Storys > Kurzgeschichten > Alltag > Gutleutstraße

Gutleutstraße

148
1
25.06.17 18:28
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Ein flüchtiger Blick über die Gutleutstraße, geworfen von einem Außenstehenden, einem Fremden – oder noch schlimmer – einem Zugezogenen, verriet demselben nichts. Wollte man in einem Ameisenhaufen nach irgendeiner inneren Logik suchen, so hätte man wahrscheinlich mehr Glück, sie zu finden, als den Sinn oder das Ziel im Leben der hier angesiedelten Individuen.

Bei der Gutleutstraße handelte es um eine jener Hauptschlagadern, die den Organismus einer Stadt um sich haben heranwachsen lassen, um dann selbst zum bedeutungslosen Wurmfortsatz derselben zu verkümmern, zu einem Geschwür, einem Schandfleck, einer potenziell gefährlichen Wucherung.

Seit fast zwanzig Jahren klaffte dort, wo das Herz der Straße hätte sein sollen, die Ruine eines ehemaligen Kaufhauses, das verlassen und der Witterung und der vagen Hoffnung auf eine Neuerschließung der Fläche überlassen wurde. Seit etwa vier Wochen tat sich etwas und hinter Graffiti-beschmierten Holzzäunen sorgte schweres Gerät dafür, dass die Anwohner einen Eindruck davon erhielten, wie es im Krieg wohl ausgesehen haben mochte, als nur noch die Skelette ehemals prächtiger Stadthäuser in den unheilschwangeren Himmel ragten.

Die wenigsten Nachbarn konnten sich an die Zeit erinnern, als das Kaufhaus noch geöffnet hatte und die Gutleutstraße ein beliebtes Einkaufsziel gewesen war, wo Geld und Luxuswaren den Besitzer wechselten. Das lag einerseits daran, dass die Leute, die damals die Gutleutstraße bewohnt hatten, sich inzwischen angeekelt von der nun heruntergekommenen Gegend abgewandt hatten und fortgezogen waren wie ein hungriger Heuschreckenschwarm, der ein Feld nur ausbeuten aber nicht bestellen kann. Andererseits stellte die neue Klientel, welche auf Grund der nun günstigen Mieten und Grundstückspreise die Straße besiedelte, nicht gerade potenzielle Kundschaft für ein Luxuskaufhaus dar, weswegen irgendwann kein ernsthaftes Interesse mehr daran bestand, den unschönen Flecken mitten in der Innenstand neu zu beleben. Man überließ ihn den Graffitikünstlern und den Drogendealern und den Ratten und dem Schimmel und der Feuchtigkeit.

Ein genauerer Blick über die Gutleutstraße, geworfen von einem Soziologen, einem interessierten und ohne Zweifel verirrten Touristen, konnte einem folgendes mitteilen: Wer hier lebte, tat es aus reiner Gewohnheit. Aus Bequemlichkeit vielleicht. Sie lebten von ihren Ritualen und dem Halt, den ihnen der Alltag in all seiner Tristesse bot. Am Stand eines leicht angegrauten Backwarenstraßenverkauf schmierte die rheumatische und elendig unterbezahlte Bäckerehefrau jeden Morgen ab sieben Uhr belegte Brötchen für lustlose Schüler, die keinen Sinn darin sahen ihre Vormittage in einem Klassenzimmer zu verbringen und stattdessen lieber an Bushaltestellen und in Hauseingängen herumlungerten, um die Gehwege mit ihrer Spucke und ihren Zigarettenkippen zu dekorieren.

Jeden Morgen gegen Acht kam der gleiche wohlgenährte und an Schreibarbeit gewöhnte Polizist von der nahegelegen Polizeistation die Post aus den Postfächern abholen, und kaufte bei der Gelegenheit Backwaren für das ganze Büro und einen Kaffee für sich auf dem Weg.

Gegenüber der Postfiliale, die eigentlich nur ein mit Neonröhren schlecht ausgeleuchteter Raum war, in dem etwa 200 Postfächer die Sicht auf die eigentlichen Postmitarbeiter versperrten, befand sich die öffentliche Bibliothek und vor dieser Bibliothek ein steinerner Brunnen, an dem sich jeden Morgen pünktlich um zehn nach acht die hoffnungslos übergewichtige Dackeldame einer Anwohnerin erleichterte und ihr Revier gegen die Konkurrenz der Graffiti-Sprayer markierte. Die kurzen Beinchen des Tieres gerieten ihm zum Verhängnis, denn sein Bauch war bereits ganz wund davon, bei jedem Schritt gegen den Boden zu scheuern.

Seine Besitzerin jedoch kannte keine Gnade und wie sie sich selbst vergeblich bemühte, das Rauchen wenigstens einzuschränken, versagte sie ebenso darin, die Diät ihres Hundes einzuhalten. Jeden Tag trug sie eine andere Kittelschürze bei ihrem Rundgang zur Schau und erweckte damit den Eindruck geordneter Verhältnisse. In Wirklichkeit lebte sie in einem Haus, bei dem man den muffigen Uringestank bereits bei geschlossener Haustür wahrnehmen konnte.

Denn es wohnte jemand in ihrem Hausflur, dem man dort allerdings nur nachts begegnen konnte. Seine Duftmarken setzte er jedoch verlässlich. Tagsüber traf man diesen jemand beim Supermarkt um die Ecke, wo er die mit Einkäufen schwer beladenen Hausfrauen um ihr Wechselgeld anbettelte. Auch er war das Herrchen eines Hundes, der jederzeit in eine löchrige Decke eingewickelt und hinter einem Regenschirm vor dem Wind geschützt neben seinem Herrn ausharrte. Wie sich der verfettete Dackel und die flohstichige Promenadenmischung vertrugen ist nicht bekannt, auch nicht ob der Flurbewohner und die Spaziergängerin näheren Kontakt pflegten.

Kontakte in der Nachbarschaft waren überhaupt eine sehr komplizierte Sache, denn nur weil man jemanden jeden Tag traf, bedeutete das nicht, dass die Bewohner der Gutleutstraße sich auch kannten, sich grüßten oder sich gar einmal unterhielten. Sie pflegten vielmehr eine vornehm gemeinte Distanz, die aus einer seltsamen Mischung von Arroganz und Scham erwuchs. Man wollte so wirken, als hielte man sich für etwas besseres, aber man wollte nicht, dass enttarnt wurde, dass man es nicht war. Jeder hatte seine kleinen Geheimnisse und man achtete sehr darauf, dass diese nichts ans Licht kamen. Natürlich wussten in Wirklichkeit alle Bescheid, aber Höflichkeit definierte sich in der Gutleutstraße darüber, wie gut man schweigen konnte und hohes Ansehen genoss, wer und den Eindruck erweckte, vollkommen desinteressiert an Klatsch und Tratsch zu sein.

Der Fluch der Gutleutstraße war, dass etwas fehlte, das allgemein für die Grundlage einer sich entwickelnden oder zumindest einer möglichen Zivilisation gehalten wurde: Eine erkennbare Hierarchie, die von jedermann anerkannt wurde und gemäß derer sich alle zueinander verhielten. Es gab nichts dergleichen. Es herrschten Verwirrung und Unsicherheit. Und Misstrauen. Jeder schaute prahlerisch auf jeden herab und genauso wurde auf ihn herabgeblickt. Der Druck kam von allen Seiten und wer sich nicht durchzusetzen wusste, fand sich schnell in einer Position wieder, in der er oder sie gnadenlos herum geschubst wurde.

Das Schicksal derer, die sich noch nicht ganz unten angekommen wähnen, ist es, zu glauben, noch etwas beschützen zu müssen. Sei es ein billiges Familienerbstück, ein tadelloses Auftreten oder die eigene Integrität. Wer noch einen Ruf zu verlieren hatte, verlor lieber Chancen, Glück und Hoffnung zuerst. Es war die Angst, die den Konkurrenzkampf aufrecht erhielt und es war der Konkurrenzkampf, der diese besondere Form der Würde gebar: Jene Würde, die man sich erst verdienen musste und die deshalb mehr wert war als die per Gesetz garantierten Rechte. Armut untergräbt Garantien, wie sie Sorgen zu Hoffnung umdeutet. In einer Welt, in der Eigentum eine Rarität ist, ist man, was man hat und wenn das alte, buddhistische Sprichwort besagte, dass jemand, der eine Sache besitzt, eine Sorge hätte und jemand, der eine Millionen Sache besitzt, eine Millionen Sorgen, machte man damit Sorgen zum Maßstab des Wohlstandes und zur Währung auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten.

Dabei waren die Sorgen, denen am meisten Wert beigemessen wurde – wie in jedem Geldsystem -, jene, die sich bei objektiver Betrachtung als vollkommen irreal erwiesen: Die Furcht, es könne in der kleinen , schäbigen Bäckerei eingebrochen werden, der Kummer darüber, dass der Supermarkt das Angebot an Frischobst verkleinerte, der Wunsch, der Sohn möge den Sprung aufs Gymnasium schaffen, schließlich solle er es mal besser haben…

Wesentlich realer waren jedoch folgende, eher verdrängten Sorgen: Was, wenn die Bank den Geschäftskredit für die Bäckerei strich? Was, wenn die Diät aus Fertiggerichten und Süßigkeiten irgendwann doch zu Diabetes führte? Wie bekommen wir den Jungen dazu, sich nicht, dieser Gruppe halbstarker Halbkrimineller anzuschließen?

Und dann waren da all jene Sorgen, die man vorsätzlich ignorierte, um sich nicht daran zu erinnern, wie sehr man in der Schuld der eigenen Ansprüche stand: Die einen versteckten einen trinkenden Ehemann, die anderen eine verrückt gewordene Mutter, den Sohn, der wegen irgendwelcher krummen Dinger im Knast saß, die Schwester, deren Selbstmordversuch gescheitert war und die seither in irgendeiner Einrichtung Tag für Tag mit immer höheren Medikamentendosen ruhig gestellt wurde und den Vater, der irgendeiner extremistischen Partei angehörte und sich nicht belehren ließ, dass das alles schlecht für den Ruf der ganzen Familie war.

So oder ähnlich oder ganz anders erging es Hermine, der vorzeitig gealterten Bäckersfrau und Pavel, dessen Namen niemand kannte, weil niemand je mit ihm sprach, was wahrscheinlich daran lag, dass er außer „Dankeschön“ kein deutsches Wort kannte und sich sowieso lieber mit seinem Hund unterhielt.

Einmal im Jahr gab es in der Gutleutstraße einen Jahrmarkt, dessen Tradition sich hinüber gerettet hatte in die neue Zeit der Verwahrlosung und hartnäckig weiterhin so tat, als sei er ein alljährlicher Pflichttermin des gesellschaftlichen Stadtlebens, nur dass mit den Jahren die Anzahl der Kunsthandwerk- und Neuheitenstände stetig abgenommen hatte und somit Platz geschaffen wurde für unzählige fahrende Händler, die in winzigen Transportern mit fragwürdiger Straßentauglichkeit Tonnen von noch fragwürdigerer Kleidung unterbrachten, um sie überall dort feilzubieten, wo die Kaufkraft so weit gesunken war, dass der Anspruch an die eigene Kleidung nichts mehr mit deren Qualität zu tun hatte.

Längst hatte sich herumgesprochen, dass der Jahrmarkt in der Gutleutstraße „nicht mehr das war, was er einmal gewesen ist“, wobei man sich dabei auf die Erzählungen von Großeltern verlassen musste, die trotz allen Niedergangs, das Kunststück vollbrachten, die Vergangenheit so sehr zu verklären, dass sie unglaubwürdiger wirkte als die optimistischen Zukunftsprognosen, die dem Viertel eine neue Blüte prophezeiten, wenn man nur endlich einen Grund finden würde, um die Mieten in die Höhe schnellen zu lassen und das ganze Pack von hier zu vertreiben.

Die Besucher des Jahrmarkts indes setzten sich aus ein paar enttäuschten Schülerinnen zusammen, die ihr Taschengeld für eine Shoppingtour gespart hatten und es am Ende wieder mit nach Hause nahmen. Eine Gruppe arbeitsloser Arbeiter drückte sich zwischen dem Eingang zur Bibliothek und dem Brunnen herum, nicht sicher, ob sie schon weit genug gesunken waren, um auf der Straße ihr Plastikflaschenbier zu trinken. Vor einem Rostwurststand hatte sich eine Gruppe Büroangsteller versammelt, die ihre Mittagspause damit verbrachten, angeregt zu diskutieren, wie viel Geld sie für das Geschenk für den siebzigsten Geburtstag ihres Chefs ausgeben wollten und darüber  in Streit gerieten, ab welcher Summe man von Heuchelei reden konnte. Denn natürlich lag den Damen wenig am Glück ihres Chefs, dafür umso mehr an der Sicherheit ihrer Arbeitsplätze und den regelmäßigen Gehaltserhöhungen – und zwar so sehr, dass sie bereit waren, letztere sogleich in Geschenke für den Chef zu reinvestieren.

„Man muss seinem Chef heutzutage schließlich dankbar sein, wenn er einem Arbeit gibt“, lautete das Hauptargument und dem hatte niemand etwas entgegenzusetzen.

„Man muss seinem Mann schließlich dankbar sein, wenn er einem ein Dach über dem Kopf und zumindest ein kleines Auskommen bietet“, sagte sich Hermine, die Bäckersfrau mit Blick auf ihre rheumatischen Finger und die Gewissheit, dass sie nichts je gelernt hatte, womit sie sich jetzt selbst helfen konnte.

„Man muss den Leuten schließlich dankbar sein, wenn sie ihre zwei Cent Wechselgeld nicht wegstecken, sondern in den kleinen, bunten Plastikbecher werfen“, flüsterte Pavel seinem Hund in ihrer Geheimsprache zu, „Jeder bekommt, was er verdient und kein Geschenk ist selbstverständlich.“

„Man muss der Stadt schließlich dankbar sein, dass sie den Jahrmarkt immer noch veranstaltet“, sagten die Leute, die sich einmal im Jahr in die Gutleutstraße quälten, um ihrem Lokalpatriotismus genüge zu tun, „Hier ist ja so gut wie nichts mehr und die armen Menschen, die hier wohnen, sollen schließlich auch mal was schönes sehen.“

Und so dämmerte der Tag dahin. Das eingebildete Wohlbefinden und die herbeigeredete Gerechtigkeit gaben sich den Anschein von Anstand.

Bei Lichte betrachtete, zeigte sich die Gutleutstraße heute von ihrer besten Seite. Ein bisschen schmutzig, aber menschlich. Ein bisschen angekratzt, aber lebendig. Ein bisschen heruntergekommen, aber stolz. Die herannahende Dunkelheit aber befeuerte Gelüste, die jenseits alles Menschlichen, Lebendigen und sicherlich auch abseits von Stolz gor.

Die Taggesellschaft hatte sich längst zurückgezogen zu Fernsehen und Fertigpizza, da krochen die Gestalten der Nacht empor und beanspruchten ihren Teil des gesellschaftlichen Lebens für sich. Alkohol, Musik und das Gedränge in den immer noch mit Ständen zugestellten Straßen ließen die Körpertemperatur steigen und mit dem Schweiß traten Fragen an die Oberfläche, tauchten auf aus der unbestimmten Gedankenwelt hinein in die Wirklichkeit: Wie fühlte es sich wohl an, einen Menschen zu töten?

Wer sich bei Tageslicht dafür schämte, dass die eigene Mutter sich mit billigem Schmuck behängte, um bei den Kolleginnen im Büro wie eine anständige Person zu wirken, der musste in den Schatten der Nacht dafür sorgen, den Ruch des Anstands wieder loszuwerden. Armut wäre kein Problem, wenn nicht die Erwartungen wären. Eine zerbrochene Familie wäre kein Problem, wenn nicht die ganze Welt in schuldig und unschuldig aufgeteilt werden würde. Und es war immer besser Täter zu sein, als Opfer zu werden.

Tagsüber wusste man, dass man nach den Regeln spielen musste, um nicht im Treibsand der Zivilisation zu versinken. Nachts aber übten die Sümpfe eine umso größere Anziehungskraft aus und wenn die Mutter das letzte Geld für ein Geburtstagsgeschenk für ihren Chef ausgeben würde, gab es auch keinen Grund mehr, sich in Zurückhaltung zu üben. Güte brachte einen nicht weiter als Schlechtigkeit – im Gegenteil: Die Menschen, die sich keinen Kopf darum machen, ob sie sich richtig oder falsch entschieden, lebten besser und sorgenfreier. Sogar im Gefängnis gab es besseres Essen als zu Hause.

Wie fühlte es sich wohl an, einen Menschen zu töten? War es, wie selbst zu sterben? Erlebte man so etwas wie Mitgefühl? Oder sogar Schmerz? „Nein, nein“, sagte einer, der es wissen musste, altklug, „Es ist ganz anders. Man versteht, was es heißt zu leben. Erst, wenn du einen Menschen verrecken siehst, weißt du, was das heißt. Man wird irgendwie demütig. Dankbar.“

Man muss dankbar sein für die Dinge, die man hat. So lehrt es die Religion der Straße. Gier steht einem nicht gut zu Gesicht und als Ersatz für sie hatte sich die Demütigung in die Seelen der Menschen gefressen. Wenn es einem schon nicht gelang, aufzusteigen, dann musste man auf jenen herum trampeln, denen es schlechter ging. So erhöhte man das Selbstwertgefühl, ohne den Selbstwert zu steigern.

Alles war im Grunde Gefühl. In der Gutleutstraße hatte man „Gespür für Dinge“, kein Wissen über sie. Man glaubte, statt etwas auf den Grund zu gehen. Man spekulierte und ignorierte anders lautende Wahrheiten. Recht war etwas subjektives und vor allem beängstigendes.

Gleichzeitig wusste man, dass Gefühle immer eine Schwäche darstellten. Zeig sie niemals, auch wenn sie dich zerfressen! Überlegenheit liegt in der Überzeugung der Richtigkeit des eigenen Handelns. Das waren die Gesetze der Straße und was sie nach und nach in den Herzen der Menschen anrichteten, lässt sich nur als Vakuum beschreiben.

Unterdrückte Gefühle und verdrängte Gewissheiten erzeugten die Lust an Schmerz und die Neugier bezüglich des Todes, die den Jungen mit dem Milchgesicht folgende Sätze aussprechen ließen: „Zu leben bedeutet töten. Wenn man nicht töten, wird man irgendwann selbst getötet. Irgendetwas töten einen immer. Es sei denn, man nimmt die Sache selbst in die Hand. Das ist die Freiheit. Das ist Menschlichkeit! Wofür ist das Leben sonst gedacht? Wir sind hier, um den Tod zu überlisten. Wir sind hier um ihn zu kontrollieren, wie der Höhlenmensch das Feuer kontrollieren lernte.“

Dankbarkeit und Akzeptanz sind einen Dreck wert, wenn man jung und perspektivlos ist. Aber die Religionen, unter denen man aufwächst, prägen einen tiefer, als man es zuzugeben bereit ist.

„Wenn du jemanden sterben siehst – im Augenblick seines Todes – da wirst du dir erst richtig über dich selbst bewusst. Dann weißt du, dass du ein Siegertyp bist, aber auch, dass es nicht selbstverständlich ist, zu leben. Das ist die ultimative Erfahrung.“

Ob sie am Ende tatsächlich hingeschaut haben und was sie genau gesehen haben, lässt sich im Nachhinein nicht überprüfen. Der Jahrmarkt endete jedenfalls mit einem Großaufgebot der Feuerwehr. Wie ein Freudenfeuer loderten die Flammen durch den Flur und das Treppenhaus des Hauses, indem eine verfettete Dackeldame allen Bewohnern bis auf einem das Leben rettete. Das Jaulen des Tieres weckte seine Besitzerin. Die wiederum roch den Rauch aus dem Erdgeschoss und verständigte die örtlichen Rettungskräfte.

Am nächsten Morgen stand neben den Trümmern der Kaufhausruine die ausgebrannte Hülle eines Wohnhauses, das immer noch ein wenig nach Urin stank. Der wohlbeleibte Polizist verzichtete an diesem Morgen auf Frühstück und Kaffee. Der Fund einer verkohlten Leiche und eines Hundekadaver lag ihm im Magen.

„Der Penner vom Supermarkt“, sagte er zu seinen Kollegen am Ort des Geschehens und laut genug, sodass die umstehenden Gaffer es hören konnten, „Mit Benzin übergossen und angezündet.“

Der schockierte Seufzer, der den die versammelten Menschen kollektiv entwich, war ohne Zweifel aufgesetzt. Für Penner hatte man keine echte Anteilnahme übrig, höchstens eine abstrakte – eher grundsätzliche – Abneigung aller Dinge, die sie betrafen: Ihr Tod ebenso wie ihre Existenz.

„Das fällt auf uns alle zurück“, prophezeite Hermine, während sie Brötchen für die Feuerwehrleute ausgab. Auf dem Verkaufstresen vor ihr lag die Tageszeitung, deren Schlagzeilen mehr Platz einnahmen als die Berichte darunter und sie wusste, welche Geschichten für diese Leute interessant waren und sie wusste noch mehr: Nämlich dass der Pullover und die Jeans, die ihr Sohn letzte Nacht in die Wäsche geworfen hatte, nach Qualm rochen.

Und wirklich: Noch am Nachmittag des selben Tages scharwenzelten zwei, sich insektenartig bewegende Fremde durch die Gutleutstraße und gaben vor, Augenzeugen ausfindig machen zu wollen. Was sie in Wirklichkeit wollten, wusste Hermine ganz genau und sie sagte es ihnen, als sie sich eine Cola bei ihr kauften: „Sie wollen das den Leuten hier anhängen. Für Sie sind wir doch alles Asoziale und diese Geschichte passt genau in ihr Schema.“

Die beiden Journalisten ließen sich nichts anmerken, am nächsten Morgen aber titelte die Zeitung: „Sozialer Brennpunkt: Die Verrohung der Gesellschaft in unseren Städten fordert erstes Todesopfer“

Hermine legte die Blätter aus, weil sie sich verkauften, obwohl ihr die Geschichte einen Stich ins Herz versetzte. Sie knirschte mit den Zähnen: „Es ist ihnen egal, was über sie gesagt wird. Allein dass sie in der Zeitung steht, macht sie stolz.“

„Und natürlich steht nichts darüber drin, was dieser Kerl für ein Widerling gewesen ist!“, das sagte die Frau, die mit ihrem Dackel seit zwei Tagen in einer Notunterkunft lebte, die ihr größeren Luxus bot als ihre alte, eigene Wohnung. Sie hatte den Schock schnell überwunden, als ihr bewusst wurde, dass man ihr all die alten Dinge, die sie verloren hatte, durch neue ersetzen würde, sie musste nur ein bisschen übertreiben, was den Wert ihrer ehemaligen Habseligkeiten anging. Ihr Herz hing nicht an den trotzlosen Erinnerungen, die sie gehortet und in Flammen hatte aufgehen sehen. Sie dachte praktisch.

Stolz ist ein seltsames Gefühl. Noch im tiefsten Schlamm konnte man stolz darauf sein, wenigstens im eigenen Kot unterzugehen. Man konnte stolz darauf sein, bedauert zu werden, denn in jedem Bedauern steckte irgendwo auch ein bisschen Bewunderung, nicht wahr? Und man konnte stolz darauf sein, ein Geheimnis bewahren zu können.

Niemand hatte bisher bei Hermine nachgefragt? Niemand würde die verqualmten Kleidungsstücke jemals finden. Sie waren selbst in Rauch und Asche aufgegangen. Wozu besaß man sonst einen Bäckerofen?

Sozialer Brennpunkt… wenn es drauf ankam, hielten die Bewohner der Gutleutstraße zusammen und ist das nicht die eigentliche Definition von „sozial“?

Die Büroangestellten setzten einige Tage lang ein betroffenes Gesicht auf, wenn sie über den Zebrastreifen zu ihrem Arbeitsplatz schlichen. „Da ist es passiert! Schlimm, schlimm… Wie sowas nur passieren kann!“

Aber alle waren sich einig, dass diese Dinge „passierten“ und nicht „verursacht“ wurden. Der Glaube an Schicksal hält den Menschen aufrecht, gibt seinem Leben eine Richtung und seinem Handeln eine Rechtfertigung. „Der arme Mann“ hatte keine Chance gehabt, aber wer wusste schon, wofür es gut war?

„Ach, er war total verlaust und hat nie ein Wort geredet. Ich hatte immer ein bisschen Angst vor ihm. Stell dir mal vor, so einer lebt in deinem Hausflur! Ich glaube, ich würde sofort ausziehen!“

„Er war sicher total besoffen. Im Grunde war er selbst schuld. Hätte er nicht getrunken, wäre er nicht hilflos gewesen.“

„Wer weiß, was der nicht alles für Krankheiten gehabt hat.“

„So richtig bei sich war der auch nicht. Ich will ja nichts sagen, aber der war doch selbst eine Gefahr für das öffentliche Leben.“

„Ich hab gehört, er hätte einer Frau den Geldbeutel aus dem Einkaufskorb heraus gestohlen.“

„Er hätte einfach nicht in anderer Leute Hausflur schlafen sollen“, es war der Polizist, der diesen Satz im Vertrauen zu Hermine sagte und damit wusste sie, dass das Leben in der Gutleutstraße zu seinem normalen Gang zurück gefunden hatte.

Feedback

Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!

0
Hermias Profilbild
Hermia Am 12.08.2017 um 9:24 Uhr
Sehr gut und anschaulich geschrieben. Die Eintönigkeit des Alltags in dieser Straße sowie die Gleichgültigkeit der beschriebenen Personen wird beim Lesen deutlich spürbar. Ein alltägliches Grauen im Grunde und es stimmt traurig, dass niemand sich wirklich für den Penner interessiert.
suedeheads Profilbild
suedehead (Autor)Am 12.08.2017 um 11:29 Uhr
Ich hab ihn auch schon länger nicht mehr gesehen. Normalerweise gebe ich ihm mein Wechselgeld, wenn ich in dem Supermarkt einkaufe, aber er ist irgendwie verschwunden... Ich mochte ihn, weil er diesen winzig kleinen Hund hat und ihn mit Decken und einem Regenschirm vor zu starkem Wind schützen muss, während er sich selbst der Witterung aussetzt.

Danke für den Kommentar. Wenn ich was für's Fotografieren übrig hätte, hätte ich die dieses Trümmerfeld von einer Straße abgelichtet, aber ich kann halt nur schreiben, also hab ich's damit versucht...

Die Frau mit dem übergewichtigen Dackel übrigens... Die hab ich letztens beim Bäcker getroffen und der Hund hat irgendein heruntergefallenes Stück Brot gefressen und da sagte die Frau zu ihrm: "Du weißt doch, dass du auf Diät bist!" und da dachte ich: Die Geschichten, die ich Menschen andichte, sie sind wahr!
Mehr anzeigen

Autor

suedeheads Profilbild suedehead

Bewertung

2 Bewertungen

Statistik

Sätze: 130
Wörter: 3.568
Zeichen: 21.867

Kurzbeschreibung

Eine Art Millieu-Studie.