Spaghettifresser

Kurzbeschreibung:
Das Original der Geschichte findet Ihr hier: erzaehlungen.moosecker-hassels.de/text/text_02_pdf.php?v=oeffentliche_adobe&d=spaghettifresser.pdf

Am 1.1.2019 um 19:22 von BerndMoosecker auf StoryHub veröffentlicht

Es ist passiert, wieder einmal; und diesmal war es wirklich lange gut gegangen – mehr als ein viertel Jahrhundert und es hat mir gutgetan, dass es so lange nicht mehr passiert ist. Was passiert ist? Nun absolut kein Drama, nur es ist wieder einmal passiert, ich wurde mitten im Rheinland als Ausländer identifiziert. Es ist im Laufe meines Lebens immer wieder einmal passiert. Dabei, wenn ich mich so im Spiegel betrachte, ich finde mich richtig deutsch aussehend. Und nicht nur das, ich spreche, wenn es dann sein muss Hochdeutsch, sonst Plattdeutsch – in der Variante Düsseldorfer Platt. Zu allem Überfluss kann ich auch noch Kölsch. Ich spreche diese Sprache nur gebrochen, aber ich verstehe sie ohne Schwierigkeiten. So saß ich also vor einiger Zeit im Wartezimmer einer Augenarztpraxis und wartete darauf, dass ich aufgerufen wurde. Es war viel Betrieb und ich versuchte mich durch aus dem Fenster gucken abzulenken, da die Zeitschriftenauswahl sich auf Müttergenesungshefte beschränkte. Immer wieder wurde einer der Wartenden aufgerufen und verschwand in einem der Behandlungsräume. Das Aufrufen war absolut nicht problemlos, da der Raum über eine einigermaßen schlechte Akustik verfügte und durch ein weit geöffnetes Fenster erheblicher Verkehrslärm in den Raum flutete. So wurden die Namen oft mehrmals gerufen, bis sich der Patient meldete. Nach einiger Zeit wurde nach einem Patienten gerufen, dessen Name von einigen Umlauten geprägt war. Ich habe den Namen nicht verstanden, nur die Umlaute haben sich bei mir eingeprägt. Mag der Name nun falsch ausgesprochen worden sei oder mag der Träger des Namens schwerhörig gewesen sein, der Patient meldete sich nicht. Die Assistentin trat daraufhin weiter in den Raum, rief noch einmal den Namen mit den Ö oder Ü Lauten. Wieder erhielt sie keine Antwort. Etwas hilflos ließ sie ihren Blick durch den Raum streifen, ich geriet in ihr Gesichtsfeld, sie hatte mich erkannt, mein Aussehen passte für ihre Lebenserfahrung wohl zu den Umlauten. Ihr Blick nahm einen strafenden Ausdruck an und sie kam auf mich zu. Zum Glück meldete sich in diesem Moment der Gesuchte – ich entging dem Strafgericht. Ich greife meiner Geschichte vor, das sollte ich nicht tun, ich fange lieber mit dem Anfang an und erzähle chronologisch.

Die ersten vierzehn meiner Lebensjahre verliefen unauffällig. Da, mangels Ausländern, ich meine hier Südeuropäer, keine Vergleiche gezogen werden konnten, war ich einfach nur ein Kind aus der Nachbarschaft. Das änderte sich, als ich in die Lehre kam. Obwohl noch vor der Zeit der Gastarbeiter, gab es bei meiner Lehrstelle einen Italiener, der auf der Baustelle für eine neue Werkhalle arbeitete. Solche Leute wurden damals mit der an die Nazizeit erinnernden Bezeichnung Fremdarbeiter belegt. Meinen Kollegen fielen gewisse Ähnlichkeiten zwischen dem Italiener und mir auf. Vielleicht war es meine etwas dunkle Hautfarbe oder mein dunkelbraunes Haar, das immer wirr meinen Kopf bedeckte. Auf jeden Fall hatte ich plötzlich einen Spitznamen – Negus. Mich störte das nicht, ich fand es lustig und lebte fortan mit diesem Namen. Dann kamen die Zeiten der Gastarbeiter und wir, in einem ländlichen Vorort der Stadt, aber im Schatten eines großen, weltweit bekannten Chemiewerks lebend, bekamen neue Nachbarn.

Entlang der Mauer des Werks standen einstöckige Ziegelbauten, die, solange ich zurückdenken konnte, leer standen und an deren ursprüngliche Nutzung sich niemand mehr erinnern konnte oder wollte. Plötzlich, quasi über Nacht, waren diese Gebäude bewohnt. Die neuen Nachbarn waren fast ausschließlich jüngere Männer, die fremd aussahen und die unsere Sprache weder sprachen, noch verstanden. Tagsüber arbeiteten die Männer im Chemiewerk, abends und am Wochenende saßen oder standen sie vor den Häusern und schlugen die Zeit tot. Die alteingesessenen Bewohner des Viertels betrachteten die Neuankömmlinge und deren Tun mit Argwohn. Sie trauten ihnen nicht über den Weg und obwohl niemand Umgang mit ihnen pflegte, galt es als allgemeine Wahrheit, dass es sich um arbeitsscheues Gesindel handele. Mein Leben im Viertel unterlag einer dramatischen Veränderung. Im direkten Umfeld fiel niemand etwas an mir auf, aber schon in der nächsten Straße wurde ich von misstrauischen Blicken verfolgt. Einen Reim darauf konnte ich mir nicht machen, bis, ja ich glaube, ich war auf dem Weg zum Bus, Kinder etwas hinter mir herriefen. Ich habe es nicht gleich verstanden, aber dann ging es mir auf – Spaghettifresser, Spaghettifresser. Ich war, noch keine sechzehn Jahre alt, tief verletzt. Die Zeit heilt vieles, ich lernte diese Attacken zu ignorieren. Nicht nur das. Irgendwann trat eine Art Gewöhnung an die neuen Anwohner ein und das Misstrauen war nicht mehr so offensichtlich. Mein Freundeskreis erweiterte sich um eine aus Griechenland stammende Roma-Familie, die in einer der behelfsmäßigen Hütten der Nachkriegszeit zur Untermiete wohnte. Solchen behelfsmäßigen Wohnraum gab es reichlich in der Umgebung. Die meisten dieser Häuschen standen inzwischen leer und Gastarbeiter, die ihre Familien nachholten, nutzten diese gerne. Den Eigentümern der Bruchbuden brachten die neuen Bewohner unerwartete Einnahmen; und das für Unterkünfte, die sie vorher höchsten noch als Geräteschuppen genutzt hatten.

Als junger Erwachsener zog ich in die Innenstadt, dort gab es damals schon so etwas wie eine offene Gesellschaft. Auf gleicher Straße wohnten Deutsche, Italiener, Spanier und Chinesen. Es gab fremdländische Restaurants und Bars, so fiel ich in dieser Gegend überhaupt nicht auf und ich genoss es all die Dinge, die junge Leute gerne tun, direkt vor der Haustür zu finden. Ich arbeitete zu dieser Zeit in einem metallverarbeitenden Betrieb. Dort gab es damals schon Kollegen etlicher Nationen, die in verschiedenen Wellen ankamen. Als ich dort eingestellt wurde, gab es einen einzigen ausländischen Kollegen, einen Italiener. Es folgten weitere Italiener, dann kamen Spanier, denen folgten Griechen und Jugoslawen. Zu der Zeit, als ich mich verliebte und heiratete, kamen die ersten Türken in den Betrieb.

Irgendwann, kurz bevor die Liebe über mich kam, erlitt ich einen kleinen Arbeitsunfall. Es war nichts Schlimmes, aber die Wunde an der Hand musste genäht werden. Auf der Unfallstation des nächsten Krankenhauses ging ich zur Anmeldung. Der Kollege, der mich dorthin gefahren hatte, begleitete mich. Die Frau hinter dem Tresen beachtete mich nicht weiter. Sie wandte sich an meinen Kollegen; und dann kam es, sie fragte meinen Kollegen – spricht der Deutsch? Ich antwortete ihr selbst in bestem Düsseldorfer Platt, das sie wohl nicht so richtig verstand. Ich hatte meine Genugtuung, sie war wohl zugewandert – aus einem anderen Teil Deutschlands. Der Kollege verbreitete den Vorfall genüsslich in der Firma. Ich bekam einen neuen Spitznamen – Ben Moosi. Der Name blieb an mir hängen und begleitete mich durch mehrere Arbeitsstellen, bis ich aus dem aktiven Arbeitsleben ausschied. Im Laufe der Jahre ging Ben verloren, es blieb Moosi.

Nach der Heirat zogen meine Frau und ich in eine, etwas abgelegen liegende Siedlung. Die Siedlung bestand aus einigen rechtwinklig zueinander verlaufenden Straßen, bestückt mit Ein- und Zweifamilien Häusern aus der Vor- und Nachkriegszeit. Die Siedlung grenzte unmittelbar an die Mauer des gleichen Chemiewerks, in dessen Nähe ich als Kind und Jugendlicher gelebt hatte. Obwohl die Gewöhnung an die Fremden weiter fortgeschritten war, fiel mir doch sofort wieder auf, dass sich die Nachbarn hier in der Vorstadt immer noch nicht so richtig an die Zuwanderer gewöhnt hatten. Den für mein Gefühl wirklich schlimmen Vorfall hatte mir meine Frau verschwiegen. Der Vorfall hatte sich bereits ereignet, als wir noch miteinander gingen. Meine spätere Frau stammte aus dieser Siedlung und stand, wie damals üblich, als ledige junge Frau unter der Überwachung der Nachbarn. Sie wurde von Nachbarn verdächtigt, mit einem Itaker zu gehen. Als sie es mir erzählte, wohnten wir schon lange nicht mehr in der Siedlung. Das war auch gut so, mangels Kontakten zu dieser Welt hatte ich auch kein Interesse mehr daran, jemand für diese Ungeheuerlichkeit zur Rede zu stellen.

Wir wohnten zu dieser Zeit in einer, der damals überall aus dem Boden schießenden Schlafstädte, weit von der Innenstadt entfernt. Es war eine sterile Wohnlandschaft, aber wir lebten nun in einer recht komfortablen Neubauwohnung. Das Umfeld war multikulturell. Wobei der deutsche Bevölkerungsanteil dominierte. Aber man lebte Tür an Tür, respektierte sich, pflegte nachbarschaftliche Kontakte und feierte sogar zusammen. Unsere Tochter wurde geboren, wir waren mächtig stolze Eltern. Das Kind hatte im Aussehen wenig Ähnlichkeit mit seiner hellhäutigen, hellblonden Mutter. Der dunkle Teint und die braunen Haare unserer Tochter waren, unverwechselbar, meinen Genen entsprungen. Unsere Tochter wuchs heran und kam in den Kindergarten. Sie war begeistert vom ihrem Kindergarten und alles sah rosig aus. Eines Tages jedoch kam die Tochter aus dem Kindergarten und verschwand in einem unbeobachteten Augenblick in der Küche. Als meine Frau in die Küche kam, traute sie ihren Augen nicht. Das Kind hatte eine angebrochene Tüte Mehl aus einem Schrank genommen und damit begonnen, sich mit Mehl einzureiben. Meine Frau reagierte irritiert, vielleicht auch ungehalten, da sich der Mehlstaub auf dem frisch geputzten Boden ausgebreitet hatte. Auf Nachfrage stellte sich heraus, dass Töchterchen sich eine hellere Haut wünschte, da andere Kinder sie wegen ihrer dunklen Hautfarbe gehänselt hatten. Die Tochter behielt ihre dunkle Haut, freundete sich mit ihrem Aussehen an und lernte Anspielungen zu ignorieren.

Danach ging es gut, wirklich, zwei Jahrzehnte lang. Der Vorfall, der dann folgte, löste bei mir und meiner Familie Heiterkeit aus. Ich war inzwischen zu einem europaweit tätigen Softwareentwickler mutiert. Flugreisen zu den verschiedensten europäischen Metropolen wurden für mich zur Routine und waren eine Selbstverständlichkeit. Aber der Rückflug eines Freitagabends von Barcelona nach Düsseldorf, der hat sich in mein Gedächtnis eingeprägt. Ich bestieg die Maschine einer bekannten deutschen Fluggesellschaft, ausgestattet mit dem Privileg, im Besitz eines Tickets für die Businessklasse zu sein. Noch vor dem Start wurden Zeitungen angeboten. Ich bat um die Rheinische Post, da ich mich eine Woche in Barcelona aufgehalten hatte, interessierte mich natürlich, was sich in dieser Woche daheim getan hatte. Die Flugbegleiterin setzte ein strahlendes Lächeln auf und sprach den entscheidenden Satz – mein Herr, wir haben auch spanische Zeitungen an Bord, möchten sie nicht lieber eine spanische Zeitung lesen. Ich reagierte verwirrt und ich brachte nur heraus, dass ich dieser Sprache nicht mächtig sei.

Danach war Ruhe, ich hatte die diversen Erlebnisse dieser Art fast verdrängt. Bis eben zu dem anfangs geschilderten Vorfall im Wartezimmer. Auch der Vorfall im Wartezimmer rangiert bei mir unter der Kategorie schöne Erinnerung. Es gibt lustigerweise auch Erlebnisse, dass ich für einen Inländer gehalten werde. Das spielt dann südlich einer Linie statt, die sich in der Mitte Frankreichs befindet. Auf dem Weg von Paris nach Bordeaux befindet sich die Linie ziemlich genau an der Loire in Höhe der Stadt Tours. Immer wieder kommt es vor, dass ich in der Landessprache angesprochen werde. Es kommt sowohl in Südfrankreich, als auch in Spanien oder Portugal vor, dass ich verwechselt werde. Und nicht nur dort, komme ich in einen der Stadtteile meiner Heimatstadt, die zum überwiegenden Teil von ehemaligen Gastarbeiterfamilien bewohnt werden, werde ich leicht verwechselt. Da werde ich schon einmal gefragt, ob ich den Weg zur Moschee weisen könne – ich kann das, ich kenne mich aus in meiner Stadt. Die Verständigung ist kein Problem, die verschiedenen Volksgruppen verständigen sich untereinander auf Deutsch und da keiner weiß, welcher dieser Gruppen ich entstammen könne, spricht man mich eben auf Deutsch an.

Ich will meiner Erzählung noch einen Vorfall anderer Art hinzufügen, der zeigt, dass als Ausländer erkannt zu werden, durchaus peinlich sein kann.

Wir waren mit dem Auto im Süden Portugals unterwegs. In einem dünn besiedelten Gebiet, an der Grenze zwischen Algarve und Alentejo. Zur Mittagszeit kamen wir zu einem, der für die Gegend typischen, einfachen Restaurants und beschlossen einzukehren. Der Gastraum war gut besucht und in einer Ecke plärrte der, in Portugal, unvermeidliche Fernsehapparat. Wir waren die einzigen fremdländischen Gäste, lasen uns mühsam durch die angebotene Speisekarte und bekamen ein wirklich schmackhaftes Essen serviert – eine Art Gulasch aus Schweinefleisch und kleinen Muscheln. Beim abschließenden Minitässchen Kaffee betrat ein Paar den Gastraum. Die beiden stammten, an ihrem Aussehen leicht erkennbar, aus dem nördlichen Teil Europa. Das Paar benahm sich für unsere Begriffe absolut unmöglich. Er fotografierte ungeniert Gaststube und Gäste, danach drang er in die Küche ein und fotografierte dort weiter. Sie verlangte auf Englisch lautstark nach der Speisekarte, was natürlich die Bedienung nicht verstand. Wir machten uns klein, um nur ja nicht mit den Herrschaften in Zusammenhang gebracht zu werden. Während er munter weiter fotografierte, nahm sie Platz und studierte aufmerksam die angebotene Speisekarte. Wir kümmerten uns nicht weiter um das Geschehen, tranken unseren Kaffee und planten dabei unsere weitere Route. Die Dame kam wohl mit ihrer Speisekarte nicht klar, denn plötzlich stand sie mit der aufgeschlagenen Speisekarte an unserem Tisch. Sie hatte wohl meine blonde Frau treffsicher als Nordeuropäerin identifiziert und setzte auch sofort an, auf sie einzureden. Dabei benutzte sie die niederländische Sprache. Da wir beide nur rudimentäre Kenntnisse in dieser Sprache besitzen, versuchten wir den Redeschwall zu unterbrechen. Auf meine Einwände reagierte sie überhaupt nicht und nachdem meine Frau sich, nach mehreren Anläufen, der Dame erklären konnte, rief diese, leider auf Deutsch – ach, sie sind aus Deutschland, können sie mir die Karte übersetzen? Ich kam nun auch zu Wort und erklärte kurz angebunden, dass wir des Portugiesischen bedauerlicherweise nicht mächtig wären. Meiner Frau war deutlich anzusehen, dass sie sich fremdschämte.

Nach dem Zahlen verließen wir das Restaurant, meine Frau war leicht angesäuert, fiel sie doch, damals doch strahlend blond, in diesem Teil Europas schon von weitem als Fremde auf. Da fand sie, es wäre nicht nötig, dass andere Fremde sie auch noch kompromittieren. Heute, über dreißig Jahre später, ist dieser Vorfall immer noch ein beliebter Gesprächsstoff, wenn wir in Erinnerungen schwelgen. Aber immer wieder bemerke ich, sobald unser Gespräch den Vorfall berührt, ein zorniges glimmen in den Augen meiner Liebe.

Auch ich pflege meine Vorurteile, davon kann ich mich nicht befreien. In mir keimt auch die Furcht vor Fremden auf, sobald sie mir zu nahe kommen. Eins ist bei mir aber anders, ich weiß, wie es sich anfühlt, allein aufgrund des Aussehens als nicht dazugehörig bewertet zu werden. Wenn ich wieder einmal meinen eigenen Vorurteilen erliege, besinne ich mich meist schnell an einen Spruch, den ein in Kärnten beheimateter Bekannter vor langen Jahren einmal aussprach, als wir die Probleme der slowenischen Minderheit in Kärnten diskutierten – Vorurteil, ist Urteil vor Wissen.

Autorennotiz:
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