Durchgebrannt

Kurzbeschreibung:
Das Original dieser Geschichte findet Ihr hier: erzaehlungen.moosecker-hassels.de/text/text_02_pdf.php?v=oeffentliche_adobe&d=durchgebrannt.pdf

Am 25.1.2023 um 20:21 von BerndMoosecker auf StoryHub veröffentlicht

Sie hatten sich mehrere Jahrzehnte nicht gesehen, hatten aber immer Kontakt zueinander gehalten. In dieser Zeit waren sie gealtert, was dazu führte, dass sie ihn nicht sofort wiedererkannte. Er hatte sie sofort erkannt, ihr hübsches Gesicht war zwar inzwischen von vielen Falten durchzogen, aber er hatte ihr in seiner Jugend so viele verliebte Blicke gegönnt, dass er schwerlich ihr Gesicht vergessen konnte. Sie erkannte ihn dafür an der Stimme und umarmte ihn spontan. Dabei fiel ihm auf, dass sie erheblich kleiner war, als er selbst. Täuschte ihn sein Gedächtnis; und sie war immer so viel kleiner als er gewesen oder war sie in sich zusammengesunken? Er fand keine Antwort darauf. Stattdessen stellte sich bei beiden sofort wieder die Vertrautheit ein, die sie seit der Kindheit zueinander gehabt hatten.

Nach der Umarmung bat sie ihn in die Wohnung und er hatte das Gefühl, erst gestern hätte er die Wohnung zum letzten Mal verlassen. Nichts hatte sich geändert, genau wie die Bewohner, nur waren Bewohner und Möbel gealtert. Das empfand er als normal, denn auch in seiner eigenen Wohnung gab es Mobiliar, das über ein halbes Jahrhundert alt war und wie alt er selbst aussah, sah er täglich, jedes Mal, wenn er in den Spiegel sah. Was ihm eher auffiel, die Räumlichkeiten waren seit langer Zeit nicht mehr renoviert worden. Ihn störte das alles nicht, der Frau, mit der er seit Menschengedenken so vertraut war, nahe zu sein, bewegte ihn zutiefst. Gegenüber den anderen Gästen dieses Tages verhielt er sich höflich, aber äußerst zurückhaltend. Den Hausherrn hatte er auch mit Zurückhaltung begrüßt und außer ein paar höflichen Worten hatte er ihm keine weitere Beachtung geschenkt.

Sie wurden zu Tisch gebeten, die Frau platzierte ihn so, dass er direkt neben ihr saß. Ihm wurde warm ums Herz, während sich über der Tisch hinweg lebhafte Gespräche entwickelten, widmete er sich voll Genuss der Vorspeise und lauschte dabei der Stimme der Frau. Er hörte nicht auf das, was sie sagte, sondern erfreute sich am schönen Klang ihrer, zwar gealterten, aber immer noch melodischen Stimme. Erst als er merkte, dass sie ihn ansprach, reagierte er. Er hatte nicht mitbekommen, was sie gesagt hatte und so schaute er sie fragend an. Sie sagte aber nichts mehr, sondern schob ihm den Rest ihrer Vorspeise auf den Teller und lächelte ihn an. Auch er zauberte ein Lachen auf sein Gesicht. Als er seinen Teller leer gegessen hatte, erhob sie sich und räumte die Teller zusammen. Auch er erhob sich, half ihr beim Abräumen und trug anschließend den Stapel Teller in die Küche, sie ihm folgte. Der Rest der Gesellschaft unterhielt sich weiter, wobei ihr Mann den Wortführer spielte. Er fand das befremdlich, enthielt sich aber jeder Bemerkung.

In der Küche standen beide eng beieinander, es war einfach eine enge kleine Küche. Er half ihr beim Füllen der Schüsseln und während sie die Essteller und das Besteck ins Wohnzimmer brachte, nahm er den Braten aus dem Rohr und teile ihn in Schreiben, die er auf einer vorgewärmten Fleischplatte drapierte. Als sie zurückkam, lächelte sie ihn an und füllte Sauciere. Gemeinsam brachten sie die Fleischplatte und die Schüsseln mit Kartoffeln und Gemüse zum Esstisch. Sie bat ihren Mann, die Weinflasche zu öffnen und den Wein in die Gläser zu füllen. Widerwillig kam er der Bitte nach, um sich danach sofort wieder den Gesprächen zu widmen.

Während sie aßen, führten die beiden ein intensives Gespräch. Sie vergaß dabei ihre Gäste, die aber von ihrem Mann hinreichend unterhalten wurden. Er bekam ab und zu einige Wortfetzen mit, aber das nur mit halbem Ohr. Stattdessen konzentrierte er sich voll auf das, was die Frau zu ihm sagte. Manchmal verzog sie genervt ihr Gesicht, wenn sie mitbekam, was ihr Mann so von sich gab. Er war mehrmals versucht, sie zu fragen, warum sie ihn nicht geheiratet hatte – er gab aber seinem Drang nicht nach, er fand diese Frage einfach unpassend. Für sein Dafürhalten, wurde die Kochkunst der Frau nicht genug gewürdigt, so sagte er ihr, dass es ihm sehr gut schmecke und er sich sehr über ihre unerwartete Einladung gefreut habe. Der Satz ging im lauten Gelächter der Anderen unter, nachdem der Hausherr einen Witz gerissen hatte.

Als auch das Dessert verzehrt war, bat der Hausherr die Gäste in den Garten und zeigte dort voll Stolz seine Rosenzüchtungen. Er war einfach am Tisch geblieben, was niemand, außer der Frau, zur Kenntnis nahm. Sowie sie gemeinsam abgeräumt hatten, wollte er den Abwasch übernehmen. Sie widersprach und so standen sie gemeinsam in der Küche und setzten ihr Gespräch fort. Es verging fast eine Stunde. Die Besichtigung des Gartens zog sich hin. Den Beiden war das mehr als Recht. Wieder spürten sie die Wärme, die sie miteinander verband. Je länger sie miteinander sprachen, umso mehr reifte in ihm ein verwegener Plan. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen und fragte sie direkt und ohne Umschweifen: „Willst du mit mir kommen?“
Sie reagierte verblüfft und antwortete mit einem einzigen Wort, „wohin?“
„Ich weiß nicht, wir fahren einfach los. Nur weg von hier!“
„Ja!“
„Dann pack schnell ein paar Sachen ein und weg sind wir.“
„Einfach so?“
„Ja, einfach so! Willst du?“
„Ja, ich packe nur eine Tasche mit ein paar Kleinigkeiten. Den Rest können wir besorgen. Du bist dir ganz sicher?“
„Ja, bin ich!“

Er widmete sich, nachdem sie gegangen war, dem Sortieren des Geschirrs, nur um einen Vorwand dafür zu haben, warum er sich in der Küche aufhielt, sollte jemand aus dem Garten ins Haus kommen. Es kam aber niemand, so lehnte er sich einfach an der Arbeitsplatte an und wartete. Sie kam schon kurze Zeit später mit einer kleinen Reisetasche zurück. Unter den Arm geklemmt hatte sie eine Kulturtasche, die wohl nicht in die Reisetasche gepasst hatte. Er nahm ihr die Reisetasche ab und nahm sie bei der Hand, durch das Treppenhaus gingen sie auf die Straße. Sie stiegen in sein kleines Auto, er startete den Motor, legte den Gang ein und sie fuhren sie davon. Sie blickte nicht ein einziges Mal zurück, er lenkte den Wagen in Richtung Hauptstraße, stoppe dort kurz und reihte sich dann in den starken Verkehr ein, als eine Tankstelle in Sicht kam, fuhr er diese an und füllte den Tank, bis er randvoll war.

Weiter und weiter fuhren sie, ohne ein Ziel zu haben, nur möglichst weit weg von diesem Ort, das war das, was beide bewegte. Meist schwiegen sie und genossen ihre unerwartete Nähe. Irgendwann, die Abenddämmerung ging bereits in die Nacht über, steuerten sie ein idyllisch gelegenes Hotel an. Auf dem Zimmer umarmten sie sich stürmisch, sie brach in Tränen aus, was ihn erschütterte.
„Tut es dir leid, dass wir durchgebrannt sind?“, fragte er betroffen.
Sie schüttelte den Kopf, „nein, ich hätte schon vor Jahren gehen müssen.“
„Und warum bist du nicht gegangen? Warum hast du ihn nicht verlassen?“
Sie zuckte mit den Schultern, „die Macht der Gewohnheit? Oder aus Trägheit? Ich weiß es selbst nicht! Um das Thema zu wechseln, du hast dich zu einem interessanten und aufmerksamen Gesprächspartner entwickelt. Früher hast du den Mund nicht aufbekommen.“
„Ich weiß! Darüber haben sich all meine Frauenbekanntschaften beschwert. Meine Freude haben nie etwas daran auszusetzen gehabt.“
„Das kann ich dir erklären. Die haben dich belabert mit ihren Hoffnungen und Plänen und waren froh, dass ihnen jemand zugehört hat.“
Ihm war das Gespräch über seine frühere Schweigsamkeit etwas peinlich, so fragte er, „wollen wir noch etwas essen gehen?“
„Nein, ich bin noch gesättigt vom Mittagessen oder hast du schon wieder Hunger?“
„Nein, ich wollte nur gefragt haben.“
Sie nickte, „dann gehe ich jetzt unter die Dusche und wasche mir den Schmutz von Jahrhunderten ab.“

Sie duschte heiß und lange. Ihr Eindruck war, all der schmutzige Schleim, der im Laufe der Jahrzehnte ihre Poren verklebt hatte, würde durch das heiße Wasser in die Duschtasse gespült und vom Abfluss aufgesogen. Nach längerer Zeit stellte sie das Wasser ab, schäumte Haare und Körper ein und es genoss dabei, ab und zu die leisen Geräusche aus dem Zimmer zu hören, die der Mann beim Ausräumen ihres spärlichen Gepäcks verursachte. Noch einmal ließ sie anschließend heißes Wetter über Haare und Körper fließen. Als sie sich abgetrocknet hatte, rief sie nach dem Mann und bat ihn Lotion auf ihrem Rücken zu verteilen. Er tat das mit Hingabe. Als sich seine Hände dabei auf ihre Pobacken verirrten, gab sie ihm einen Stoß. Da käme sie ohne seine Hilfe selbst dran, meinte sie dazu. „Aber davon habe ich lange geträumt“, antwortete er und verteilte munter weiter Lotion auf ihren Pobacken. Sie schüttelte den Kopf, sagte aber nichts mehr dazu und ließ ihn gewähren. Später an der Bar saßen sie auf Tuchfühlung beieinander. Sie hatten sich eine halbe Flasche Rotwein bestellt, von dem sie langsam tranken. Ab und zu knabberten sie an der salzigen Nussmischung, die ihnen die Bedienung dazu gereicht hatte. Sie hingen wieder ihren Gedanken nach. Sie verschwendete zu diesem Zeitpunkt keinen einzigen Gedanken an ihr bisheriges Leben. Das Gefühl, noch einmal die Chance auf einen Neuanfang zu haben, überdeckte alle Zweifel. In ihm stieg zwischenzeitlich kurz Trauer auf, Trauer über die Zeit, die er in sinnloser Sehnsucht dahin gelebt hatte. Dann stieg wieder die vertraute Wärme in ihm auf, die ihn dann überkam, wenn er der Frau nahe war. Als der Wein getrunken war, gingen sie auf ihr Zimmer. Sie stellten sich nebeneinander an das Fenster und schauten auf die dunkle Straße, die nur von ein paar Laternen in ein schummriges Licht getaucht wurde. Er legt ihr einen Arm um die Schulter.

Sie standen noch lange still beieinander. Später zog sie sich aus, als sie in ihr Nachthemd schlüpfte, ging ihm auf, dass er keine Nachtwäsche bei sich hatte, was ihn unsicher machte. Er hatte überhaupt nichts gepackt, da er nicht damit gerechnet hatte, mit der Frau davonzulaufen. Er hätte kurz zu Hause vorbeifahren sollen, ging ihm durch den Kopf. Sie lächelte, als sie seine Unsicherheit bemerkte. „Gut, dass ich an eine zweite Zahnbürste für dich gedacht habe, rasieren kannst du dich, sobald wir morgen eingekauft haben. Bis dahin bist du leider gezwungen, deine Unterwäsche noch einmal anzuziehen. Hänge die Sachen zum Lüften auf, schlafen kannst du nackt“, ein Lächeln breitete sich bei diesen Worten auf ihrem Gesicht aus. Als sie auf den Betten lagen, reichten sie sich die Hände und ließen sie lange ineinander liegen. Später, als sie den Eindruck hatte, es würde kühler, rückte sie näher an in heran. Er schob seinen Arm unter ihren Nacken und zog sie ganz zu sich heran. Sie bettete ihren Kopf auf seiner Brust. „Warum haben wir eigentlich nicht geheiratet?“, fragte er unvermittelt.
„Weil du mich nicht gefragt hast!“
„Ich dachte, so wie wir zueinander stehen, sei das nicht notwendig.“
„Ich wollte aber gefragt werden.“
„Ich war leider kein großer Redner.“
„Genau! Während du geschwiegen hast, hat er mich gefragt.“
„Heute tut mir das leid. Aber ich habe schließlich doch noch die Liebe meines Lebens gefunden.“
Sie gähnte ausgiebig und antwortete dann mit schläfriger Stimme, „das spielt doch jetzt keine Rolle mehr.“
Danach entspannte sie sich und glitt in den Schlaf, während er noch einige Zeit darüber simuliert, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn er sie gefragt hätte, ob sie seine Frau werden wolle. Er fand darauf keine Antwort und schließlich fielen ihm die Augen zu. Sein letzter Gedanke an diesem Abend galt ihren Worten über die Dankbarkeit – sie hatte recht, er war von Dank erfüllt.

Autorennotiz:
Das Original dieser Geschichte findet Ihr hier: erzaehlungen.moosecker-hassels.de/text/text_02_pdf.php?v=oeffentliche_adobe&d=durchgebrannt.pdf