Die Austern und der Zimmermann

Kurzbeschreibung:
Die Geschichte war ein Wettbewerbsbeitrag und unterlag einigen Vorgaben, die jetzt im Nachhinein hoffentlich den Lesefluss nicht beeinträchtigen.

(Und die Sache mit Alice im Wunderland müsst ihr selbst herausfinden...)

Am 17.1.2017 um 18:37 von suedehead auf StoryHub veröffentlicht

Die Spezialität der Strandbar „Zum fröhlichen Walross“ stellten die fangfrischen Austern dar. Wegen der saftigen Muscheln pilgerten die Touristen meilenweit zu der kleinen, schäbigen Kaschemme und nahmen sowohl lange Wartezeiten, als auch unverschämte Preise in Kauf.

Auch Stanley hatte von der vorzüglichen Qualität der Austern im „fröhlichen Walross“ gehört und in seiner Eigenschaft als Gourmet wollte er es sich nicht nehmen lassen, sich selbst von der sagenumwobenen Bar und ihrem Ambiente überzeugen zu lassen. Der erste Eindruck hingegen war ernüchternd. Die Strandbar stellte sich als schäbiger Bretterverschlag dar, den ein Mann mit etwas Geschick allein in zwei Tagen zusammen hätte zimmern können. Wie Stanley später in der Informationsbroschüre seines Hotels nachlas, hatte er mit diesem Eindruck ziemlich genau ins Schwarze getroffen, denn der Inhaber der Bar war offensichtlich ein pensionierter Zimmermann.

Muss wohl seine Rente aufbessern, dachte Stanley. Vielleicht ist er aber auch ein Aussteiger, der genug von Splittern in den Fingern hat.

Als er dem Barkeeper jedoch ohne dieses Hintergrundwissen erstmals gegenübertrat, fand Stanley, dass er es hier mit einem Geisteskranken zu tun haben musste. Der Mann musste mindestens 75 Jahre alt sein und die Röte in seinem Gesicht gab subtile Hinweise auf bedenkliche Blutdruckwerte. Haare und Bart trug er betont ungepflegt. Stanley bemerkte, dass die Ungepflegtheit betont werden sollte, weil sich der Mann trotz allen Desinteresses einen Kamm zu benutzen oder einen Friseur aufzusuchen, bunte Perlen und Bänder in Kopf- und Barthaar geflochten hatte. Seine Kleider waren ursprünglich einmal farbenfroh gewesen, jetzt aber schmutzig und ausgebleicht. Er trug ein Stirnband, um sich die fettigen, grauen Strähnen aus dem Gesicht zu halten, während er mit den Austern hantierte, die ihn zu einer kleinen Berühmtheit gemacht hatten. Ihm fehlten einige Zähne, fiel Stanley auf, als er seinen Blick länger auf die Gestalt hinter dem Tresen geheftet hatte. Und die, die noch übrig sind, sehen nicht sehr gesund aus…

Stanley erwischte sich dabei, wie er sich ein wenig vor dem Barkeeper ekelte, der im Begriff war, ihm sein Abendessen zu kredenzen. Einem solchen Mann vertraue ich mein Wohlbefinden an? Er hatte wirklich vor, in dieser Bruchbude Meeresfrüchte zu sich zu nehmen, ohne zu wissen, ob das Zeug hier überhaupt ordentlich gelagert und gekühlt wird? Stanley zögerte, wollte die Strandbar wieder verlassen, wagte es schließlich aber doch nicht, denn er hatte schon bestellt und der Blick dieses Alt-Hippies hatte ihn auf eine Art und Weise gemustert, die befürchten ließ, dass jeder Zechpreller bis ans Ende der Welt verfolgt werden würde.

 

Es gab keine Tische in der Bar, alles spielte sich um die Theke und um den verstörend präsenten Barkeeper ab. Von außen musste dieses Arrangement so aussehen, als hätte ein Guru seine Gemeinde zum Gebet um sich versammelt. Und in der Mitte einer demütigen Pilgermasse stand glänzend in einer Aura aus Frittierfett und Alkoholdunst der mêtre de cuisine.

Zu den Austern gab es auf Wunsch Pommes Frites und Bier oder welken Salat in höchst verdächtiger Essigsauce, lieblos arrangiert auf einem lustlos gereinigten Teller.

Stanley hatte nur die Austern bestellt, denn mit dem Rest der Speisekarte konnte er sich nicht anfreunden. Außerdem war er schließlich auf eine kulinarische Pilgerreise gegangen und auf dieser wollte er sich nicht mit matschigen Kartoffelstäbchen den Magen voll schlagen, wenngleich er den Austern in dieser Kaschemme ebenfalls eher misstraute…

„Lassen Sie sich nicht von der Erscheinung täuschen!“, hatte man ihm geraten und Stanley erinnerte sich daran, als er vorsichtig seine erste Auster probierte. Dabei nahm er sich fest vor, dem Barkeeper vor die Finger zu spucken, wenn er auch nur den leisesten Zweifel an der Frische der Ware verspüren sollte.

Doch die Bekehrung setzte unverzüglich ein. Zweifel? Wie hatte er jemals daran denken können, einem Zweifel anheim fallen zu können? Gleich die erste Auster, die er an seinem Gaumen spürte, ließ sein Gourmet-Herz vor Erregung einen Schlag lang aussetzen. Das war eine Auster, wie er sie noch nie zuvor vorgesetzt bekommen hatte. Mit einem Schlag hatte er das Gefühl, sich in all den Jahren seiner bisherigen Existenz nur von Abfall ernährt zu haben. Er fühlte sich wie ein Blinder, der zum ersten Mal in seinem Leben vom Sonnenlicht geblendet wird, ein lebendig begrabener Mensch, der sich zurück an die Erdoberfläche gräbt, ein Fisch, der es schafft, von einer Sandbank zurück ins Wasser zu hüpfen. Diese Auster war pure Perfektion. Sie schmeckte nach Sonne und Meer und Salz und Sommer und Kindheit und Urlaub an der Küste. Es war der Geschmack eines gelungenen, vollendeten Lebens. Der Geschmack von Zufriedenheit.

Stanley musste sofort noch eine Auster probieren. Gierig schlürfte er sie aus der Schale und sackte in sich zusammen vor Genugtuung und Verzückung. Nie zuvor hatte er so etwas geschmeckt. Das war keine einfache Auster. Das war pure Entrückung. Stanley war sich nicht sicher, ob er jemals wieder etwas anderes seine Kehle herunter bringen würde. Das hier war mehr als eine Mahlzeit!

 

„Woher beziehen Sie diese Austern?“, fragte Stanley den Barkeeper, als er seinen Teller geleert hatte und befürchtete, soeben in eine schlimme Abhängigkeit geraten zu sein.

„Sie kommen zu mir. Ich muss sie nur überreden.“, sagte der Mann hinter den Theke. Er nahm Stanleys Teller fort und wischte mit einem Spültuch fahrig, wie beiläufig über die Stelle, auf der derselbe gestanden hatte.

Stanley erholte sich langsam von seinem Geschmackserlebnis, das ihm beinahe den Verstand geraubt hatte und dachte nun: Auch noch ein Komiker! Überredet die Austern…

„Ich gehe zu den Sandbänken und rede mit den Muscheln. Diejenigen, die mitgehen wollen, nehme ich mit.“, erklärte der Barkeeper in einem Tonfall, der verriet, dass er das Gesagte selbst vollkommen ernst nahm und als ebenso normal betrachtete.

Stanley war bereit, das Spielchen mitzuspielen. Mit einem etwas verschmitzten Lächeln fragte er: „Und die gehen einfach mit Ihnen mit, obwohl noch keine der Austern jemals von einem Ausflug mit Ihnen zurückgekehrt ist?“

„Sie glauben, dass der Ort, wo ich sie hinbringe, so schön ist, dass keine mehr zurückwill.“, erwiderte der Barkeeper und zeigte ein erschreckend freundliches und zahnloses Lächeln.

„Aber das ist Betrug!“, fast hätte Stanley sich tatsächlich darüber ereifert, doch dann erinnerte er sich wieder, dass es nur um Austern ging – und um eine Geschichte, die unmöglich wahr sein konnte.

„Nein, es ist Überredungskunst.“, sagte der Barkeeper, „Oder können Sie beweisen, dass der Ort, an dem sich diese Austern jetzt befinden nicht wesentlich besser ist, als der, an dem ich sie aufgegabelt habe?“

„Aber sie sind tot!“, sagte Stanley.

„Oh, Sie glauben doch nicht im Ernst an den Tod?“, fragte der Barkeeper sanft, aber ironisch.

Stanley bemerkte nun den Schmuck, den der alte, absonderliche Mann trug. Um seinen Hals hingen bunte Holzperlenketten und Amulette, die bei jeder Bewegung leise klapperten. Stanley entdeckte alle möglichen Symbole, die womöglich Glück, geistige Stärke, Frieden bringen und den Bösen Blick, Krankheiten und Unheil abhalten sollten. Darunter waren auch ein Kreuz, eine Buddha-Miniatur und ein Yin-und-Yang-Symbol. An den Fingern trug der Mann Ringe mit Blumenornamenten und billigen Edelsteinimitationen. All dies machte den Eindruck, dass es eine „Bedeutung“ hatte, oder haben sollte und Stanley fühlte sich in seinem Eindruck bestätigt, hier einen Irren vor sich zu haben.

„An den Tod glauben?“, fragte Stanley, „Wie kann man nicht daran glauben? Der Tod ist eine Tatsache.“

„Erzählen Sie das nur nicht den Austern.“, erwiderte der Barkeeper mit einem fast frechen Grinsen, das jedoch nicht gemein, sondern gewinnend gemeint war. Mit einem Mund ohne Zähne gelang das nur nicht so gut…

„Glauben Sie denn nicht an den Tod?“, wollte Stanley wissen. Er fragte sich, ob der Alte die Austern mit Absicht belog oder einfach nur wider besseren Wissens ins Verderben schickte. Und da fiel ihm auf, dass er sich auf die seltsame Geschichte des Barkeepers eingelassen hatte, ohne es zu merken. Na schön, dachte er, dann spiele ich mal mit.

Der Alte schien einigermaßen verwirrt, als er sich zuerst in seiner Bar umsah und dann seine eigene Aufmachung musterte. Nach einer Weile kam er zu dem Schluss: „Nein, ich glaube nicht, dass ich an den Tod glaube. Heute nicht.“

„Aber…“, begann Stanley, überlegte es sich dann aber anders und fragte schließlich, „Aber sie glauben doch sicher an irgendetwas?“ Er fügte gedanklich hinzu: So wie Sie aussehen.

„Oh, natürlich.“, sagte der Barkeeper versöhnlich. „Ich glaube an so gut wie alles, wenn es gut ist.“

„Gut?“, fragte Stanley, „Das ist alles?“. Er hatte erwartet, dass der Alte ihm sagten würde, dass er alles glaubte, das Sinn machte oder logisch und überzeugend war oder Tradition oder eine Verkündigung hatte. Die meisten Gläubigen argumentieren vordergründig auf dieser Schiene. Sie wollten, dass ihr Glaube wissenschaftlich belegbar wirkte – oder zumindest weniger abwegig als die nüchterne Realität.

„Es wäre doch Unfug an Dinge zu glauben, die schlecht sind, oder?“, fragte der Alte.

„Aber es gibt doch Dinge, die schlecht sind.“, antwortete Stanley schnell.

„Wirklich? Ist es nicht eher so, dass die Dinge nur dann schlecht sind, wenn Sie ihnen diese Wertung geben?“

Stanley dachte nach und kam zu dem Schluss, dass er das Thema wechseln wollte: „Glauben Sie denn an Gott?“

„Hmm…“, der Mann dachte nach. Er dachte sogar recht lange nach und kam schließlich zu dem Schluss: „In gewisser Weise… Ja, ich glaube an Gott.“

Der Kerl ist völlig durchgeknallt, dachte Stanley und wollte aufstehen, sich verabschieden und niemals wieder kommen. Selbst, wenn das bedeuten würde, dass er nie wieder etwas vergleichbares essen würde. Selbst, wenn er nun verhungern würde.

 

Es dauerte eine Weile, bis der Barkeeper sich wieder Stanley zuwandte. In der Zwischenzeit mussten Austern serviert, Bierflaschen geöffnet, andere Gäste verabschiedet oder begrüßt werden. Stanley konnte sich jedoch nicht von seinem Platz lösen. Fast kam es ihm vor, als hielt ihn etwas fest auf seinem Platz, als klebte er auf seinem Barhocker. Es interessierte ihn, was dieser zerzauste, alte Kauz noch zu sagen hatte und wie er sich dabei um Kopf und Kragen faseln würde.

Um wieder mit ihm ins Gespräch zu kommen, bestellte Stanley ein Bier, obwohl er diesem Getränk, das er dem kulturlosen Proletariat zuschrieb, eigentlich gar nicht zusprach. Er nippte verlegen an der schmierigen Flasche und fragte den Barkeeper schnell genug, bevor er sich abwenden konnte: „Die Austern, die Sie verführen, die Sie belügen und die Sie ihrem sicheren Tod zuführen, glauben die an Gott?“.

„Sie glauben an mich.“, lautete die Antwort.

Stanley lächelte. Das war die Allegorie, die er gebraucht hatte, um sich in seinem Atheismus bestätigt zu fühlen. Er hatte Dinge wie Glaube und Hoffnung immer für schwammig, wenn nicht sogar gefährlich und irreführend erachtet. Er fragte den Barkeeper daraufhin: „Haben Sie keine Angst, dass Ihr Gott Sie auf ähnliche Weise reinlegt?“

Stanley glaubte, Oberwasser zu gewinnen und er hatte das Gefühl, diesen kleinen Sieg zu brauchen.

„Ich glaube nicht, dass es etwas schlechtes ist.“, sagte der Barkeeper.

„Reingelegt zu werden, soll nichts schlechtes sein?“, rief Stanley sofort und lachte verächtlich.

„Sehen Sie denn nicht, dass nach Ihren Maßstäben schlichtweg alles als Betrug gewertet werden kann?“

Stanley schwieg, er machte nicht den Fehler, sich in seiner Selbstzufriedenheit zu sonnen, doch er konnte sich dennoch nicht vorstellen, wie man ihm und seinen Fragen und deren Hintergedanken entgegentreten konnte, ohne sich lächerlich zu machen. Er versuchte, den Barkeeper bloßzustellen, weil er das brauchte.

„Was ich meine, ist…“, begann der Alte mit einem süffisanten Grinsen, „… dass Sie es nicht ertragen würden. Wenn sie Gott gegenüberstünden, würden Sie ihn immer noch leugnen, nur weil Sie Ihre eigene, kleine Weltsicht nicht ändern wollen, weil Sie Angst davor haben, erkennen zu müssen, Ihr ganzes Leben lang falsch gelegen zu haben. Deshalb leugnen Sie alles, was Sie nicht sehen wollen, weil es nicht in Ihr Bild passt. Selbstbetrug ist das, mein Lieber. Reinster Selbstbetrug. Und wenn Sie mich fragen, ist das auch nicht besser als sich betrügen zu lassen oder andere zu betrügen.“

„Das sind doch Spekulationen.“, erwiderte Stanley säuerlich. Er mochte es nicht, wenn man ihm Dinge unterstellte und er mochte es noch weniger, wenn diese Unterstellungen so nahe an der Realität waren wie diese. War er so durchschaubar in seinen Ansichten?

„Wahrscheinlich sind es Spekulationen.“, gab der Alte zu, „Aber Sie müssen zugeben, dass dieser verbissene Lebensstil recht anstrengend ist. So viel, das Sie ignorieren müssen. So viel, das Sie erklären müssen, ohne es einfach so genießen zu können.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Stanley.

Der Barkeeper blinzelte: „Sie haben hier heute Abend etwas erlebt, das Sie nicht erklären können, nicht wahr? Deshalb sind Sie noch hier. Um sich selbst zu erklären, dass das, was Sie vorhin geschmeckt haben, nur eine Illusion, eine Einbildung, ein Trugbild war. Aber das war es nicht.“

„Aber…“, stotterte Stanley.

„Nein. Trauen Sie Ihren Sinnen. Trauen Sie Ihren Vorstellungen und Ihren Schlussfolgerungen. Was Sie glauben wollen ist in den meisten Fällen sehr viel besser als das, was Sie sich selbst zu glauben erlauben. Und eine Sicherheitsgarantie gibt es weder für das eine noch für das andere.“

„Wie haben Sie das mit den Austern gemacht?“, wollte Stanley plötzlich wissen. Er war sauer, fühlte sich mit einem Mal auf den Arm genommen.

Der Alte gab ihm als Antwort nur einen geheimnisvollen Blick, der wohl sein Argument bekräftigen sollte, dass nichts auf dieser Welt endgültig verstanden werden konnte.

„Sie behaupten also, es gäbe keine Wahrheit.“, begann Stanley. „Sie behaupten es. Wahrscheinlich glauben Sie es sogar. Aber Glauben bedeutet nicht Wissen. Vielleicht glauben Sie ja, dass es so etwas wie Wissen nicht gibt, sondern alles, was wir als solches bezeichnen in Wirklichkeit eine Form des Glaubens ist, aber da machen Sie es sich sehr leicht.“

„Es ist vielleicht nicht die Art und Weise, wie die Welt geschaffen ist.“, gab der Alte zu, „Aber es ist die Art und Weise, wie der Mensch geschaffen ist. Wir sind gefangen in unseren Sinnen. Wir sind Ihnen ausgeliefert und wenn sie uns betrügen, dann werden wir es nie erfahren. Wir müssen ihnen glauben. Wir müssen alles glauben.“

„Mir erscheint die Logik sehr viel glaubwürdiger.“, schloss Stanley etwas säuerlich. Der alte Mann hinter dem Tresen wirkte zunehmend abstoßend auf ihn. Er war schmutzig, ungepflegt, hässlich und ganz offensichtlich wirr im Kopf. Man sollte solchen Menschen keine Plattform für ihre abstrusen Ideen geben, dachte Stanley. Mit solchen Leuten fing es immer an. Sie verführten andere Leute mit Versprechungen und wundervollen Geschichten, von denen sich am Ende keine als wahr erweist. So arbeiteten Religionen seit Jahrtausenden: Mit Angst und Hoffnung und Lügen. Tatsache ist aber, dass sie es auch nicht besser wissen – ja, dass sie sogar absichtlich leugneten, dass…

„Ihr Groll gegen die von Ihnen als „Religionen“ bezeichneten Gruppierungen ist gerechtfertigt.“, sprach der Alte plötzlich mitten in Stanleys Gedankenstrom hinein.

Dieser erschrak: „Woher wissen Sie, was ich gerade gedacht habe?“, fragte er mit weit aufgerissenen Augen und sich unwillkürlich zur Flucht bereit machend. Das hier war ihm nicht geheuer. Das hier durfte einfach nicht wahr sein… Das hier war ein Alptraum. Man hatte ihn in ein Pfefferkuchenhaus gelockt, wo ein Hexer nur darauf wartete, seine Seele zu durchleuchten. Seine Seele, deren Existenz er bis eben geleugnet hätte. Jetzt hatte er Angst um sie.

Der Alte aber zuckte nur gelangweilt mit den Schultern, als wollte er sagen, dass das Gedankenlesen eine seiner leichtesten Übungen sei.

Er macht das mit den Austern und er macht das mit den Menschen! Stanleys Gedanken rasten. Panik trieb sie an. Die Furcht saß ihm wie ein Kloß im Hals. Oder waren es die Austern, die sich ihren Weg zurück nach draußen bahnten? Er macht etwas mit ihnen, dachte er noch einmal. Und das gleiche… ganz genau das gleiche macht er auch mit den Menschen! Er lockt sie zu sich und dann… Irgendetwas schreckliches wird passieren!

Stanley hustete. Er vertrug das Bier nicht. Hatte er Wahnvorstellungen? Wie sollte er denken, wenn er seinen Gedanken nicht trauen konnte? Wie sollte er rennen, wenn er weder seine Beine noch seine Augen unter Kontrolle hatte?

„Sie haben nichts unter Kontrolle.“, bestätigte der Barkeeper lächelnd. „Sie haben noch nie etwas unter Kontrolle gehabt.“

Ein erbärmliches Keuchen, war das einzige, was Stanley von sich geben konnte: „Aber Sie… Sie kontrollieren die Austern!“

„Nur diejenigen, die das gerne möchten.“, präzisierte der Alte, „Sie müssen sich von der Vorstellung trennen, dass es etwas schlechtes ist, jemandem zu vertrauen.“

„Es ist etwas schlechtes, jemandem zu trauen, der einen ins Verderben führt!“, rief Stanley etwas zu laut und ein paar der anderen Gäste wurden auf ihn aufmerksam.

„Wie meinen Sie das?“, fragte eine Frau im mittleren Alter, die gekleidet war, als hätte sie von dieser Bar ebenfalls ein gehobeneres Ambiente erwartet.

„Dieser Mann führt all diese Austern ins Verderben!“, erklärte Stanley und erkannte erst, nachdem er es ausgesprochen hatte, wie dämlich das in einem Austernrestaurant klang.

Die Frau lächelte verständnislos: „Welches andere Schicksal kann sich eine Auster denn erhoffen? Früher oder später werden sie alle gefressen.“

Stanley wurde schlecht.

„Das Schicksal jedes einzelnen Lebewesen endet tragisch.“, erklärte der Barkeeper, „Sie müssen sich davon lösen, diese Tatsache bewerten zu wollen.“

„Ich soll…“, Stanley war sich nicht sicher, ob er den letzten Satz richtig verstanden hatte. Er schluckte seine Übelkeit herunter und wiederholte: „Ich soll… Wir sollen… Alle sollen einfach alles akzeptieren? Einfach alles hinnehmen? Mit stoische Gelassenheit zusehen? Das ist Ihre Philosophie?“

„Sie sollten aufhören, die Entscheidungen anderer zu kritisieren. Sie sollten auch aufhören anderen diese Entscheidungen abnehmen zu wollen.“, sagte die Frau ein klein wenig vorwurfsvoll.

Stanley erkannte, dass er es hier mit einer bedingungslosen Gläubigen zu tun hatte und er fragte sich, wie viele unschuldige, fehlgeleitetet Austern sie schon auf dem Gewissen hatte.

„Ich will Ihnen etwas erzählen.“, begann die Frau etwas versöhnlicher, „Als ich zum ersten Mal hierher kam und meine erste Auster schlürfte, glaubte ich mich zurück versetzt in meine Kindheit. An einen Ort und in eine Zeit, in der ich bedingungslos glücklich gewesen bin. Es ist mit rationalen Argumenten nicht zu erklären, wie das funktioniert, aber ich glaube, dass es die Austern sind, die uns ihr Glück schenken. Sie sind uns nicht böse. Sie gehen freiwillig und ohne Furcht und ich glaube, so sollten auch wir gehen. Ohne Furcht, ohne Hass, aber so, dass anderen etwas von uns in Erinnerung bleibt. Etwas gutes.“

„Freiwillig zu gehen.“, sagte Stanley stur, „Das hört sich für mich nach Massenselbstmord an.“

„Aber nein.“, sagte die Frau sofort, „Das Akzeptieren des eigenen Schicksals hat nichts mit Selbstmord zu tun, sondern mit Realismus. Opfer zu bringen, gehört zum Leben. Aber wir sollten uns etwas gutem opfern. Wir sollten freundlich und freundschaftlich handeln, nicht egoistisch. Freundschaft ist vielleicht der größte und wichtigste Wert, den wir haben. Freundschaft und Freundlichkeit.“

„Ich dachte immer, es sei die Liebe, die von Leuten wie Ihnen als Worthülse missbraucht wird.“, erwiderte Stanley sarkastisch.

„Freundschaft geht mit Rücksicht einher, mit Einfühlungsvermögen und Rationalismus. Die Liebe dagegen ist oft ungestüm und grausam. Denken Sie an Helena von Troja.“, warf der Barkeeper ein, „Was meine kleine Bar und die Austern versuchen den Gästen zu vermitteln ist nicht, dass sie sich sinnlos, fraglos und vollständig ergeben sollen, sondern dass sie annehmen können, was gut ist und glauben, was ihnen Hoffnung gibt. Und sie sollen erkennen, dass sie nicht der Mittelpunkt des Universum sind, es aber trotzdem verdient haben, mit Freundlichkeit und Respekt behandelt zu werden, so wie auch sie andere mit Freundlichkeit und Respekt behandeln sollten. Sehen Sie, ich stelle einen Teller vor meine Gäste und ermutige sie darüber hinaus zu blicken. Was sehen Sie?“

Stanley wusste nicht, was er antworten sollte, also beließ er es bei der offensichtlichen Wahrheit: „Den Koch.“

 

Autorennotiz:
Die Geschichte war ein Wettbewerbsbeitrag und unterlag einigen Vorgaben, die jetzt im Nachhinein hoffentlich den Lesefluss nicht beeinträchtigen.

(Und die Sache mit Alice im Wunderland müsst ihr selbst herausfinden...)