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Von wahrer Furcht

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16.01.17 09:01
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Autorennotiz

spielt nach »Gwens Gutenachtgeschichte«

Keine Laterne erreichte das letzte Haus am oberen Ende des Haselsteigs. Vom Wald her kroch der Nebel in niedrigen Schwaden heran und hatte das Grundstück bald erreicht. Von dort oben konnte man die Sterne sehen, was selbst hier im Dorf nicht selbstverständlich war, wo die Nachtbeleuchtung alles verschluckte. Im Sommer kam sie ganz gern mit ihrem Vater her, wenn sie am Wochenende bis nach Sonnenuntergang wach bleiben durfte. Meistens musste er sie dann aber nach Hause tragen.
Jetzt im Herbst war es jedoch etwas ganz Anderes, dazu auch noch an Halloween, wo sie nicht von der Katze willkommen geheißen wurde, die hier wohnte und immer ganz zutraulich war. Stattdessen erwartete ein geschnitzter Kürbis sie, der eine hohle Schauerfratze trug. Gwen kannte Bekka, die dort wohnte und Krankenschwester in der Arztpraxis war, sehr gut und wusste, mit wie viel Liebe sie ihr Haus zu jeder Gelegenheit dekorierte. Eigentlich war sie sehr lieb, aber im Augenblick half selbst dieses Wissen nicht über den Gedanken hinweg, dass ihr Haus Gwen eine Mordsangst einjagte.
Am nächsten Tag schon würde alles verschwunden sein, doch wenn sie jetzt dort hinauf ging, würde ein Geist hinter der Ecke hervorkommen, keiner der freundlichen, sondern einer, der ihr die Abgründe zeigen würde. Oder ein Werwolf mit blutigen Lefzen. Eine Hexe, die ihr das Herz herausschneiden wollte, um es zu verspeisen.

»Weißt du, wir können einfach nach Hause gehen«, murmelte sie und stupste die Spinne an, die sie aus Filz geformt hatte und die an einer kurzen Angelschnur an ihrem Hexenhut befestigt war. Sie baumelte hin und her, was Gwen immerhin ein bisschen ablenkte. »Ich hab ja schon so viele Süßigkeiten, in meinen Beutel passt gar nichts mehr rein.«
In dem Leinensack, den sie dabei hatte und der mit Spinnennetzen bestickt war, hatte sie Unmengen Schokolade gesammelt, Gummitiere, Lakritze, saure Würmer und Bonbons. Während ihrer Tour durchs Dorf war ihr Kostüm sehr überzeugend gewesen, der alte, ausgewaschen schwarze Umhang mit grünen und lila Flicken, der echte Hahnenfuß, den sie um den Hals trug und die kleine Plüschmaus, deren Schwanz aus einer der Umhangtaschen ragte. Ihre Mutter hatte ihr sogar die Haare dunkelgrün gefärbt. Das Mittel ging nach ein paar Tagen rückstandslos raus und ließ sich auch überall da entfernen, wo sie Flecken hinterlassen hatte. Trotzdem konnte sie sich nicht genau erklären, warum die Leute die Türen so schnell zugeschlagen hatten, nachdem sie ihr die Süßigkeiten gegeben hatten.
»Wovor hast du Angst, Kind?«
Im ersten Moment schämte Gwen sich, dann drehte sie sich doch um und schaute nach oben zu Dawn. Auch sie hatte sich heute ein bisschen verkleidet. In den Haaren trug sie kleine Asselspangen und das Gesicht hatte sie sich mit weißer Farbe wie einen breit grinsenden Totenschädel angemalt. Das lange, zerrissene Kleid mit Korsett, wie all ihre Kleidung grau, passte eigentlich gar nicht zu ihr. Gwen hatte sich sehr gefreut, dass Dawn dazu bereit gewesen war. Die meisten Erwachsenen fanden das albern. Vielleicht zählte Dawn aber auch gar nicht zu den Erwachsenen.
Gwen wusste keine Antwort auf die Frage, die irgendwie plausibel klang. Von allen Leuten konnte sie Dawn das am wenigsten erklären. »Ich weiß, dass ich schon elf bin und eigentlich zu alt dafür, aber ...«
Dawn schien das lustig zu finden, sie lächelte, was den Totenkopf noch etwas breiter grinsen ließ. »Man denkt, man hätte schon alles gesehen, aber du überraschst einen immer wieder. In deinem schlimmsten Moment stehe ich im Krankenhaus neben dir und ohne mit der Wimper zu zucken, lässt du dich auf etwas ein, dessen Konsequenzen dir nicht ansatzweise klar sein können. Unter deinem Bett kriecht ein räudiges Monster hervor und du päppelst es auf. Seit einer Woche redest du von nichts anderem, als dass du Bekka das Kostüm zeigen willst und wie toll ihr Haus immer aussieht.«
Gwen senkte den Blick. »Du hast Recht«, nuschelte sie. »Aber es ist ja nicht nur die Deko …«
»Entscheide dich jetzt«, unterbrach Dawn sie. »Wir gehen jetzt entweder nach Hause oder nach oben. Bevor du noch anfängst, zu frieren.«
Mit einem tiefen Atemzug fasste Gwen ihren Beutel fester und richtete sich den Hut. Sie blickte den Haselsteig hinauf. Der Nebel hatte den Garten erreicht, ein Stück der niedrigen Mauer war gar nicht mehr zu sehen. Das schwache Licht aus der Kürbisfratze schimmerte matt in der feuchten Luft. Es war Halloween. Dass Gwen nun die Knie schlotterten, hieß nur, dass Bekka alles richtig gemacht hatte. Sie war lieb. Sie war die liebste Person im ganzen Dorf, wenn nicht sogar im Landkreis. Sie hatte die besten Süßigkeiten. Vielleicht auch ein paar Äpfel und Pflaumen aus ihrem Garten. Und Dawn war bei ihr, was konnte ihr geschehen?

Den ganzen Abend lang hatte Bekka am Fenster gestanden, als warte sie auf jemanden. Auf wen, hatte sie Anders nicht verraten wollen. Es war das erste Halloween seit Jahren, das er bei ihr verbrachte. Über ihre Mühe dabei, das Haus zu dekorieren, wegen eines einzigen Abends, hatte er nur den Kopf schütteln können. Und doch hatte sie ihn irgendwie dazu überredet, dieses Kostüm zu tragen. Es war kein aufwändiges, bloß lange Roben, immerhin in schwarz, und dunkle Kontaktlinsen. So recht wohl fühlte er sich darin allerdings nicht, und selbst Susi, die normalerweise sofort zu ihm geflattert kam, wenn er den Raum betrat, hatte ihn nur misstrauisch vom Schrank aus beobachtet, bevor sie sich herangetraut hatte.
Die meisten Kinder waren bereits in der Dämmerung gekommen, hatten sich Süßkram abgegriffen und waren wieder verschwunden. Es war ihm immerhin erspart geblieben, an die Tür zu gehen, er hatte sie nur gehört und sich notgedrungen von Bekka über die Kostüme berichten lassen. Von Drachen bis Bazillen war anscheinend alles dabei gewesen. Doch dann war die Nachbarin aufgetaucht, deren Mann sich beim Kochen so schwer verletzt hatte, dass es der Hilfe einer Krankenschwester bedurfte. Selbstverständlich war sie mitgegangen, nicht nur aus Berufsethos.
Theoretisch hätte Anders die Türklingel ignorieren können. Doch er wollte sich ersparen, was folgen würde, wenn Bekka erfuhr, dass er Kindern den Spaß an Halloween verdorben hätte. Gleichzeitig stand er zwischen der Unlust, das Kostüm umsonst zu tragen und der Unlust, darin gesehen zu werden. Wenigstens waren all seine Klassen zu alt dafür, hier aufzukreuzen und irgendetwas zu verlangen.
Also öffnete er.
Draußen im Nebel, der im Laufe des Abends aufgekommen war, stand ein kleines Mädchen in einem Hexenkostüm, das von gruselig weit entfernt war. Er hatte auch nichts dergleichen erwartet, schließlich ging es um Kinder. Es stand ein bisschen steif, einen bereits vollen Beutel fest mit beiden Händen umklammert, und wurde blass, als es zu ihm nach oben blickte, wie eine Schülerin, der er eine misslungene Klassenarbeit aushändigte. Sie hatte sich erschrocken. Wahrscheinlich hatte sie Bekka erwartet.
Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie ihn an, hielt seinem Blick dabei allerdings stand, was unter den Leuten eher selten war.
»Ähm … Süßes, sonst gibt’s Saures«, hauchte sie und überzeugte ihn damit nicht gerade von der Ernsthaftigkeit ihrer Drohung.
Er wandte sich auf den Absätzen seiner Stiefel um und ging in die Küche, wo Bekka schon kleine Säckchen vorbereitet hatte. Zurück im Flur bemerkte er, dass die Kleine sich etwas beruhigt hatte. Sie schien sehr interessiert an zwei Erlenmeierkolben auf dem Schuhschrank neben der Tür. In einen hatte Bekka eine violette Flüssigkeit gegeben, in den anderen eine grüne. In beiden schwammen irgendwelche kleinen Kügelchen, die mit viel Phantasie wie Kulleraugen anmuteten.
Als sie ihn bemerkte, trat sie jedoch wieder einen Schritt zurück und stand wieder so steif. Es wäre ihm lieber gewesen, sie wäre gelassener.
Wortlos reichte er ihr das Beutelchen und sie nutzte die Gelegenheit, um den Blick zu senken und den Inhalt zu betrachten. »Danke, Professor«, murmelte sie. »Sir.«
Zum Glück sah sie nicht, dass er sein Gesicht für einen Sekundenbruchteil nicht unter Kontrolle hatte und ihm tatsächlich ein Lächeln passierte. Noch besser, dass Bekka nicht da war, bis Neujahr hätte sie ihm das vorgehalten, wenn nicht sogar länger.

Eigentlich hatte er erwartet, dass sie jetzt ginge, doch sie blieb stehen. Aus unerfindlichem Grund hielt ihn das davon ab, die Tür zu schließen. Bei jedem anderen hätte es ihn nicht interessiert, aber dieses Mädchen wollte er nicht in der Nacht stehen lassen.
  Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie nicht allein war. Hinter ihr stand jemand in den Fetzen eines grauen Kleids, auf den zweiten Blick als Frau zu erkennen, das Gesicht zum Schädel geschminkt. Wie hatte er die bisher übersehen können? Hatte sie sich im Nebel verborgen gehalten? Etwas stimmte mit ihr nicht. Es war, als flackerte ihre Gestalt, als schimmerte durch ihre Erscheinung etwas Anderes durch. Ein Wesen, über zwei Meter groß, breit, mit einer Fratze ziemlich ähnlich dem Kürbis beim Gartentor. Tiefschwarze Haut, durchzogen von Rot, das einige der Knochen und Muskelstränge darunter andeutete. Rot wie ihre Augen, wie ihr Haar, das wogte wie in der Strömung, was bei der momentanen Windstille unmöglich sein sollte. Die Frau, die dort eigentlich stand hatte grüne Augen. Ihr Lächeln verriet ihm, dass sie wusste, was er sah. Was um alles in der Welt war das? Was hatte das bei einem kleinen Mädchen zu suchen, das sich vor einem läppischen Halloweenkostüm erschreckte?
»Sagen Sie, ist Bekka nicht da?«, fragte die Kleine und lenkte seine Aufmerksamkeit dadurch wieder auf sich.
»Sie ist nebenan, aber ich denke, dass sie bald wiederkommt.« Zu spät bemerkte er, dass das keine gute Antwort gewesen war. Sie trug nicht dazu bei, das Mädchen loszuwerden. Zurücknehmen ließ es sich aber auch nicht.
»Dürfen wir warten?«, fragte die Kleine, wie er erwartet und befürchtet hatte. Gleichzeitig hieß das, dass sie sich dieser Gestalt hinter ihr durchaus bewusst war. Ein wenig erinnerte es ihn an Bekka und den Besuch, den sie hin und wieder empfing. Tatsächlich hatten die Engel, die er gewohnt war, jedoch nichts mit diesem Ding dort zu tun, das jetzt nicht mehr flackerte. Es hatte sich für die Gestalt der Frau entschieden, die ihn nun angrinste, sodass ihre Zähne unter den aufgemalten sichtbar wurden.
Er trat zur Seite. Sie wegzuschicken, war unmöglich. Wenn sie nach Bekka fragte, war sie es vielleicht, die erwartet worden war.
Zaghaft trat die Kleine ins Haus und drehte sich zu ihrer Begleitung um. Doch da war niemand mehr und davon schien sie irgendetwas zwischen enttäuscht und verunsichert. Doch sie sagte nichts.
Gerade war sie dabei, sich die Schnürstiefel auszuziehen, als Bekka durch die sich gerade schließende Haustür schlüpfte und beinahe über die Kleine gestolpert wäre, gerade so konnte sie anhalten. Im Gesicht hatte sie blasse Striemen nicht vollständig weggewischten Bluts. Sie passten gar nicht schlecht zu ihrem Kostüm. Werwolf an Neumond hatte sie es genannt, sich gekonnt Narben ins Gesicht gepinselt und modelliert, die täuschend echt aussahen, und seit Tagen kaum mehr geschlafen, um die ohnehin immer vorhandenen Augenringe noch etwas zu vertiefen. Sie trug ein geschnürtes Kleid und einen dunkelblauen Umhang.
»Gwen!«, rief sie. »Kurz hab ich gedacht, Anders hätte sich eine echte Hexe angelacht, also wirklich, da lässt man ihn einmal allein …« Sie umarmte das Mädchen und sah zu ihm hoch, über seinen Blick lächelte sie nur etwas breiter. Was wollte er auch von ihr erwarten?
»Bist du ganz allein unterwegs?«
Gwen schüttelte den Kopf, erzählte aber nicht von ihrer Begleitung. Bekka schien auch so zu verstehen. Anders fragte sich, was genau ihm hier eigentlich entging. Im nächsten Moment fragte er sich, warum ihn das interessierte.
»Ich muss auch gleich wieder heim«, erklärte Gwen und schnürte die Stiefel wieder zu, als Bekka aufgestanden war. »Vielen Dank für die Kekse. In Fledermausform.« Sie kicherte.
»Ich hab die Förmchen Anfang des Monats gekauft. Zu Weihnachten mach ich wieder welche. Mit Weihnachtsmützen.«
Gwen schaute sie mit leuchtenden Augen an. »Willst du vielleicht zu Weihnachten zum Essen zu uns kommen? Und den Professor mitbringen?«
Bekka brach in Gelächter aus und öffnete die Tür. Anders verkniff sich jeden Kommentar dazu. »Wir denken darüber nach. Aber Plätzchen bekommst du auf jeden Fall, Liebes, wenn ihr im Dezember zur Untersuchung kommt.«
Als das Mädchen an der Gartenmauer angekommen war, wurde es vom Nebel verschluckt. Für einige Sekunden tauchte jedoch dort jedoch die Gestalt wieder auf. Sie schaute zu ihnen herüber, bevor sie Gwen folgte.
»Bekka, was ist das?«
Sie drückte seine Hand und lehnte sich an ihn. »Selbst du musst zugeben, dass Gwen ein niedliches Mädchen ist.«
Er dachte nicht daran.
»Ich habe keinen blassen Schimmer«, gestand sie und trat vor ihn, legte den freien Arm um ihn und küsste sein Kinn. »Ich habe alle darauf angesprochen, die ich kenne, aber niemand wollte über diese Frau reden. Gwen meint, sie hieße Dawn."

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Kurzbeschreibung

Halloween, Nebel liegt über dem Dorf. Ein kleines Mädchen ist (nicht ganz) allein im Dorf unterwegs, um eine Freundin zu besuchen. Doch die ist nicht daheim …