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Wasser bindet die Schmutzpartikel in der Luft, deshalb haben die Menschen unter der Dusche die besten Ideen. Und deshalb kommen die klügsten Menschen aus kalten Regionen, in denen es ständig regnet, von Orten, an denen sich die Feuchtigkeit mit der Pisse vermischt, die nicht abfließt, weil die Menschen – die klügsten unter ihnen – sich den Boden unter den Füßen zubetoniert haben.
Deine Füße sind indes klamm. Die Kälte zieht von unten an deinen Beinen hinauf. Du hast Gänsehaut vor Freude und Furcht vor der Erkenntnis, dass du beides noch fühlen kannst. Und in diesem Bewusstsein freust du dich sogar auf den Schmerz.
Es ist ein Spiel und ihr spielt miteinander – nicht gegeneinander. Euer Gegner sind die Ruinen und die Ratten, die sie bevölkern.
Manchmal fragst du dich: Ist Jesus für diese Ratten gestorben? Und die Antwort ist: Nein, er ist für euch gestorben und wenn er es nicht freiwillig getan hätte, hättet ihr ihn umgebracht, denn ihr seid die letzten Menschen und für Schwäche und Mitgefühl ist in echter menschlicher Gesellschaft kein Platz.
Es ist überhaupt zu wenig Platz hier. Diese Stadt ist wie ein Rattenkäfig und ihr zerfleischt euch gegenseitig, bis sich euer Blut mit dem Regen und der Pisse vermischt. In jeder Pfütze schillert das matte Rot aus dem Inneren irgendeines armen Irren, der den falschen Leuten zu nahe gekommen ist. Wie Motoröl. Wie flüssiges Metall. Quecksilberregen.
Jedes Ding ist ein toter Traum, jedes Wort ein zertrümmerter Gedanke, jede Stadt ist in Wirklichkeit ein Schlachtfeld. Leben ist Tod, aber Tod ist kein Leben.
Du schlurfst durch die Häuserschluchten, die stinkenden, verschimmelnden Kadaver, der Vision eines zynischen Architekten, der keines seiner Werke, je selbst bewohnen wollen würde, der verrückt sein musste, wenn er glaubte, der Menschheit einen Gefallen getan zu haben, indem er ihr ein Nest aus Stahlbeton und Pisse errichtete.
In den Ecken und Nischen kauern die Junkies wie lichtscheues Ungeziefer. Der gelb Lichtkegel der verrosteten Straßenlaternen lässt die Nutten noch kränker aussehen, als sie es ohnehin sind.
Eine Treppe führt nach unten. Alle Treppen führen nach unten. Wer nach oben will, sollte sich Flügel wachsen lassen oder es mal mit Heroin versuchen.
Der schmierige Regen tropft von allen Dächern und Vorsprüngen wie grippaler Schleim. Aus dem U-Bahnschacht dringen warme, säuerlich riechende Schwaden herauf. Du atmest ein und denkst: Nirgendwo ist die Luft reiner. Du bist der klügste Mensch der Welt, denn du verstehst, deiner Angst zu entkommen, ohne dich vom Leichtsinn einholen zu lassen.
Wenn du zu vergessen drohst, dass du existierst, wirfst du einen Blick in den Spiegel, aber von Zeit zu Zeit brauchst du die Erinnerung daran, was das bedeutet. Die Leere in dir ist deine Stärke. Die Leere hier draußen ist das Spielfeld deiner Lüste. Niemand hier hat ein Gewissen. Niemand hier ist es wert, dass man sich um ihn sorgt, oder ihn betrauert. Eine jämmerliche Verschwendung von Platz sind diese toten Geister, diese lebendigen Leichen, die vor sich hin verwesen, während sie in verwanzten Fernsehsesseln sabbernd durch das Nachtprogramm zappen. Eine jämmerliche Verschwendung von Sauerstoff, diese Gehirne am Laufen zu halten.
Die einzige Errungenschaft des weißen Mannes ist es, dass er es geschafft hat, das Leid in seiner Gesellschaft auszulagern. Es siecht dahin in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Gefängnissen und Schulen. Es findet hinter Mauern und im flackernden Neonlicht einer künstlichen Dunkelheit statt und an Orten – weit entfernt von denen, an denen der weiße Mann seinem Gott huldigt: Den Fabriken und Banken und Versicherungen, den Häusern, die zu Dingen geschrumpfte Träume verkaufen und die so hoch sind, dass nicht einmal Heroin einen auf ihre Dächer tragen kann.
Der weiße Mann hat die Trennung von Leben und Leid vollzogen und damit die Trennung von Körper und Seele, Mensch und Gott, Recht und Gerechtigkeit, Freiheit und Moral, Rechtschaffenheit und Unschuld. Und was ihm bleibt, ist Taubheit und Verwirrung über seine Bestimmung. Denn es muss doch eine geben. Oder nicht?
Überleben. Den Tag überstehen, die Nacht, den Regen, die Seuchen, die Alpträume, die Langeweile und die Trostlosigkeit. Dem Tod ein Schnippchen schlagen, stärker sein als das Nichts, die Tiefe und die Dunkelheit. Das Revier verteidigen, seinen Platz behaupten, seine Ansprüche verteidigen, denn ein Mann ohne Ansprüche ist eine Ratte, die in einem Loch kauert und vor Angst und Kälte zittert. Und wer zurückweicht, sich versteckt und zittert, der überlebt vielleicht die Schlacht, aber nicht den Krieg, der verpfändet seine Würde an seine Triebe.
Das Leben ist ein einziger Wettbewerb und am Ende gibt es nur einen, der das Recht hat, zu bestehen. Ihr kämpft nicht gegeneinander, ihr kämpft gegen den Verfall, der euch von innen zernagt und mürbe macht. In diesem Biotop seid ihr die dominante Spezies.
Du bewegst dich wie ein Wolf durch deine Gegend. Räume machen dir Angst, geregelte Arbeit verursacht dir Übelkeit. Du kannst nirgendwo anders überleben als auf den Straßen, in den künstlichen Schluchten und Höhlen, dem unterirdischen Labyrinth, den geheimen Pfaden und innerhalb unsichtbarer Grenzen.
Du hast Hunger. Sie will gefüttert werden, die Bestie, die in dir wohnt und dich von innen auffrisst, wenn du ihr nicht regelmäßig ein Opfer darbringst. Sie lechzt nach Blut und Schweiß. Sie zittert vor Anspannung. Ihre Zähne sind gefletscht und fauliger Speichel tropft von ihnen hinein in der Herz, um es mehr und mehr zu vergiften.
Wer braucht Götter, wenn er an sich selbst glauben kann? Wer braucht Regeln, wenn er der Stärkste ist? Wer braucht Rechte, wenn er beweisen kann, dass er verdient, was er sich nimmt? Wer braucht Fragen, wenn die Antworten klar auf der Hand liegen?
Das Leben, das echte, das relevante Leben spielt sich hinter den Kulissen ab, jenseits der Szene da draußen. Das echte Leben ist obscene, obszön. Das echte Leben spielt sich nicht vor einem Publikum ab. Die Wahrheit lässt sich nur im Verborgenen offen legen. Du sezierst sie, du zerfledderst sie wie eine Leiche. Was bedeutet schon Wahrheit? Die Wahrheit ist das, was man im Magen hat und das, was einem unter dem Schuh klebt. Wahrheit muss man machen, man kann sie nicht beobachten und so tun, als beträfe sie einen nicht. Wer nicht handelt, der wird behandelt. Wer nicht zubeißt, wird gebissen. Wer nicht um die Herrschaft streitet, wird unweigerlich beherrscht werden.
Manche Leute sind dafür geschaffen, beherrscht zu werden, denkst du. Manche haben nicht das Zeug dazu, andere anzuführen. Die meisten sind glücklich in ihrer schwachen Position, weil sie glauben, Schwäche bedeute Sicherheit, dabei bedeutet sie vor allem eins: Erbärmlichkeit. Und wer sich auf nichts als seine Erbärmlichkeit berufen kann, der ist uninteressant für euch.
Denn was ist der Mensch, wenn nicht das einzige Wesen, dass in der Lage ist, sich selbst zu übertreffen und seinen Willen selbst zu gestalten – unabhängig von Trieben? Was ist Menschlichkeit, wenn nicht das Bewusstsein und die Liebe zur Zerstörung?
Es ist immer düster in den Straßen. Farben gibt es nicht einmal in deinen Träumen. Das Leben ist reduziert auf das Wesentliche. Im Untergrund herrscht ewige Dämmerung. Was wie ein Hindernis aussehen kann, lässt sich leicht zur Deckung umfunktionieren. Du musst nicht sehen können, du kennst jeden Winkel, hast jede Bewegung, jede Aktion und jede Reaktion durchgeplant. Straßenkampf ist Taktik, ist Politik. Wenn dein Stiefel den Kiefer, die Nasenwurzel oder den Schädel deines Gegenübers zu Brei verarbeitet, kann er sich sicher sein, dass du jeden einzelnen Knochenbruch vorher berechnet hast und dass er verdient, was er bekommt.
Was ihr tut, ist nur natürlich. Alle Alphatiere müssen sich bekämpfen. Es ist eine Ehre, herausgefordert zu werden. Es wäre eine Beleidigung, nicht aufzutauchen. Ihr redet kurz miteinander, weil es sich so gehört, nicht weil euer Witz euch vor etwas bewahren kann. Wer heute hier gewinnt, steht längst fest, ihr wisst es nur noch nicht. Es ist immer ein Spaß, es herauszufinden…
Ein anerkennender Blick, ein abschätziges Lächeln. Du trittst einen Schritt zurück, in der Hoffnung, der Schatten verschaffe dir einen Vorteil, wenn du versuchst, als erster und möglichst unauffällig dein Messer zu zücken.
Die Klinge ist sauber, das gehört zum Ehrenkodex. In ihr spiegelt sich das Licht der schwächelnden Neonröhre über euch. Für einen kurzen Augenblick fühlst du dich verletzlich und schutzlos. Dieser Krieg kennt keine Deckung und du bist das einzige Ziel. Wo du bist, ist die Front. Es heißt, jeder gegen jeden und du bist kein Teamplayer. Wenn die anderen sich gegen dich zusammenrotten, wenn sie wirklich auf die Idee kommen, wenn sie es wagen, wenn sie es auf die Reihe kriegen, dann wird das dein Ende sein und das weißt du. Aber welcher große Mann ist schon im Bett gestorben? Wenn man älter als 30 wird, hat man sein Leben falsch gelebt.
Ihr seid allein. Zumindest bildest du es dir ein. Dein Blick fokussiert sich auf die Finger des anderen und du hörst nichts als die Stimme in deinem Kopf, die zu dir spricht: „In die Rippen! In die Rippen damit!“
König von was willst du eigentlich sein?
In die Rippen! Wer nicht König ist, ist Sklave! Besser der König einer Müllhalde, als der Diener in einem Palast!
Warum musst du ihn besiegen? Könntet ihr euch nicht arrangieren?
Wer nicht siegt, der verliert! Und du wirst ganz sicher nicht verlieren und es überleben, um diese Schande über dich ergehen zu lassen!
Was hast du davon? Was hast du nur von all dem? Kannst du überhaupt erklären, was du hier tust und warum? Das Gesetz der Natur? Das Recht des Stärkeren? Was hast du davon, wenn das Blut anderer an deinen Händen klebt? Was bist du? Was willst du sein?
Es spielt keine Rolle. Vielleicht tust du das alles, weil es etwas bedeutet, vielleicht, weil du dich von dem Gedanken ablenken willst, dass es nichts bedeutet. Vielleicht weißt du keine Antworten, aber wer braucht schon Antworten, wenn er die Fragen zerstören kann?
Alles was nicht Gedanke ist, ist Gewalt. Und sogar die meisten Gedanken sind es. Wofür sollst du dich also schämen?
In die Rippen!
Du trittst vor und tänzelst ein wenig hin und her. Du bist agil, du atmest tief ein. Es ist die beste Luft der Welt und du bist der klügste Mensch, der auf ihr wandelt. Du täuschst Attacken an, gehst in die Offensive. Dein Blick ist starr, dein Grinsen festgefroren. Die Abschätzigkeit hat über die Anerkennung gewonnen. Der Traum über die Wirklichkeit.
Ihr seid euch nahe. Ihr könnt den Atem des anderen in eurem Gesicht spüren. So machen das Raubtiere. Sie lauern. Sie blicken sich in die Augen und warten. Wenn es nicht blanker Hass wäre, könnte es auch reine Liebe sein. So nahe kommst du anderen Menschen sonst selten. Kämpfen ist etwas Intimes, Brutalität etwas Vertrauensvolles.
Um seinen Brustkorb zu erreichen, musst du einen Schritt nach vorne unternehmen und die wundervolle, instabile Symmetrie durchbrechen. Es ist der eigentliche Gewaltakt. Es die eigentliche Zerstörung eines Kunstwerkes. Geradezu barbarisch, die Grenze zwischen Zivilisation und Bestialität, Belauern und Zuschlagen, Diplomatie und Annihilation, Frieden und Krieg. Jemand muss den Schritt als erster gehen, die Angst überwinden und die Illusion der Vernunft verwerfen, die wie ein Schleier über euch gelegen hat.
Jetzt siehst du klarer. Warmes, klebriges Blut überströmt deine Hand und es befriedigt dich mehr als jede andere Handlung und jede andere Erfahrung es je gekonnt hätten. Rotes Blut tropft hinein in die farblose Welt. Ein Opfer für die Götter der Straße. Ein Opfer für den neuen König.
Hast du ihm die Lunge durchstochen? Liegt er röchelnd am Boden? Taumelt er? Kriegt er noch Luft? Hat er es überhaupt schon mitbekommen? Hat er überhaupt Schmerzen? Hat er das Blut bemerkt?
Du stolperst zurück. Etwas zieht dich fort. Eine ungewohnte Kälte. Ihr driftet auseinander wie zwei gleichgepolte Magnetenden. Etwas stimmt nicht ganz. Der Lärm kehrt nicht zurück. Es ist zu still, zu dunkel immer noch. Und etwas entzieht deinem Körper die Wärme. Du fällst nach hinten über, behältst aber das Messer in der Hand. Es fallen zu lassen, käme einer Niederlage gleich. Wer es zu erst fallen lässt, verliert.
Und da fällt es, scheppert, klimpert auf dem blutbesudelten Betonboden. Es ist nicht deins. Der andere hat sein Messer fallen lassen. Er ist schwerer verletzt als du. Du bist der Sieger. Du weißt es. Er weiß es. Und du weißt, dass er es weiß. Und auch das weiß er.
Der Reflex setzt ein. Du greifst dir an den Hals und dort fließt es aus dir heraus. Nicht gerade das ganze Leben, aber die Hitze, die Klarsicht, der Wille und die Stärke.
Wie, wenn ein Blitz in Zeitlupe in dich einschlägt, trifft dich der Schmerz. Erst kannst du ihn nicht lokalisieren, dann wirkt ein wenig unwirklich, etwas übertrieben, wie in einem Traum. Träumst du schon? Ist da noch was anderes? Wie ein Blitz von kaltem, hellem Licht, bricht der Schmerz aus dir heraus. Schmerz ist Leben. Leben ist der Lohn für Erfolg. Träumst du schon? Hast du noch genug Kraft? Wenn sie dich finden, sollen sie den Triumph von deinem Gesicht ablesen können. Du lächelst – willkürlich-unwillkürlich.
Und irgendwann ist der Traum zu Ende und aus dem helllichten Schmerz wird bleischwerer Druck. Du musst wieder atmen lernen, bevor deine Sprache wieder finden kannst. In dir zieht sich alles zusammen, als hätten sie dir die Luftröhre zusammengenäht.
Irgendwo da draußen ist Licht. Es ist dein Licht. Die Welt hat es dir ausgesaugt, deshalb bist du nun in der Dunkelheit hinter deinen Augen gefangen. Du bist irgendwo, aber was bedeutet das schon? Die einzige Spannung, die einem Perspektivwechsel innewohnt, ist, dass du die gleiche Szene durch ein anderes Fenster zu sehen bekommst. Also kannst du genauso gut die Augen aufschlagen.
Was du siehst, erstaunt dich nicht. Es ist ein sanftes hinübergleiten in eine andere Wirklichkeit, in der Sauberkeit die marode Bausubstanz kaschiert, in der die Weichheit des Kissens unter deinem Kopf dich darüber hinweg trösten soll, dass du schließlich doch abgeschoben wurdest und keine Rolle mehr spielst. Die Welt des weißen Mannes hat dich ausgespuckt und du wirst durch allen Schleim und Unrat zurückkriechen müssen, wenn du die Reste deiner Würde erhalten willst.
Wände kannst du nicht ertragen. Weiß kannst du nicht ertragen und die Pastellfarben der Bettwäsche und der Schwesternkleidung schnüren dir den Hals noch ein Stückchen weiter zu. Ein unverfänglich-nichtssagendes Bild verschandelt die Wand, als könnten Farben dein Unwohlsein irgendwie lindern. Du bist verkabelt, hängst an einem Tropf und irgendeine durchsichtige Flüssigkeit wird in deinen Kreislauf eingeleitet. Du hast die Kontrolle verloren. Raus damit! Du bist zu schwach, um die Nadel herauszureißen. Willst du es überhaupt? Schmerzmittel und Betäubung tun dir besser als das Bedürfnis danach, deinen Körper und deine Stärke zu fühlen. Du brauchst jetzt Gleichgültigkeit, Schlaf.
Du bist nicht allein. Wie kannst du schlafen wollen, wenn du nicht allein bist? Wie könntest du schlafen, wenn du nicht sicher bist? Kein Betäubungsmittel ist stark genug, um dich in einem Raum mit einer anderen Person schlafen zu lassen. Man sollte anderen Menschen nie zutrauen, dass sie nicht versuchen werden, dich umzubringen. Du kennst die Menschen. Du kennst dich selbst.
Dein Herz, das zuvor ruhig aber in Alarmbereitschaft seine Arbeit verrichtet, setzt einen Schlag aus und scheint dann alles Blut auf einmal durch deinen Körper pumpen zu wollen. Ein schwarzes Loch öffnet sich in deiner Brust und brennt sich wie ein Zigarettenstummel durch Papier durch deine Gleichgültigkeit.
Angst ist die Ruhe vor dem Sturm. Panik ist eine Gewitterlandschaft. Angst ist ein Hemmnis. Panik ist ein Antrieb. Zwei Zustände unterscheidet der Mensch: Wachen und Schlafen. Der Schlaf ist ihm dabei so vertraut, dass er ihn als Normalzustand wahrnimmt. Die geistige Umnachtung, das Traumwandeln ist die Regel, die Ausnahme stellt die Klarheit dar, die auf einen Schock folgt und ihn für einen kurzen Augenblick die Welt sehen lässt, wie sie wirklich ist: Feindlich.
Diese Welt wird nichts für dich tun. Sie wird zusehen, wie du niedergehst. Sie wird wegsehen, wenn du sie anflehst. Sie wird dich zurücklassen, wenn du nicht aufstehst und dich selbst in ihr bewegst.
Der Schweiß, der dir mit einem Mal die Schläfe herabrinnt, erinnert dich daran, dass alles in Bewegung ist und automatisch nach unten fließt, wenn man nicht dagegen ankämpft. Alles fließt nach unten, bis es sich in einer Pfütze sammelt. Und dort vermischst du dich, mit dem ganzen Gift, das diese Stadt produziert und das nicht abfließt, sondern stattdessen versucht an deinen Beinen hinaufzukriechen.
Du willst nicht das Schmieröl zwischen den Zahnrädern sein. Du willst nicht zermalmt werden und wer nicht zermalmt werden will, der muss zermalmen. Wenn es stimmt, dass alles verbunden ist und Ursachen und Wirkungen auf unberechenbare aber doch unauflösliche Art und Weise verbunden sind, musst du deinen Platz einnehmen, bevor jemand anderer ihn besetzt und dich überflüssig macht. Du bist das Werkzeug des Schicksals, aber nicht unentbehrlich. Du bist frei, aber nicht alle deine Optionen garantieren deine Existenz als der, der du sein willst.
Du hast keine Zeit.
Ein prüfender Blick zur Seite bestätigt dir, was du befürchtet hast. Sie haben euch ins selbe Zimmer verfrachtet. In der Hoffnung, dass ihr euch darin gegenseitig erledigt? Oder weil sie glauben, dass die Gesetze der Straße in einem Krankenhaus nicht mehr gelten? Glauben sie hier, über den Naturgesetzen zu stehen, weil sie den Tod hinauszögern können? Das ist keine Macht, das ist Selbstschädigung.
Raus mit der Nadel! Jetzt bist du entschlossen genug. Du beißt die Zähne zusammen. Flüssigkeit verteilt sich auf dem desinfizierten Boden und kann nicht abfließen. Weg mit den Kabeln! Weg mit den Messgeräten! Was sagen schon Zahlen über deine Ansprüche und deine Fähigkeiten? Du bist nicht deine Daten.
Du bist mehr als dein Bewusstsein. Deine Gedanken und Handlungen fließen aus dir heraus. Du bist ganz außer dir und deine Hülle hat sich aller Schuld entledigt. Du musst es tun. Du bist frei, aber es gibt nur eine Option, die deine Existenz garantiert. Wenn du es nicht tust, tut er es. Wenn er es nicht tut, tut es jemand anderes. Wenn es jemand anderes nicht tut, bleibt ein Problem ungelöst, eine Frage unbeantwortet, eine Wunde offen.
Du kannst den Schmerz und die Angst des anderen nicht spüren, genauso wie du seine Träume nicht sehen kannst. Du kannst seine Gedanken nicht denken und seine Worte sind nur ein Schatten der Information, die in ihre liegen soll. Es ist besser alle Verbindungen zu durchtrennen, wenn sie dich zu fesseln und in den Abgrund zu ziehen drohen. Du kannst nicht fühlen, was er fühlt, du kannst nicht für ihn atmen, nicht für ihn entscheiden – höchstens über ihn. Er ist frei, aber du lässt ihm keine Option.
Wie lange muss man jemandem ein Kissen auf das Gesicht pressen, bis er einsieht, dass es keinen Sinn mehr macht, nach Luft zu schnappen? Wie fest muss man drücken?
Er ist nicht dein Gegner. Er ist ein Opfer der Umstände. Ihr bekämpft nicht euch, sondern die Langeweile, die Sinnlosigkeit, die Leere. Wie ein Fisch auf dem Trockenen, japst er unter dem Kissen. Deine Fingerspitzen können es fühlen. Muskeln zucken. Es ist das „Mehr-als-das-Bewusstsein“, das hier revoltiert. Oder das „Weniger-als-das-Bewusstsein“. Oder das „Neben-dem-Bewusstsein“. Die Automatik, das Zahnrad. Du bringst es zum Stocken. Für einen Augenblick hält die Maschine an und du stehst da, nicht wissend, ob du verantwortlich bist. Wie frei bist du, wenn es immer nur eine Option gibt, die man ausprobieren kann und deine Existenz sich an der Realität messen muss?
Was denkst du, nachdem du einen Mord begangen hast? Bist du erleichtert oder bestürzt? Befriedigt oder enttäuscht? Ist es ein profanes Gefühl oder ein sakrales? Ein Augenblick, den man nie wieder vergisst oder eine Erinnerung, die irgendwann verblassen und aus dir herausfließen wird wie das Eingeständnis, dass jedes vergangene Glück nur eine Lüge war?
Was wirst du in zehn Jahren denken? Wo wirst du in zehn Jahren sein? Der Mensch, den man tötet, wird einen nie verlassen. Es gibt keine engere Beziehung, nicht einmal die zwischen Mutter und Kind. Mord ist ein Treueschwur. Ihr ward keine Gegner. Ihr ward Verbündete. Was unterscheidet schon das Leben vom Tod? Muskelzucken? Zweifel? Scheitern? Niederlagen? Körperflüssigkeiten?
Worte binden Gedanken wie der Regen den Schmutz. Die Worte durch Stille zu ersetzen, den Regen versickern zu lassen, bedeutet die Welt zu säubern.
Deine Füße sind klamm. Du stehst in der Pfütze einer Flüssigkeit, die eigentlich dazu bestimmt war, jetzt durch deine Adern zu fließen. Nichts fließt mehr. Nichts tropft mehr herab. Du bist unten angekommen. Die Welt ist nur noch ihre tote Hülle mit dir sie zu bewohnen.
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mockingbird • Am 26.03.2017 um 12:29 Uhr | |||
Von dem ausgehend, was ich bisher von dir gelesen habe, neigst du zu einer im Verhältnis zum restlichen Text langen Einleitung, die man auch hier wiederfindet. Die Exposition, also die ersten beiden Drittel der Kurzgeschichte, haben mir ausgesprochen gut gefallen. Die Einstellung des Erzählers wird deutlich herausgearbeitet, sodass man sich ganz einfach auf das Spiel einlassen kann, sich in die Handlung einzudenken, als wäre man selbst der Protagonist. Doch dadurch, dass das so eindeutig war, sticht auch der Kontrast zwischen den beiden Abschnitten heraus, in die sich die Geschichte gliedert. Mir ist zum Ende nicht wirklich ersichtlich geworden, welche Einstellung der Protagonist denn jetzt genau vertritt. Ich hatte am Anfang den Eindruck, er hätte sich schon gänzlich von dieser Lebenseinstellung, die mich an Hobbes' Urzustand erinnert, überzeugt. Dem scheint aber nicht so zu sein. Stattdessen kriegt er eine mittelschwere Sinnkrise, denkt auf einmal über eine mögliche Zukunft nach und findet sich an ganz andere Stelle wieder. Mir passt das einfach nicht so ganz zusammen, auch wenn ich die Ausführungen zur Angst einleuchtend finde. Ich vermute, es liegt aber schlichtweg an der Gewichtung der verschiedenen Parts. Die inhaltliche Klammer durch den Regen und das Versickern hat am Ende allerdings für mich noch einiges rausgerissen und das Ganze schön abgerundet. Liebe Grüße, mockingbird Mehr anzeigen |
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Sätze: | 257 | |
Wörter: | 3.624 | |
Zeichen: | 20.892 |