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Das Herbstmädchen

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23.01.22 11:24
6 Ab 6 Jahren
Fertiggestellt

Es war jemand Neues in die letzte Villa der Burghochstraße eingezogen. Der siebzehnjährige Rugbyspieler stand auf der Veranda und starrte verträumt in den Himmel. Vielleicht wirkte er auch etwas traurig dabei.

Zwei Gleichaltrige zwängten sich an der Wildrosenhecke vorbei in den Garten. Sie waren beide vornehm gekleidet. „Hast du die Party vergessen?“, schrie der eine von ihnen. Er wandte ihnen den Blick zu und lächelte.

„Nein, ich warte auf das Herbstmädchen.“ „Sie war noch nicht hier?“ Alle blickten auf den alleinstehenden Baum der Nachbarwiese. Sein Laub war orange und sein Stamm maß ein beachtliches Alter. Ein Mädchen war jedoch nicht zu sehen.

„Vielleicht …“ Sein Gebrüll unterbrach er mit dem Erscheinen zweier Gestalten. Den Teenager davon bezeichnete er kurz darauf als die eben Genannte.

Der auffällig lange schlanke Mann redete mit ihr. Die drei Jungs waren jedoch zu weit entfernt, um es zu verstehen. Es folgte ein leichtes Verbeugen und der Mann suchte das Weite. Damit ging nun der Anwohner auf sie zu.

„Hallo“, grüßte er freundlich. Doch sie reagierte nicht. Stattdessen tauchte der Mann wieder auf. „Kennen sie die junge Dame?“ „Nein, ich wollte nur grüßen. Ich wohne noch nicht lange hier.“ „Herr Hockwoum … ich erinnere mich“, nuschelte er nachdenklich.

„Ist ihnen kalt?“ Er stieg über die Hecke und hängte ihr sein Jackett um. Sie blieb noch immer völlig regungslos. Deshalb versuchte er Augenkontakt zu bekommen. Ihre hellgrünen Augen passten zu ihrem grünweiß gestreiften Pulli. Allerdings machten auch diese keine Anstalten auf ihn aufmerksam zu werden.

„Kommt sie ihnen bekannt vor?“ „Wieso fragen sie?“ Die Antwort kam ihm selbst. „Das ist ja schrecklich. Wieso hat sie ihr Gedächtnis verloren?" Plötzlich kam das Mädchen in Bewegung. Sie kippte auf denn Mann zu. Doch Heiko fing sie auf.

„Es ist besser, sie legt sich etwas hin“, meinte er und eilte zum Haus, ohne dass der Mann etwas erwidern konnte. Er legte sie auf ein teures schneeweißes Sofa ab. „Wer sind sie?“, nuschelte sie völlig kraftlos. „Ihr Retter offensichtlich.“

Ihre Begleitung kam telefonierend ins Haus nach. „Heiko Hockwoum“, gab er noch bekannt, bevor der Mann in sein Telefon sprach. „Das gibs doch nicht“, fluchte der Mann. „Kaum ist mein Auto zur Inspektion hat plötzlich keiner mehr eins.“

Heiko wandte sich zu ihm. „Sie kann hierbleiben.“ „Das ist nett aber ich sollte sie ins Heim zurückbringen.“ „Das ist doch viel zu umständlich. Sie kann das Zimmer mit Blick auf dem Baum haben. Sie läuft doch jeden Herbst dahin.“ „Ja leider. Sie versteht einfach nicht, dass es für sie noch zu anstrengend ist.“ „Sehen sie? Das Zimmer sollte dem entgegenwirken. Ich rede mit meinem Onkel.“ Wieder auf keine Antwort wartend nahm er sein Handy ans Ohr und lief in die Küche.

Mit einer Wasserflasche und einem Glas kam er wieder. „Mein Onkel ruft sie gleich an.“ Wie aufs Stichwort klingelte sein Handy. „Hier trinken sie was.“ Behutsam drückte er sie aufrecht und stützte sie. Während sie trank, zog er ihr ein paar Ahornblätter aus dem Haar.

„Besser?“ Er schenkte ihr ein frisches Glas ein, das sie aber ablehnte. „Ich verstehe.“ Der Mann klang, als habe er Ärger am Hals. Er wollte sich am Hörer verabschieden aber scheinbar legte sein Gegenüber auf.

„Ich weiß, dass sie ein verantwortungsbewusster Mensch sind aber wenn es ihnen zu viel wird … Sie hat es gut im Heim.“ „Das wird schon. Susann!“ Ein Dienstmädchen war durch die Eingangstür gekommen. „Essen für die Herrn? … Oh und Dame?“ „Ein Zimmer für sie.“ „Wird gemacht.“ Sie freute sich offensichtlich über die zusätzliche Arbeit. Im Nu war sie fertig.

Das Hochtragen in das gemachte Zimmer im ersten Stock übernahm wieder er. Das Mädchen bekam davon nichts mehr mit. Sie war bereits eingeschlafen, während er noch mit diesem Mann gesprochen hatte.

Am nächsten Tag konnte er erst nach der Schule und dem Rugbytraining nach ihr sehen. „Schläfst du noch oder wieder?“ Den ganzen Tag war sie laut dem Dienstmädchen nicht herausgekommen. „Sag was sonst komm ich rein.“ Diese Aussage klang schon etwas besorgt. Nicht das er ihr gestern hätte einen Arzt rufen müssen.

Da sie nichts erwiderte, stürmte er ins Zimmer herein. Sie stand unbekümmert an der Fensterfront, von der man aus auf den Herbstbaum sehen konnte. Erleichtert schob er die Kartons voller neuer Kleidung ins Zimmer herein und stellte sich zu ihr.

„Das mit deinem Gedächtnis wird schon. Ich helf dir.“ „Wieso?“, flüsterte sie, ohne den Blick abzuwenden. „Weil ich nett bin.“ Wieder versuchte er sich Augenkontakt zu verschaffen. Jedoch blieben ihre Augen wie auch beim ersten Versuch starr. Außer das sie diesmal minimal zitterten. Sie war wohl verunsichert.

„Du hast schöne Augen.“ Ihr Blick huschte auf ihn aber irgendwie machte es den Eindruck, als ginge er durch ihn durch. Ein Grinsen folgte. „Zu dumm, dass man seine Augen nicht sehen kann.“ Heiko lehnte sich entspannt an die Scheibe. „Wozu gibt es Spiegel?“ Irgendwie gefiel ihm ihre sonderbare Ausstrahlung. Sie war attraktiv ohne Frage und ihre Augenfarbe war mit diesem hellen Grün wohl auch nur einmalig auf der Welt.

„Na ja ein Spiegel ist nur dann von Nutzen, wenn man hineinsehen kann.“ „Du kannst in keinen Spiegel hineinsehen?“ „Ich bin blind, also fast. Alles was ich sehen kann, sind Schemen und das auch nur dann, wenn das Licht hell genug ist.“ „Das tut mir Leid.“ Bedauernd stich er ihr über den Arm. „Das ist okay. Ich kenns nicht anders. Danke wegen gestern.“ „Kein Ding. Wie gesagt, ich bin sehr nett.“

Ihr Blick setzte sich wieder auf den Baum fest. „Der Baum ist dir wichtig, was?“ „Na ja. Er ist der Punkt, wo mein Gedächtnis beginnt.“ Sie schloss die Augen und für eine kurze Zeit war alles still. Bis ihr Magen knurrte.

„Zieh dich um. Susann hat für uns gekocht.“ „Ich habe nur das hier. Außerdem wird mich doch sicher gleich Herr Kempelbacher holen.“ „Nein wird er nicht. Du musst nicht mehr ins Heim.“ Ihre Augen verrieten wieder ihre Unsicherheit.

„Du bleibst hier, bis wir dein Gedächtnis oder deine Eltern gefunden haben. Bestenfalls beides oder auch nur beides.“ Während er es ihr erklärte, hatte er ihr Kleidung aus den Kisten zusammen gesucht. „Das steht dir, glaub mir.“ Sie rührte sich nicht. „Wie gesagt, ich bin ein sehr netter Mensch.“

„Bisschen dumm für eine Wildfremde Kleidung zu kaufen und sie auch noch bei sich wohnen zu lassen.“ „Ich helfe wo ich kann. Ich zeig dir wo das Bad ist.“ Er nahm ihren Arm und hackte sie bei sich ein. Auf die Idee, ihr eine Wahl zulassen, kam er gar nicht erst.

„Schaffst du das so?“ Er hatte alles bereitgelegt, was sie brauchte. „Ich kann auch Susann bitten dir zu helfen. Das ist wohl besser.“ „Nein. Ich bin gut darin. Also ich kann das alleine, keine Sorge.“ „Wie du meinst aber klopf oder sag was, ich schick sie dir dann.“ Sie lächelte wieder. „Geh schon.“

Das Verlassen des Raumes machte ihn so unruhig, dass er davor auf und ab lief. Für ihn fühlte es sich so an, als müsste er Ewigkeiten warten. Doch sie kam recht schnell wieder heraus.

„Wie ich sagte, es steht dir ausgezeichnet.“ „Du bist wohl überhaupt nicht eingebildet.“ Sie tastete sich mit unkontrollierten Augen an seinen Arm heran. Was ein Zeichen dafür war, dass sie hier gar nicht sehen konnte. „Ich bring dich runter okay.“ Sie nickte zögerlich. Testweise hatte er das Licht eingeschaltet. Ihre Reaktion darauf lies ihre Augen wieder erstarren aber er merkte noch immer ihre Unsicherheit.

Als er sie zu Tisch gebracht hatte, übernahm das Dienstmädchen ihre Obhut, damit er selbst das Bad benutzen konnte. Als er wiederkam, trug sie ihren aufgegessenen Teller zur Angestellten.

„Du bist wohl keine Dienstmädchen gewöhnt“, spottete er. Sie stellte den Teller ab und schwieg. Trotz des Vorwurfes schöpfte sich selbst etwas aus dem Topf und setzte sich an den Tisch.

„Und hat es dir geschmeckt?“ „Ja. Es war lecker. Danke.“ „Setzt dich zu ihm. Er mag es nicht, wenn das Personal am Esstisch steht.“ Anscheinend scherzte sie, da sie lachte. „Ich mag es nicht, wenn sie nichts abbekommen, Susann. Nehmen sie sich auch etwas.“ „Nein danke, Herr Hockwoum.“ Sie verließ den Raum.

„Alles in Ordnung?“, fragte er weil sie verschreckt wirkte. „Ich … Ihr Name kommt mir bekannt vor.“ „Sagt dir die örtliche Rugbymannschaft etwas? Ich bin ihr Kapitän.“ Sofort ging ihr Blick betrübt zu Boden.

„Kempelbacher ist ein ziemlicher Rugby Fan. Ich muss deinen Namen wohl mal irgendwie aufgeschnappt haben.“ Diese Feststellung schien sie sehr traurig zu machen. „Du bist jetzt hier. Wir finden dein Gedächtnis versprochen.“ „Sag mal machst du das echt nur aus Nettigkeit?“ „Weshalb sonst?“ Diese Frage schien er wirklich ernst zu meinen.

„Wie schlau bist du eigentlich?“ Heiko warf ihr eine einfache Matheaufgabe an den Kopf. Etwas zögerlich beantwortete sie diese richtig. Als nächstes fragte er etwas über Kontinente und kam dann wieder zu einer etwas kniffligeren Matheaufgabe. All seine schulischen Fragen wurden richtig beantwortet. „Respekt. Du bist schlau.“ Sein Kompliment verunsicherte sie offenbar ein weiteres Mal. Nur sagte sie nichts davon.

„Du ruhst dich heute noch etwas aus und Morgen sehen wir mal, was ich dir von der Stadt zeigen kann.“ „Es wundert mich, dass du mir helfen willst aber nicht einmal fragst, wie es dazu gekommen ist.“ Eine Bewegung, die sie eigentlich vermeiden wollte zeigte Kopfschmerzen an. Dem zur Folge ging er besorgt auf sie zu.

„Na ja ich wollte nicht verletzend sein. Du legst dich besser wieder hin.“ „Geht schon.“ „Du bist wohl ein Sturkopf.“ Anhand ihrer unkontrollierten Augen und ihre verspannte Haltung war es leicht die Heftigkeit abzulesen. „Ich bring dich hoch.“ Das folgte auch wieder, ohne zu warten. Kurz vor der Treppe bat er das Dienstmädchen um die Kopfschmerztabletten, die Kempelbacher im Laufe des Tages vorbei gebracht hatte.

„Es ist okay“, versuchte sie es dauerhaft runter zu spielen. Doch Heiko beharrte darauf, dass sie diese Tabletten schluckte. Als er sie endlich dazu gebracht hatte, rief er Kempelbacher an. Er kam schließlich vorbei.

„Gibt es Probleme mit ihr?“ „Ich wollte nur wissen, ob ich auf bestimmte Dinge achten muss.“ „Sollte ich diese Unterhaltung nicht mit ihrem Onkel führen?“ „Ich hab ihr versprochen zu helfen. Als ich etwas mit ihr gelernt habe, hat sie Kopfschmerzen bekommen. Ich will nur ausschließen, dass ich ihr nicht schade.“

„Ihre Kopfschmerzen kommen davon, dass sie versucht zu sehen. Es lässt sich am besten eindämmen, wenn man ihr Dinge gut beschreibt. Beschreiben sie ihr beim nächsten Mal das Haus, vielleicht auch sich selbst oder ihre Haushälterin. Das hilft ihr schon oder lassen sie ihr einfach etwas Zeit. Wie fühlen sie sich eigentlich bei ihrem Onkel?“ „Er ist ganz okay. Er hat mich zum Rugby gebracht.“

„Ist er so streng, wie man sagt?“ „Kein Stück, wieso fragen sie?“ „Na ja Strenge ist momentan nicht der beste Weg.“ „Sie ist in guten Händen.“ Er lächelte. „Kann ich sonst noch etwas für sie tun?“ „Ich wüsste gern, was ihr zugestoßen ist.“ „Es wird ihr unangenehm sein, wenn ich das erzähle.“ „Das dachte ich mir. Sie ist ziemlich stur.“

„Das kenn ich nur, wenn es um diesen Baum geht. Wie war sie denn bei ihren Schulaufgaben?“ „Ziemlich gut. Wissen sie das nicht?“ „Bei mir konnte sie kaum fünf und drei zusammen rechnen.“ „Wollen sie mich veralbern?“ „Keines Wegs. Es war eine bessere Idee, sie hier zu lassen, als ich dachte. Könnten sie ihrem Onkel ausrichten, dass sie am Donnerstag eine Nachuntersuchung in der Klinik hat. Bei Professor … na wie war der Name gleich. … Braun … Weiß … nein irgendeine Farbe.“

„Grau. Sie sind echt schlimm. Sie kennen sämtliche Rugbyspieler auswendig aber würden sogar ihren eigenen Vornamen vergessen.“ „Na so was … Das mit der guten Idee nehm ich lieber wieder zurück.“ Ohne dass es einer der Beiden mitbekommen hatte, war das Herbstmädchen die Treppen heruntergekommen.

„Warum bist du nicht im Bett?“ Heiko sah sich ihre Augen an, die wohl ehrlicher ihren Zustand beschrieben als sie selbst. „Ich bin in Ordnung.“ „Trotzdem! Du schonst dich noch.“ „Gut, dann geh ich wieder.“ Beide blickten verdutzt, als sie begann die Treppen wieder vorsichtig hinauf zu gehen.

„Warte!“ Nachdem sich der Siebzehnjährige gefangen hatte, sorgte er dafür, dass sie heil im Zimmer ankam. „Du willst also doch wissen, warum das so ist?“ Sie wollte nicht drüber reden, das sah er ihr deutlich an. „Ruh dich jetzt aus, okay? Du musst wieder fit werden.“ Sie lächelte. „Du bist genauso komisch wie Kempelbacher.“ Dieser Vergleich verstimmte seine besorgte Mine.

„Ich bin euch völlig fremd und dennoch sorgt ihr euch um mich. Warum?“ „Vielleicht bin ich zu nett.“ Er versuchte zu grinsen. „Mein Verletzungsmuster ergab, dass ich zusammengeschlagen wurde und später angefahren.“ „Das weiß man einfach so?“ „Ich hab wohl ziemlich übel ausgesehen.“

„Wie lange ist das Ganze her?“ Sie schwieg bedrückt, sagte es aber schließlich doch. „Vier Jahre.“ „Aber dann … Es tut mir leid.“ „Schon gut. Ich hab es selbst raus gezogen. Weißt du, ich bin mir so sicher, dass dieser Baum … wenn ich ihn nur sehen könnte … Ich will doch einfach nur wissen warum. Es fühlt sich so wichtig an.“

„Glaubst du, du konntest sehen vor deinem Unfall?“ „Weiß man nicht. Bei mir war erst einmal eine Menge kaputt. Schwer zu sagen, ob da etwas schon älter war. Ich schlaf noch ein bisschen. Muss ja schließlich wieder gesund werden.“ „Tu das und wenn was ist …“ „Rufe ich, ja.“ „Mach das!“

Zwei Tage später ging es ihr schon sichtlich besser. Trotzdem war Heiko ziemlich nervös, als er sie zum Termin des örtlichen Krankenhauses begleitet hatte. „Ich fühle mich schon viel besser“, sagte sie und nutzte die Gelegenheit, ihn am Handgelenk zu packen.

„Danke, dass du eingesprungen bist. Kempelbacher ist immer so besorgt.“ Schon wieder dieser Vergleich. Er mochte diesen Mann nicht wirklich. „Fühlst du dich denn gut?“ Sie nickte und auch ihre Augen schien ihr recht zu geben.

Ein gleichaltriges Mädchen kam auf sie zu. „Du hier?“, fragte sie nicht gerade feinfühlig. Über diese Begegnung schien er sich auch nicht gerade zu freuen. „Das ist Christin Kauz. Sie arbeitet in einem der Läden, in die ich mit dir später wollte.“

„Im Schuhladen Kauz, der mit meinem Namen nichts zu tun hat und dem guten Hockwoum genauso unnötig zu erwähnen scheint wie deine Vorstellung.“ Sie lachte. „Das kann er gar nicht. Er weiß es ja schließlich nicht. Kempelbacher nennt mich Georgia.“ Heiko blickte sie skeptisch an.

„Georgia, abgeleitet von Georg Kempelbacher?“ „Kempelbacher nennt auch seinen Hund Kempel“, spottete das Mädchen, ehe sie auch verdutzt und dann besorgt dreinschaute. „Er nennt dich so? Du hast also eine Amnesie. Du armes Ding, deine Eltern müssen ja umkommen vor Sorge.“ „Das würde zumindest erklären, warum sie mich nicht finden.“ Ihre als Witz gemeinte Aussage kam überhaupt nicht so rüber. Heiko räusperte sich. „Man sieht sich also später.“ „Vielleicht.“ Als wäre sie vor dem Arzt geflohen, verschwand sie nach dieser Aussage.

„Guten Tag Herr Hockwoums. Begleiten sie Georgia?“ Diese Frage erübrigte sich, als sie ihn einfach mitzog. „Er wird schon sagen, dass es mir gut geht.“ Das klang ziemlich verzweifelt. Zumindest setzte sich Heiko endlich und seufzte ein beruhigendes „Bestimmt.“

Über die Untersuchung hinweg verstummte er gänzlich. Er machte sich ungewollt Bilder davon, wie sie mal zu mal heftiger zusammengeschlagen wurde. Der Schemen, den er sich vorstellte, war größer als sie. Zu Beginn war er auch noch alleine.

„Seh ich so schlimm aus?“, unterbrach sie mit weinerlicher Stimme den Moment, als er sich an das Anfahren erinnert hatte. „Nein. Wie kommst du denn darauf?“ Seine Stimme hatte den falschen Klang aber er log nicht. Keins seiner schlimmen Versionen sah man ihr noch an.

Die Untersuchung war mittlerweile vorbei und sie standen auf dem Gang. „Du bist hübsch. Hübscher, als du dir vorstellen kannst.“ Das hatte ihr wehgetan. „Moment.“ Heiko stoppte eine männliche Gestalt, die dem Farbschema Schwarz eisern folge leistete. „Entschuldigen sie. Meine Begleitung denkt, sie sei nicht hübsch. Glauben sie das?“ Der Fremde blieb stehen und musterte sie schweigend. Dann lächelte er. „Wenn ich nicht schon vergeben wäre, wären sie meine erste Wahl.“ Den Rücken zu ihnen gewandt, verließ er sie. „Siehst du? Du bist hübsch und jetzt lass uns noch etwas unternehmen.“

Heiko schleppte Georgia von einem Laden zum Anderen. Der Bahnhof, das Rugbyspielfeld und ein Restaurant standen ebenfalls auf seiner Liste. „Magst du noch ein Eis?“ Er erwartete wohl keine Antwort. „Willst du sie mästen, Hockwoum?“ Christin tauchte hinter ihnen mit einem Karton vor dem Gesicht auf. „Sollst du nicht deine Verletzung auskurieren, Kauz“, gab er gleichen Klangs zurück und nahm ihr den schweren Karton ab.

„Wohin?“ Mit sichtlicher Freude dirigierte sie ihn vor sich her, während sie gleichzeitig alles über die Stadtbewohner berichtete. Heiko seufzte, als er endlich das Ziel erreicht hatte. „So, jetzt kennst du so gut wie jeden.“ Besorgt sank er auf Augenhöhe. Es war inzwischen dämmrig und sie sah nichts mehr. Somit konnte er auch nicht ihren Gesundheitszustand beurteilen.

„Hat irgendetwas heute eine Erinnerung ausgelöst?“ Sie schüttelte den Kopf, als würde sie es diesmal nicht verletzen. „Das wird schon.“ „Hockwoums ist hartnäckig, darauf kannst du dich verlassen.“ Georgia zeigte nicht die kleinste Bewegung, als Christin ihr die Hand auflegte. „Ich glaube, wir sollten nach Hause. Steig ein, Kauz.“ Wie immer ließ er keine Zeit für Diskussion.

In der Villa begleitete er das schweigende Herbstmädchen ins Zimmer. Sie vertraute ihm deutlich mehr als zuvor, hatte aber immer noch Schwierigkeiten mit der Höhe der Stufen. „Wirklich alles in Ordnung?“ Sie nickte und nahm auf ihrem Bett platz.

„Christin Kauz ist doch nett.“ Ihre Stimme klang ziemlich verunsichert. „Sie ist in Ordnung.“ Er setzte sich zu ihr. „Wenn sie nicht so viel reden würde.“ Sie begann ein paar Namen aufzuzählen, die sie von ihr aufgeschnappt hatte.

„Es sind alles Rugbyspieler oder?“ „Bis auf die Pusch. Sie haben den Bau des Rugbyspielfeldes wie auch so einige andere Dinge finanziert.“ Sie lachte. „Magst du überhaupt jemanden?“ Sie lehnte sich gegen ihn. „Danke, dass du mir hilfst.“ „Ehrensache. So und jetzt ruhst du dich aus. Morgen lernen wir zusammen.“

Am Nachmittag kam er zu ihr unter den Ahornbaum. Sie lag auf dem Rücken und starrte in dem Himmel. „Hy“, grüßte sie und drehte anschließend ihren Kopf zu ihm „Ich hab was für dich“, verkündete er vergnügt. Damit hielt er auch etwas über sie ins Licht. Offenbar versuchte sie es auch lange Zeit zu erkennen, gab es aber schließlich auf.

„Ich seh nur irgendein Rechteck und deinen Arm, glaube ich.“ „Nicht schlecht. Vielleicht kannst dus ertasten.“ Es wirkte sehr aufdringlich, wie er ihr diesen Gegenstand in die Hände drückte.

Die Oberfläche so wie die Rückseite waren glatt und kalt. Es war etwas Festes. Schätzungsweise trennten die Voder- und Rückseite vier Zentimeter. Die beiden Seitenteile unterschieden sich komplett von einander. So war die Eine gewölbt, glatt und kalt. Die Andere war einen halben Fingerbreit unter dem Harten versetzt. Es war nicht so kalt wie der Rest und verziert mit vielen feinen Rillen. Das Drauftippen auf der breiten Oberfläche erzeugte zudem einen dumpfen, kaum hörbaren Klang. Was sie endgültig scheitern ließ waren winzige Noppen. Beide Anordnungen fand sie auf der Front und auf der gewölbten Seite wieder.

„Ich weiß es nicht.“ „Rate mal.“ „Ein Buch vielleicht.“ „Ja richtig aber ein besonderes. Hier, fühl dort nochmal.“ Er legte ihre Finger auf den Noppen ab. „Ein beschädigtes Buch“, antwortete sie verunsichert. „Nein“, lachte er und nahm ihr den Gegenstand ab. „Es ist ein Blindenbuch.“ Sein Schemen über ihr verschwand. Er hatte sich neben sie gesetzt.

„Du kannst also keine Blindenschrift lesen. Also warst du vor deinem Unfall nicht blind oder zumindest noch nicht so lange.“ „Heiko … Hast du vergessen, dass meine Vergangenheit ausgelöscht ist. Da existiert nichts mehr außer Schwärze.“ „Bisschen pessimistisch heute? Nein, das könntest du trotz deiner Amnesie. Ich habe deinen behandelnden Arzt gefragt. Es ist so wie du eins Plus sieben zusammen rechnen kannst.“ „Acht“, antwortete sie wie auf eine ernst gemeinte Aufgabe und lachte.

„Ich hoffe, du hast Rückgaberecht auf dieses Buch.“ „Nein warum?“ „Na weil ich es nicht nutzen kann und weil ich es nicht haben will.“ „Wer sagt denn, dass es keinen Nutzen hat? Susann und ich bringen dir die Blindenschrift bei.“ „Könnt ihr das etwa?“ „Nein aber ich habe eine ausgedruckte Tabelle. Deswegen fühlst du jetzt dieses Symbol und ich sage dir, das es ein W ist.“ „Im Ernst Heiko. Ich will nicht, dass du mir irgendetwas kaufst.“

„Ich kann deine Bildung nicht vernachlässigen und eine Blindenschule habe ich auf die Schnelle nicht gefunden.“ „Das geht nicht. Was ist, wenn ich dir davon nichts mehr zurückzahlen kann?“ „Ich schenke es dir. Du musst überhaupt nichts zurückzahlen. So und jetzt gib dir Mühe. Wie war der erste Buchstabe?“ „W aber …“ „Und das Symbol?“ Heiko setzte sie bewusst auf einem Falschen ab. Sie rückte weiter, blieb aber beim Falschen liegen.

„Nein versuchs nochmal.“ „Ich will nicht, dass du mir irgendwelche Dinge kaufst! Du kennst mich doch überhaupt nicht. Das hier ist doch alles nur eine verdammte Lüge.“ Sie sprang auf und lief ins Haus zurück. Perplex blieb er zunächst sitzen. Dann ging er ihr aber doch noch nach. An der Treppe traf er auf Susann. „Lassen sie sie etwas in Ruhe.“ „Aber …“ „Das kommt alles wieder in Ordnung.“ „Schauen sie nach ihr?“ Ein Nicken folgte.

Als er am nächsten Morgen vom Zimmer kam, saß sie mit dem Dienstmädchen zusammen und lernte aus dem Buch. „Morgen“, grüßte er erfreut. „Es tut mir Leid wegen gestern.“ „Schon vergessen.“ Er setzte sich mit einem Getränk an den Tisch. „Nein, ich möchte es erklären. Ich bin manchmal etwas seltsam. Ich weiß nie, wie ich mit einer Situation umgehen soll. Du bist irgendwie ganz anders wie Kempelbacher.“ „Ich bin ja auch nicht Kempelbacher“, meinte er entspannt und trank etwas.

„Ich möchte, dass du mir nichts mehr kaufst.“ „Seh ich nicht ein.“ „Seien sie nicht so, Hockwoums“, mischte sich das Dienstmädchen spielerisch ein. „Sie ist doch ein nettes Mädchen.“ Georgia schaute betrübt zu Boden. „Ich kaufe Dinge, die du brauchst. Außerdem ist mein Onkel dazu verpflichtet, wenn er dich in Pflege nimmt.“

„Dieses Buch steht aber nicht in seiner Pflicht und dieser Berg an Klamotten.“ „Das Buch lehrt dir die Blindenschrift. So wie er mir die Schulbücher finanziert und die Klamotten … Brauchst du wirklich eine Erklärung dazu?“ „Wie wäre es mit einem Kompromiss. Heiko kauft nur Dinge, die du wirklich brauchst.“ Er fühlte sich schon bestätigt. „Aber er spricht sich zuvor mit dir ab. Ein Nein bleibt ein Nein. Ausnahme des Essens, das ist mein Bereich.“ „Warum sollte ich etwas absprechen, dass wichtig ist. Hey, ich will nur, dass du es gut hast. Ist das so falsch?“

„Ich …“ Nachdem das Dienstmädchen ihre Hand auf Georgias Schulter abgelegt hatte, mischte sie sich erneut ein. „Wenn sie sie nicht überrumpeln wollen, gehen sie auf den Kompromiss ein.“ „Gut“, stöhnte er. Ein kurzer Blick auf sie hatte ihn doch noch weich werden lassen. „Zeig mir mal, was du schon kannst.“ Heiko stellte seine Tasse beiseite und ließ sich eine Seite lang vorlesen. Danach gab er ihr andere Aufgaben. Für den Rest des Tages ging sie zu ihrem Baum.

„Hy“, grüßte eine ihr unbekannte Stimme. Aus Angst blieb sie ganz starr. Davon merkte die Person nichts. Sie trat hinter ihr hervor und stellte sich vor sie. Der Schemen war schwer zu erkennen. Zumindest war er größer als sie und er schien seine Hände in den Taschen stecken zu haben. „Bei den zu Weißensteins steigt eine Party am Wochenende. Begleitest du Heiko?“

„Lass sie!“, rief Heiko von Weitem. Sein Stimmklang erweckte den Eindruck, dass sie in Gefahr war. „Ich frag sie nur.“ Eine zweite Gestalt näherte sich. „Sorry, mein Bruder vergisst häufiger das Denken. Wir sind Vincent und Valentin Teves, Freunde von Heiko.“

„Du störst!“ „Wie war das?“, fragte sie zögerlich. „Hört auf sie zu nerven Jungs! Das sind Freunde von mir.“ „Auch Rugby?“ „Nur Vincent.“ Heiko kam allen wie eine Warnung zuvor. Er legte den Arm um sie, als müsste er noch deutlicher werden.

„Alles in Ordnung?“ Sie würde ihm gern sagen, was gerade ihr Problem war aber sie fand hierzu keine Worte. „Geh schon ins Haus.“ Wieder hatte sie das Gefühl, er wolle sie aus einem Gefahrenbereich holen. Benommen lief sie über die Terrasse ins Haus zurück.

Ein paar Stunden später gesellte er sich auf ihr Zimmer. „Das hat dich etwas überfordert mit den Beiden.“ Ohne zu Fragen setzte er sich neben ihr auf das Bett. „Ich …  Ich fühlte mich irgendwie bedroht.“ „Die Beiden sind eigentlich ganz nett. Ich schätze Vincent war mal wieder etwas vorschnell.“

„Vincent kommt mir von euch beschrieben ziemlich negativ rüber. War Christin nicht total begeistert von den Teves-Brüdern?“ „Echt war sie das? Ist mir gar nicht aufgefallen aber weißt du, Rugby ist für viele hier mehr. Wir sind so was wie Promis.“ „Ja ja. Das erzählte Christin schon aber irgendwie hat sie bei den Namen ganz anders erzählt. Wie auch immer. Mein Einschätzungsvermögen scheint nicht so gut zu sein. Ist es in Ordnung, wenn ich das Essen ausfallen lasse? Ich bin furchtbar müde.“ Das sah man ihr allerdings auch an. „In Ordnung. Ich sage Susann, dass du morgen ein größeres Frühstück bekommst. Morgen nimmst du dir frei.“

Kurz bevor er zur Tür heraus trat, murmelte sie schlaftrunken: „Was ist eine Party?“ „Ein Ort, an dem sich eine Menge Leute treffen, reden, tanzen, Spaß haben.“ „Kling gut.“ Damit schlief sie ein. Lächelnd begab er sich aus dem Zimmer.

Das Dienstmädchen fand ihn am nächsten Morgen auf dem Sofa vor. „Was überlegen sie?“ Es war ihm anzusehen, dass er schon die ganze Nacht dagesessen hatte und sich den Kopf zerbrach. „Georgia“, antwortete er.

„Morgen“, grüßte das eben erwähnte Herbstmädchen vergnügt. „Wieso rufst du nicht, dass ich kommen soll?“ „Wieso?“ „Na die Treppe. Ich krieg den Kopf abgerissen, wenn dir was passiert. Setzt dich!“ Etwas grob schob er sie an den freien Platz. Sie ließ sich davon aber nicht beirren.

„Gut geschlafen?“ „Bestens.“ Die entspannte Art empfand er nach der gestrigen Sache ziemlich seltsam. Anstatt sie aber darauf anzusprechen, beobachtete er nur ihr Tun. Sie ertastete sich ihr Brot und das Messer. Beides legte sie beisammen auf den Teller und suchte den Butter. „Honig, Wurst, Marmelade, Käse. Was möchtest du?“ Ohne ihm Beachtung zu schenken, roch sie an allem und entschied sich schließlich für einen der Marmeladengläser.

„Gabriele Patricia Rosalie zu Weißenstein war doch mit einen der Teves Brüder zusammen.“ „Ist das eine Frage?“ „Ich mein nur wegen der Party. Sind da eigentlich viele Leute?“ „Es ist die größte Party des Jahres. Die Meisten kommen von sehr weit her.“ „Bestimmt schön.“ Ihre Mine wurde verzweifelt, als das, was sie auf dem Tisch suchte, nicht fand.

Heiko schob ihr schließlich ein Getränk in die Hand. Die erheiterte Stimmung war aber plötzlich erloschen. „Du musst mir nichts beweisen.“ Er lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. Eine Weile schaute er sie sich schweigend an. „Dass dir die Brüder gestern Angst gemacht haben, hängt vielleicht mit dem zusammen, was dir passiert ist.“ Die erhoffte Regung blieb aus.

„Das könnte bedeuten, dass es zwei Personen waren.“ „Machen sie ihr doch keine Angst“, drängte sich das Dienstmädchen dazwischen. „Wie wäre es, wenn ich dich heute mitnehme? Christin freut sich bestimmt.“ „Christin Kauz ist ihre Tochter?“ „Seit ihr euch schon begegnet?“ „Ja. Es wäre schön, sie wiederzusehen.“ „Na dann. Ich brauch noch ein paar Minuten.“

Christin freute sich tatsächlich riesig über ihr Kommen. „Erzählst du mir noch was über die Teves und Heiko? Ich bin da gestern in eine ganz komische Situation geraten.“ „Lass mich raten. Heiko ist durchgedreht, als Vincent dich anbaggern wollte?“ Sie lachte.

„Vincent ist eigentlich schlauer, als man denkt. Er redet meistens nur schneller. Was Valentin angeht, bei dem ist das kein Geheimnis.“ Ein Grinsen folgte. „Man sieht ihm meistens mit einem Buch vor der Nase oder sie feiern. Die Meisten schaffen es nicht, sie auseinander zuhalten. Sie sind Zwillinge, weiß du? Wie eine Kopie von einander. Außer charakterlich. Deshalb wunder dich nicht, wenn sie streiten. Vincent ist der Überdrehte und Valentin der Entspannte, so fern man ihn nicht zu textet. Das hasst er nämlich. Vermutlich hat er deshalb mit dem Rugby aufgehört. Vincent hatte auch mal aufgehört aber wieder angefangen.“

„Und warum ist Heiko wegen Vincent durchgedreht? Sie sind doch Freunde, dachte ich.“ „Er will dich beschützen.“ Auf einmal war die Stimmung bedrückt. „Weißt du Heiko war auch mal im Heim. Allerdings in keinem Guten. Als es aufgelöst wurde, kam er für kurze Zeit in das, wo du warst. Dann fand man seinen Onkel. Er war damals auf demselben verunglückten Schiff wie seine Eltern. Von seinen Eltern fehlt allerdings bis heute jede Spur.“ „Deshalb.“ „Ja. Er denkt wahrscheinlich, dass er dich vor diesem Heim schützen muss. Hey aber zeig ihm nicht, dass du es weißt, ja? Er hätte sicher nicht gewollt, dass ich dir das erzähle.“ „Aber.“ „Vertrau mir. Ich kenn ihn seit dem Sandkasten.“ „Okay.“

„Nimmt dich Heiko eigentlich mit auf die Weißensteinparty? Es wäre sicher die Gelegenheit, jemanden zu finden, der dich kennen könnte.“ „Glaub nicht.“ „Wieso nicht? Frag ihn doch mal. Ich kann ihn auch nerven, wenn du willst.“ Georgia lachte über ihren Vorschlag. „Ich denke, er lässt mich nicht weil ich blind bin.“ „Na das werden wir ja sehen. Männer sind so einfach“, sagte sie und zückte einen Lockenstab.

Am Abend kehrte sie in die Villa zurück. Heiko und die beiden Brüder saßen am Tisch zusammen und hatten bis zu ihrem Auftreten über Rugby gesprochen.

„Und wie ist sie?“, fragte Christin strahlend in die Runde. Georgias rote Haare lagen leicht gelockt über ihrer rechten Schulter. Dazu trug sie ein langes dunkelbraunes Kleid.

„Ich will sie daten.“ Für diesen Ausbruch bekam Vincent sowohl von Heiko als auch von seinem Bruder einen Stoß. „Ich meine natürlich, du bist echt geil. Hübsch! Ich meine hübsch.“ „Halt doch einfach die Klappe“, stöhnte sein Bruder. Heiko stand auf und ging zu ihr. „Halt sie doch selber.“

Das Überprüfen ihrer Augen ergab, dass sie mit dieser Situation wieder einmal überfordert war. „Du willst also auf die Party?“ Ein schwaches Nicken folgte, während die Brüder im Hintergrund weiter stritten. Heiko richtete sich wieder auf.

„Nein!“ „Was?! Einfach nein. Das ist doch nicht dein Ernst, Hockwoum“, regte sich Christin auf. „Das wird ihr zu viel.“ „Woher willst du das denn wissen? Es könnte …“ Georgia lief einfach zur Treppe weg. „Hilf ihr bitte.“ Ohne dieser Party-Sache noch weitere Beachtung zu schenken, wandte er sich zum Tisch zurück. „Vollidiot“, schleuderte sie ihm an den Kopf, ehe sie half.

„Ich red nochmal mit ihm, okay? Du willst doch auf die Party, oder? Nicht dass ich dir das eben eingeredet habe.“ „Die Party an sich ist mir nicht wichtig. Ich hatte einfach nur die Hoffnung, vielleicht eine bekannte Stimme zuhören.“ „Man, das tut mir echt Leid.“

Währenddessen schlugen sich unten die Brüder auf Georgias Seite. „Du kannst sie es doch mit einer kleinen Party versuchen lassen“, warf Valentin ein. Sein Bruder bestätigte dies eifrig. „Ich schmeiß eine. Was ist die Grenze. Zehn, fünf nur wir vier?“ „Nein, keine Party. Auch keine mit nur zwei Leuten.“ „Hey ich tu ihr nichts okay.“ „Nein. Er sabbert nur.“ Valentin schlug ihm so kräftig auf die Schulter, dass er fast auf den Tisch aufschlug.

„Alter!“ „Jungs! Sie bleibt zu Hause. Ende.“ „Ich würde sie auch fahren.“ „Ja, das ist mir klar.“ „Nur Fahren ohne anbaggern, okay? Gönn ihr doch etwas Spaß. Ich bin eh nicht an was Ernstes interessiert. Und was ihre Blindheit betrifft. Valentin könnte doch auf sie aufpassen. Er tanzt eh scheiße.“ „Willst du überhaupt auf die Party?“ „Ich kenn ne Menge Leute. Überlegs dir.“ Valentin stand vom Tisch auf. „Wir gehen dann.“

Am nächsten Tag übernahm er ohne ein Wortwechsel den Unterricht vom Dienstmädchen. Georgia machte einfach weiter. „Ich meine es nur gut mit dir“, sagte er nach einer Weile und legte das Lernmaterial zur Seite. „Partys sind laut und bei solch einer großen Party nimmt keiner Rücksicht auf dich. Wenn du ehrlich zu dir bist, weißt du auch, dass dich schon zwei Personen überfordern. Lass es uns langsam angehen, in Ordnung?“ Sie schenkte ihm keine Beachtung und machte einfach weiter.

„Weinst du?“ Dem Versuch, ihr in die Augen zu sehen, wich sie aus. Daraufhin lehnte er sich mit verschränkten Armen zurück. „Du wolltest, das ich Dinge mit dir abspreche, bevor ich sie mache. Also dann … Ich lade Valentin ein. Du kannst ihn kennenlernen. Wenn ich das Gefühl habe, dass es klappt mit euch beiden, lasse ich dich auf Vincents Party.“ Ungeduldig wartete er vergebens auf eine Antwort. Schließlich brachte sich das Dienstmädchen wieder ein. „Keine schlechte Idee. Lass es dir in Ruhe durch den Kopf gehen und teil ihm einfach später mit, was du davon denkst. Jetzt wird erst einmal gegessen.“ Sie stellte ihnen das Essen auf den Tisch.

Nachdem sie gegessen hatte, schien sie sich auch gleich besser zu fühlen. Sie stimmte Heikos Plan lächelnd zu. Nur war er mittlerweile alles andere als begeistert davon. Trotzdem ließ er Valentin antanzen.

Es klappte diesmal wirklich gut. In ihren Augen war kein bisschen Nervosität zu erkennen. Sie lachte viel. Wobei Valentin kaum etwas tat. Am Abend brachte er sie ins Zimmer. „Was denkst du?“, fragte er, als er wieder zurück war. Sein Gesicht zeigte deutlich, dass er noch immer bei einem Nein stand. „Ich fahr sie sofort zurück, wenn etwas ist.“ „Vincent soll eine Party schmeißen. Sechs Personen, mehr nicht.“ „Ich teil dir dann mit, wann sie ist.“ Damit verschwand er.

Zwei Tage später stand Georgia in einer anderen Villa. An ihrer Seite war Valentin, der sie schon einmal rum geführt hatte. „Wie tanzen denn die Anderen?“ Sie wippte schon die ganze Zeit im Takt der Musik mit. „Ich würde es als aufgescheuchte Hühner beschreiben. Sollen wir es besser machen?“ Kichernd nahm sie seine Aufforderung an. Sie war überraschend beweglich und hatte eine Menge Spaß dabei.

„Hilf mir mal“, lachte sie, als sie durch den Tanz die Orientierung verloren hatte. Valentin drehte sie zu sich. „In die Richtung ist die Tür, durch die wir gekommen sind. Du tanzt echt gut.“ „Danke. Ich kanns ja nicht beurteilen. Machen wir eine Pause?“ „Zum Glück fragst du.“ Es ging zu einem Platz neben dem wachenden Heiko.

„Wer sitzt neben uns?“ „Heiko.“ „Warum tanzt du nicht selbst?“ Ihre Augen verrieten mal wieder, dass dieser Bereich zu dunkel war. „Die Musik ist echt klasse.“ „Ich trinke“, erklärte er angespannt.

„Hier etwas zum Trinken. Kann kurz Vincent bei dir bleiben? Ich bin sofort zurück.“ „Natürlich. Wo ist er?“ Valentin musste ihn erst herrufen.

„Man wünscht nach mir.“ Vincent nahm auf der anderen Seite von ihr Platz. „Na Schöne. Du tanzt wirklich ausgezeichnet.“ „Danke.“ Mit ihrer Verlegenheit verhinderte sie, dass er eine fing.

Zögerlich ging Valentin aus dem Raum. Kurze Zeit später folgte ihm Heiko anscheinend aber nur ungern. „Ist was passiert?“ „Ich denke, er hört sich Valentins Meinung an aber keine Sorge. Wir sind auf deiner Seite.“ „Ich kann mir auch denken warum.“ „Oh ja. Moment nein. So bin ich auch wieder nicht.“

„Wie bist du dann? Meinst du je etwas ernst?“ Darüber musste er wohl erst nachdenken. „Du bist unheimlich aber okay, glaub ich.“ „Das war ein Widerspruch. Also bin ich vielleicht doch ein klein, klein wenig interessant für dich?“ „Unheimlich!“ „Komm schon, ich bin viel interessanter als Heiko. Vincent klingt doch auch viel schöner oder nicht?“ „Ansichtssache.“ Sie grinste frech. Offenbar hatte sie nun Spaß daran gefunden, ihn zu piesacken.

Auf der Fahrt nach Hause herrschte Schweigen. Sehr gerne hätte sie nun gefragt, was los war aber die angespannte Stimmung machte ihr Angst.

Auf ihrem Zimmer brach Heiko das Schweigen. „Du darfst auf die Party aber nur, wenn du in Valentins Nähe bleibst.“ „Ist das wirklich in Ordnung für dich?“ Sie hielt ihn ängstlich zurück. Daraufhin setzte er sich zu ihr.

„Um mich geht es nicht. Ich wollte dir einfach nicht zu viel zu muten. Dir geht es schließlich erst seit ein paar Tagen besser.“ „Ich …“ „Wir finden deine Erinnerung mit oder ohne die Party. Ich verlass mich darauf, dass du dich bei dem kleinsten Problem an Valentin wendest. Ich kann nicht auf dich aufpassen. Als Rugbykapitän bin ich quasi der Mittelpunkt dieser Party.“ „Das gefällt dir nicht gerade.“ „Na ja. Ein Spiel liegt mir eher. Schlaf gut. Morgen gibt es wieder Unterricht.“

Ein paar Tage vergingen, in denen sich an Georgias Gedächtnis nichts veränderte. Sie war nervös, weil nun die große zu-Weißenstein-Party anstand. Ihre Angst jedoch, dass sie Heiko deswegen nicht gehen ließ, war allerdings unbegründet. Er versuchte sogar noch, sie zu beruhigen.

Wenige Meter vor dem Ziel stieg er aus, um keine Massen um sie zu bilden. Sie begann sich auf die Party zu freuen. Allerdings hatte sie nicht mit einer derartigen Lautstärke gerechnet. Motorengeräusche, Stimmen und Musik knallten gegen ihren Kopf wie Faustschläge.

„Konzentriere dich auf eine Sache. Ich bin bei dir“, drang Valentins ruhige Stimme zu ihr durch. Er strich ihr über den Arm. Vermutlich um sich zu vergewissern, dass er sie erreichte. „E … Es sind so viele Geräusche.“ „Wir machen es ganz langsam. Eins nach dem anderen.“

Beim Umgreifen seiner Hände bekam sie seinen Puls zu spüren. Dieser war völlig gelassen. „Du wirst schon etwas entspannter. Ich werde dich an die Hand nehmen. Du musst mich nicht hören. Ich geb dir dieses Zeichen, wenn eine Stufe kommt.“ Er drückte leicht. „Ist das so angenehm für dich?“ „Und wenn ich stehen bleiben soll?“ Dies symbolisierte er als ein leichtes Ziehen.

„Du bekommst vier Augen. Ich passe auch auf“, drängte sich Vincent auf. Daraufhin lächelte sie und traute sich.

„Passt gut auf mich auf. Ich sehe nichts und mein Gehör kann ich nicht zu Orientierung nutzen.“ Zitternd ertastete sie sich auch Vincents Hand. Sein Puls war deutlich nervöser. Beide dicht bei sich ließ sie sich auf das Gelände führen.

Als die erste Treppenstufe kam, unterschieden sich die Zwillinge ein weiteres Mal. Während Vincent dabei entspannte, sie gewarnt zu haben, wurde Valentins Puls nach jedem Drücken rasend.

An einem ruhigeren Platz ließ Vincent von ihr ab. Die Tatsache, dass er ebenfalls Rugby spielte, zog die Leute her. „Sag Bescheid, wenn es gar nicht geht.“ „Ist … Ist jemand rothaarig?“ „Komm erst einmal an. Die Party ist noch lang genug.“ Mit seiner ruhigen Art griff er nach ihrer zweiten Hand. Allmählich beruhigte sie sich auch.

„Etwas zu Trinken für die schönste Frau der Welt und für den unerwünschten Bruder.“ Mit diesem Satz überreichte Vincent den Beiden jeweils ein Glas und verschwand wieder.

Sie grinste. „Seid ihr immer so furchtbar nett?“ „Immer“, antwortete er ernst, begann dann aber auch zu lachen. Behutsam führte er sie zu einer Möglichkeit sich zu setzen.

„Gehts dir eigentlich gut?“ „Wieso fragst du?“ „Ich achte auf Geräusche, wenn ich nicht gut sehen kann.“ „Sag bloß ich hör mich krank an?“ „Nein“, kicherte sie. „Dein Bein. Du warst mal verletzt oder?“ „Das passiert schon mal aber dass du das hören konntest. Ich meine behaupten zu können, dass man davon nichts mehr sieht.“ „Ich seh ja auch nichts.“ Valentin musste über ihre Erwiderung schmunzeln.

Schweigen kehrte ein, bis sie vorsichtig fragte: „Rugby?“ „Einigen wir uns darauf, wenn ich über etwas nicht sprechen will, dass ich nichts sage.“ „O … okay.“

„Uns starrt gerade eine Frau an.“ Während er sie beschrieb, ging die besagte Person weiter. „Nein ist mir unbekannt.“ Sie stand auf. „Du willst ihr doch nicht nachlaufen?“ „Vielleicht kenne ich ihre Stimme. Bitte, ich muss das wissen.“ Mit angespanntem Puls hielt er sie zurück.

„Du kannst sie bei dem Lärm nicht verstehen. Lass uns meinen Bruder losschicken.“ Eigentlich wollte er das Herbringen noch ergänzen aber Georgia riss sich los und eilte in die Menge.

Mühsam hatte er sie nach drei Minuten wieder gefunden. „Lass uns zur Seite gehen“, flüsterte er ihr zu aber sie reagierte nicht. Die ganze Geräuschkulisse hatte sie in Panik versetzt. Es blieb ihm keine andere Wahl, als sie mit etwas mehr Nachdruck zurückzubringen.

„Besser?“ „Wo … Wo bin ich?“ „Nach den Treppen vom Eingang drei Meter rechts.“ Als wäre nichts gewesen, nahm er wieder Platz. „Entschuldigung, ich wollte … keine Ahnung, was ich dachte.“ „Heiko reißt mir den Kopf ab. Setzt dich.“ Er reichte ihr seine Hand, wodurch sie seinen Puls wieder spüren konnte. Er war die Ruhe selbst.

„Du bist mir nicht böse?“ „Ich versteh deine Ungeduld. Weißt du, ich glaube sogar, dass du eigentlich selbstbewusst bist.“ Zögerlich nahm sie seine Hilfe zur Sitzmöglichkeit an, „Selbstbewusst genug, um gegen Heikos Meinung anzukommen?“ Er lachte. „Das weiß ich nicht aber du hast es immerhin auf die Party geschafft.“

„Hy Vincent“, grüßte eine Frauenstimme. „Ich bin Valentin.“ Über den Puls spürte sie, dass er alles andere als begeistert von der aufgetauchten Person war.

„Wie auch immer“, tat sie es völlig kalt ab. „Wer ist das?“ „Meine Begleitung Georgia.“ Er sorgte dafür, dass ihre Umklammerung wie Händchenhalten aussah. Dabei aber war er kurz davor, ihr die Hand zu brechen.

„Georgia“, wiederholte sie es möglichst arrogant in englischer Aussprache. „Es wird deutsch ausgesprochen, so wie es Valentin sagte.“ Bislang hatte sie keine Ahnung, wer das vor ihr war aber etwas von ihr hatte sich bereits entschieden, sie nicht zu mögen. Trotzdem versuchte sie nett zu bleiben.

„Einfach nur Georgia. Freut mich.“ Mit einem gut geschauspielerten Lächeln reichte sie ihr die Hand. Sie erwiderte aber nicht. Stattdessen ging sie mit einem verächtlichen Laut davon. Valentin war noch immer sehr angespannt. Bis er schließlich selbst merkte, dass er ihr wehtat. „Verzeihung.“ Eilig ließ er sie los.

„Was ist denn mit euch los? Sitz da wie zwei Sandsäcke.“ Vincent kam schon leicht alkoholisiert auf sie zu.

„Na Schnecke. Mir brummt schon der Schädel vor lauter Grün-Rothaar-Augen führ sie mal vor oder so ähnlich.“ „Das ist der Grund, warum man ihm nicht mehr als eine Aufgabe geben kann“, knurrte Valentin sauer.

Den Rest an Alkohol nahm er ihm besser gleich ab und kippte es hinter sich ins Gebüsch. „Alter!“ „Flirt sie noch einmal so dumm an und ich hau dir eine rein.“ „Ist dir ein Elefant auf die Laune getreten? Ich kann auch auf sie aufpassen. Kein Ding.“ „Komm, hau ab mit deinem Frauenparfum!“ „Ruf mich, wenn dus mit dem nicht mehr aushältst.“

Als er seine Hand auf ihr Knie legen wollte, fuhr sie zusammen. „Alles in Ordnung?“ Mit einmal wirkte er genauso ernst wie sein Bruder. „Hey. Das war nicht so gemeint. Ich … Entschuldigung, ich habe vergessen, dass du blind bist. Oder ist es etwas anderes?“ Valentin stellte sich umgehend dazu.

„Unser Streit? Wir sind so. Brüder eben. Oder das eben?“ Als hätten sie die Rollen getauscht, war nun Valentin total nervös. „Komm schon red mit uns. Ist es dir hier zu laut? Du hast Kopfschmerzen oder? Valentin, ich glaub, das bringt nichts. Hast du getrunken?“ „Nein.“ „Okay, dann bringen wir sie runter.“

Vincent schaffte es nicht gleich ihren Arm zu nehmen, da sie immer wieder erschreckte. Irgendwann hatte er Erfolg und auch Valentin kam an ihre Seite. „Bring sie nach Hause. Ich sag Heiko Bescheid, ja?“ „Mach das.“

„Entschuldigung“, stammelte sie leise. „Ich wollte so sehr, dass es klappt. Ich …“ „Mach dir kein Kopf. Wir sind Kerle.“ Im ersten Teil waren beide synchron. Letzteres stammt von Vincent alleine. Er schlug die Tür zu und hetzte zur Party.

In den frühen Morgenstunden kehrte auch Heiko nach Hause zurück. Beim Treppenaufstieg traf er das Dienstmädchen und fragte sofort besorgt nach seinem Schützling.

„Sie schläft jetzt. Machen sie sich keine Sorgen. Sie ist ein starkes Mädchen.“ „Ich hätte ihr die Party nicht erlauben sollen. Hat sie wenigstens die Tabletten genommen?“ „Ja. Gehen sie zu Bett. Sie braucht jetzt Ruhe. Zu Mittag ist sie sicher wieder auf den Beinen.“

Wirklich Ruhe fand er bis zum Mittag nicht. Deshalb klopfte er wohl energischer an die Tür, als er eigentlich wollte. „Georgia bist du in Ordnung?“ Es blieb still. „Ich will nur wissen, ob du auf deinem Zimmer essen willst.“ Die Tür ging auf.

„Hey. Du siehst ziemlich fertig aus.“ „Kann ich nicht wirklich beurteilen.“ Unbeholfen ertastete sie sich seine Hand. „Ich glaube, du legst dich lieber wieder hin.“ „Glaub was du willst“, knurrte sie und steuerte in Richtung der Treppe. Dabei ließ sie ihn aber nicht los.

Irgendwie bekam er das Gefühl, dass sie ihm etwas erzählen wollte aber noch nicht wusste wie. „Okay“, gab er deshalb nach. „Aber nur, wenn ich dich runter trage. Du bist etwas schwach auf den Beinen und jetzt sag mir bitte nicht, dass es nicht so schlimm ist.“ „Lässt du mir eine Wahl?“ Ihre Laune war wirklich am Tiefpunkt. Sie ließ sich aber tatsächlich ohne weiteres Murren hochnehmen und wieder absetzen.

Solang sie aßen, herrschte Schweigen. Erst bei leeren Tellern fand einer von ihnen wieder Worte. „Was war auf der Party?“ Keine Antwort kam. „Habt ihr getanzt, Valentin und du?“ Dieser Gedanke schien ihm alles andere als recht zu sein. Drauf antwortete sie mit einem Kopfschütteln. Noch unzufriedener als zuvor stellte er eine neue Frage. Sie antwortete wieder nicht darauf.

Stattdessen fragte sie nun, ob sie Christin besuchen könnte. „Natürlich“, strahlte das Dienstmädchen. Heiko hingegen schien es nicht erlauben zu wollen. „Nach dem Abwasch fahr ich los und hol sie her.“ Das wollte er anscheinend akzeptieren.

„Wir reden dann später, wenn ich vom Training wieder komme.“ Ihr Nicken brauchte einige Zeit. Während sich das Dienstmädchen um den Abwasch kümmerte, brachte er sie zum Sofa. Er blieb bei ihr, bis Susann davonfuhr. Nach einer Weile ging er dann selbst.

„Hy. Na, hast du die Partygäste verzaubert?“ Sie setzte sich auf die Lehne. „Weiß ich nicht so genau.“ „Geht es vielleicht um Valentin, weil er seiner Ex begegnet ist? Sie tut echt alles, um ihn zu verletzen. Dabei hat sie Schluss gemacht.“

„Warum eigentlich? Er ist doch nett, dachte ich.“ „Einer zu Weißenstein reicht kein nett. Ich glaube, das ist der auch völlig egal. Wichtig ist nur, dass es eine angesehene Person ist.“ „Ach so und weil Valentin nicht mehr spielt, hat er genau das nicht mehr erfüllt.“

„Die zu Weißenstein ist eine Schlange. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie Valentin nur so behandelt weil sie weder bei Hockwoum noch bei Vincent landen konnte.“ Mit einem Blick auf sie rutschte sie auf die Sitzfläche neben sie.

„Sag Bescheid, wenn ich zu viel rede. Ich kann auch die Klappe halten.“ „Mir geht’s gut.“ Offensichtlich war genau das gelogen. „Über was würdest du gerne reden?“ „Seit der Party hab ich irgendwie das Gefühl, mein Kopf explodiert. Es ist aber nicht der Lärm, ganz sicher.“ „Okay, dann lass uns über die Party reden, vielleicht hilft dir das.“

Währenddessen traf Heiko am Waisenhaus ein. Vor seinem Training wollte er noch mit Herr Kempelbacher sprechen. Dabei hatte er aber ganz vergessen, sich über dessen Anwesenheit zu informieren. Er wollte wieder umkehren, als er auf ihn zu kam.

„Herr Hockwoum, gibt es Probleme?“ „Nicht direkt.“ Zuerst wollte man ihn ins Innere einladen, entschied sich dann aber für den anliegenden Park. „Dann lass sie mal hören. Was kann ich für sie tun?“ „War es falsch, Georgia zu erlauben, mit einer Begleitung auf eine Party zu gehen?“ „Ihre Werte waren noch nie so gut. Darin sehe ich kein Problem. Hatte sie denn Probleme danach?“ „Kopfschmerzen.“ „Die kriegt sie schnell. Etwas Ruhe und alles ist wieder in Ordnung und die Tabletten natürlich.“

„Mehr kann ich nicht für sie tun?“ Kempelbacher setzte sich auf eine Parkbank. „Was tun sie gegen Kopfschmerzen?“ Schweigend dachte er wohl nach.

„Sie machen das schon gut so. Wie läufst denn mit ihrem Onkel?“ „Gut.“ „Schön. Georgia kommt auch mit ihm klar?“ „Wieso fragen sie?“ „Sie tut sich manchmal etwas schwer mit neuen Menschen.“ „Sie sind sich noch etwas fremd aber das wird schon. Ich muss weiter das Training beginnt gleich.“ „Viel Erfolg.“ Kempelbacher blieb sitzen, während Heiko eilig das Weite suchte.

Als er wieder nach Hause kam, empfing ihn Christin mit besorgter Mine. „Ist was passiert?“ „Nein.“ Ein Lächeln zog sich in ihrem Gesicht. „Hast du gemerkt, dass sie mit dem Licht der Scheinwerfer etwas sehen konnte?“ „Nein. Ich hab ehrlich gesagt nicht drauf geachtet.“ „Dann hier ein Tipp. Bei der nächsten Fahrt solltet ihr ihr Bescheid geben, wenn das Licht so plötzlich verschwindet. Da sie Angst wegen dem Lärm bekam, hat sie im ersten Moment nicht an die Scheinwerfer gedacht.“

„Du machst mir ja gar kein Vorwurf draus?“ „Bin ich vielleicht zu Weißenstein? Nein, im Ernst sagt ihr doch einfach, was ihr mit ihr tut. Sie sieht es doch nicht. Na ja und vielleicht sagst du deinen Kumpels, dass sie sich mit Streitereien etwas zurückhalten müssen. Sie scheint sich davon bedroht zu fühlen.“ „Werden wir berücksichtigen. Danke.“ „Gern.“ Sie schlug ihn beim Gehen auf den Arm.

Nachdem Duschen stand er beim Dienstmädchen in der Küche. Sie begann gerade etwas herzurichten. „Was schauen sie denn so betrübt. Ihr geht’s wieder gut.“ „Schön. Ich dachte schon, ich muss sie heute noch zum Arzt bringen.“ „Bringen sie ihr doch das Essen später hoch.“ „Ich dachte ihr geht’s wieder gut.“ „Ja aber sie wollte sich dennoch etwas Ruhe gönnen. Sehen sie ruhig nach ihr.“ Sie richtete auf dem Tablett zwei Teller an und gab es ihm mit.

Er fühlte sich unwohl, als er an ihrer Tür klopfte. „Komm rein.“ Georgia saß auf dem Bett mit ihrem Blindenbuch auf den Schoss. „Wolltest du dich nicht ausruhen?“ „Schon aber mir war langweilig.“ Beim Beiseitelegen des Buches griff Heiko ein, da es sonst zu Boden gefallen wäre.

„Entschuldigung wegen heute Morgen.“ „Dafür musst du dich nicht entschuldigen. Hier.“ Er drückte ihr in die eine Hand das Besteck und führte die Andere an den Tellerrand. „Isst du mit mir?“ „Wenn du willst?“ „Vorausgesetzt, du kannst dich gescheit zu mir setzen.“ Sie grinste frech. „Machst du mich gerade nach?“, lachte er. „Vielleicht.“ Glücklich rückte er sich zurecht und bediente sich vom zweiten Teller.

„Ich hab irgendwie das Gefühl, dass ich eine Erinnerung hatte“, warf sie belanglos zwischen ein paar Gabeln in den Raum. „Während du mit Christin geredet hast?“ „Nein auf der Party. Bei Christin ist mir das nur irgendwie bewusst geworden.“ „Und jetzt ist es weg?“ Sie nickte schwach. „Vermutlich weil du recht hattest. Die Party hat mich ziemlich überfordert. Ich war noch nicht so weit.“

„Dir geht’s ja schon wieder besser aber das mit dem Wegsein verstehe ich noch nicht ganz. Du weißt, dass du dich erinnert hast aber nicht woran. Ist das richtig?“ Ein weiteres Nicken kam. „Du weißt wahrscheinlich auch nicht wodurch.“ „Am leichtesten könnte ich deine Freunde ausschließen aber ich hab Angst vor der Erinnerung. Ich … Ich will dich dabei haben.“

„Ich habs dir versprochen, dass ich dir helfe, Georgia aber bitte lass es uns diesmal langsam angehen.“ Dass sie hiervon nicht begeistert war, hatte er schon geahnt. Allerdings beschäftigte ihn das selbst so sehr, dass er bereits am nächsten Tag eine Begegnung mit den Jungs organisierte.

Als Erstes war Valentin dran, der wirklich nur ungern sein Missgeschick von der Party wiederholen sollte. „Sorry.“ Er wich zurück. „Ich kann so etwas nicht absichtlich tun. Es muss einen anderen Weg geben. Einen, der dir nicht wehtut.“ Wortlos griff sie seinen Arm. Sein Puls war angespannt. Nervös ertastete sie sich den Zweiten, um dann zu Vincent zu gelangen.

Sein Puls war exakt gleich. „Wirklich alles wiederholen? Heiko bringt mich um.“ „Er hat mir versprochen, dass es keinen Ärger wegen der Party und dem hier gibt. Egal was vorgefallen ist und vorfallen wird.“ „Ehrenwort?“, gab er an Heiko weiter. Dieser bestätigte das Ganze.

Georgia zog leicht an seinem Arm, damit er in die Gänge kam. Sie selbst wusste nicht, wo etwas zum Hinsetzen war.

Als sie sich gesetzt hatte, zog Vincent seinen Bruder neben sie und ging noch einmal auf Abstand.

Mit miserablem Schauspiel kam er anscheinend alkoholisiert auf sie zu. „Na Schnecke. Mir brummt der Kopf vor lauter grünhaarigen, rot suchenden Vorzeigedingens oder so ähnlich.“ „Das ist der Grund, warum man ihm nie mehr als eine Aufgabe geben kann.“ Dieser Satz seines Bruders klang schon viel echter aber auch noch weit entfernt von perfekt.

Suchend schaute er sich um und entriss schließlich Heiko die Wasserflasche. Er zwängte es seinem Bruder auf und wartete nervös auf seinen Text. Doch Valentin hatte ihn anscheinend vergessen.

''Hinter sich Kippen'', deutete er ihm hektisch. Valentin verstand. Allerdings berücksichtigte er nicht, dass der Deckel noch drauf war. Frustriert schmiss er halt die Flasche hinter sich.

„Alter“, kicherte Vincent bemüht nicht allzu sehr aus der Rolle zufallen. Sein Bruder traf diesmal jeden Ärger von der Party. „Flirt sie noch einmal so dumm an und ich hau dir eine rein.“

Vincent bekam sich kaum noch ein, während er sich neben ihr setzte. „Falsche Seite“, hauchte ihm diesmal sie zu. Seine Schadenfreude sank, denn der gemeinte Platz war nun nass.

Trotz zögern tat er es für sie. „Hat ein Fisch in deine Laune gebissen.“ „Ein Fisch nicht aber ein Depp.“ Valentin hatte Georgias Schmunzeln bemerkt. Beide begannen zu lachen. Weshalb verstand Vincent zuletzt.

„Toll ich fühl mich verarscht“, fügte er beleidigt hinzu und begann auch zu lachen. „Danke für den Versuch wenigstens.“

Beim gemeinsamen Aufstehen kratzte sie sich an Vincent Armband. „W … Was war das?“ „Mein Armband nichts Schlimmes.“ Sie riss seinen Arm wieder zu sich und tastete es ab. Als sie sich am Verschluss festgesetzt hatte, wurden die Anderen ganz still vor Neugier.

„Muschel. Ich hatte ein Muschelarmband bei mir. Sie ist kaputt aber irgendwas steht auf ihr.“ „Und wo ist diese Muschelkette?“, fragte Heiko, bevor es jemand anderes konnte und ging vor ihr in die Hocke.

„I … Ich … Keine Ahnung. Da ist etwas. Ich verstehs nicht.“ „Ganz ruhig. Wir machen es ganz langsam. Erinnerst du dich an das Aussehen der Kette?“ Sie schüttelte traurig den Kopf. „Es ist weg.“

„Gut. Wir suchen diese Kette. Das wird schon noch mit deinem Gedächtnis. Das du dich erinnert hast, ist ein gutes Zeichen. Es kommt alles wieder. Komm, ich bring dich ins Haus.“ „Aber.“ „Das war erst einmal genug.“

Für die drei männlichen Kandidaten galt das nicht. Noch im Anschluss suchten sie die Nachbarwiese ab. Jedoch wurden sie nicht fündig. Am folgenden Tag versuchte es Valentin alleine. Da Heiko und sein Bruder ein Auswärtsspiel hatten.

„Und?“, rief Heiko direkt nach dem Spiel an. Man hörte, dass Vincent im Hintergrund war. „Nichts. Wie war das Spiel?“ „Gewonnen. Das heißt allerdings, ich hab auch morgen keine Zeit.“

„Ich such weiter. Ich wollte diesen Waisenhaustyp fragen, wo dieser Unfall war. Er hatte sie doch gefunden oder?“ „Das weiß ich überhaupt nicht. Jetzt, wo du es erwähnst, hab ich nie gefragt, wo dieser Unfall oder Anschlag war. Ich bin davon ausgegangen, dass es an diesem Baum passiert ist.“

„Ja aber da ist keine Straße. Angefahren wurde sie dort sicherlich nicht.“ „Die Wiese ist frei. Wer weiß, was diesem Schwein im Kopf vorgegangen ist. Wie geht’s ihr? Hat sie sich nach gestern wieder etwas beruhigt.“ „Keine Ahnung. Sie hat seit dem Aufstehen nur gelernt. Ich kann sie morgen mal etwas rumfahren, vielleicht lenkt sie das ab.“

„Lass sie aber das Gespräch nicht mitkriegen.“ „Mach nen Punkt, wir müssen weiter“, erklang Vincent. Daraufhin verabschiedete er sich eilig und legte auf.

Etwas später rief er ihn aber nochmal an, um das mit Kempelbacher selbst zu übernehmen. Es könnte sonst der Eindruck entstehen, dass sich sein Onkel nicht kümmerte. Den Ausflug trug er ihm dann noch als Pflicht auf.

Bei der erst besten Gelegenheit tauchte Heiko wieder vor dem Waisenhaus auf. Diesmal hatte er immerhin einen Termin gemacht. Kempelbacher stand bereits im Eingang. „Ah da sind sie ja schon.“ Schon war gut, nachdem der Mannschaftsbus drei Stunden im Stau gestanden hatte.

„Entschuldigen sie, dass sie Warten mussten.“ „Ich hatte von dem Stau schon gehört. Womit kann ich diesmal dienen?“ „Georgia hatte eine Erinnerung. Genauer gesagt erinnert sie sich an eine Muschelkette, ein Armband.“ „Verstehe und das suchen sie jetzt?“ „Ja. Ich dachte, es wäre vielleicht am Unfallort.“ „Möglich aber den kenne ich auch nicht.“ „Ich dachte, sie hätten sie gefunden?“ „Ja unter diesem Baum aber das war nicht der Unfallort.“

„Sie ist dort abgelegt worden? Dieses Schwein!“ „Das wissen wir nicht. Sie kann sich auch selbst dorthin geschleppt haben. Wenn sie wollen, sehe ich mal ihre Sachen durch. Ich erinnere mich daran, dass sie irgend so ein Ding nie aus der Hand legen wollte. Allerdings weiß ich auch nicht mehr, was das war.“

„Ich helfe beim Suchen!“ Heiko drängelte schon zum Eingang vor. „Das würde es natürlich beschleunigen.“ Der Mann klang überrascht. Trotzdem folgte er ihm bis zur Hälfte und ging dann erst voran.

„Hier das war Georgias Zimmer.“ Sie standen in einem zitronengelben Zimmer, in der eine Wand minzgrün gestrichen war. Alles hier war besonders akkurat und ordentlich platziert. Es wirkte fast schon leer.

„Ich glaube, es wäre nicht in Ordnung, in ihren Sachen zu wühlen.“ „Sie weiß nicht, dass sie etwas Suchen?“ „Doch aber nicht hier. Entschuldigen sie.“ Heiko zog sich aus dem Zimmer zurück.

„Ich komm mit ihr später wieder“, rief er auf dem Flur. Damit ging ihm Kempelbacher schließlich nach. „Sie ist wirklich ein bezauberndes Mädchen. Ich wünsche ihr, dass sie sich bald erinnern kann.“ „Das wird sie. Soll ich nochmal anrufen, wenn wir kommen?“ „Kommen sie einfach.“

Als Heiko an der Villa eintraf, ging ihm beinahe der Gaul durch. Vincent stand trotz ausdrücklichen Tabu mit dem Herbstmädchen unter dem Baum. „Nein, du hast recht. Auf der Party hatte ich das Armband nicht um.“ „Um was geht’s?“ Sein Zorn hörte man raus. „Nur um das Armband.“

„Es muss eine andere Erinnerung gewesen sein. Wenn er das Armband nicht getragen hat, kann es nicht der Grund gewesen sein. Ich muss es nochmal mit dem Abend versuchen“ „Nein! Keine Party, keine Anmache und schon gar nicht versucht dir einer der beiden nochmal wehzutun!“

„Hei …“ „Nein!“ Mit Georgias Zurückweichen fiel ihm ein, dass sie sich von Streitereien bedroht fühlte. „Entschuldigung“, seufzte er. „Ich will nur, dass du langsam machst. Ich helf dir nicht, wenn du wieder im Waisenhaus landest.“ „Meinst du nicht Krankenhaus?“ „Das auch. Morgen suchen wir in deinem Zimmer nach dieser Kette, okay?“ „Aber …“ „Ich krieg das noch hin mit dem gut meinen und dem gut machen, versprochen.“ Er grinste schwach. Georgia zog sich zurück. „Dir ist aber schon klar, wo dieses Zimmer ist?“ „Natürlich.“ Er tat so, als ließe ihn das kalt und ging ebenfalls in die Villa.

Am nächsten Morgen war Heiko in Gedanken versunken. „Du musst das nicht machen. Ich kann auch alleine gehen oder du lässt Kempelbacher kommen oder Valentin.“ Die Bemühungen waren zwecklos. Er reagierte einfach nicht drauf. Sie fühlte sich ziemlich unwohl, als sie aufbrachen.

Auf dem Weg redete er immer noch kein einziges Wort und weil er vorauslief, konnte sie sich nicht an seinem Arm festhalten. „Hier.“ Exakt in dem Moment, wo er endlich etwas sagte, lief sie gegen ihn. Als hätte sie sich etwas brechen, können tastete er ihre Arme ab.

„Ich hätte schwören können, es ist hell genug für dich“, nuschelte er und nahm sie an die Hand. „Ist es hier besser? Das nächste Mal sagst du mir, dass du Hilfe brauchst.“ Sie nickte, obwohl sie ihn hätte sehen können.

„Gut“, meinte er und setzte sich auf das Bett. „Ich lass dich alleine suchen. Die Ordnung hier hat sicher ein System.“ Sofort begann sie einige ihre Möglichkeiten zu durchsuchen.

Nach kurzer Zeit stand sie aber wieder bei ihm. „Lass uns gehen. Hier ist es nicht.“ Sie klang, als fühlte sie sich hier nicht wohl. „Kauz hat dir von meiner Vergangenheit erzählt, stimms? Was wundert mich das auch?“ „Ich wollte nur etwas über dich wissen. Du kennst mich schließlich auch.“ „Und das fragst du nicht mich?“ „Du hättest mir doch eh nichts erzählt. Komm, lass uns gehen.“

„Bist du sicher, dass du hier nichts findest? Du warst noch nicht überall.“ „Ich bin mir sicher!“ Heiko musste grinsen, als der Versuch, selbstsicher zu klingen, fast gelungen wäre. „Das Heim war furchtbar aber ich habs überlebt. Ich helf dir mal beim Suchen.“

Erstaunlich hartnäckig blieb sie ihm im Weg stehen. Natürlich könnte er sie einfach zur Seite schieben aber irgendwie fand er das ungerecht. „Mir geht’s gut wirklich.“ „Lügner! Wir gehen jetzt! Ich habe keine Lust zu diskutieren.“ Getreu Heikos Art verließ sie schnurstracks den Raum. Überrascht blieb er zurück. Er folgte jedoch, nachdem sie nicht wieder kam.

„Hast du dir was getan?!“ Offenbar war Georgia gegen den Rahmen der Eingangstüre gelaufen. „Was ist denn los mit dir?“ Nachdem er festgestellt hatte, dass ihr nicht fehlte, half er ihr auf die Beine. „Ich bring dich nach Hause. Dann ruhst du dich aus, verstanden?“ Auf ein Okay wollte er nicht warten aber es wäre vermutlich auch keines gekommen.

In der Villa angekommen, setzte er sich mit Getränken auf ihr Bett. „Ist was vorgefallen als ich weg war?“ Sie schüttelte den Kopf. „Bin ich zu fordernd?“ Wieder schüttelte sie den Kopf aber sie hatte diesmal gezögert.

„Ich …“ „Ja?“ Er wischte ihr eine Träne weg. „Hätte ich weitersuchen sollen oder war das richtig?“ „Komm drauf an. Wenn es sich für dich richtig angefühlt hat, dann war es das auch.“ „Aber genau das weiß ich nicht. Ich weiß nicht, wie ich ticke. Was, wenn ich eigentlich total gemein bin oder noch schlimmer.“ „Du bist nicht gemein.“

„Woher willst du das wissen?“ „Du wolltest wegen mir da so schnell weg.“ „Wollte ich das? Ich hab überhaupt keinen blassen Schimmer, was da mit mir passiert ist.“

„Du magst mich halt.“ Er setzte sich neben sie und trank. „Wie ich mag dich?“ „Na, so wie ich dich halt, ne kleine Schwester eben. Hättest du nicht von meiner Zeit im Waisenhaus gewusst, wäre es dir nicht so wichtig gewesen, mich rauszuholen. Die Zeit war wirklich furchtbar und ich bin froh, wenn ich da nicht mehr hin muss.“

„Wünschst du dir noch, dass sie wieder kommen?“ „Natürlich. Nur befürchte ich, dass ich sie mittlerweile nicht mehr erkenne.“ „Wieso?“ „Ich war erst sieben, als sie verschwanden. Jetzt bin ich bald achtzehn. Meinen Onkel habe ich auch nicht erkannt, als er plötzlich vor mir stand.“

„Wie ist er eigentlich dein Onkel?“ „Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe, war bei der Abholung aber lieber ihn als irgendein Heim. So aber jetzt ist es gut mit dem Pessimismus. Das macht nur schlechte Laune.“

„Herr Hockwoum, ihr Onkel ist am Telefon.“ „Wenn man vom Teufel spricht, was? Ich komme! Alles wieder gut?“ Ihr Nicken folgte mit einem Lächeln. „Schön. Dann starten wir gleich Morgen einen neuen Versuch.“ „Eingebildet und stur“, warf sie ihm beim Durchqueren der Tür hinter her.

„Hockwoum.“ „Was denn so förmlich? Alles noch ganz zu Hause?“ „Ich veranstalte keine Partys, wenn sie das meinen.“ „Waren wir nicht beim Du?“ „Gewöhnungssache.“ „Na dann gewöhne dich mal dran. Braucht ihr was? Ich könnte euch was schicken.“ „Nein danke. Ich hol uns, was wir brauchen.“ „Du weißt ja, einfach anrufen, wenn du etwas brauchst. In ein paar Tagen ist das Problem hier sicherlich gelöst.“

Sein Gesprächspartner widmete sich einer anderen Person, die wohl zu ihm ins Büro gekommen war. Das Telefon legte geräuschvoll ab. Deshalb nuschelte Heiko ungehört. „Ja sicher.“

„Was hast du gesagt? Entschuldige, ich sitz noch am Schreibtisch.“ „Ich wollt nicht stören.“ „Du störst nicht, Junge. Also dann lass mal hören. Wie läufs mit deiner Freundin?“ „Welcher Freundin? Ach so Georgia. Sie lebt sich langsam ein.“

„Du bist echt spärlich mit Informationen. Na ja, ich versuch so schnell wie möglich zu kommen. Herr Gott, wie schwer ist denn nicht stören zu verstehen! Jetzt nicht!“ Bei der Lautstärke musste Heiko den Hörer weiter weg heben.

Als er ein Telefonklingeln mit weiterem Fluchen hörte, war ihm schon klar, das nun auch die zweite Großfirma von ihm mit Problemen dastand.

„Du hast viel zu tun.“ „Entschuldige Junge, lass dir einen Rat für deine später berufliche Wahl geben. Führ niemals einen Großkonzern schon gar nicht zwei. Erreiche ich dich später?“ „Da schlaf ich vermutlich.“ „Ach ja die Zeitverschiebung. Ich ruf in acht Stunden nochmal an.“

„Besser um die gleiche Zeit wie heute. Ich hab Schule.“ „Ach ja. Dann Morgen um die gleiche Zeit außerhalb des Büros, versprochen.“ „Schon okay.“ Es kam nicht einmal zu einer richtigen Verabschiedung aber dies war wohl normal für seinen Onkel. Wie versprochen rief er aber am nächsten Tag von außerhalb an.

„So. Jetzt kann mich niemand stören außer das Hotelpersonal. Wie geht’s dir?“ „Gut.“ „Schön. Wie läufs beim Rugby? Hast du Freude dran?“ „Wir haben gerade wieder ein Spiel gewonnen. Ich möchte Georgia ein Muschelarmbad kaufen. Ist das okay?“

„Sicher, wenn ihr das gefällt. Schick mir doch mal ein Bild von ihr.“ „Wieso?“ „Um sie mal zu sehen.“ „Du kommst ja in ein paar Tagen. Dann kannst du sie persönlich sehen.“

„Versteckst du sie vor mir?“ „Warum sollte ich? Sie will dich sicher auch kennenlernen.“ „Hast ja recht“, seufzte er.

„Wie läufs denn in der Schule?“ „Bestens.“ „Wie kommt ihr mit Frau Kauz zurecht.“ „Sie macht ihre Arbeit perfekt, sowohl auch als Lehrerin.“ „Dafür hab ich sie ja auch eingestellt, nicht?“ Sein Lachen hatte etwas von bösen Filmhexen.

„Kommt dein Mädchen eigentlich von hier?“ „Wieso fragst du?“ „Ich bin ja auch auf nem anderen Kontinent. Ich dachte weil hier ein paar Rothaarige rumlaufen, könnte ich mich mal umhören.“ „Dann mach das. Das würde ihr helfen.“

„Sicher aber es wäre vermutlich einfacher mit einem Bild. Ich weiß ja nicht einmal, wie groß sie ist.“ „1,58.“ „Hast du sie gemessen?“ „Nein aber ich weiß, dass Christin 1,62 groß ist.“

„So. Ganz schön klein, die Gute.“ „Wieso? Du bist auch nur 1,65 m.“ „Neben dir bin ich noch nicht mal das. Hast wohl von deinem Vater, der war ja auch 1,90 und Rugbyspieler.“ „Das hör ich jedes Mal vom Trainer. Rugby ist mit ihm groß geworden, nicht umgekehrt. Ich glaub Georgia hat gerade gerufen. Machs gut.“ Hektisch legte er auf. Jedoch stand er nicht auf, um nachzusehen. Es stimmte ja auch nicht.

„Alles in Ordnung, Herr Hockwoum?“ „Ja. Ich dachte nur gerade daran, wie sich Georgia fühlen muss.“ „Sie hat ja sie. Sie machen das wirklich großartig.“ „Wenn sie das sagen.“ Als sie in der Tür zur Küche stand, fragte er: „Kann man sauer auf jemand sein, der eigentlich nichts dafür kann.“ „Er wird’s verstehen.“

Als er am nächsten Tag nach Hause kam, ging Christin auf ihn zu. „Wie wärs, wir fahren heute ans Meer. Absolut tolles Wetter heute.“ Hinter ihr erblickte er die eingeschüchterte Georgia, die eine Flaschenpost umklammert hielt.

„Flaschenpost?“ „Hm, Georgia möchte versuchen, ihre Eltern vielleicht so zu finden. Ich meine, vielleicht ist sie von einer Insel.“ Er beugte sich und schaute Georgia selbst in die Augen.

„Warum eigentlich nicht?“ Natürlich wusste er, dass die Post an seine Eltern ging. Er glaubte aber zu sehen, dass ihr das zu Tun irgendwie guttat. Also konnte er nicht anders als zu zustimmen.

Vielleicht ging es ihm aber auch nur darum, etwas Zeit zu gewinnen. Denn eigentlich hatte er gegen die Abmachung verstoßen, mit ihr zu sprechen, bevor er etwas kaufte und sie sollte es aber auf keinen Fall ablehnen. Nur wusste er noch nicht so genau wie.

Nach längerer Fahrt erreichten sie eine menschenleere Bucht. Von dem angeschwemmten Müll abgesehen schien dieser Flecken Erde nie einen Menschen gesehen zu haben.

Irritiert von dem nachgebenden Grund klammerte sich Georgia ängstlich an Heikos Arm fest. „Soll ich werfen?“ Sie nickte und schon warf er die Flasche so weit er konnte hinein.

Das Platschen schien sie zu ermutigen. Sie ließ von ihm ab und untersuchte ihren nahe gelegenen Raum. „Siehst du Hockwoum?“ Die kleine sarkastische Andeutung übersetzte er in: „Wenn du sie machen lässt, kriegt sie das auch hin.“ Das stimmte wohl. Grinsend blickte er aufs Meer hinaus.

Nach einer Weile setzten sich die beiden Mädels neben ihn. „Mit was spielst du da die ganze Zeit rum?“ Heiko wirkte überrascht. Wie konnte sie das hören?

„Ich hab dir was gekauft, um ehrlich zu sein.“ „Ohne Absprache?“ „Es war im Angebot und ich dachte, es macht dir eine Freude. Vielleicht hilft es dir auch.“ Zögerlich ließ er den Gegenstand in ihre Hand rutschen.

„Ein seltsam geformtes Armband?“ Sofort machte sie eine Geste, dass er sie noch raten lassen sollte. „Muscheln. Ein Muschelarmband.“ „Echt gut. Das ist richtig. Gefällt es dir?“ „Keine Ahnung aber ich nehms, okay?“ „Ja gerne.“ Es hatte nicht besser klappen können. Die restlichen Stunden genossen sie einfach im Stillen.

Am nächsten Morgen fühlte sich das alles wie ein Traum an. Gut gelaunt weckte er seinen Schützling. „Morgen du Schlafmütze. Gut geschlafen?“ Sie nickte müde und lächelte seiner guten Laune entgegen.

„Na ihr Zwei. Ich muss nochmal fahren aber euer Frühstück steht auf dem Tisch.“ „Danke, Susann.“ Bedanken taten sich beide, wobei Georgia sie nicht beim Namen nannte.

Mit einem erneuten Grinsen ertastete sie sich seinen Arm. „Heute nicht. Heute darfst du alleine gehen. Du hast ja schon oft genug bewiesen, dass du es kannst.“ Sie löste sich von ihm. „Du bleibst aber in meiner Nähe.“ „Sicher. Ich muss ja auch runter.“

Tatsächlich ließ er sie frei gehen. Trotzdem blieb er für alle Fälle mit ihr auf einer Höhe. Seine gute Laune blieb auch beim Frühstück bestehen.

„Hast du Lust, nachher mit Laufen zu gehen oder willst du lernen?“ „Steht mir im Gesicht, das ich mich gerne bewegen würde?“ Sie lächelte. „Ich würde schon gerne mit aber nur wenn ich keine Bremse für dein Training bin.“ „So fit wie du bist? Du überholst mich doch.“

Es stimmte, dass er tatsächlich nicht einmal langsamer machen musste. Allerdings reichte ihr fürs Erste die dreiviertels Strecke. „Nicht schlecht. Ruh dich hier aus. Ich komme gleich wieder.“ Er platzierte sie auf einer Bank und lief weiter.

Kaum aus der Sichtweite näherte sich Vincent, der wohl gerade auch am joggen war. „So ganz alleine hier, Schöne?“ „Auch am Trainieren?“ „Ich werd das Gefühl nicht los, dass du nicht das Lauftraining meinst.“ „Richtig.“ Sie grinste.

„Ich hab gelesen, das Blinde ausgeprägte Sinne haben. Wie ist das eigentlich bei dir?“ „Wie meinst du das?“ „Also manche sollen ja angeblich besser riechen können.“ „Ich glaube nicht, dass ich einen besonderen Sinn habe.“ „Wieso nicht? Alles an dir ist besonders?“ „Ich kanns nicht beurteilen.“ Sie zog sich etwas von ihm zurück.

„Bin ich schon wieder am Flirten? Eigentlich wollte ich nur fragen, ob du was zu trinken willst.“ Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf. Fast so. als hätte er tatsächlich nicht vorgehabt zu flirten.

„Ey, du trägst ja dieses Armband. War es doch noch ganz?“ „Nein, das hat mir Heiko gekauft. Ich hab ganz vergessen zu fragen, wie es aussieht. Kannst du mir es beschreiben?“

Vincent wurde erstaunlich genau und vor allem wissend. Farbe, Form, Größe, Gewicht und zu allem Überfluss wusste er die wissenschaftlichen Namen. „Mehr weiß ich nicht.“ „Danke. Du solltest öfters schlau sein.“ „Vielleicht. Dumm kann ich aber besser. Durst?“ Da es ihn offenbar beruhigte, etwas holen zu dürfen, nickte sie.

„Soll ich dir mal was erzählen? Valentin und ich waren uns so ähnlich, dass es uns irgendwann selbst nervte. Wir könnten auf unterschiedlichen Planeten leben und würden trotzdem immer noch absolut das Gleiche tragen. Allein wie schwer das war, nicht unbewusst immer das Gleiche zu tun und vor allem zu sagen. Na ja, ein Gutes hatte ja diese zu Weißenstein. Jetzt unterscheiden wir uns ab und an charakterlich. Ist nicht ganz so nervig, weißt du?“

„Ach ich glaube, das wäre euch auch so gelungen.“ Nach einer kurzen Pause erzählte sie von ihren Pulsen, die sie auf der Party wahrgenommen hatte. Damit schien sie ihn glücklich zu machen. „Nicht verübeln bitte aber ich haue besser ab, bevor Heiko kommt.“

Er war schon etwas länger verschwunden, als Heiko wieder aufkreuzte „Und wieder Puste? Wie ich sehe, hast du dir selbst etwas geholt. Verzeihung, ich hab nicht dran gedacht.“ „Schon okay.“ Seufzend nahm er bei ihr Platz.

„Wie orientierst du dich eigentlich?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Warum kannst du dich orientieren?“ Auch wenn er eine Antwort wusste, wollte er sie damit nicht verletzen. „Weil du dir optische Dinge merkst, oder?“ Obwohl sie sich Mühe gab, fiel es ihr schwer.

„Ein bisschen kann ich das auch. Problem nur, ich sehe zwar einen Schatten aber nicht, wie weit dieses Ding von mir entfernt ist. Es bringt mir eigentlich nichts, etwas zu sehen.“ „Und trotzdem machst du das ganz gut.“ Ein Lächeln erschien wieder in ihrem Gesicht.

„Ich kann dir nicht sagen, ob ich mein Gehör benutze oder ob ich doch irgendwie etwas mit deinem Schemen anfangen kann aber ich bin immerhin nicht verloren gegangen.“ Ihr Grinsen wurde stärker. „Gehen wir zurück. Ich muss noch etwas lernen.“ „Wenn du schon kannst?“

Zurück an der Villa entdeckte er Valentin kurz vor dem Waldrand nach der Wiese. „Geh ruhig schon mal rein.“ Nachdem sie im Inneren war, rannte er zu Valentin.

„Hey. Gibts wohl nicht auf, was?“ „Nein weil ich das hier gefunden habe.“ Valentin präsentierte auf seiner Handfläche ein verdrecktes Muschelstück mit Loch. Es war kaum größer als sein Fingernagel.

„Woher hast du das?“ „Es klebte an meinem Schuh. Leider war ich an dem Tag so gut wie überall.“ „Komm lass es. Wenn das Muschelarmband wirklich eine Erinnerung auslösen würde, hätte das Neue sicher schon etwas bewirkt.“

„Na ja. Sie hat ja die Beschriftung nicht aber wenn ich mir das Bruchstück im Vergleich zu den Möglichkeiten ansehe, ist meine Chance, es zu finden …“ „Gering! Natürlich.“ „Ja, vermutlich.“ Valentin begann weiter zu suchen.

„Vergiss, was passiert ist.“ „Das sagst ausgerechnet du, wo du sie bewachst wie ein Hund.“ „Hast dus mit Absicht gemacht?“ „Natürlich nicht! Wieso lass ich mich auch von dieser blöden Kuh ärgern? Wieso hast du eigentlich so schrecklich gute Laune.“ „Weiß ich auch nicht aber irgendwie seit dieser Nummer mit der Flaschenpost fühl ich mich super.“

„Heiko!“ Georgia rief vom Garten zu ihnen rüber. „Komme.“ Heiko beeilte sich, da sie sich mittlerweile kurz vor der Rosenhecke befand.

„Was machst du denn? Warte doch.“ „Ich … Ich glaube, ich erinnere mich schon wieder an etwas. Ich verstehs aber nicht.“ „Dann hab einfach Geduld, bis die Erinnerung schärfer wird oder glaubst du, das ich dir dabei helfen kann?“

„Weiß nicht. Das Radio hat ein Knackgeräusch gemacht und dann habe ich diesen Pfeil gesehen.“ Valentin kam hinzu und löcherte sie über die Art des Pfeiles.

„Ein Bogenpfeil. Federn, Holz und spitzer Stein oder was auch immer aber graue Spitze. Was heißt das? Ich will das verstehen. Bitte.“ „Lass uns eins nach dem anderen Durchgehen. Beruhige dich zuerst.“ Valentin nahm ihre Hand und ließ sie an seinen Puls. Offenbar wusste er, dass seine ruhige Art ansteckend war. Es half schließlich.

„So, jetzt gehen wir erstmal rein.“ Er übernahm komplett das Zepter in diesem Fall. Heiko blieb neugierig im Hintergrund.

„Dieser Pfeil könnte für ein Hobby stehen, Bogenschießen. Vielleicht ist es aber auch symbolisch oder das Geräusch hat sich für dich einfach nur so angehört und du hast es dir ohne irgendwelche größeren Bedeutungen vorgestellt. Alternativ könnte dir auch etwas Angst machen. Vielleicht fühlst du dich von irgendetwas unterbewusst bedroht. Vielleicht kennst du jemand, der Bogen schießt oder du kannst es tatsächlich selber.“

„Ich bin fast blind Valentin.“ „Das heißt nichts. Wir testen das mal, okay? Hast du was zum Werfen da, Heiko?“ Valentin setzte sich auf eine Möglichkeit gegenüber von ihr.

„Ein Kissen, ein Ball. Was willst du haben?“ Valentin griff zum Sofa und nahm sich das Kissen. Dieses gab er gleich an ihr weiter. „Wirf es in meine Richtung.“ Während er das sagte, hatte er sich für eine größere Entfernung entschieden.

„Ich weiß nicht.“ „Es kann nichts passieren. Du kannst damit nichts umwerfen, falls du mich verfehlen solltest und wenn du mich trifft, hab ich lediglich ein Kissen.“ Sie warf es direkt in seine Hände.

„Perfekt getroffen. Wirf es zu Heiko.“ Kaum hatte er das Kissen abgegeben, fand es sich in Heikos Händen wieder. „Das ist ja richtig gut, man“, staunte Heiko. „Hört auf mich zu veralbern. Ich seh doch eure Schemen.“ Irgendwie schien sie das gesagt selbst nicht zu glauben.

Plötzlich lachte Valentin. „Ich versuche ein Ziel und einen Bogen aufzutreiben. Mach dir kein Kopf. Das wird schon alles.“

Am nächsten Abend standen Heiko und sie mit einem Football auf der Wiese. Er ließ sich immer wieder den Ball zuwerfen und stand dabei mal gerade vor ihr, mal mehr seitlich und obwohl sich hier Kopf nie mit drehte, traf sie ihn immer wieder. Das Einzige, was etwas wankte, war die optimale Höhe.

Als die Brüder auftauchten, staunte Vincent nicht schlecht, als er plötzlich den Ball in den Händen hielt. „Krasser Wurf.“ „Entschuldige.“ „Ich sag, doch du bist klasse. Das war dein dreiunddreißigster Ball in die Hände desjenigen, der die Klappe nicht halten konnte.“ Die Beschreibung zur Person sollte Vincent wohl im Spaß ermahnen.

„Gut das Hockwoums kein Trainer ist, was?“ „Schmerzen dir nicht schon die Arme?“, warf Valentin ein. „Nein.“ Sie klang vergnügt. „Na dann. Ich hab einen Bogen aufgetrieben. Vincent stellt dein Ziel auf.“

Kaum hatte sie den Bogen berührt, brauchte sie keinerlei Hilfestellung bei der richtigen Haltung. „Also ich fress nen Besen, wenn du mal keine Bogenschützin bist.“ „Stell das Ziel auf!“, knurrte ihn seinen Bruder an. Georgia musste kichern. „Wenn ich nicht treffe, musst du aber einen Besen fressen. Das ist dir klar, oder?“ Sowohl Heiko als auch Valentin mussten über die Erwiderung lachen.

Als das Ziel aufgestellte war, entfernte sich Vincent und warf ihr zur Orientierung einen Stein auf das Zielfeld. Kaum drauf schlug der Pfeil auf dieser Stelle ein.

„Volltreffer!“, riefen alle Drei begeistert. Vincent zog den Pfeil heraus und brachte ihn zurück. Da sie so Spaß daran hatte, machten die Jungs noch eine ganze Weile mit.

Zumindest so lange, bis Heiko es auf seine übliche Art beendet. Offenbar gerade recht, denn sie schien Kopfschmerzen zu bekommen.

Als Vorsichtsmaßnahme trug er sie wieder einmal hoch. „Brauchst du deine Tabletten?“ Die Frage brachte nichts, da sie eingeschlafen war. Er lächelte und sah wieder nach den Jungs.

Vincent kam sofort auf ihn zu gesprungen. „Ich dachte, es sei Glas aber schau mal.“ Er legte ihm einen grünen Stein mit roten Stellen darin in die Hand. Es war flach und länglich mit abgerundeten Ecken. Außerdem hatte es Löcher an je einer kurzen Seite und die Aufschrift ''Sawoha''

„Was ist das?“ Valentin, der auf dem Sofa saß, antwortete trocken. „Ein Rubin-Zoisit. Es hat Löcher und es steht etwas drauf. Vermutlich gehört es Georgia.“

„Wo habt ihr das gefunden?“ „Dort, wo ich das Ziel aufgestellt habe.“ „Und was heißt Sawoha?“ „Wissen wir nicht aber da man meist Namen auf Armbändern stehen hat, ist es vermutlich ein Name.“

„Georgia heißt also wirklich Sawoha? Komische Vorstellung.“ „Vorausgesetzt natürlich es bezieht sich auf sie. Vielleicht ist es ein Andenken an eine bestimmte Person, die sie gern hatte.“ „Wir sind also noch genau so schlau wie zuvor.“

„Wieso? Wenn du ihr den Namen an den Kopf wirfst, kommt sicher wieder eine Erinnerung.“ „Nein. Erstmal nicht. Ich muss wissen, warum sie jetzt wieder Kopfschmerzen hatte. Ich sollte sie besser noch einmal zum Arzt bringen.“

„Vielleicht ist sie doch nicht so geübt, wie wir dachten.“ „Da muss ich ihm leider recht geben. Dass sie über das Hören quasi perfekt sehen kann, heißt nicht, dass sie das auch trainiert hat. Außerdem sagt Georgia nicht, wenn ihr etwas zu viel wird.“

„Wer will es ihr auch verübeln, hätte ich kein Gedächtnis mehr, würde ich mich auch schnellstmöglich erinnern wollen.“ „Vielleicht lass ich sie morgen erst einmal in Ruhe“, seufzte Heiko. „Bring sie trotzdem mal zum Arzt. Schaden kanns nicht.

Vier Tage später hatte Heiko Gewissheit, dass mit ihr alles in Ordnung war. Deshalb traute er sich nun auch ihr das mit dem Stein zu verraten.

Es überraschte ihn, dass weder der Stein an sich noch dieses Wort darauf etwas auslöste. Etwas verzögert gab sie das auch zu. „Das ist nicht schlimm. Das wird schon.“ Seinen Aufmunterungsversuch erwiderte sie mit einem zögerlichen Schmunzeln.

„Zeit zu trainieren. Komm.“ „Du hast aber nicht neue Schuhe gekauft?“ „Sie sind besser als die vom letzten Mal.“ „Wo war die Absprache? Ich wollte keine neuen Schuhe.“ „Gute Schuhe, heile Füße.“ „Neue Schuhe muss man aber erst einlaufen. Ich weiß nicht, ob ich dann noch mithalten kann.“

Kommentarlos packte er knallrote Laufschuhe mit zitronengelber Sole aus und legte sie ihr auf den Schoß. Zuvor entfernte er noch die Pappe. Danach stand er ebenso kommentarlos auf.

„Mach dich fertig. Ich warte außen auf dich“, sagte er schließlich am Eingang. Diesmal wusste sie auf seine ''Ich diskutiere nicht'' Art zu reagieren. Sie stellte sie einfach zu Boden und zog ihre alten Schuhe an. Witzigerweise fiel ihm das erst auf der halben Strecke auf.

„Hey!“ „Ich will die Schuhe nicht und ich diskutiere nicht darüber.“ Kompromisslos lief sie weiter. Heiko beeilte sich, da sie diese Strecke noch nicht kannte.

„Du weißt schon, dass ich beim nächsten Mal deine alten Schuhe wegwerfen werde“, versuchte er am nächsten Stopp zu kontern. „Das wagst du nicht.“ „Und warum nicht?“ „Weil die Schuhe meinem anderen Ich gehören. Solange du sie nicht gefragt hast, ist es Diebstahl. Denk dran, das Original kann Bogenschießen.“ Sie kicherte und rannte schon wieder los.

Etwas genervt stieß er ein Fluchen aus und folgte ihr wieder. Einen erneuten Versuch zu diskutieren versuchte er aber diesmal nicht.

Am Ende der Runde zog es Georgia unter den Herbstbaum. „Du musst trinken oder müssen wir das auch diskutieren?“ Er klang sauer aber lachte dann plötzlich.

Verwirrt suchte sie daraufhin seinen Puls. „Ich bin nicht sauer. Ich überzeuge dich schon noch, dass du sie brauchst.“ „Aber?“ „Mir fallen tatsächlich keine Argumente ein.“ Das fand sie anscheinend witzig.

„Ich hab nochmal über alles nachgedacht. Eigentlich hab ich keine Angst vorm Erinnern an sich. Eher vor der Person, die ich tatsächlich bin. Ich fühl mich eigentlich ziemlich wohl so, glaub ich.“

„Du kommst auch immer besser klar. Was nicht heißt, dass du jetzt nicht mehr auf mich hören musst, klar?“ „Ich weiß, du meinst es nur gut. Georgia will dich nicht verletzen. Was Sawoha will, weiß ich nicht.“ „Leg als Georgia einfach ein gutes Wort für mich ein, wenn es so weit ist.“ „Meinst du das hilft? Wenn sie nur halb so stur ist wie du, hab ich ein Problem.“

„Das sehen wir ja dann. Mein Onkel hat übrigens angerufen. Du kannst ihn morgen endlich mal kennenlernen.“ „Oh okay. Freust du dich?“ „Weiß ich noch nicht. Im Grunde genommen ist er auch ein Fremder für mich.“ Er griff nach ihrer Hand. „So übel kann er ja nicht sein.“

Am folgenden Tag war sie zu nervös. Deshalb hatte er sich entschieden, sie auf dem Zimmer zu lassen. Er selbst saß bei dem Dienstmädchen in der Küche.

„Sehen sie nochmal nach ihr?“ „Entspannen sie sich, Herr Hockwoum. Mit ihren Freunden kommt sie doch auch schon gut zurecht.“ „Ja aber sie war schon ziemlich beunruhigt. So schlimm war es nicht mal bei Vincent. Vielleicht hat sie wieder Kopfschmerzen. Ich sollte nochmal zu ihr hoch.“

„Das lassen sie besser bleiben.“ „Wissen sie irgendwas?“ „Wenn sie dauernd hochlaufen und nachsehen, ob noch alles in Ordnung ist, bestätigen sie sie nur in ihrer Angst.“ „Ich versteh nicht.“ Das Gespräch wurde von einem Motorengeräusch beendet. Heiko stand auf. „Durchatmen. Sie macht das schon.“ Damit gab sie ihm einen leichten Stoß zur Tür hinaus.

„Hey“, grüßte sein Onkel erfreut, noch halb im Kofferraum versunken. „Ganz allein?“ „Sie braucht noch etwas Zeit.“ Der Mann wirkte neben Heiko ziemlich schmächtig, war aber im Gegenzug an allen sichtbaren Stellen seines Oberkörpers tätowiert, ausgenommen im gebräunten Gesicht.

Zum ersten Mal bemerkte er auch das Porträt-Tattoo einer rothaarigen Frau auf seinem rechten Oberarm. Es könnte Georgia sein wenn die Augen nicht braun wären.

„Wer ist das?“ Sein Onkel blickte auf die Stelle, als wüsste er nicht, was da war. „War ziemlich verknallt in sie. Jugendliebe. Leider hat sie was Schlechteres genommen.“ Er lachte wieder mit dieser seltsamen Art.

„So dann gehen wir mal rein, was?“ Obwohl er nett fragen wollte drängelte er bereits zur Tür. „Kauz, holen sie meine Koffer!“ „Bitte“, ergänzte Heiko. „Natürlich bitte, Frau Kauz, machen sie das.“

An der Treppe oben stand Georgia wie angewurzelt. „Warte kurz.“ Heiko nahm beim Hochlaufen gleich mehrere Stufen auf einmal.

„Alles gut?“ Statt zu Antworten begann sie etwas zittrig runter zu laufen. Er half ihr sofort. Vor seinem Onkel blieb sie regungslos stehen.

„Du bist also Georgia?“ Den Namen ließ sie ihn nicht einmal fertig aussprechen. Mit gewaltiger Wucht schlug sie ihm mit der Faust ins Gesicht. „Ah verdammt nochmal was fällt dir ein, du Miststück?!“ Offenbar hatte sie ihm die Nase gebrochen.

„Wo ist Sawoha?!“ „Was zum Teufel …“ Der nächste Faustschlag warf ihn zu Boden. „Stopp!“ „Zwing mich nicht, dir auch etwas zu brechen! Alles, was ich wissen will ist, wohin sie Sawoha gebracht haben. Rede!“ Ein Tritt folgte.

„Ich weiß nichts.“ „Lüg nicht! Ich weiß, dass du dreißigtausend Dollar für sie bekommen hast. Wo ist sie!“ Sie trat ihm so heftig gegen die Schulter, dass es knackste.

„Das Boot ist aufgelaufen im Sturm. Sie hat es nicht geschafft.“ „Lüg nicht!“ „Ich lüge nicht. Ihre Leiche lag am Strand. Sie ist ertrunken. Bitte, ich wollte das nicht.“ „Klar! Eigentlich müsste ich dich töten.“ „Bitte.“ „Du und deine dreckigen Leute setzen nie wieder einen Fuß auf die Insel. Das wirst du nicht überleben!“

In der letzten Villa der Burghochstraße herrschte seltsame Stille. Es waren schon einige Tage verstrichen, in denen Heiko Hockwoum von den Machenschaften seines Onkels erfahren hatte. Dennoch war er wie gelähmt.

Draußen vor der Villa war das Schaben einer Schneeschaufel zuhören. Als wäre überhaupt nicht gewesen, wollte sein Onkel wieder zu seiner Firma fliegen. Das machte ihn wütend. So wütend das ihm schlecht wurde.

Seine Faust begann sich wie von Geisterhand zusammenzuballen. Auf einmal sprang er auf und packte seinen Onkel am Hemdkragen.

Er rüttelte an ihm. „Was bist du für ein hinterhältiges Schwein?“ Seine Beschimpfungen ließen seine Gründe nur erahnen. Dennoch war wohl so ziemlich klar, weshalb er so außer Kontrolle geriet.

Mit aller Kraft versuchte sich sein Onkel zu wehren. Doch er war bei Weitem nicht so kräftig wie Heiko.

Vier Hände griffen nach seinem Neffen und entfernten ihn mit Gewalt. „Beruhige dich. Es gibt eine andere Lösung.“ Die besagten Hände gehörten den Teves-Brüdern. Mal wieder hatten sie ihre Aussage gemeinsam begonnen und nur einer ergänzte den letzten Satz. In diesem Fall Valentin.

Sie zogen ihn noch weiter von seinem Onkel weg. Dieser stieg daraufhin in sein Auto und fuhr davon.

In einem Moment, wo die Achtsamkeit nachließ, stieß er Valentin von sich und befreite sich ruckartig von Vincent. Wütende Worte war alles, was er vor seinem Verschwinden noch murmelte.

„Bist du okay?“ Offenbar hatte Valentin Probleme beim Aufstehen. „Geht schon.“ Er bekam dennoch Hilfe.

„Jungs, alles klar bei euch?“ Christin stand mit einem älteren roten Auto auf der Straße. „Du hast ein Auto?“ „Ähm … Erkennt ihr euer Eigenes nicht? Eure Eltern haben es mir geliehen, schon vergessen?“

„Wir haben gerade andere Probleme“, knurrte Valentin, der zum Auto humpelte. „Haben wir das?“ Mit gequälten Blick stützte er sich im offenen Fenster ab und sah sie an. Sie hatte schließlich immer Antworten.

„Du warst zwar weg, aber du hast doch sicher eine Ahnung, warum Georgia weg ist oder?“ „Warum nicht aber ich weiß, dass sie einfach ins Meer gesprungen ist und seit dem verschwunden ist.“

„Was?!“ Vincent drängte empört seinen Bruder zur Seite. „Ihr ist doch nicht passiert? Dreht Heiko deshalb so am Rad? Ist sie Tod? Das Wasser ist doch arschkalt jetzt.“

„Atmen, lieber Vincent! Meiner Quelle zur Folge ist sie weggeschwommen und tatsächlich von alleine gesprungen.“ „Wir müssen wohl Heiko fragen. Vielleicht ist irgendwas mit dem Treffen schiefgegangen vor ein paar Tagen.“ „Ja stimmt, mir kam es eh seltsam vor, dass Heiko plötzlich krank war.“

„Hockwoum? Der würde sich mit vierzig Fieber noch wohin schleppen. Einsteigen Jungs, die Sache ist ernst.“ Während Valentin sofort einstieg, blieb Vincent wie erstarrt stehen.

„Beweg dein Hintern, Vinchen.“ „Deine Kosenamen sind echt schrecklich“, jammerte er und setzte sich auf den Beifahrersitz. „Sie erfüllen ihren Zweck.“

„Weißt du, wo wir hin müssen?“ „Sagen wir so, ich kenn genug von ihm, um ihn berechnen zu können.“ „Obwohl er in seiner Heimzeit wie verschwunden war?“ „Glaub mir, das reicht schon aus.“

„Vincent, halt doch einfach die Klappe, okay?“ Christin begann neben sich etwas in der Tür zu suchen. „Hier, du Griesgram.“ Sie reichte ihm eine Tüte mit Apotheken-Symbol nach hinten. Daraus holte er eine Fußbandage, die er sich auch gleich anzulegen begann.

„Sag nicht, dass das schon wieder schlimmer geworden ist.“ „Jeden verkakten Winter das gleiche Problem, und?!“ „Super, dann kann ich mir dein Gemaule wieder Monate lang anhören.“ „Besser als dein geistloses Gelaber.“

„Jungs! Ein Ton noch und ich schmeiß euch hier raus.“ Das Hier war ein von Stechmücken geplagter Ort. Ein offenbar sehr gutes Argument, um Ruhe zubekommen.

Nach ein paar Kilometern hielt sie an einem sonnigen offenen Platz mit einer tiefen Klippe zum Meer hin an. „Hier soll er sein? Ich sehe ihn nicht. Du hast dich wohl geirrt Sü …“ Sie hielt ihm den Mund zu. „Nur ehrlich gemeinte Komplimente.“ „Wer sagt denn …“ „Vinchen! Falscher Zeitpunkt, okay!“

„Er hat ausnahmsweise recht, hier ist er nicht.“ „Wartet ab, wir sind schließlich gefahren.“ Christin sollte tatsächlich recht behalten. „Da ist er ja. Woher wusstest du das?“ „Georgia ist hier rein gesprungen. Außerdem hat er hier damals seinen Eltern zugewunken.“ „Scheiß Zufall“, sagten beide gleichzeitig. Daraufhin stieg Valentin aus.

„Hey“, grüßte er mitfühlend und ging alleine auf ihn zu. „Tut mir Leid wegen eben.“ „Schon in Ordnung.“ Das Meer war heute ganz still, die kleinen Wellen nahm man kam wahr. Nur selten kreischte eine Möwe durch ihre gemeinsame Stille.

Eine Weile später stieg dann auch Vincent aus. „Wenn es hart auf hart kommt, gibt es sicher eine Möglichkeit, dass du zu uns kommen kannst.“ „Klar für was sind wir Freunde, Alter. Klappe auf und Ton raus.“ „Allerdings musst du dann diese Dumpfbacke aushalten.“ „Hey!“ Heiko lachte stumpf und setzte sich an den Rand der Klippe.

„Ist es seltsam, sich zu wünschen, dass das Meer auch einen verschlucken würde. Nicht das ich Tod sein wollte, einfach nur weg. Klingt wohl ziemlich seltsam was?“ „Schon ein bisschen." Die Brüder setzten sich zu ihm und starrten mit ihm schweigend ins Weite. Christin blieb der Gesellschaft einfach geduldig fern.

Die folgenden Tage verbrachte er bei den Teves-Brüdern und aß gelegentlich bei Susann zu Hause. Freizeit, die ihm verblieb, verbrachte er immer wieder an der Klippe. Von seinem Onkel hatte er seither nichts gehört.

Vermutlich fand er keine Zeit wegen seinen Firmen, um irgendwas zu unternehmen oder aber dachte er, er hatte sich selbst wegen Menschenhandel angezeigt. Was auch immer der Grund war, die Konsequenzen waren ihm egal. Er würde einfach abhauen oder ebenfalls ins Meer springen, wenn man ihn wieder in ein Heim stecken wollte.

Nach vielen Tagen seiner Verzweiflung fiel ihm etwas im Meer auf. Ein Ruderboot, drei Mann hoch, näherte sich der Küste. Alle samt unscheinbar dunkel gekleidet. Bis auf die mittlere rudernde Person. Sie war größer und auch irgendwie massiver als die beiden anderen Personen. Auf die Entfernung war es noch schwer zu erkennen.

Als sie jedoch anlegten, sah er das die kleinste Person eine Schusswaffe auf die beiden Anderen richtete. Er dachte nicht wirklich nach und hetzte zu einer Stelle, wo er halbwegs sicher hinunter konnte.

Unten ankam, stand ein Mann so groß wie er aber deutlich muskulöser vor ihm zusammen mit einer fast gleichgroßen zierlichen Frau. Das Ruderboot war aber samt der dritten Gestalt verschwunden.

„Heiko?“, schien ihn die weibliche Person zu erkennen. Heiko war völlig erstarrt von seinem seltsamen Gefühl, dass er oben schon verspürt hatte.

„Heiko!“ Völlig erfreut stürzte sie sich auf ihn und begann zu weinen. Gelassen oder auch schwächlich begann der Mann sie zu lösen. „Er erkennt uns doch überhaupt nicht. Du hast nicht zufälligerweise Essen oder Trinken bei dir? Wir sind schon seit Tagen auf dem Meer.“

Da er vor Verwirrtheit keine Worte fand, deutete er nach oben. „Okay, das sollten wir noch schaffen“, ergänzte er zu seinem leichten Grinsen. Tatsächlich hatten sie aber große Mühe voran zu kommen.

Erleichtert nahmen Beide oben platz und teilten sich die einzelne Flasche. „Wer seid ihr?“, fragte er ziemlich unsicher. „Samara und Ed Hockwoum“, antwortete er völlig banal.

Sie fügte wieder unter Tränen hinzu: „Du warst noch ziemlich klein.“ „Relativ klein. 1,50 um genau zu sein.“ „Du erkennst uns nicht, hm? Das wir solange festgehalten wurden, war mir gar nicht klar. Wie alt bist du denn jetzt?“ „Siebzehn“, antwortete er so schnell, dass es fast wie ein Vorwurf klang.

„Schon. Oh nein, das tut mir schrecklich Leid. Hat sich jemand um dich gekümmert?“ „Samara! Lass ihn. Wir suchen uns erst einmal Obdach. Ich nehme an, dass du in guten Händen bist.“ Seine Kopfbewegung war eine Mischung aus Nicken und Schütteln.

„Wenn wir uns erholt haben, reden wir. Einverstanden? Wir müssen wohl erst einmal selbst verstehen, was das war.“ „Ich ruf Christin an.“ Er wand sich bereits zum Telefonieren ab. „Du hast noch Kontakt zu ihr, wie schön.“ „Ich glaube nicht, dass das jetzt der richtige Zeitpunkt ist.“ „Du hast ja recht, entschuldige.“

Christin war bereits nach kurzer Zeit vor Ort. „Schön, sie wieder zu sehen Frau und Herr Hockwoum. Ich habe ihnen was mitgebracht. Sie haben sicher Hunger und Durst.“ „Wie hübsch du geworden bist.“ „Danke.“

Als sie bat mitzukommen, blickte sie kurz bemitleiden zum Sohn rüber, der offensichtlich gar nichts mehr verstand.

„Willst du nicht mitfahren?“ „Nein! … Ich laufe.“ „Heiko ist beim Rugby“, rettete sie ihn schließlich hektisch aus der Situation. Es gelang ihm einfach nicht nett zu klingen. Sein Nein hatte wie ein ''Auf keinen Fall'' geklungen. Was er überhaupt nicht so meinte. Ihnen zu begründen warum, hatte auch nur gewirkt wie eine übelst schlechte Ausrede.

„Beende dein Training, ich bringe sie in gute Hände.“ Sie klopfte Heiko auf die Schulter und stieg ein. Sie fuhr los, als Heiko davon joggte.

Im Haus der Teves war gerade heute niemand anzutreffen. Dabei hätte er irgendjemanden gebraucht, um darüber zu reden.

Am Abend des nächsten Tages saß er mit seinen Eltern in einem Hotel-Restaurant. „Du siehst heute weniger überrascht aus uns zu sehen.“ „Ich hab nicht damit gerechnet, euch jemals wieder zu sehen. Zehn Jahre sind ganz schön lang, versteht ihr?“ „Natürlich.“

„Wir wünschten, wir könnten es ändern aber erzähl. Wo bist du untergekommen? Hat sich jemand um dich gekümmert? Wie ist es dir ergangen?“ „Gut.“ Heikos nervöse Finger machten sich an der Speisekarte zu schaffen.

„Wir haben gehört, dass du bei den Teves wohnst. Gute Leute, Nette.“ „Hmh, beim Onkel war's auch nicht schlecht.“

Wieso tat er immer genau das Gegenteil von dem, was er wollte? Erstens wollte er ihnen sagen, dass es beschissen war und schon gar nicht wollte er diesen Typ loben. Vor allem wollte er die ganze Zeit gehen.

Seine Mutter legte plötzlich ihre Hände auf Seine. Sofort zog er sie weg. Es verletzte sie sichtlich. „Wo wart ihr all die Jahre?“ „Du weißt wahrscheinlich, das unser Boot aufgelaufen ist. An Land wurden wir von den dort lebenden Menschen festgehalten. Angeblich hätten wir die Frau ihres Anführers entführt.“

„Das habt ihr doch!“ Heiko sprang aufgebracht vom Tisch auf. Als er stand, schien er aber nicht zu wissen, warum er schon wieder so ausrastete. „Ich … geh lieber trainieren.“ Wirklich trainieren tat er nicht. Letztendlich zog er sich in die Villa der Teves zurück.

„Nicht gut gelaufen?“, fragte Valentin, der gerade dabei war, sein verletztes Bein zu trainieren. Mittlerweile trug er eine weitere Bandage am Knie.

„Ich weiß nicht, was ich von ihnen halten soll. Sie hängen doch mit drin.“ „Vielleicht sind sie aber auch unbeteiligt an Bord gewesen.“ „Unbeteiligt auf ein Boot, mit dem Menschen geschmuggelt werden? Diese Sawoha ist nur Tod wegen meiner Familie.“

„Wenn, dann gehört die Schuld alleine deinem Onkel. Bislang weißt du gelegentlich, dass er das Geld für Sawoha bekommen hat.“ „Unschuld, solange ich keine Beweise habe.“ Er schwieg betrübt.

„Was denkst du?“ „Ich kann mir einfach wahnsinnig gut vorstellen, das mein Vater sie eingefangen hat. Du hättest sehen müssen, wie hilflos er Georgia gegenüber war und sie ist blind.“

„Wie wir herausgefunden haben, hatte sie sehr scharfe Sinne. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie die Stärkste ihres Stammes zur Suche losschicken. Vermisst du sie?“ „Sie ist weg. Verschollen oder Tod. Was auch immer. Ich hau mich ins Bett. Dieser Tag kann mich mal.“ „Tu das.“

Die folgende Zeit zog es Heiko anscheinend vor, seinen Eltern aus dem Weg zu gehen. Lange konnte er es allerdings nicht. Eines Tages stand sein Vater alleine an der Klippe und starrte aufs Meer hinaus. Offenbar hatte er auf ihn gewartet. Doch Heiko wollte wieder umkehren, als er ihn sah.

„Es war ein Schock für dich.“ Er hatte sich nicht einmal umgedreht und ihn dennoch bemerkt. „Ihr ward Tod für mich und … ach egal. Es ist vorbei.“

„Vorbei ist vergessen.“ Nun drehte er sich endlich zu ihm. „Wir wollten dich nicht alleine lassen. Nie!“ Zögerlich näherte sich Heiko an. Endlich sah er mal eine Gefühlsregung bei diesem Mann.

„Erinnerst du dich an deine erste Schiffsreise?“ „Ich bin seekrank geworden.“ „Ja genau.“ „Mama war ziemlich enttäuscht. Ihr hattet die Reise schon seit Jahren vor.“ „Genau genommen hat sie mich ziemlich angeschnauzt, warum wir nicht sofort abgebrochen hatten.“ „Im Ernst?“ „Sie ist deine Mutter, Heiko. Sie hat sich Sorgen gemacht.“

„Du nicht?“ „Natürlich aber ich dachte zuerst, es sei Aufregung. Bevor das Schiff abgelegt hat, hattest du alles erkundet. Weißt du noch?“ „Ja. Ich fand Schiffe ziemlich toll. Nachdem mir aber so übel wurde nicht mehr.“

„Du wolltest überhaupt nicht mehr verreisen. Versteht ihr euch noch so gut wie früher, Christin und du?“ „Sie ist okay aber sie weiß zu viel über mich.“ „Dann sollten wir uns wohl an sie wenden, wenn wir etwas über dich wissen wollen.“ „Bloß nicht.“

Heiko setzte sich an die Klippe. Sein Vater tat es ihm gleich. „Tut mir Leid, dass ich so blöd war aber es sind die letzten Wochen Dinge nicht ganz so gelaufen, wie sie sollten.“ „Mit deinem Onkel?“ „Du bist nicht überrascht?“ „Na ja mit deinem Onkel bin ich selbst nicht so richtig klar gekommen.“ „Warum nicht?“ „Gute Frage. Ich nehme an, es ist seine seltsame Art.“

„Hast du gewusst, dass er Menschen verkauft.“ „Was? Komm, du machst Witze, oder?“ „Ich nehme an Christin hat euch von Georgia erzählt.“ „Nein, alles was sie sagte war, dass du einiges zu erzählen hättest.“ „Treffen wir uns nochmal im Restaurant?“ „Gern.“

Heiko war wieder etwas mulmig, als er zum besagten Treffen ging. Er erzählte von Georgia, verschwieg aber weiterhin die Zeit im Heim.

„Die Beschreibung passt zur Wächterin“, gestand sein Vater geschockt. „Was?“ „Naverba, glaub ich oder?“ Der Blick zu seiner Frau gab ihm recht.

Danach erzählte sie. „Sie hat uns auf dem Schiff verarztet. Sie konnte auch nichts sehen.“ „Wusste sie das ihr nicht beteiligt seit?“ „Zu dem Zeitpunkt vermutlich nicht. Wir wissen aber auch nicht, wie wir in die Höhle gelangt sind, in der wir festgehalten wurden.“

„War sie es, die euch zurückgebracht hat?“ Sein Vater nickte. „Sie lebt also.“ Die Freude daran verblasste, als er sich wieder an die Begegnung mit seinem Onkel erinnerte.

„Was ist los?“, fragte seine Mutter, als er versucht hatte, das Bild weg zu schütteln. „Nichts. Ich komm nur noch nicht ganz drauf klar zu was sie alles fähig ist. Blind Bootfahren hätte ich nicht von ihr erwartet.“ Darauf blieben seine Eltern ungewöhnlich still. Sofern man etwas als ''ungewöhnlich'' bezeichnen konnte, an Eltern, die man nicht mehr kannte.

„Geht es euch gut?“ Sie grinsten und bestätigten dann seine Frage. Nach weiterem belanglosem Gerede lag Heiko auf seinem Bett in der Teves Villa.

Heiko, kommst du mal?“, fragte Vincent seltsam bedrückt. „Was ist los?“ Er sprang auf und ging mit ihm in den nächsten Raum. „Wir waren bei deinem Onkel, also in der Villa, nicht bei ihm.“ Sie blieben am Esstisch stehen.

Valentin schob ihm ein Ordner zu. Darin waren einige Mädchen aufgelistet. Anstatt Namen hatten sie aber Nummern, Merkmale und Preise. Als er den Ordner angewidert wieder schließen wollte, bemerkte er, dass er angekokelt war.

„Anscheinend wollte er es vernichten aber interessanter ist das hier.“ Valentin zeigte ihm ein nicht eingeheftet Mädchen. Die Nummer 0171 hatte seltsamerweise die hintere Eins nur hingekritzelt. Bei Merkmalen hatte er begabt notiert und verlangte für sie im Vergleich zu den Anderen viel mehr.

„Und?“ Nichts ahnend schlug er das Papier um. Nummer 0171 war Georgia. Das Foto zeigte sie, als sie mit ihm dieses Bällezuwerfen gemacht hatte. „Sie auch.“

„Bist du bereit für den wiederhergestellten E-Mail-Text. Vincent war nun mit einem beschädigten Tablett gewappnet. „Schieß los“, antwortete er sich noch selbst unsicher, ob er das wirklich hören wollte.

„Versagen sie diesmal nicht! Ich will hunderteinundsiebzig. Wenn sie wie bei siebzehn versagen, betrachten sie sich als toten Mann.“

Heiko blieb regungslos. „Wer wohl diese Siebzehn ist?“ „Wer schon? Sawoha natürlich“, antwortete er noch immer unter Schockstarre. Als er sich endlich lösen konnte, war seine erste Handlung, sich ins Zimmer zurückzuziehen.

Etwa vier Stunden später platzte aber Christin ins Zimmer herein. „Ich glaub, das interessiert dich.“ „Wie wichtig kann es sein, dass du einfach so in meins Zimmer platzt?“ „Deine Eltern sind gerade dabei, auf ein Schiff zu gehen.“ „Was?!“ Damit stand er sofort auf den Beinen.

„Wieso?“ „Denkst du ich hatte Zeit zu fragen? Beeil dich, dann erwischen wir sie noch.“ Das musste sie nun wirklich nicht wiederholen.

Den Hafen erreichten sie gerade noch rechtzeitig. „Stopp!“, rief er ihnen panisch entgegen. Sein Vater stellte umgehend die Koffer wieder ab, während seine Mutter zu ihm eilte.

„Was ist los?“ „Ihr könnt nicht fahren. Bitte ihr seid endlich wieder da.“ „Heiko, wir machen das nicht zum Spaß. Wir würden auch lieber bleiben aber …“ Sein Vater stoppte die Erklärung. „Aber? Ich lass nicht zu, dass ihr wieder verschwindet.“ Heiko griff nach einem der Koffer.

„Dieses Mädchen hat uns gerettet“, erklärte nun seine Mutter weiter und hinderte ihn an seinem Vorhaben. „Ich verstehe nicht.“ „Als du sagtest, dass sie blind Bootfahren kann, wurde uns bewusst, was sie auf sich genommen hat, um uns dort rauszuholen. Der Stamm wird sie nicht mehr akzeptieren, falls sie es zurückschafft.“ „Falls? Sie hat doch … Ihr habt sie navigiert?“ Der Vater nickte schwach.

„Samara, ich gehe alleine. Bleib du hier. Ich werde sie schon finden.“ „Nein! Ich meine, egal ob einer oder ihr beide geht, der Stamm wird euch auch nicht akzeptieren.“

Christin näherte sich. Allerdings stieg sie ohne ein Wort auf das Boot und sprach mit dem Kapitän. Als sie wieder zu sehen war, löste das Schiff die Leinen. „Sagt meiner Mutter, dass ich Georgia besuche.“ Sie blickten alle verdutzt drein aber unternehmen konnten sie nichts mehr, als sie es realisiert hatten.

Irgendwie war er erleichtert aber andererseits tat ihm Georgia Leid. „Lasst uns gehen“, nuschelte er niedergeschlagen. „Heiko wir …“ „Lasst es gut sein. Ich kann das Meer einfach nicht ausstehen. Versteht das bitte.“

Er ging in der Hoffnung, nie wieder so etwas tun zu müssen. Diese Vorstellung war einfach schlimmer als das Heim. Dennoch lag er die halbe Nacht wach und dachte an die dehydrierte Georgia in ihrem Ruderboot. Dieses Bild verschwand nicht. Egal wie oft er sich auch hin und herdrehte.

Am nächsten Morgen lag nur noch ein Zettel von ihm auf dem Tisch. ''Ich muss Georgia zurückholen'', stand darauf. Getreu dieses Satzes fand er sich auf einem Boot wieder. Ihm war bereits schon mulmig aber nichts sollte ihn mehr davon abhalten.

Als er sich auf dem offenen Meer befand, tauchten Vincent und Valentin auf. „Was macht ihr denn hier?“ „Denkst du, wir lassen dich alleine nach ihr suchen?“ „Und eure Eltern?“ „Wissen Bescheid. Wir drei sind einfach krank.“ „Vier, um genau zu sein. Christins Chef hat auch eine Krankschreibung. Angeblich hat sie was am Rücken.“

Heiko versuchte sein Lachen zu unterdrücken. „Hey, ich hab überhaupt nichts Dummes gesagt, oder?“ „Du bist halt du, Vincent. Danke Leute.“

Die ersten drei Tage verbrachten die Zwillinge komplett am vorderen Teil des Bootes. Mit respektvollem Abstand tat es ihnen Heiko gleich. Allerdings gönnte er sich keine Sekunde Schlaf. Das sah man ihm am vierten Tag sehr gut an.

„Leg dich mal hin“, knurrte Valentin schlecht gelaunt weil er gerade aufgewacht war und Schmerzen hatte. „Lauf mal ein paar Runden“, knurrte er ihm völlig übermüdet entgegen. „Schlaf mal ein paar Runden“, erwiderte er und zog seine Kreise.

„Ey, wenn du deine Geierkreise beendet hast, löse mich ab“, motzte Vincent, während er sich streckte. „Und wenn du schon rum läufst, bring uns was zu essen ja.“ „Bin ich dein Dienstmädchen?!“, erreichte ihn sowohl die schlechte Laune als auch Essen und Trinken.

Nachdem auch der Dritte im Bunde bedient, war lief er weiter. Vincent begab sich derweil zu Heiko. „Kannst du eigentlich schwimmen?“ Heikos Blick blieb starr auf dem Meer. „Nein? Okay, das hätten wir vielleicht früher fragen sollen.“

„Schwimmen war ich das letzte Mal mit sechs. Vermutlich saufe ich ab wie ein Stein.“ „Dann spring lieber ich. Ich war zwar vor zwei Jahren das letzte Mal aber das sollte genügen, um nicht abzusaufen.“

„So lang du dich nicht an sie ran schmeißen willst.“ „Du kennst mich. Warum bist du eigentlich so dagegen, dass ich sie etwas an flirte? Magst sie wohl selber, was?“ „Sie hat viel scheiß durch gemacht.“ „Ach ja?“

„Heiko! Deine Eltern sind am Funkgerät.“ „Wir haben ein Funkgerät?“ „Scheinbar.“ Vergnügt grinsend sah er zu, wie der Captain zum Kapitän ging. Kurz vor der Brücke hielt er allerdings nochmal an. „Du bist doch ab und an schlau. Warum denkst du wohl, hab ich tatsächlich etwas dagegen?“ Ohne eine Antwort zu erwarten, ging er hinein.

„Ja.“ „Heiko endlich. Geht es euch gut?“ Im Hintergrund hörte er die Eltern von den Brüdern. „Natürlich geht es uns gut. Leider haben wir immer noch keine Spur.“ „Denkt an eure Gesundheit, okay? Bitte.“ „Wir haben genug Proviant. Wir passen auf uns auf, Ehrenwort. Wie läufs mit der Rugbymannschaft?“ „Bescheiden, sie spielen wie blutige Anfänger. Jungs, ihr müsst das nicht tun okay. Eure Leben, eure Zukunft ist wichtiger.“

„Was von Christin gehört?“ „Sie hat alles gegeben. Du weißt ja, sie muss heute operiert werden, erklang Susann. „Ich wünsch ihr alles Gute und diesmal soll sie sich schonen.“ „Richten wir ihr aus.“ „Macht euch keine Sorgen. Wir finden sie.“ „Uns wäre lieber ihr kommt zurück.“ Heiko wollte darauf nicht antworten, brachte es aber dann doch nicht übers Herz. „Ich muss das machen.“

Während er das sagte, sah er wie Valentin von Bord sprang. So schnell er konnte, hetzte er zum Bug. Ihm blieb fast das Herz stehen, als er das leere Ruderboot sah.

„Warte“, stoppte ihn Vincent vorm Reinspringen. „Das Boot war angebunden. Das Seil ist ausgefranst, offenbar ist es abgetrieben.“ „Und Georgia?“ „Sie ist nicht im Wasser. Es sieht so aus, als sei sie an Land gegangen.“

„Leute, da vorn ist eine Insel.“ Vincent, der durch ein Fernglas spähte, war der Einzige, der das Besagte sehen konnte. „Bist du sicher, dass sie nicht schon unten ist?“ „Wenn es dich beruhigt, tauche ich ab. Wir haben Ausrüstung an Bord. An Land bin ich euch eh keine Hilfe.“ „Kannst du tauchen?“ „Ich hab einen Tauchschein. Mach dir keine Sorgen. Sie ist zäh.“

„Vorschlag“, rief Vincent nun von der Brücke aus. „Unser Kapitän fährt jetzt zur Insel, setzt uns ab und bringt Valentin wieder hier her. Der Plan benötigte keine Bestätigung. Es ging einfach los.

Kaum hatte Heiko Land unter den Füßen, verschwand alle Müdigkeit aus seinem Gesicht. Das Boot und der erdrückende Rest lösten sich vorübergehend auf.

„Aufteilen oder nicht?“ „Nein, es ist zu gefährlich. Es reicht schon, das wir uns auf Meer und Insel trennen.“ „Klar.“

Der wortkarge Kapitän reichte ihnen Funkgeräte und zog sich wieder in sein Reich zurück. „Wird schon schief gehen.“ Damit trennten sich die Jungs.

Zunächst suchten Heiko und Vincent in der Nähe des Ufers. Nach einer Weile schien Vincent wieder nur Blödsinn im Kopf zu haben. Amüsiert stellte er sich neben einen Barfußabdruck. „Schau mal wie klein.“ Der Fußabdruck war um mehr als die Hälfte kleiner als Vincents Schuh.

Zum Erwidern kam Heiko nicht. Plötzlich zeigten bis zu zwanzig Pfeilspitzen auf sie. Eine Frau unter ihnen brüllte etwas auf einer Sprache, die keiner der beiden verstand.

„Wir suchen Naverba“, gestand Heiko. „Naverba“, wiederholte sie und sengte ihre Waffe. Alle anderen Bögen blieben schussbereit. Genauso aggressiv wie zu Beginn brüllte sie etwas Weiteres, das den Namen Naverba enthielt. Dabei sah er an ihrer Schulter den Kopf eines kleinen Babys.

An anderer Stelle unter den Schützen rief ein Mann etwas. Erwidert wurde es an andere Stelle. Die Frau mit dem Kind schrie nur eine Silbe und es war wieder Ruhe.

Etwas Weiteres folgte. Daraufhin gingen zwei Männer auf die Jungs zu und zwangen sie in die Knie. Ihre Hände wurden gefesselt und ihre Augen verbunden. Von den Männern abgeführt, versuchte sich Heiko irgendwie die Schritte und Biegungen zu merken. Allerdings war ihm das bei den vielen Lenkungen bald nicht mehr möglich.

Nach einer langen Strecke wurden sie an einem kühleren Ort abgesetzt. Neue Fesseln wurden an seinen Fußgelenken angebracht. Danach bekam Heiko die Augenbinde ab.

Vincent saß genau neben ihm. Seine Beine hatten sie nicht verbunden aber auch ihm wurde die Augenbinde abgenommen.

Die Frau, die offenbar das Sagen hatte, tastete seine Beine ab. Ihr Baby war mittlerweile in den Händen eines weit Wegstehenden. Es hatte Platz für ihren Bogen gemacht. Das eigentlich Gefährliche war jedoch ein Messer, welches sie griffbereit bei sich trug.

Nach ihrem Absuchen ging sie zu Heiko rüber, bei dem sie aber natürlich auch nichts fand. Trotzdem wurden ihnen beiden die Schuhe und Socken ausgezogen. Was das bringen sollte, verstand er nicht.

„Wir woll …“ Blitzschnell befand sich ihre Klinge an seiner Kehle. Der Zwang, ihr in die wutentbrannten Augen zu sehen, ließ ihm den Gedanken kommen, dass sie Naverbas Mutter war. Ihre Augen waren jedoch nicht grün.

Da er sich nicht sträubte, nahm sie das Messer wieder weg und drückte seinen Oberkörper nach vorn.

Als sie wohl etwas fand, drückte sie ihn noch grober herunter und zog sein Hemd hoch, um es zu sehen. Was sie aber sah, waren keine Waffen, sondern zahlreiche Narben. Sie drückte ihn an den Schultern wieder zurück und schaut ihm diesmal etwas freundlicher in die Augen.

Eine Weile schien sie ihm wie aus den Augen lesen zu wollen, ehe sie dann dasselbe mit Vincent tat. Im Anschluss daran band sie auch seine Füße zusammen und ging.

„Was jetzt?“, fragte Vincent besorgt. „Ruhe bewahren. Du hast das Walkie-Talkies benutzt.“ „Ja. Hoffentlich hats was gebracht. Ich will ungern gekocht werden.“ „Bevor das passiert, werden wir höchstens aufgespießt.“ „Danke, sehr beruhigend. Lässt dich das wirklich kalt, man?“ „Nein. Psst da tut sich was.“

Ein Mann kam hereingestürmt und schlug den Mannschaftskapitän aus heiterem Himmel zu Boden. „Ich töten dich. Tod du und deine Leute“, erklärte der Mann mit hörbarem Akzent.

Die Frau drängte ihn zurück. Ein Gespräch begann, dass ihn vermutlich beruhigen sollte. Nach einer Weile fiel wieder Georgias richtiger Name. Wutendbrand erwiderter er ebenfalls etwas mit dem Namen.

Auch wenn man kein Wort verstand, war klar, seine Abneigung war hoch. Die Diskussion ging noch eine Weile, ehe der Mann einen Anderen losschickte. Die Frau blieb hier und rührte sich nicht von der Stelle.

Nach einer Ewigkeit kam der losgeschickte Mann wieder. Über seiner Schulter hing völlig regungslos und durchnässt Georgia. Er legte sie unsanft am Boden ab. Woraufhin sich die Frau wieder zu Wort meldete.

Wütend wurde wieder etwas entgegnet. Dies war aber wohl dazu gedacht, Georgia fesseln zu lassen.

Nachdem das geschehen war, gingen die beiden Männer. Die Übriggebliebene kniete sich dann zu ihr. Sie gab ihr zu trinken, bis sie dann irgendwann halbwegs dazu sein schien. Sie sprachen miteinander.

„Redet!“, befahl sie schließlich mit trockener Kehle. „Was ist hier los man. Sie sollen uns gehen lassen. Wir wollen nichts Böses. Wir wollten dich nur holen.“ „Du kommst mit uns zurück“, hängte Heiko krächzend an.

Georgia sprach in der Sprache der Frau, die daraufhin überrascht reagierte. Der Name Sawoha fiel in der weiteren Unterhaltung. Überhaupt ging das Gespräch viel zu lange für eine einfache Übersetzung.

„Unser Anführer lässt euch nicht gehen. Euer Volk hat unserem viel Schaden zu gefügt und deshalb wird er euch dafür büßen lassen.“ „Aber?“ Heiko schien sich vom Schlag wieder erholt zu haben. „Ihr müsst die Insel Tod verlassen.“ Blitzschnell griff Georgia nach dem Messer.

Sie drückte die Klinge in ihrer Hand zusammen, bis die Frau offenbar genug aufgefangen hatte. „Hör zu Vincent. Du beginnst. Tu so, als wärst du geschwächt von der Verletzung. Luridana wird dich dann ins Meer werfen. Schwimm dann so schnell du kannst zum Schiff.“ „Okay.“

Vincent wich zurück, als die Frau ihn mit Blut zu verschmieren begann. Danach drückte sie Heiko zu Boden. Für seine Verletzung wurde sie kreativer. Es sah im Anschluss so aus, als hätte sie ihn mit einem Pfeil in die Brust getötet.

Danach löste sie Vincents Fußfesseln. „Sie möchte, dass du ihr deinen Zustand vorspielst.“ Grob zerrte Luridana ihn auf die Beine. Vincent gab sich Mühe. Offenbar empfand sie sein Schauspiel akzeptabel weil sie ihn dann hinausführte.

„Bleib Tod egal was passiert“, zischte Naverba, nachdem die anderen Beiden nicht mehr zu sehen waren.

Dass sie dies verdeutlichte, hatte tatsächlich Grund. Der aggressive Mann kam wieder. Er kam Heiko gefährlich nahe. Damit er die Fälschung nicht erkannte, machte sich Georgia bemerkbar. Woraufhin er sie dann brutal angriff.

Heiko hatte alle Mühe, so zu bleiben aber ihm war klar, dass er nichts tun konnte, außer es noch zu verschlimmern. Als sie bewusstlos war, schulterte er sie auf und ging aus der Höhle.

Minuten später kam Luridana zurück. Da sie auf ihrer Seite war, konnte er sich getrost aufrichten.

Hektisch zeigte sie ihm drei große Blätter „Naverba warm.“ Sie legte zwei Blätter zur Seite und nutzte das Übrige, um angedeutet seine Fake-Wunde abzudecken.

„Heilung?“ Sie verstand ihn nicht. „Warm“, sagte sie und deutete auf das Blatt. „Naverba.“ Damit deutete sie dasselbe mit der Wunde nochmal. Sie lächelte, als hätte sie bemerkt, dass er nun verstanden hatte. Im Anschluss drängte sie zur Eile.

Bevor er ins Meer sprang, steckte er sich die drei Blätter unter sein Shirt. Sie waren zu dünn, um sie beim Schwimmen nicht möglicherweise zu verreißen. Auf halber Strecke im Wasser kam ihm plötzlich der Gedanke, das Georgia ja nicht schwimmen konnte. Nicht in diesem Zustand und auch nicht ohne Augenlicht.

Mehr oder weniger freiwillig ging er unter Wasser. Schnell musste er wieder auftauchen, um Luft zu holen. Danach ging er wieder unter.

Nicht wirklich konnte er etwas sehen. Es musste aber gehen! Schnell tauchte er erneut auf, um Luft zu holen. Dabei schluckte er jedoch jede Menge Wasser.

Panik machte sich breit und er ging wieder unter. Doch diesmal packte ihn Jemand und zog ihn wieder an die Oberfläche zurück.

Dieser Jemand zog ihn bis zum Schiff. „Zieh ihn hoch“, befahl Valentin seinem Bruder. Kaum darauf wurde er auch schon an Bord gezogen. Valentin sprang selbst neben ihn. „Gehts?“ „Sie ist Tod.“ „Vincent hat sie hergeschleppt. Sie hat Herzschlag und Atmung.“

„Aber?“ Im Zeitlupentempo stand er auf und ging zu Georgia. Diese lag in einem Handtuch eingewickelt am Boden. Obwohl ihre Augen geschlossen waren, meinte er leichte Bewegungen zu erkennen. Unsicher, ob sie vielleicht doch nur benommen war, strich er ihr leicht über die Wange. Die gewünschte Reaktion folgte aber nicht.

„Du schaffst das“, nuschelte er. Währenddessen näherte sich Vincent an. „Ich hab ihr zwei Handtücher gegeben. Das Wasser war ziemlich kalt. Du kannst meins haben.“ Er lehnte das Angebot ab, da er es offensichtlich dringender benötigte.

„Passt du auf sie auf?“ „Kann ich machen.“ Er setzte sich wieder zu ihr. „Wenn es dich nicht stört.“ „Es stört mich nicht und danke.“ Heiko stand wieder auf und lief davon.

Sein Ziel war die Brücke, auf der er recht abwesend das Funkgerät benutzte. „Leute.“ Seiner Stimme fehlte jegliche Emotion. In der Übertragung krachte es, ehe drei Stimmen gleichzeitig fragten: „Geht es euch gut?“

„Wir haben sie gefunden.“ Während er das sagte, zog er die Blätter hervor. „Brauchst du das noch?“, fragte er den Kapitän im Bezug auf eine Tüte und dem Wasserkocher. Ein ''Lass mich in Ruhe'' Brummen deutete er als ja.

„Gehts ihr gut?“, fragte die Stimme seiner Mutter durch das Funkgerät. „Nicht wirklich. Sie ist bewusstlos.“ „Atmet sie?“ „Sie ist bewusstlos nicht Tod.“

Der Vater der Teves gelangte an das Gerät. „Sag uns einfach, wo ihr seid.“ Direkt danach wurde die Mutter der Zwillinge hörbar. „Wie geht’s Valentins Bein? Ist es schlimmer geworden?“ Da Heiko ins Schweigen verfallen war, knurrte der Kapitän ins Funkgerät: „Rufen sie einen verflixten Heli und du verschwindest!“ Darauf reagierte er wieder.

Bei ihnen angekommen setzte er sich. Eins der drei Blätter stopfte er in die Tüte und übergoss es dann mit dem lauwarmen Wasser. Nach kurzer Zeit nahm er es heraus und verteilte es über die zahlreichen Wunden von Georgia. Vincent deckte sie danach wieder schleunigst zu.

„Mehr nicht.“ Heiko hatte bereits ein zweites Blatt in die Tüte gedrückt. „Sie hat noch Wunden.“ „Du überdosierst sie. Von dem Zeug kann man leicht zu viel nehmen.“

Valentin setzte sich zu ihm. „Man kann von dieser Pflanze nur die großen Blätter zur Schmerzstillung und Desinfektion nehmen. Der Rest ist giftig, um es kurz zu halten.“ „Hilft ihr das jetzt?“ Beide nickten. „Wir müssen sie einfach im Auge behalten.“

Das umsonst angewärmte Blatt testete Valentin an seinem leicht geschwollenen Bein. Nach zwei Minuten etwa nahm er es wieder runter. Es war abgeschwollen und scheinbar auch schmerzfrei. Ohne zu humpeln konnte er hin und herlaufen.

„Na, wenn das mal für immer so wäre“, strahlt er zufrieden und setzte sich zwischen Vincent und Georgia wieder hin. „Dann lass mal sehen“, murmelte er, während er das Blatt von ihrer Schnittwunde herunternahm.

Seinem Bruder wurde schlecht davon. Zumindest suchte er schnell das Weite. Etwas blasser und mit Verbandsmaterial kam er wieder. Valentin verband damit die meisten Wunden.

„Sie schafft das schon. In vier Minuten müsste uns ein Heli erreichen.“ Heiko blieb still. „Denkst du an den Häuptling?“ Vincent nahm sein Handtuch herunter und hängte es ihm um, ehe er auf der anderen Seite von ihm platz nahm.

„Kann schon sein, dass sie dort ein beschissenes Leben hatte.“ „Was meinst du?“ „Na ja so wie der Häuptling sie angesehen hat.“ „Er gibt ihr vermutlich die Schuld am Tod seiner Frau.“ Das, was er sagte, glaubte er selbst nicht.

Exakt die Zeitangabe, die Valentin getroffen hatte, tauchte ein Helikopter auf. Die drei Jungs blieben an Bord, während sie nun den schnellsten Weg zum Krankenhaus antrat.

Am Hafen wurden sie sofort von ihren Eltern überfallen. Keiner von ihnen fand das so wirklich cool. Heiko hatte natürlich nur Georgia im Kopf.

„Sie ist in die besten Hände gekommen, die wir finden konnten. Scheinst ja deine Seeuntauglichkeit verloren zu haben, hmh.“ Sein Vater verkniff sich, ihm auf die Schultern zu hauen. „Kein Stück“, knurrte er und entfernte sich.

„Wir haben fürs Erste ein Häuschen in der Sagergasse 14 genommen. Du kannst jederzeit vorbei kommen.“ „Erstmal nicht. Danke.“ Seine Mutter wirkte enttäuscht.

„Ich weiß einfach nicht, ob ihr mit drin hängt. Kann man Georgia besuchen?“ Die Mutter der Teves bot den Eltern an, ihren Sohn zum Krankenhaus zu fahren. Sie stimmten niedergeschlagen zu.

Tagelang setzte sich Heiko immer wieder an ihr Bett. Die Ärzte hatten gesagt, sie sei außer Lebensgefahr. Doch irgendwie wollte er das nicht glauben. Sie hatte zwei Operationen hinter sich und lag noch immer im Koma, zumindest in seinen Augen.

„Immer noch nicht wach?“, fragte er und ließ sich seufzend auf einen Stuhl fallen. „Ich hab rausgefunden, dass du heute neunzehn wirst. Ich darf dir ja eigentlich nicht schenken aber an deinen Geburtstag machen wir ja wohl eine Ausnahme.“ Er legte ihr ein kleines verpacktes Geschenk in die Hände.

„Du musst natürlich aufwachen, um zu wissen, was das ist.“ Es regte sich nicht. „Na ja, wäre auch zu einfach gewesen“, murmelte er und setzte sich wie immer an den kleinen Tisch und machte seine Schulaufgaben.

Bei seinem dritten Buch kam Christin rein. „Na? Alles klar bei euch?“ „Noch tut sich nichts. Dein Schuh ist auf. Willst du hinfallen, Kauz?“ Da sie sich so schlecht bücken konnte, half er ihr Mal eben.

„Sag mal, wie konntest du herausfinden, wie alt sie ist?“ „Kontakte. Einfach nur Kontakte und Langeweile. Ich hab sogar dafür gesorgt, dass ihr Käufer und Verkäufer gefunden werden konnten.“ „Echt?“ „Japp. Ich hab um die halbe Welt telefoniert. Ich glaube, ihr Beiden schuldet mir was.“ „Alles außer Sklavenarbeit.“

Nach seiner Hilfe setzte er sich auf seinen Stuhl zurück. „Hey, da ist doch noch was“, stellte er fest. „Nö, was meinst du?“ „Komm schon. Ich kenn dich lang genug.“ „Also gut. Ich hab raus gefunden, warum Georgia oder Naverba unsere Sprache so gut spricht.“

„Sie war siebzehn oder?“ „Fast. Siebzehn war ihre Mutter. Als sie Dreizehn wurde, haben sie es geschafft zu fliehen.“

„Schlag jeden, der versucht dich festzuhalten“, erklang noch ziemlich schwach Georgias Stimme. „Hey. Du bist endlich wach.“ „Nenn mir einen Grund, warum ich dich verschonen sollte.“ „Du bist noch nicht mal richtig wach. Christin, bleibst du bitte bei ihr? Ich hol einen Arzt.“ „Es gibt Knöpfe.“ In seiner Eile bekam er das gar nicht mehr mit.

„Hockwoums hat dich echt gern.“ „Leider. Naverba ist nicht so … naja mein Name bedeutet Unheil.“ „Echt? Und Sawoha?“ „Sonnenschein.“ „Mach dir mal kein Kopf wegen dem Unheil. Schließlich hast du so Hockwoums und Valentin geholfen.“ „Davon weiß ich aber nichts.“

„Zu Weißenstein stinkt es ganz schön, dass sie ihn nicht mehr verletzen kann. Und Heiko ... na ja ... seine Vergangenheit scheint an deiner Anwesenheit zu verschwinden.“ „Das klingt seltsam.“

„Darf man fragen, was Sawoha für dich war?“ „Eine Person, die ich beschützen sollte. In euerer Welt wäre ich wohl so etwas wie eine Leibwächterin oder Späher.“ „Na dann pass mir mal gut auf Hockwoum auf.“ „Wie meinst du das?"

Nach ein paar Tagen der Beobachtung legte ihr Heiko ein Stapel an Unterlagen vor. "Bist du einverstanden?", fragte er, ohne irgendwelche Informationen.

Autorennotiz

Diese Geschichte entstand über ein ganzes Jahr. Von Herbst zu Herbst :)
Das Herbstmädchen ist inspiriert von einem Buch in dem ein Mädchen böse Mächte bekämpft. Eine Vision führt sie zu einem Jungen (der glaub ich so alt wie Hockwoum war) Er fährt sie versehentlich an und fühlt sich so schuldig das er sich um sie kümmert.

Titelbild ist von pexels.com Fotograf: Matheus Bertelli

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suedeheads Profilbild
suedehead Am 24.12.2018 um 19:48 Uhr
Kleiner Tipp: Absätze. Kein Mensch liest so eine Wall of Text.
RhodaSchwarzhaars Profilbild
RhodaSchwarzhaar (Autor)Am 27.12.2018 um 23:32 Uhr
Danke für deinen Tipp. Ich werde vermutlich mal drüber schauen und Absätze einfügen.

Autor

RhodaSchwarzhaars Profilbild RhodaSchwarzhaar

Bewertung

Eine Bewertung

Statistik

Kapitel: 2
Sätze: 2.657
Wörter: 21.361
Zeichen: 123.172

Kurzbeschreibung

Eigentlich wollte er nur wissen, wer dieses Mädchen ist, das sich jeden Herbst unter den Baum stellt. Die eigene Vergangenheit jedoch zwingt ihn mehr zu tun als ihm lieb ist.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Angst auch in den Genres Entwicklung, Freundschaft, Schmerz & Trost, Familie gelistet.

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