwas zur Seite drückte, damit man sie nicht mehr so deutlich sehen konnte. Es war ein komisches Gefühl, als ich mich mit meinen kalten Fingern berührte und versuchte, meine Brüste so gut es ging wegzuschieben.
Es ist, als würde ich ein zweites Leben geschenkt bekommen. Endlich konnte ich mich etwas freier bewegen, ohne das ich mir Gedanken darüber machen musste, ob jemand erkennen konnte, wer oder eher was ich war.
Ich griff das T-Shirt, was auf dem Schreibtisch lag und zog es wieder über. Dann sah ich in den Spiegel meines Kleiderschranks. Es war ein Traum!
Wenn ich meine Haare noch etwas stylen würde, dann würde mir niemand mehr glauben, dass ich weiblich war.
Als ich darüber nachdachte, dass ich eingeladen wurde, bei einer Jungen-Fußballmannschaft zu einem Probetraining zu kommen, schlug mein Herz auf einmal schneller.
Augenblicklich öffnete ich die Türen vom Schrank und suchte nach einigen Sachen, die ich anziehen konnte, damit man meinen Körper nicht wirklich sah. Doch ich hatte nichts, was ich anziehen konnte!
Frustriert seufzte ich, als ich den Schrank wieder verschloss und zurück auf den Stuhl fiel. Ich musste shoppen gehen. Ich brauchte neue Kleidung. Ich brauchte etwas, worin ich mich wohlfühlte und wo ich sagen konnte, dass es mein Style war. Ich musste auch Kleidung für das Training kaufen. Und das am besten in den nächsten Tagen.
Einige Tage später stand ich wieder in meinem Zimmer und sah mich von oben bis unten im Spiegel an. Ich hatte mir heute nach der Schule eine kurze, sowie eine lange Hose und ein neues Shirt gekauft, damit ich später zum Training der Fußballmannschaft gehen konnte.
Im Moment war ich mir nicht mehr so sicher, ob es wirklich eine gute Idee war, später zum Training zu gehen. Aber was hatte ich schon zu verlieren? Es war ja schließlich nur ein Probetraining…
Am Abend saß ich mit meiner Mutter beim Abendessen, als ich entsetzt auf die Uhr sah: „Verdammt! Ich komme zu spät!“
„Was ist denn los?“, fragte sie mich.
In wenigen Worten erklärte ich ihr, dass ich vielleicht anfangen würde, in einer Mannschaft Fußball zu spielen und ich zu einem Probetraining eingeladen war. Auch sagte ich ihr, dass ich vorhatte, heute zu diesem Training zu gehen.
„Soll ich dich fahren?“, erkundigte sie sich augenblicklich. „Du musst mir unbedingt sagen, wie es in der Mädchen-Mannschaft ist!“
Ich lächelte ihr widerwillig zu und nickte, bevor ich in mein Zimmer eilte, nach der Sporttasche griff, um dann zum Sportplatz zu eilen. Ich wollte mich nicht wieder mit ihr darüber unterhalten, dass ich diese spezifische Trennung nicht mochte. Ich hatte ihr noch immer nicht gesagt, wie ich mich fühlte und welche Gedanken mich quälten. Ich würde es ihr erst sagen, wenn ich wirklich sicher war, dass ich mich nicht irrte.
Meine Mutter fuhr mich allerdings mit ihrem alten Auto zum Sportplatz. Sie wollte unbedingt wissen, wer meine Teammitglieder waren. Doch der Verkehr auf der Straße hinderte sie daran, zum Sportplatz zu sehen.
Als ich ausstieg und meine Tasche aus dem Kofferraum holte, sah ich schon die Jungs joggen. Ich war also wirklich schon zu spät. Ich beeilte mich, zum Rand des Platzes zu kommen.
„Tut mir leid, dass ich zu spät bin“, entschuldigte ich mich beim Braunhaarigen, als ich ihn endlich gefunden hatte.
Es war der Junge, der mich gebeten hatte, den Ball zurückzuschießen. Er hatte dunkle Augen, die sich genau auf mich richteten, als er mich mitbekam.
„Kein Problem. Wir hatten ja keinen Tag ausgemacht, an dem du zum Training kommst. Es freut mich, dass du hier bist“, lächelte er mich breit an. „Ich bin Fynn, der Captain der Mannschaft. Der Trainer, Jayden – eine volle Schnarchnase – ist auch noch nicht da, aber das ist nichts Neues. Ich zeige dir alles, damit du dich umziehen und dann zu uns stoßen kannst.“
„Danke“, stammelte ich vor mir her.
Ich schüttelte kaum merklich den Kopf, als Fynn vor mir entlang lief.
In meinem Kopf bildeten sich unzählige Bilder, als ich mir vorstellte, wie die Jungs sich umzogen und halbnackt durch die Kabinen liefen. Ich spürte, wie sich die Hitze in meinen Wangen ausbreitete und ich rot anlief.
Ich durfte mich nicht von so etwas aus dem Konzept bringen lassen! Ich durfte mich nicht weichspülen lassen! Ich musste hart sein! Ich musste ein Mann sein!
„Ich heiße Le-...“, begann ich erneut zu stottern, als sich zwischen uns eine unangenehme Stille ausbreitete.
Wie sollte ich mich vorstellen? Leonie konnte ich schlecht sagen, denn dann wusste er sofort, dass ich ein Mädchen war!
„Leon!“, rief ich schnell aus. „Ich heiße Leon.“
Mein Herz schlug schnell und ich wusste nicht, ob man es sogar schlagen hören konnte.
„Gut, Leon. Hier sind die Umkleiden“, sagte Fynn, als wir an einem kleinen Häuschen ankamen, welches am Rand des Feldes stand und öffnete die Tür. „Es ist nicht sonderlich groß, aber es reicht, um sich umzuziehen.“
Er ging hinein und ich folgte ihm. Es war wirklich nicht groß, aber er hatte recht. Es reichte, um sich die Trainingskleidung anzuziehen.
„Danke...“, sagte ich und stellte meine Tasche ab. „Ich werde mich umziehen und dann zu dir kommen?“
Er nickte und ließ mich dann alleine zurück. Ich suchte mir einen freien Spind und verstaute meine Tasche und meine Wechselkleidung darin, nachdem ich mich umgezogen hatte. Ich sah zu den anderen verschlossenen Schränken. Wenn es gut lief, dann würde ich bald mit trainieren können.
Ich ließ mich auf eine der Bänke gleiten und fuhr mir durch das kurze Haar. Ich hatte mich sehr schnell umgezogen, denn ich hatte Angst, dass einer der anderen aus dem Team in die Umkleide kam und mich sehen würde.
Kurz zupfte ich mein Shirt etwas von meinem Körper weg und krümmte den Rücken, damit man wirklich nichts von meinem Oberkörper sehen konnte. Niemand sollte wissen, dass ich in Wahrheit ein Mädchen war.
Nachdem ich wieder zu Fynn kam, damit ich am Training teilnehmen konnte, fiel mein Blick auf einen Jungen mit schwarzen Haaren.
„Hey, da bin ich wieder“, meldete ich mich zu Wort, als Fynn eine weitere Übung erklärte.
„Wartet mal“, rief er alle zusammen.
Sie versammelten sich um uns herum und sahen mich von oben bis unten an. Diese Blicke waren mir unangenehm und ich wollte im Erdboden verschwinden. Ich fühlte mich auf einmal extrem unwohl in meiner Haut.
„Ich möchte euch Leon vorstellen. Er wird heute am Training teilnehmen und vielleicht wird er bald unser Team unterstützen“, erklärte Fynn ruhig. „Ich hoffe, ihr werdet gut miteinander auskommen.“
Die anderen begrüßten mich und kaum waren sie freundlich auf mich zugekommen, verflog meine Nervosität und der Knoten in meinem Magen löste sich. Ich wurde einfach mit in das Training eingebunden. Auch als es zu einem kleinen Spiel kam, wurde ich einfach akzeptiert. Es war egal, dass meine Stimme etwas höher war. Es war egal, dass ich noch nicht so muskulös wie sie war. Es war alles egal, denn ich gehörte einfach dazu.
In einer der kurzen Pausen ging ich zu Fynn und nahm mir eine der Wasserflaschen, die er verteilte.
„Sollte nicht langsam mal der Trainer auftauchen?“, erkundigte ich mich bei ihm. „Oder habt ihr keinen?“
„Ja, wir haben einen, aber man kann sich nie darauf verlassen, ob er wirklich erscheint. Meist kommt er erst kurz vor Ende des Trainings“, grinste er etwas. „Er ist immer zu spät, egal ob es das Training oder das Spiel ist. Aber einen anderen Trainer bekommen wir nicht und wir sind an sich auch mit dem Ergebnis zufrieden, dass er durch die Anwesenheit erzielt. Es ist ja nicht so, dass er kein guter Coach ist, aber manchmal ist er einfach … merkwürdig.“
Ich hörte ihm aufmerksam zu.
„Was ist er so für ein Mensch?“
„Außer, dass er immer zu spät kommt, kann man sich immer auf ihn verlassen und er macht das, was er soll, auch richtig gut“, lachte Fynn weiter. „Aber wie heißt es so schön: Wenn man vom Teufel spricht.“
Er deutete in eine Richtung, wo ein Mann um die dreißig, vielleicht auch fünfunddreißig, lässig angeschlendert kam. Er hatte bereits leicht silbernes Haar.
„Jayden… Jayden Mason ist euer Trainer?“, schluckte ich und presste die Kiefer fest zusammen.
„Ja“, antwortete Fynn mir. „Du kennst ihn?“
„Er… ist mein aktueller Klassenlehrer...“, flüsterte ich und sah zu Boden.
‚Das ist … doof! Mehr als doof!‘, schoss es mir sofort durch den Kopf.
Und meine Hände begannen Unmengen an Schweiß abzusondern. In meinem Hals wuchs ebenfalls ein dicker Kloß heran, der mir sowohl das Atmen, als auch das Sprechen erschwerte. Wie sollte ich ihm das nur erklären?
× Leos Sicht ×
Ich sah meinen Lehrer einfach nur fassungslos an. Er stand vor uns und schaute uns mit einem gelangweilten Blick an, bevor er anfing zu reden.
„Tut mir Leid, dass ich zu spät bin“, erklärte Jayden, stellte sich einfach mit zur Gruppe und ließ sich auf den Stand der Dinge bringen
Erst im zweiten Augenblick sah er mich und drehte kurz den Kopf zur Seite, bevor er mich ein weiteres Mal ansah.
Als sich unsere Augen trafen, sah er mich mit großen Augen an: „Was machst du denn hier?“
„Ich… Ich bin von Fynn zum Probetraining eingeladen wurden...“, erklärte ich kurz. „Es ist trotzdem eine lange Geschichte.“
Ich zupfte unruhig an meinem Oberteil herum, um meine Nervosität zu überspielen.
„Das kannst du mir nachher noch erzählen“, sagte er.
Er meinte zum Team, dass wir noch zwei Runden laufen sollten, bevor wir noch einige Übungen machen sollten. Ich hatte deutliche Schwierigkeiten, bei allen mitzuhalten, versuchte aber dennoch, mein Bestes zu geben und nicht hinterher zu hängen.
Als das Training beendet wurde, liefen alle zur Umkleide, sammelten sich dort und ich blieb noch ein paar Sekunden davor stehen, um nicht zu viel von mir preiszugeben. Ich überlegte, ob ich einfach meine Tasche schnappte und nach Hause ging, ohne mich umzuziehen. Doch wie würde ich das den anderen gegenüber erklären können?
Ich atmete mehrfach tief durch, nahm meinen Mut zusammen und ging auch in die Umkleide. Die Blicke hoben sich kurz an, als sie mich bemerkten, aber schnell wandten sich alle wieder ihrem Vorhaben zu, sich aus der verschwitzten Kleidung zu schälen und ihre Alltagskleidung überzustreifen.
Nachdem ich meine Trainingshose übergezogen, meine Jacke angezogen, sowie meine Schuhe gewechselt hatte und die anderen bereits weg waren, wartete Jayden vor der Umkleide. Ich hatte gerade alles in meine Sporttasche gepackt, bevor ich die Umkleide verließ und augenblicklich sah er mich fragend an. Ich ging mit gesenktem Blick auf ihn zu und blieb schweigend vor ihm stehen.
„Also… Du willst mir mit Sicherheit einiges erklären?“, forderte Jayden mich zum Reden auf.
Ich schwieg unschlüssig, denn ich wusste nicht, was ich genau sagen sollte. Ich wollte mit ihm reden, ihm alles erklären, aber ich wusste nicht, welche Worte ich wählen sollte.
„Ich…“, begann ich und suchte nach den richtigen Begriffen. „Ich fühle mich nicht als Mädchen…Ich wollte einmal als Junge leben… Einmal als Junge wahrgenommen werden...“
Er hörte meiner Stimme zu. Hörte, was ich sagte. Hörte, was ich erklärte. Doch er äußerte sich nicht gleich dazu.
Es entstand eine Stille, die ich nicht deuten konnte. Ich wusste nicht, ob es ein positives oder negatives Schweigen war.
„Was sagt deine Mutter dazu?“, fragte Jayden und fuhr sich mit den Fingern über das Kinn, als würde er nachdenken.
„Sie… weiß noch nichts davon“, stammelte ich und spielte an meinem Oberteil herum. „Ich… habe Angst, mit ihr zu reden...“
Jayden schwieg und wartete einige Momente, bevor er erneut das Wort ergriff.
„Ist es denn nur eine einmalige Sache oder willst du dauerhaft als Junge leben? Fühlst du dich so denn wohler?“, sprach er ruhig weiter.
„Ich weiß nicht... Ich weiß, dass ich so, wie es jetzt ist, nicht weiter leben will und kann. Ich denke, es ist nicht nur einmal. Ich komme mit der Veränderung von meinem Körper nicht klar. Ich komme nicht mit mir und meinem Leben klar. Ich komme nicht damit klar, wie man mich behandelt und wie man mich wahrnimmt. Ich nehme an, dass ich als Junge leben will. Haben Sie eine Ahnung, wie man damit umgehen kann oder was es überhaupt ist?“
Erneut rieb er sich mit dem Finger über das Kinn und schien tief in seinem Kopf zu forschen, was es damit auf sich hatte.
„Nun...“, begann er und sah mir genau in die Augen. „Ich habe so etwas schon mal gehört. Ich glaube, es nennt sich Transsexualität. Ich würde sagen, du recherchierst erst einmal im Internet. Vielleicht findest du ja auch ein Forum, wo du Gleichgesinnte findest. Du solltest dir klar werden, was du möchtest. Wenn du dich hier als Junge ausprobieren möchtest und mit den anderen zusammen spielen willst, dann ist es okay. Ich sage nichts.“
Er schwieg noch einmal, bevor er wieder zum Sprechen begann: „Aber… Ob du zum Turnier demnächst kannst, muss ich mich erkundigen. Du kannst jedenfalls immer zu mir kommen, wenn etwas ist. Du solltest deiner Mutter trotzdem alles erzählen. Hat sie sich denn nicht gewundert, als du deine Haare abgeschnitten hast?“
„Sie war nicht gerade begeistert, aber ich habe es mit einer Ausrede abgewickelt… Sie war sauer, als sie es gesehen hat“, erwiderte ich. „Es tut mir Leid, dass ich Ihnen Probleme bereite, also wegen dem Turnier…“
Ich sah wieder zum Boden.
„Außerdem soll es ja nur erst einmal ein Probetraining sein. Es hat sehr viel Spaß gemacht, auch wenn es sehr anstrengend war. Ich möchte darüber nachdenken, ob ich wieder zum Training komme oder nicht… Aber bitte, nennen Sie mich Leon, wenn ich hier wieder auftauchen sollte…“
„Klar, werde ich machen. Und jetzt sieh zu, dass du nach Hause kommst. Es ist schon spät“, legte mir Jayden aufmunternd eine Hand auf den Kopf und wuschelte durch das kurze blonde Haare.
„Vielen Dank, dass Sie mir zugehört und geholfen haben“, verabschiedete ich mich. „Vielen Dank, dass Sie es für sich behalten.“
Er lächelte mir entgegen und winkte mir nach, als ich mich auf den Weg nach Hause machte.
Während ich die Straßen überquerte, meinen Gedanken nachging, überlegte ich, wie ich meiner Mutter wohl alles erklären konnte. Würde sie es verstehen? Was würde sie wohl dazu sagen?
Als ich an einer roten Ampel stehenblieb, sah ich in den Himmel, griff nach dem Träger meiner Sporttasche und spielte mit dem Finger daran herum.
Es war merkwürdig, es das erste Mal auszusprechen. Es fühlte sich richtig an, was ich gesagt hatte. Ich hatte mich jemanden geöffnet. Und Jayden hatte sich alles angehört. Er hatte dem Ganzen einen Namen gegeben: Transsexualität.
Ich würde später im Internet nachschauen, was es damit auf sich hatte und wie man damit umging. Ich musste mehr darüber erfahren.
× Leos Sicht ×
„Hey, warte mal“, rief mir jemand nach und ich drehte mich zur Person um, die gerade auf mich zukam. „Du hast zuvor noch kein Fußball gespielt, oder?“
„Ich hab nur als Kind alleine gespielt“, erwiderte ich ertappt und sah kurz in die tiefschwarzen Augen meines Gegenübers. „Hat man es so deutlich gemerkt?“
Er war einer aus dem Team. Seine schwarzen Haare hingen ihm seitlich in langen Strähnen am Gesicht herunter. Es lag mit den Spitzen fast auf seiner Schulter. Die Augen ließen keinen Ausdruck von Emotionen zu, aber dennoch erkannte ich etwas darin, was ich nicht richtig deuten konnte. Es gefiel mir, sehr sogar.
„Nein, ich wollte nur nachfragen. Aber an sich müsstest du noch an deiner Technik feilen. Aber das bedarf viel Training, wenn du zu uns in die Mannschaft kommst“, erklärte der Schwarzhaarige.
„Wie heißt du, wenn ich fragen darf?“, sah ich ihn weiter an.
„Killian Anderson“, lächelte er kurz und ich bemerkte, dass mein Herz begann, deutlich schneller zu schlagen.
Hatte schon mal jemand solch ein schönes Lächeln? Auch wenn es nur für einen Augenblick zu sehen war, war es doch unbeschreiblich schön gewesen. Ich schluckte und nickte einfach nur, da ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte.
„Wolltest du nicht eigentlich nach Hause? Du hast eben nicht geduscht...“, meinte er und zog misstrauisch eine Augenbraue nach oben.
„Oh… Ja, der Trainer hatte noch mit mir gesprochen und mich vom Gehen abgehalten. Ich werde aber jetzt wirklich nach Hause weiter laufen. Vielleicht sieht man sich ja noch einmal?“
Ich sah ich zum Boden und schloss die Augen für einige Sekunden. Insgeheim hoffte ich, er würde noch etwas sagen, damit ich noch weiter seiner Stimme lauschen konnte. Eigentlich wollte ich meine Stimme dafür so wenig wie möglich erklingen lassen, weil sie doch ziemlich weiblich klang. Ich wollte nicht, dass man mich daran erkannte. Aber vorhin beim Training, war es scheinbar nicht aufgefallen, dass sie höher war.
„Ich hoffe doch, dass wir uns wiedersehen?“, lächelte er mich noch einmal an.
Auf dem Sportplatz hatte er nicht ein einziges Mal gelächelt und jetzt hörte er kaum noch auf. Es war fast so, als wäre ich in einem Traum und würde einfach nicht aufwachen. Er hatte tatsächlich das beste Lächeln, das ich je gesehen hatte und so viele Menschen hatte ich in meinem Beisein noch nicht lächeln gesehen.
Als ich mich von Killian verabschiedet hatte, beeilte ich mich, über die Straße zu kommen und ging jetzt ohne Umwege nach Hause. Auf dem Weg dorthin, ließ ich meine Gedanken noch einmal zum Gespräch mit Jayden gleiten.
Ich sollte mit meiner Mutter reden. Ich hatte es bisher immer vermieden, mit ihr zu reden, ihr alles zu erzählen und mich ihr zu offenbaren…
Wie sollte ich das anstellen?
„Mama, kann ich mal kurz mit dir reden?“
„Klar, um was geht es denn Leonie, mein Liebling?“
Liebling sagte sie immer zu mir, wenn sie der Meinung war, es wäre nötig. Mein innerer Monolog fuhr fort und ich überlegte, wie das Gespräch weitergehen würde.
„Ich fühle mich nicht als Mädchen. Ich bin ein Junge.“
„Aber wie? Was ist los?“
„Ich fühle mich in meinem Körper nicht wohl. Ich bin … nicht ich. Ich bin nicht Leonie, so wie du mich bei meiner Geburt genannt hast.“
„Das verstehe ich nicht… Hast du dir deswegen die Haare abgeschnitten? Ich wollte bisher nichts sagen...“
Als Antwort würde ich einfach nur nicken und nichts dazu sagen.
„Versuch doch erst einmal, dich etwas femininer anzuziehen, dich weiblicher zu geben und lass dir die Haare wieder wachsen. Du wirst dich irgendwann in den Kleidern und auch als Frau wohlfühlen. Versuche, deine weibliche Seite zu suchen, sie lieben zu lernen und zu akzeptieren. Dann… brauchst du doch… nicht diesen Weg gehen… Versuch es doch erst einmal...“
Ich wusste, dass solch eine Aussage kommen würde und überlegte mir schon einmal eine passende Antwort dafür. Sie würde versuchen, es mir auszureden. Sie würde versuchen, mich umzustimmen und meine Meinung zu ändern. Sie würde es auf keinen Fall akzeptieren und das schmerzte mich innerlich. Ich wollte doch einfach nur, dass sie mich verstand.
„Ich fühle mich aber nicht wohl, wenn ich lange Haare habe! Ich habe die ganzen Jahre versucht, mit den Haaren klarzukommen! Ich habe versucht, mich zu verstellen, damit du dich wohlfühlst! Damit du keine Bedenken hast! Ich kann das nicht mehr! Ich … kann es wirklich nicht mehr!“
Ich würde nach meinen Worten auf die Knie sinken, würde merken, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten und hoffen, dass sie es versteht und sie meine pure Verzweiflung sah.
Ich blieb stehen und sah in den Himmel, der sich mittlerweile dunkel färbte und vereinzelt Sterne hinter den Wolken hervorblitzen ließ. Verzweiflung machte sich in meinem Inneren breit und ich merkte, wie die Tränen sich tatsächlich in meinen Augenwinkeln ansammelten.
„Ich… Ich schaffe das nicht…“
Als ich mich an einer Hauswand auf den Boden gleiten ließ, presste ich die Kiefer aufeinander, um meinen Frust abbauen zu können.
„Ich habe nicht die Kraft für diese Auseinandersetzung…“
Heute würde meine Mutter in die Spätschicht gehen und ich musste nur warten, bis sie aufgebrochen war, damit ich nach Hause gehen konnte. Wenn ich hier nur lange genug sitzen blieb, dann musste ich diese Unterhaltung heute noch nicht führen. Je länger ich hier saß, desto mehr machte sich mein Magen bemerkbar, indem er mir zeigte, dass ich Hunger hatte. Noch dazu machte es mir zu schaffen, dass ich noch immer nicht genau wusste, was mit mir los war.
Mit einer kurzen Handbewegung zog ich das Smartphone aus meiner Hosentasche und strich über den Bildschirm, damit ich es benutzen konnte. Mit wenigen Aufwand kam ich zu Google und gab den Stichpunkt Transsexualität ein. Den Begriff, den Jayden benutzt hatte, um dem Ganzen einen Namen zu geben.
Als ich einigen Links gefolgt war, las ich einige gedanklich vor und ließ meine Augen immer weiter über die Texte gleiten, die ich fand. Je deutlicher ich diese Worte vernahm, desto klarer wurde mir, dass es genau das war, was mit mir nicht stimmte!
Ich war physisch eine Frau, hatte aber eine männliche Geschlechtsidentität. Es war schwer für mich, alles zu verarbeiten und mit mir ins Reine zu kommen, aber ich wollte es wissen. Ich wollte mich damit befassen. Ich musste mich damit befassen!
Menschen, bei denen es andersherum war, nannte man meist Mann-zu-Frau-Transsexuelle oder Transfrauen. Also war ich ein Transmann, denn ich würde den Weg von einer Frau zu einem Mann gehen.
Ich konnte mir ein kurzes Grinsen nicht verkneifen, denn mir wurde gerade bewusst, dass ich mitten auf dem Weg nach Hause war, auf dem Boden saß und das Internet durchsuchte. Ich wollte diese Suche nicht zu Hause durchführen. Ich wollte es jetzt wissen. Ich musste es jetzt wissen. Außerdem half es mir, meine Zeit sinnvoll zu nutzen, damit ich noch nicht nach Hause musste…
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Yuki • Am 22.05.2019 um 8:47 Uhr | |||
Hallo, bin auf deine Geschichte durch eine Lese Challange gestoßen und finde sie, interessant geschrieben. Das was mich stutzig macht, ist das alter von Leonie. Dachte zu erst sie sei ein Teene und nicht eine Grundschülerin und was macht diese Geschichte in der Erotik Abteilung? | ||||
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Kapitel: | 5 | |
Sätze: | 721 | |
Wörter: | 10.185 | |
Zeichen: | 57.742 |