******************** Rattennest von MarcoTheiss ******************** ++++++++++++++++++++ Kurzbeschreibung ++++++++++++++++++++ Das heruntergekommene Hotel aus den Anfangsjahren des Unternehmens ist alles, was der rücksichtslose Martin Shaw nach dem Tod seiner verhassten Eltern erbt. Doch in den alten, verfallenen Mauern macht er die Bekanntschaft einer ganz anderen Familie, die ihm das Leben zur Hölle machen wird... R a t t e n n e s t  von Marco Theiss    1.  „Sie haben Ratten“, sagte der Kammerjäger, während seine behandschuhten Finger durch die Ansammlung kleiner Exkremente auf dem Zimmerboden in der Ecke des heruntergekommenen Raums strichen.„Na wundervoll.“ Martin Shaw verdrehte genervt die Augen.    Jetzt wusste er es also ganz sicher. Er wusste was die seltsamen Kratzgeräusche in den Wänden verursachte. Er wusste, was die kleinen Kackhäufchen auf dem Boden hinterließ. Er wusste, was ausnahmslos jede Tüte und jeden Karton angenagt hatte, den er in den letzten Tagen und Wochen in dem alten Hotel abgestellt hatte. Und Martin Shaw war nicht begeistert. Er hatte es sich bereits gedacht, aber…   „Und zwar nicht gerade wenige“, fuhr der Kammerjäger fort.   Fantastisch!    Shaw knirschte mit den Zähnen.   „Normalerweise findet man in Gebäuden wie diesem hier alles Mögliche an Ungeziefer. Kakerlaken, Schaben, Mäuse“, erklärte der Kammerjäger. „Aber hier nicht. In 45 Minuten keine einzige Küchenschabe. Die Ratten fressen sie. Alle miteinander.“   „Macht mich nicht gerade glücklicher“, knurrte Shaw.   „Das sollte es auch nicht.“   Der Kammerjäger wurde von erneutem Scharben und Kratzen in den Wänden unterbrochen.   „Einen so schlimmen Befall habe ich noch nie gesehen.“   „Okay, genug schlechte Nachrichten“, beschloss Shaw. „Was kann ich dagegen tun?“   Der Kammerjäger zuckte die Schultern.   „Ich könnte versuchen die Biester abzumurksen. Giftköder legen. Aber am wirkungsvollsten wäre es wohl, Gift zu sprühen.“    Der Kammerjäger sah sich demonstrativ in der weitläufigen Halle um, fuhr dann fort: „Das wird aber nicht ganz billig für Sie. Naja, und bei den vielen Ecken und Winkeln, den engen Gängen wird es wohl eine ganze Weile dauern, bis das Gebäude wieder zu benutzen ist.“   „Wie teuer?“, wollte Shaw wissen.   Der Kammerjäger dachte kurz nach. Dann nannte er Shaw eine astronomisch hohe Summe.   2.  Bei der Beerdigung seiner Eltern vor zwei Wochen hatte Shaw abseits gestanden. Er versteckte seine Augen hinter den Gläsern einer dunklen Sonnenbrille, die seine Gefühle vor den anderen Trauergästen verbargen.   Den Worten des Pfarrers lauschte er nur halbherzig. Viel zu sehr war er mit dem Hass beschäftigt, der in ihm brannte. Hass auf die beiden Menschen, die da in überteuerten Holzkisten sechs Fuß tief unter die Erde verfrachtet wurden.    Sein Vater hatte ihn stets klein gehalten. In geschäftlichen Belangen hatte er seinem Sohn nichts zugetraut. Drei Mal hatte der alte Mister Shaw seinem Sohn unbedeutende Positionen im Familienunternehmen angeboten. Stets nach Streitigkeiten, an denen Shaw nie ganz unschuldig gewesen war. Hochnäsig, arrogant und selbstverliebt waren Worte, die sein Vater gerne benutzte, wenn es darum ging, seinen Sohn zu beschreiben.    Shaw würde nichts davon abstreiten. Er war als Sohn reicher Eltern groß geworden. Eine Millionärsfamilie. Was sollte man da erwarten? Dass jedoch all diese Eigenschaften weder seinem Vater zu eigen waren, noch seiner Mutter, noch seinen Großeltern; dass sie alleine an ihn vererbt wurden, obwohl sie niemand in der Familie zu vererben hatte, und dass auch seine kleine Schwester davon verschont geblieben war, all das kratzte ihn recht wenig.    Seine Mutter hatte es sich mit ihm schon früher verbaut – so zumindest Shaws Ansicht. Während Vater viel beruflich unterwegs war, hatte Mutter ein strenges Regiment im Haus geführt. Sie war eine starke Frau gewesen. Gegen sie zu rebellieren war – egal in welchem Alter – ein auswegloses Unterfangen. Er hatte sich mit Hausarbeit herumschlagen müssen, mit Gartenarbeit, und mit einer staatlichen Schule. Einem normalen Leben. Er sollte groß werden wie ein ganz normaler Jugendlicher. Mit ganz normalem Taschengeld. Er hatte es gehasst.   An seinem 18. Geburtstag kam es zum ersten Bruch mit seiner Familie. Als nun Erwachsener hatte er den großen Geldsegen erwartet, der ihm als Kind verwehrt geblieben war. Stattdessen wagten es seine Eltern, ihm ein gebrauchtes Auto vor die Tür zu stellen. Eingewickelt in eine riesige rote Schleife, als wollten sie ihn verspotten. Er verkannte den Wert des alten Daimlers, den sein Vater bereits von dessen Vater geschenkt bekommen hatte, und den er über Jahre hinweg pflegte und hütete wie seinen Augapfel. Shaw hatte seinem stolzen Vater den Schlüssel vor die Füße geworfen und seine eigene Party wild schimpfend verlassen.    Monate lang hatte er daraufhin den guten Namen seines Vaters genutzt, um sich in verschiedenen Hotels und Pensionen einzumieten. Stillschweigend hatte sein Vater ein halbes Jahr lang alle Rechnungen beglichen. Erst als eine Reaktion Shaws weiterhin ausblieb, drehte der alte Mister Shaw ihm den Geldhahn zu. Ein weiterer Grund, seinen Hass zu schüren.    Ein noch deutlich größerer Grund war der Tag, an dem Shaw zum ersten Mal die Segel strich und gesenkten Haupts an der Tür seiner Eltern klopfte, und um Verzeihung bat. Nach außen hin kosteten seine Eltern ihren Sieg nicht aus, doch Shaw war sich sicher, dass sie es genossen, wie er im Regen angekrochen kam, pleite und kleinlaut. Zeit ihres Lebens sollten sie noch zwei weitere Male die Chance erhalten, einen solchen Triumph auszukosten. Zwei Mal. Doch heute war der Tag von Shaws Triumph.    Vor einer Woche war bereits der Tag seiner Rache gewesen. Der Tag, an dem er lange genug auf das ihm zustehende Geld gewartet hatte. Der Tag, an dem er die Schrauben am rechten Vorderreifen des alten Daimlers gelockert hatte, mit dem seine Eltern in den Ski-Urlaub fahren wollten. In den Bergen hatte Vater die Kontrolle über den Wagen verloren und sie waren einen Abhang herunter gestürzt … genau in das dunkle Loch, in das der Pfarrer und die Trauernden wenige Meter weiter gerade blickten.    Gleich nach der Beerdigung würde es zum Notar gehen, wo das Testament verlesen werden würde und Shaw endlich in den ihm zustehenden Rang erhoben würde. Und entgegen anderer Meinungen würde ihn das Geld glücklich machen.   Shaw konnte nicht verhindern, dass seine Mundwinkel aufgeregt zuckten, versuchten, ihn zu einem zufriedenen (aber auch verräterischen) Lächeln zu bewegen. Er behielt die Kontrolle über seine Muskeln und verdrängte Zufriedenheit und Freude tief in sein Inneres, wo sie allmählich den alteingesessenen Hass überwogen. Er konnte kaum erwarten, dass der Pfarrer endlich mit seinem Gesülze durch war. Eine Stunde später saß die gesamte Verwandtschaft, die nur aus Shaw und seiner 5 Jahre jüngeren Schwester Laura bestand, im ansprechend eingerichteten Büro des hochbezahlten Rechtsvertreters und Notars ihrer Eltern. Gebannt hatte Shaw zugesehen, wie der dicke Mann mit dem kreisrunden Haarausfall den versiegelten Umschlag geöffnet hatte und ihm den Brief entnahm, der Shaws Zukunft enthielt. Inzwischen musste er schockiert zuhören, wie der Notar das Testament seiner Eltern verlas.    „…vermachen wir, Peter Shaw und Roberta Shaw, in Vollbesitz unserer geistigen und körperlichen Kräfte, unsere Aktienmehrheit bei ShawIncorp., unseren Immobilienbesitz, sowie unser Kapitalvermögen und jeglichen finanziellen Besitz unserer Tochter Laura Shaw, abzüglich einer Spende von zwei Millionen Dollar an die Shaw-Foundation zur Bekämpfung von Krebs, abzüglich Ihres Honorars als Rechtsbeistand und Notar, abzüglich…“    Es folgte eine Aufzählung mehrerer gemeinnütziger Organisationen, auf die eine Summe von weiteren 3,5 Millionen Dollar verteilt wurde.   „Unserem Sohn, Martin Shaw vererben wir unseren 1957er Daimler und hoffen, er wird ihn beim zweiten Mal zu schätzen wissen …“    Ein erster herber Schlag. Shaw erbte den Haufen Schrott, den er durch das Lockern der Schrauben selbst produziert hatte. Doch die Bestrafung die seine Eltern sich für ihn ausgedacht hatten, war noch nicht zu Ende.   „Ferner vermachen wir Martin Shaw das Hotel The Rose, das Unternehmen, mit dem dein Vater und deine Mutter einst den Grundstein für unser Familienunternehmen legten. Du wirst uns wahrscheinlich dafür hassen, weil du glaubst, dass du leer ausgegangen bist. Das Hotel hatte jedoch stets einen ausgezeichneten Ruf und befindet sich in vorteilhafter Lage. Es ist stark renovierungsbedürftig, wenn du dir jedoch die Mühe machst, wird es dir Geld bringen, wie es uns einst Geld brachte, und vielleicht auch für dich den Grundstein für etwas Größeres legen. Wir lieben euch beide und wünschen euch alles Gute. Mama und Papa. Unterzeichnet Peter und Roberta Shaw.“   Martin Shaw hatte seien Nägel tief in die Armlehnen des teuren Ledersessels gegraben. Seine Finger liefen bereits weiß an. Die Flamme des Hasses loderte wieder in seinen Augen. Er sprang auf, stieß den Stuhl nach hinten weg. Er kippte scheppernd um. Wortlos stampfte Shaw am Stuhl seiner Schwester vorbei, die ihn mitleidvoll ansah.  „Martin …“, versuchte sie ihn aufzuhalten.   Er hatte die Tür bereits erreicht, öffnete, marschierte nach draußen und knallte sie wütend hinter sich zu. Dann ein lauter Schrei, der Laura und den Notar zusammen zucken ließ.  Shaw überquerte den Parkplatz vor dem Gebäude und ging auf seinen Audi TT zu. Er trat hart in den Boden, wirbelte den Kiesbelag auf und hörte kleine Steinchen gegen den Lack seines Wagens scheppern. Er blieb unvermittelt stehen. Sein Blick fiel auf ein anderes Fahrzeug zu seiner Rechten. Ein hellblaues BMW Z-3 Cabriolet.   Lauras hellblaues Z-3 Cabriolet!    Shaw ging darauf zu. Er ließ die Hand kurz in der Tasche seines knielangen Mantels verschwinden und förderte ein Klappmesser daraus hervor, das er aufschnappen ließ. Er ging neben dem Z-3 in die Knie und streckte die Hand mit dem Messer unter den Wagen. Mit den Fingern tastete er den Unterboden entlang.   „Martin!“    Lauras Rufen ließ ihn aufschrecken. Hastig zog er die Hand unter dem Auto hervor und sprang auf, wirbelte herum in Richtung Kanzleieingang, wo Laura gerade nach draußen trat. Schon im nächsten Moment erblickte sie ihn.    Zumindest hoffte Shaw, dass sie ihn erst im nächsten Moment erblickt hatte, stehend, nicht kniend neben ihrem Auto, die Hand weit darunter. Sie kam auf ihn zu. Shaw wandte sich ab, machte sich auf den Weg zu seinem eigenen Wagen.   „Martin, warte“, rief Laura ihm nach und holte ihn schließlich ein. „Bitte.“   „Lass mich!“, forderte Shaw barsch.   „Martin, bitte lass uns doch reden. Ich will nicht so auseinander gehen.“   „Ich hab keine Zeit zum Reden. Schließlich muss einer von uns für sein Geld arbeiten.“   „Martin“, startete Laura einen weiteren Versuch der Schlichtung.   „Martin, Martin, Martin“, äffte ihr Bruder sie nach, bevor es aus ihm heraus schoss. „Was? He? Willst du mir die Hälfte des Erbes geben? Meine Hälfte, die mir zusteht? Nein? Dann bitte verschon mich mit weiterem Familiengesülze!“   Dann ließ er sie stehen, marschierte zu seinem Audi, stieg ein, startete den Motor. Er gab Vollgas und diesmal ließen die Reifen Kies und Splitt fliegen. Laura schirmte das Gesicht mit der Hand ab, um die kleinen Geschosse nicht in die Augen zu bekommen. Traurig sah sie ihrem Bruder nach.   3.  „Vergessen Sie’s“, lehnte Shaw den Kostenvoranschlag des Kammerjägers ab. „Da mach ich es lieber selbst.“  „Ich glaube Sie stellen sich das zu einfach vor. So eine Rattenfamilie, das können schon an die 400 oder 500 …“   „Ich bin schon mit ganz anderen Viechern fertig geworden“, unterbrach Shaw ihn.   Der Kammerjäger nickte resignierend und meinte: „Sie haben ja meine Nummer, falls Sie es sich doch noch anders überlegen.“   „Klar, wenn ich anfange Geld zu scheißen“, knurrte Shaw zynisch.   „Es tut mir übrigens sehr leid um Ihre Eltern. Ihre Familie genießt hier immer noch großes Ansehen“, erzählte der Kammerjäger. „Vor allem durch ihre großzügigen Spenden für die Schule und das Krankenhaus.“   „Ja ja, mir kommen gleich die Tränen“, machte Shaw unmissverständlich klar, dass er kein Interesse an einer Fortsetzung der Lobeshymnen auf seine Eltern hatte. „Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich muss ein paar Ratten umbringen.“   4.  Eine Woche später: Shaw hatte 30 Fallen aufgestellt. Der Verkäufer hatte versucht ihn zu Lebend-Fallen zu überreden, doch er hatte sich für den Klassiker entschieden. Kleine Schlagfallen, die der Ratte das Genick brachen, wenn sie in den ausgelegten Köder biss. 30 Mausefallen, die alle innerhalb von 2 Tagen ein erstes Opfer gefunden hatten.    Shaw hatte die toten Tiere entsorgt und außerdem ein Unternehmen mit der Renovierung des Hotels beauftragt.    Die Mitarbeiter waren zwei Tage später vor Ort gewesen und hatten sich sofort an die Arbeit gemacht. Maler, Tapezierer, Sanitärtechniker, Bauarbeiter. 20 Männer wuselten durch die Gänge und Zimmer des Hotels. Einen Tag später waren es noch 19.    Wayne Kimble, ein junger Heizungsinstallateur, war im Keller von einer Ratte gebissen worden. Ronald Desmond, der Bauleiter, hatte daraufhin von sich aus 5 Rattenfallen aufgestellt, die er im Transporter hatte. Am gleichen Abend präsentierte er Shaw fünf tote Ratten. Und zwei Tage später – heute – mussten drei weitere Arbeiter nach Rattenbissen ins Krankenhaus.   Nun stand Desmond vor Shaw. Er war ein Bauarbeiter wie er im Buche stand. Ein kugelrunder Bauch, den er stolz unter einem engen weißen Unterhemd trug. Der Schutzhelm auf seinem Kopf passte zu ihm, als wäre er damit geboren worden. In dem Moment, in dem er das Gebäude verlassen hatte, hatte er sich die Zigarette angezündet, die nun zwischen seinen Lippen immer kürzer und kürzer wurde.   „Meine Männer werden unter diesen Umständen nicht weiter arbeiten“, verkündete er.   „Was? Das ist absolut inakzeptabel!“    „Vier von meinen Leuten liegen im Krankenhaus wegen Ihrer Ruine hier“, fuhr Desmond ihn an. „Das ist inakzeptabel!“    Shaw ärgerte sich. Er hätte jemanden beauftragen sollen, der mehr Geschäftsmann und weniger Arbeitskollege seiner eigenen Angestellten war. Jemanden in einem Jackett, statt jemanden in einem verdreckten Unterhemd, der sich nach Feierabend mit seinen Arbeitern besoff und über Weiber- und Bettgeschichten mit ihnen lachte.   „Mister Desmond, wir haben einen Vertrag! Und ich erwarte von Ihnen, dass Sie ihn einhalten!“   „Machen Sie erst mal nen Vertrag mit einem Kammerjäger, der Ihr kleines Problem hier beseitigt“, forderte Desmond. „Vorher wird jedenfalls keiner meiner Männer mehr einen Fuß da rein setzen.“   Desmond hatte ernst gemacht. Keine 15 Minuten später waren all seine Angestellten in drei Transporter verladen und fuhren davon, trotz weiterer wütender Drohungen von Shaws Seite.    Shaw blieb alleine vor dem Hotel zurück.   „Scheiße!“, brüllte er wütend. „So eine gottverdammte Scheiße!“    Er wandte Blick und Faust gen Himmel und fluchte: „Ihr verfluchten Scheißkerle! Ich hasse euch!“   Er stapfte nach drinnen, zurück in die Empfangshalle des Hotels.    Desmond hatte sein gesamtes Werkzeug im Hotel zurück gelassen. Schließlich, so hatte er noch einmal deutlich gemacht, hätten er und Shaw ja einen Vertrag, den er zu erfüllen bereit sei, sobald für ihn und seine Männer keine Gefahr mehr bestand. Shaw wusste es nicht genau, aber wahrscheinlich hatte Desmond sogar recht mit seiner Schlussfolgerung, dass er infolge dessen ja nicht einfach ein anderes Bauunternehmen mit der Fortführung der Arbeiten beauftragen könne, und es ihm letztendlich Kosten ersparen würde, wenn Desmond nicht sämtliches Gerät einmal mehr abtransportieren und wieder zurück bringen würde.   Dennoch griff sich Shaw in seiner Wut einen Hammer, der auf der halb zerfallenen Theke der Rezeption lag, und schleuderte ihn schreiend durch eines der wenigen noch nicht zerbrochenen oder mit Brettern vernagelten Fenster nach draußen. Anschließend trat er hart gegen den provisorisch errichteten Malertisch, der unter der Wucht in sich zusammenbrach. Eine Dose mit Pinseln fiel scheppernd zu Boden. Nächste Station seines Wutausbruchs war ein halbvoller Farbeimer, den er über den Kopf stemmte und hinter die Rezeption schleuderte, wo sich der weiße Inhalt großflächig über die Wand verteilte. Er atmete tief durch, spürte wie seine Atmung ruhiger wurde. Dann sah er sich in dem Chaos um, das seine Eltern ihm hinterlassen, und das er gerade weiter verfeinert hatte.   „Na gut“, keuchte er. „Alles klar. Na wartet, ihr verdammten Mistviecher!“   Shaw marschierte entschlossen durch die Gänge des Erdgeschosses bis zum alten Bürotrakt des Hotels. Im Büro mit dem Türschild Hotelleitung hatte Shaw sich ein wenig eingerichtet. Sollte heißen, hier hatte er Staub gewischt, um sich in dem Raum aufhalten zu können ohne alle zwei Minuten Hustenanfälle zu bekommen. Außerdem hatte er die alten Büromöbel nach draußen auf den Flur geräumt und sie durch ein einigermaßen bequemes und sauberes Sofa ersetzt, um in dem Chaos einen kleinen Rückzugsort zu haben. In einigen Kisten und Kartons hatte er verschiedene Habseligkeiten hier abgestellt. Die Kisten, die aus Pappe waren, wurden an verschiedenen Ecken bereits von den Ratten angefressen, die auf den Inhalt neugierig gewesen waren.   Shaw öffnete einen der Kartons, der auf einen anderen gestapelt war und deshalb noch an keiner Ecke angenagt wurde. Er klappte die letzte Lasche hoch und eine Ratte sprang ihm entgegen, das Maul weit aufgerissen, mit den spitzen Zähnchen nach seinem Finger schnappend. Er stolperte zurück, schrie vor Schreck auf. Die Ratte landete auf dem Boden und huschte davon. Shaw sah ihr nach.   „Verdammtes Drecksvieh!“, schrie er.   Vorsichtig näherte er sich wieder dem Karton.    Wie konnte das sein? Wie war das Biest hinein gekommen?    Er sah über die Kante in den Karton, machte sich auf weitere Überraschungen gefasst. Seine funkelnden Augen erblickten die 30 Mausefallen – und ein Loch im Boden der Kiste. Er hob sie von dem anderen Karton, entdeckte das Gegenstück des Lochs im Deckel darunter.    Shaw hob den Deckel des zweiten Kartons an und als das Licht hinein fiel nahmen die restlichen Ratten, die sich in ihm vergnügten reiß aus, schossen zu allen vier Ecken aus den Löchern, die sie in die Pappe der Seitenwände geknabbert hatten und rannten zwischen Shaws Beinen hindurch. Er trat wild und unkoordiniert nach den Nagern, zerquetschte einer den Schwanz, zermalmte einer zweiten den Kopf. Eine Dritte verbiss sich daraufhin in einem seiner Schuhe. Shaw hob den Fuß vom Boden und schwenkte ihn heftig hin und her. Die Ratte konnte sich nicht mehr halten. Sie flog durch den Raum, schlug hart gegen die Wand und zappelte mit gebrochenem Genick auf dem Fußboden. Die restlichen Nager ließen von Shaw ab und verkrochen sich in Löchern und Ecken des Raums, wo sie in die Wände entkamen.    5.  Als die Sonne draußen hinterm Horizont verschwand bog Shaws Wagen wieder in die lange Einfahrt ein, die zum Hotel führte. Er stieg aus, ließ mit der Zentralverriegelung den Kofferraum aufschnappen und holte eine Kiste mit 30 weiteren Mausefallen heraus.    Die Hoteltür stieß er mit dem Fuß auf. Er hatte sie nicht abgeschlossen, während er in der Stadt gewesen war. Was gab es in der Ruine auch schon zu stehlen? Bereits in der Eingangshalle musste er erkennen, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, mehr Fallen zu kaufen. Acht von zehn, die er vor seiner Abfahrt in der Halle verteilt hatte, waren nach der kurzen Zeit schon mit den kleinen Körpern toter Nager gefüllt. Kopfschüttelnd durchquerte Shaw die Halle, kickte dabei eine der ausgelösten Fallen mitsamt ihrer Beute durch den Raum. Er stellte die Kiste mit den neuen Fallen an der Rezeption ab. Demonstrativ nahm er eine der kleinen Schlagfallen heraus und sah auf das Miniaturblutbad auf dem Boden der Halle.   „Nachschub“, flüsterte er.   Shaw begann damit, die toten Ratten aus den Fallen zu entfernen, sie sofort mit neuen Ködern zu bestücken, und wieder im Raum zu verteilen. Anschließend fuhr er mit den frischen Fallen fort. Er machte einen Rundgang durch sämtliche Gänge des Erdgeschosses und fand auch dort zahlreiche gefüllte Fallen vor, die er wieder aufstellte. Er machte sich nicht die Mühe, die toten Ratten zu entsorgen, sondern ließ sie vorerst mitten in den Gängen und Zimmern liegen. Er stockte die bereits vorhandenen Fallenkontingente mit den neu gekauften auf, drapierte abwechselnd Schinken- und Käsestückchen als Köder.   „Lasst es euch schmecken, ihr Biester.“   Er richtete sich auf um seinen Weg fortzusetzen, als ihn plötzlich ein metallisches Klicken zusammen zucken ließ. Er wirbelte herum und sah, dass keine 10 Meter hinter ihm schon wieder eine Ratte in eine der Fallen getappt war. Shaw lächelte zufrieden.   Eine Viertelstunde später war er alle seine neuen Fallen losgeworden und war im ersten Stockwerk angekommen. Er bereute, dass er nicht 100 davon gekauft hatte, so oft, wie er es während seines Weges hier her schon hinter sich hatte klicken hören. Er würde sie wohl noch einige Male neu bestücken müssen. Aber er genoss jedes einzelne Zuschlagen und die auf ihn zukommende Mehrarbeit, wenn er es umrechnete in kleine, zerbrechende Knochen.   Shaw lehnte sich an die Fensterbank und lauschte einen Moment. Stille. KLICK! Dann wieder Stille. KLICK! Diesmal begleitet von einem kurzen gequälten Piepsen eines verendenden Tieres.    Shaw schloss die Augen. Es war wie Musik in seinen Ohren. KLICK! KLICK! KLICK! 400 oder 500 Tiere, hatte der Kammerjäger gesagt. Eine Sinfonie. KLICK!    Shaw öffnete die Augen wieder. Es war an der Zeit, die Fallen wieder zu leeren. Plötzlich durchfuhr ein stechender Schmerz seinen Körper. Shaw schrie auf und riss erschrocken die Hände in die Höhe, weg von der Fensterbank, über die der Feind sich angeschlichen hatte. In seine rechte Hand, in das dünne Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger hatte sich eine Ratte verbissen, hing mit all ihrem Gewicht nur an den spitzen Nagezähnen und zappelte mit Beinen und Schwanz wild in der Luft, als wolle sie mit aller Gewalt ein Stück aus Martin Shaw heraus reißen. Panisch wedelte er mit dem Arm, versuchte das Tier abzuschütteln, doch die kleinen Kiefer hielten fest wie die Klammern eines Schraubstocks. Letztlich gelang es Shaw doch noch, sich von der Ratte zu befreien. Sie überschlug sich zwei Mal in der Luft und landete unsanft auf dem Boden. Shaw stöhnte vor Schmerz. Er hielt sich die verletzte Hand und bemerkte erst jetzt, dass die Ratte keineswegs losgelassen hatte, sondern, dass er ihr mit seinen unüberlegten Bewegungen beim Erreichen ihres Zieles geholfen hatte. Sie hatte sich nicht mehr halten können, weil sie das Stück Fleisch, in das sie ihre Zähne geschlagen hatte, aus seiner Hand heraus gerissen hatte. Der kleine, klaffende Spalt blutete heftig.    „Fuck!“   Er würde eine Tollwutspritze brauchen. Am besten würde er sich möglichst schnell gegen alle Krankheiten spritzen lassen, gegen die es einen Impfstoff gab. Doch zuerst…   Shaw stieß einen Kampfschrei aus und stürmte auf die Ratte zu, die benommen von der Wucht des Aufpralls am Boden saß, den Fetzen blutiger Hand noch zwischen ihren Zähnen. Er hob den Fuß in die Höhe und trat zu.    In letzter Sekunde reagierte der Selbsterhaltungsinstinkt der Ratte. Sie schoss einige schnelle Schritte nach vorne und entging der riesigen Schuhsohle, die versuchte ihr Leben zu beenden. Shaw blieb dem Biest auf den Fersen. Wieder und wieder stampfte er, verfehlte den flinken Nager aber jedes Mal um Haaresbreite.    „Du elendes Mistvieh!“, schrie Shaw ungehalten, während er immer wieder zutrat.   Die Ratte schlug Haken, entzog sich dem Fuß ein ums andere Mal in letzter Not. Doch lange würde ihr dieses Glück nicht mehr beschieden sein. Weitere Fußtritte kamen näher. Dann traf Shaws Schuh die Schwanzspitze, zerquetschte sie, stoppte die Flucht der Ratte ruckartig. Sie wurde zurück gerissen, rollte zwischen Shaws Beinen hindurch und kam hinter ihm wieder auf die Füße und setzte ihre Flucht in die andere Richtung fort.    Shaw folgte ihrem Richtungswechsel, war nicht gewillt jetzt aufzugeben. Er musste zusehen, wie die Ratte auf einen Riss in der Wand zu rannte. Doch genauso wenig wie er gewillt war aufzugeben, so wenig war er gewillt zu verlieren.    Sein Blick fiel auf eine schwere Schlagbohrmaschine, die die Bauarbeiter auf dem Boden des Zimmers hatten liegen lassen. Er schnappte den Bohrer im Vorbeirennen. Die Ratte hatte das rettende Loch fast erreicht. Zwei letzte Tritte von Shaw gingen ins Leere. Die Ratte verschwand in der schützenden Wand.    Shaw ließ die Bohrmaschine aufheulen. Diese Wand würde nicht schützen oder gar retten. Shaw schlug den langen Bohrkopf knapp oberhalb des Lochs in die Wand. Er drang wie durch Butter, verschwand bis zur Hälfte im Mauerwerk, und obwohl Shaw es nicht sehen konnte, bildete er sich ein, deutlich zu spüren, wie er sich auch durch den weichen Körper der Ratte bohrte. Und tatsächlich zerplatzte der Nager in diesem Moment im Innern der Wand in Fetzen.    Nur Sekundenbruchteile später hatte der Bohrkopf die Außenwand am anderen Ende des Hohlraums erreicht und zersäbelte mit der gleichen Leichtigkeit ein Bündel Leitungen und Kabel.    Der Strom schlug sofort durch das Metall auf Shaw über, ließ Nerven und Muskeln krampfen, so dass sich seine Finger felsenfest um den Griff der Bohrmaschine schlossen. Er stieß einen Schrei aus während der Strom durch seinen Körper floss und ihn wild zucken ließ, bis er den Halt unter den Füßen verlor, zur Seite kippte und so den Stromkreis zwischen Bohrer und Kabel unterbrach. Shaw blieb auf dem harten Holzboden liegen. Er starrte einen Moment auf zur Decke, bevor ihm schwarz vor Augen wurde.    6.  Als Shaw zu Bewusstsein kam, wurde er von einem heftigen Muskelkrampf geschüttelt.   Wo war er? Was war passiert?    Es dauerte einige Sekunden, bis die Erinnerung zurückkehrte. Das Hotel, die Ratten, der Biss, die Bohrmaschine. Aus dem Augenwinkel sah Shaw, dass diese noch immer in der Wand neben ihm steckte.    Der Biss!    Er musste zum Arzt und seine Hand behandeln lassen. Er hob sie vors Gesicht um die Verletzung zu begutachten, doch sie kam nicht an. Die Hand bewegte sich kein Stück. Sie schmerzte auch nicht mehr. Alle Befehle, die über seine Nervenbahnen zwischen Gehirn und Muskeln ausgetauscht werden sollten, blieben ohne entsprechende Reaktionen seines Körpers in Shaws Kopf gefangen.    Scheiße! War er gelähmt?    Er versuchte verzweifelt sich zu bewegen. Zumindest dachte er ganz fest daran sich zu bewegen. Seine Arme, seine Beine. Keine Reaktion. Er versuchte einen kleineren Schritt.    Finger!    Er wollte die Finger krümmen, wollte es so sehr, doch sein Körper scheiterte an der Umsetzung. Selbst der verzweifelte Schrei, den er ausstoßen wollte, blieb ihm versagt.    Okay Martin, ruhig bleiben!    Er lebte noch und war bei Bewusstsein. Er atmete also noch. Sein Körper hatte nicht vollständig den Dienst eingestellt.    Langsam! Denk nach! Was funktionierte noch?    Er konnte sehen. Unscharf zwar, aber er sah die Zimmerdecke über sich.    Weiter in der Checkliste!    Er ließ die Augen nach links wandern und bekam tatsächlich ein Stück der Zimmerwand ins Blickfeld. Shaw wollte jubeln vor Freude, kam aber nicht über den fröhlichen Gedanken heraus.    Egal!    Als nächstes ließ er die Augen nach rechts kugeln und konnte sich auch dort über ein erweitertes Blickfeld freuen. Andererseits gab es mehr als genug Querschnittsgelähmte, die noch deutlich mehr konnten, als Shaw bis jetzt.    Nein, nein, nein!    Er verwarf den Gedanken wieder, wollte sich so schnell nicht geschlagen geben. Er schmeckte Blut, also funktionierten auch seine sensorischen Nerven im Mund. Riechen konnte Shaw das moderige Zimmer, das ihn umgab, auch. Jetzt musste er nur noch aufstehen und zum Arzt gehen. Er hasste sich selbst dafür, dass sich das, was eigentlich ein Ansporn hätte sein sollte, eher wie ein gedachter Witz anfühlte.    Erst mal mit dem arbeiten, was er bereits jetzt benutzen konnte, beschloss Shaw.    Wie lange war er wohl bewusstlos gewesen? Er ließ den Blick schweifen, fand ein Fenster in seinem Sichtfeld. Draußen war es dunkel. Er schloss aus, dass er einen gesamten Tag verloren hatte, also musste es noch dunkel sein. Er war gegen acht Uhr abends am Hotel angekommen. Die Sonne ging etwa gegen halb sieben wieder auf. Er konnte höchstens ein paar Stunden weg gewesen sein. Er musste die ganze Zeit konstant durchgeatmet haben, sonst wäre sein Hirn wohl aufgrund einer vorübergehenden Unterversorgung mit Sauerstoff geschädigt und zu Denkaufgaben, wie er sie gerade vollführte, nicht mehr in der Lage.    Das war doch schon mal gut. Der Bohrer musste eine Leitung in der Wand erwischt haben. Sein Körper war also unter Strom gesetzt worden, hatte über mehrere Sekunden hinweg 220 Volt abbekommen. Da konnte einiges kaputt gehen. Aber falls Shaw nur wenige Minuten ohnmächtig gewesen war, erholte sich sein Körper vielleicht noch. Die Polizei benutzte Taser und Elektroschocker, um den Körper von gewalttätigen Kriminellen vorübergehend bewegungsunfähig zu machen, versuchte Shaw sich zu beruhigen. Die blieben dann auch nicht bis an ihr Lebensende so liegen. Andererseits kannte er auch Geschichten von Menschen, die am falschen Ort über Bahngleise gingen oder auch nur unsachgemäß an einer Steckdose herum geschraubt hatten, und infolgedessen beide Beine amputiert bekamen und den Rest ihres Lebens im Rollstuhl verbrachten.    Shaw konnte die Träne spüren, die über seine Wange kullerte. Ein weiteres gutes Zeichen, das ihn aus der drohenden Depression zurück holte.    Nicht aufgeben! Es würde vielleicht noch ein bisschen dauern, aber er würde seinen Körper zurück bekommen! Zumindest weit genug, um sein Handy aus der Manteltasche zu ziehen und Hilfe zu rufen.    Wie zur Bestätigung seiner Hoffnungen durchfuhr ein heftiges Zucken Shaws Körper und ließ ihn eine knappe Sekunde lang unkontrolliert zappeln. Shaw spürte die Bewegungen zwar nicht, sah sie aber deutlich. Und seine Hoffnung wuchs schlagartig.    Yeah, Baby, Yeah! Er war noch da! Jetzt hieß es abwarten.    Immer wieder befahl er sich dabei den rechten Zeigefinger zu bewegen und hoffte den Genesungsprozess so zu beschleunigen. Er schloss die Augen, um sich noch gezielter zu konzentrieren.    Rechter Zeigefinger, rechter Zeigefinger, rechter Zeigefinger…   Das plötzliche Tippeln kleiner Füße auf Holz riss ihn aus seiner Konzentration.    Shaw öffnete die Augen, ließ den Blick wandern so weit er konnte.    Fuck!    Er hatte die Ratten ganz vergessen. Wieder hörte er die Schritte kleiner Füße, doch konnte die Ratte nirgendwo sehen. Er atmete schneller, als er sich bewusst wurde, dass er vollkommen hilf- und wehrlos war und in einer ungünstigen Höhe lag. Ihm wurde übel, als er an den Schmerz zurückdachte, als die Ratte, die ihn in diese Situation gebracht hatte, sich in seiner Hand verbissen hatte. Nicht auszudenken wie weh es tun würde, wenn eines dieser kleinen Biester auf sein Gesicht los ging. Schweiß lief ihm über die Stirn.    Von wegen nur noch warten! Dazu war überhaupt keine Zeit.  Zeigefinger, Zeigefinger! Zei-ge-fing-er! Verdammte Scheiße!    Das Tippeln der kleinen Rattenfüße kam näher. Plötzlich ein helles, metallisches Klick – das Zuschnappen einer von Shaws Fallen. Innerlich stieß Shaw einen Freudenschrei aus: Ja! Mistvieh! Das hast du davon.    Er versuchte wieder zur Ruhe zu kommen. Stress half ihm jetzt auch nicht weiter. Er musste einen kühlen Kopf behalten, wenn er sonst schon nichts hatte. Sicherlich waren die Köder in den Fallen für die Ratten wesentlich interessanter als er. Warum sollten sie sich die Mühe machen und sich mit dem riesigen Shaw abkämpfen, wenn sie überall im Haus mundgerechte Häppchen zur Verfügung gestellt bekamen.    Ein neues Geräusch drang an Shaws Ohr. Ein leises Kratzen von Holz auf Holz. Und dazu das Tippeln von Rattenfüßen, diesmal wesentlich langsamer, aber vertraut. Kratzen, Tippeln, Kratzen, Tippeln, Kratzen …   Shaw erkannte einen regelmäßigen Rhythmus im Spiel der beiden näherkommenden Geräusche. Er konnte dem ganzen inzwischen auch eine Richtung zuordnen. Es kam von rechts. Doch so sehr sich Shaw bemühte den Kopf zu drehen – nur einige wenige Zentimeter hätten genügt – er konnte den Fußboden nicht sehen.    Die Angst vor dem Ungewissen ließ seinen Atem wieder schneller gehen. Es machte ihn wahnsinnig, nicht sehen zu können, was da auf ihn zukam. Es zu sehen hätte es jedoch nicht besser gemacht.    Plötzlich sah er doch etwas. Ein Schatten legte sich auf die Wand zu Shaws rechter. Er erkannte eindeutig die Umrisse einer Ratte. Sie musste durch eine tief strahlende Lichtquelle gelaufen sein, denn der Schatten war unnatürlich groß. Er verschwand im Nichts, als die Ratte den Lichtschein verließ. Kurz darauf zuckte sie durch Shaws Blickfeld.    Im Bruchteil einer Sekunde sah er borstiges, graues Fell und spürte wie dieses seine Backe entlang streifte, gefolgt von einem langen, fleischigen Schwanz. Die Ratte war zwar nicht so riesig wie der Schatten, den sie an die Wand geworfen hatte, aber ihr Rücken und ihre Ohren waren auf Höhe von Shaws Augen an ihm vorüber gehuscht. Der Schatten an der Wand mochte unnatürlich groß gewesen sein, aber auf die Ratte traf das ebenso zu. Und noch etwas bildete Shaw sich ein gesehen zu haben. Er könnte schwören er hatte Metall aufblitzen sehen. Als hätte das Tier eine Kette um den Hals gehabt.    Er verwarf den absurden Gedanken wieder und konzentrierte sich auf die furchterregenden Fakten. Riesige Ratte, Shaw bewegungsunfähig auf dem Boden. Kurz: Üble Sache! Wo war sie hin? Ein heftiges Zucken fuhr erneut durch Shaws Körper und schüttelte ihn durch. Seine verletzte Hand schnellte dabei in die Höhe, so dass Shaw einen kurzen Blick darauf erhaschte. Von dem Zeigefinger, den er die ganze Zeit so verzweifelt zu bewegen versuchte, waren nur noch abgenagte Knochen übrig.    Tief in seinem Innern stieß Shaw einen panischen Schrei aus. Dann kam sein Körper wieder zur Ruhe, die Hand schlug wieder leblos auf den Boden. Shaw wurde hysterisch.   Oh mein Gott, oh mein Gott, nein, neiiiin!, schrie er in sich hinein. Sein Finger war ab. Sein verdammter scheiß Zeigefinger war einfach weg. Und wer wusste wo dieses Drecksvieh weiter machen würde?    Er musste die Kontrolle über seinen Körper zurück erlangen, bevor das Biest ihn auffraß. Wieder zuckte sein Körper. Diesmal nicht ganz so stark, aber seine Muskeln signalisierten eindeutig Bereitschaft. Sie kämpften gegen die lähmende Wirkung des Stromschlags an.    Weiter so!   Fünf Minuten vergingen, in denen Shaw weitere zwei Male durchgeschüttelt wurde. Die Abstände dazwischen wurden kürzer. Seine Muskeln reagierten häufiger.    Dann kamen das kratzende Geräusch und die langsamen Schritte der Riesenratte wieder. Sie kam näher. Wieder huschte der Schatten des Tiers überlebensgroß an der Wand entlang und verschwand im Nichts. Der direkte Sichtkontakt blieb diesmal allerdings aus. Schritte und Kratzen verstummten. Einen trügerischen Moment lang war es still. Dann hörte Shaw leise schmatzende Geräusche, die mit jedem Mal feuchter wurden.    Die Ratte war wieder gekommen um sich Shaws nächsten Finger zu holen. Er wusste es. Im Moment würde sie die letzten Fleischreste aus den Knochen seines Zeigefingers picken, bevor sie zum Mittelfinger wechselte. Shaw war sich ganz sicher. Egal, so lange sie nur von seinem Gesicht weg blieb! Der bloße Gedanke an die Schmerzen, wenn das Biest sich in seine Nase verbeißen würde, jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Seine Finger ließen es ihn im Moment wenigstens nicht spüren.    Eine Minute später begann Shaws Körper ein weiteres Mal zu beben. Er zitterte am ganzen Leib. Sein Kopf kippte zur Seite, seine Hauptblickrichtung veränderte sich. Shaw sah nun über den Boden hinweg zur Außenwand des Zimmers. Dort erblickte er das kleine Monster zum ersten Mal. Durch die plötzlichen Zuckungen aufgeschreckt, war die Ratte auf Abstand gegangen, brachte zwei schützende Meter zwischen sich und Shaw. Dann blieb sie stehen, wandte sich ihm wieder zu und sah ihn an.    Shaw hatte einmal mehr aufgehört sich zu bewegen. Die Ratte stand einfach nur da. Ein riesiges Vieh. So etwas hatte Shaw noch nie gesehen. Sie war mindestens doppelt so groß wie die Exemplare, die er am Abend und den Vortagen aus seinen Fallen gesammelt hatte. Und das erklärte auch die seltsame Kette, die sie um den Hals trug. Sie hatte den Kopf wohl zu weit in eine der Mausefallen gesteckt. Diese hatte zugeschnappt, der Schlagbügel war schräg auf ihr Gesicht und halb über ihrem Hals zugeklappt. Das dünne Metall hatte blutende Wunden in die Schnauze des Tiers geschlagen und eines seiner Augen zerquetscht, das nur noch als nasser Brei aus der Höhle quoll, aber das Biest war einfach zu gigantisch, als dass die Falle ihm das Genick hätte brechen können. So trug die Ratte die Falle als bizarres Schmuckstück um den Hals, das Holzbrett, auf dem die Metallvorrichtung angebracht war, schleifte über den Boden und verursachte das kratzende Geräusch, das mit den Schritten der Ratte einhergegangen war. Ein zähes Biest, das jetzt mit vorsichtigen Schritten wieder näher kam. Es lief zielsicher auf Shaws Gesicht zu.    Was konnte er tun? Wie sollte er sich wehren?Er versuchte einen Schrei auszustoßen. Vergeblich. Er würde die Augen schließen, kurz bevor das Monster ihn erreichte. So hoffte er, verhindern zu können, dass sein Auge in wenigen Minuten so aussah wie das zerquetschte Auge der Ratte. Diese kam erbarmungslos näher. 40 Zentimeter waren von den zwei Metern Sicherheitsabstand noch übrig. Dreißig. Zwanzig. Noch zehn Zentimeter. Die Ratte war unmittelbar vor seinem Gesicht. Shaw schloss die Augen und griff nach einem letzten Strohhalm. Mit aller Kraft pustete er der Ratte ins Gesicht. Die Lippen konnte er nicht wirklich bewegen und so war es eher ein Hauchen als ein Blasen. Trotzdem: Die Ratte blieb stehen, hielt inne.    Shaw blinzelte ängstlich, öffnete das linke Auge einen Spalt weit. Die Hoffnung, das Biest in die Flucht geschlagen zu haben, verflog augenblicklich. Die Ratte saß reglos da, starrte ihn einfach nur an. Shaw sammelte ein zweites Mal Luft. Die Ratte machte einen zögerlichen Schritt auf ihn zu. Er konnte sehen wie ihre Nasenspitze hin und her tanzte, nach fressbarem schnupperte. Sie war genau vor seinem Mund. Shaw spürte die Schnurhaare der Ratte an seiner Unterlippe. Sie kitzelten viel zu angenehm für dieses Monster.    Ein zweites Mal hauchte Shaw alle Luft aus seinen Lungen in die entstellte Rattenfratze. Das graue Fell wehte leicht nach hinten, die Schnurhaare federten vor und zurück. Die Ratte stoppte erneut. Shaw atmete schnell wieder tief ein, doch diesmal ließ ihm die Ratte keine Zeit. Sie schoss nach vorn, schlug ihre kleinen, spitzen Zähne in seine Unterlippe. Sie bohrten sich durch das weiche Fleisch, das sofort zu bluten begann. Mit aller Kraft zerrte die Ratte an Shaws Unterlippe. Blut spritzte auf den Boden und in seinen Mund. Shaw konnte nichts anderes tun, als dabei zu zusehen. Der Schmerz zerriss ihn, so wie die Ratte seine Lippe zerriss. Sie bewegte den Kopf ruckartig hin und her bis sie ein großes Stück Fleisch aus Shaws Gesicht herausgebissen hatte. Tränen und Schweiß liefen ihm wie Wasser übers Gesicht, sein Blut lief der Ratte wie Wasser über das ihre. Sie ging einige Zentimeter auf Abstand, so als wollte sie, dass Shaw dabei zusehen konnte, wie sie sich genüsslich über seine Lippe hermachte.    Ein einziges Mal in dieser Nacht bereute Martin Shaw seine Gier. Er stand weiterhin hinter dem Mord an seinen Eltern. Er würde auch nicht von seinen Plänen ablassen, seine Schwester ins Jenseits zu befördern um so doch noch an sein verdientes Erbe zu kommen. Aber er bereute zutiefst, dass er dem Kammerjäger nicht das Doppelte und Dreifache von dem bezahlt hatte, was er verlangt hatte. Bestimmt wäre der Profi mit mehr Bedacht in den Kampf gegen die Rattenplage gezogen. Und mit besseren Waffen. Und größerem Erfolg. Und wenn nicht? Dann wäre es wenigstens dieser alte Dorftrottel gewesen, der jetzt hier liegen würde und zusehen hätte müssen, wie eine Ratte von der Größe einer Katze seinen gottverdammten Mund auffraß.    Die Ratte hatte die Unterlippe bis auf den letzten Bissen verschlungen. Danach kauerte sie sich in der Blutpfütze, die sie dabei hinterlassen hatte, auf den Boden und starrte Shaw an. Wahrscheinlich dachte sie darüber nach, welches Stück von seinem Gesicht sie sich als nächstes holen würde. Plötzlich sprang die Ratte auf.    Shaw erwartete das schlimmste. Er wollte gerade die Augen schließen, als er sah, dass sein rechter Arm sich bewegte. Seine Muskeln zuckten wieder.    Ja! Er war noch nicht tot!    Aus dem schwachen Zittern wurde ein kräftigeres Zucken, vor dem die Ratte immerhin so viel Respekt hatte, dass sie ein Stückchen weiter auf Abstand ging. Ausnahmsweise wünschte sich Shaw, sie würde näher kommen, um sich Nachschub zu holen. Vielleicht hätte er das Glück sie mit einem unkontrollierten Schlag zu treffen. Das Zucken weitete sich auf seinen restlichen Körper aus. Und es hielt an. Ab und zu unterbrochen von kurzen Pausen, doch immer wieder zuckten einzelne Nerven und Muskeln, die seine Arme, Beine oder gleich den ganzen Körper in unruhige Bewegungen versetzten. Noch unkontrolliert, aber wenn er seinen Körper zurück bekam, dann würde er diese beschissene Ruine mit Benzin übergießen und abfackeln mit jeder einzelnen Ratte darin.   Er hätte nicht gedacht, dass er einmal das dringendere Bedürfnis haben würde, eine Familie tot zu sehen, als bei seiner eigenen. Aber diese Rattenbrut würde er mit der gleichen Genugtuung auslöschen, ohne sich Reichtum davon zu erhoffen.    Er zuckte heftig und sein Kopf rollte dabei wieder in die Ausgangsposition mit Blick zur Decke. Er verlor die Riesenratte aus den Augen, aber wenigstens bot sein Gesicht in dieser Lage auch nicht mehr ein so gutes Angriffsziel. Jetzt hieß es durchhalten. Er versuchte seine Bewegungen zu koordinieren.    Linkes Bein!, sagte er sich. Linkes Bein!    Sein rechtes zuckte, sein Arm zuckte, beide Arme zuckten. Und immer wieder gab sein Gehirn den Befehl an sein linkes Bein.    Da! Es zuckte! Es hatte auf seinen Befehl reagiert! Linkes Bein!    Er versuchte es weiter. Irgendwo musste er anfangen. Linkes Bein! Es zuckte erneut. Er konnte es spüren. Das Gefühl kehrte zurück. Er spürte wie sein linkes Bein austrat.    Mit diesem Fuß, so nahm er sich vor, würde er die fette Ratte zerquetschen, wenn er erst einmal wieder aufrecht stand. Noch bevor er den Krankenwagen rufen würde, würde seine linke Schuhsohle den Kopf dieser ganz speziellen Ratte in blutigen Matsch verwandeln.    Er zuckte heftig am ganzen Körper.   Plötzlich spritzte Shaw Blut ins Gesicht. Es brannte in seinem Auge.    Wo kam das her? Hatte die Ratte Shaw erneut angegriffen? Und wenn ja, wo?    Er ließ die Augen wandern. Das Riesenbiest konnte er nirgends sehen. Wieder spritzte Blut. Shaw bekam den Moment mit. Es war ein dünner Strahl, der aus seinem Bauch schoss. Er konnte es gerade so aus dem Augenwinkel sehen.    Blut sprudelte aus seiner Bauchdecke, tränkte sein Hemd in tiefes Rot.    Fassungslos starrte Shaw an sich herunter. Er musste mit ansehen, wie sich der Stoff seines Hemds unter der blutgetränkten Stelle wölbte. Ein Knopf riss ab, die beiden Seiten des Stoffs wurden auseinander gedrückt. Ein Kopf schälte sich aus dem Stoff heraus. Der blutverschmierte Kopf einer Ratte. Reste von Gedärm und Fleischstückchen klebten in ihrem Fell. Zentimeter um Zentimeter kämpfte sich die Ratte aus Shaws Körper. Während sie sich mit den Hinterbeinen aus ihm heraus drückte und nur noch der lange fleischige Schwanz folgte, erkannte Shaw, dass er verloren hatte.    Er hatte bereits vor Stunden verloren, als er bewusstlos zu Boden gestürzt war. Es war die letzte Erkenntnis seines Lebens, bevor seine letzten Organe den Dienst versagten. Eine Erkenntnis, die ihm zu seinem Glück verwehrt blieb, bestand darin, dass nacheinander eine zweite und dritte Ratte aus seinem Bauch krabbelten, während sich in ihm ein Dutzend weiterer Tiere an seinen Innereien gütlich tat.    Das Zucken seiner Gliedmaßen wurde durch die spitzen Zähne der Nagetiere ausgelöst, die ihn von unten her ausgehöhlt hatten und an seinen Muskeln und Nervensträngen geknabbert hatten. Es hatte nie eine Chance bestanden, dass er seine Gliedmaßen jemals wieder hätte bewegen können. Die Rattenfamilie hatte seine Hoffnungen von innen gesteuert und ihn wie eine Marionette zappeln lassen, während das riesige Muttertier ihn bewacht hatte und sicher stellte, dass von ihm wirklich keine Gefahr für ihre Familie ausging. Und ganz nebenbei hatte sie blutige Rache an Shaw genommen für die Ermordung ihrer zahlreichen Kinder in den vergangenen Tagen.   Folgte man nun dem Weg, den die Ratten durch den Körper von Martin Shaw gebissen hatten, vorbei an den Resten seines Magens und durch das letzte Stück Dickdarm, das sie übrig gelassen hatten, so stieß man auf ein Loch in den Dielen des Holzbodens unter ihm, das in die Zwischendecke hinab führte. Dort tummelten sich aberhunderte ihrer Brüder und Schwestern. In verschiedensten Größen und Farben warteten sie darauf, in die warmen Reste eines menschlichen Körpers empor zu klettern und heraus aus den kalten Stapeln der Geldscheine, der Millionen von Dollars, auf die Martin Shaw in Decken und Wänden gestoßen wäre, wenn er, wie von seinen Eltern verlangt, viel Mühe und Arbeit in das alte Familienhotel The Rose investiert hätte.   E N D E  (Köln, 10.09.2012) ******************** Am 2.10.2019 um 17:27 von MarcoTheiss auf StoryHub veröffentlicht (http://sthu.de/s=i%23%7BVK) ********************