******************** conjunction junction whats your function von PhilipGrabbert ******************** ++++++++++++++++++++ Kurzbeschreibung ++++++++++++++++++++ Ein Ereignis mit der Kraft eines langsam ausbremsenden Öltankers erfasst das Leben von Finn. Seine beiden Teenager Anita und Angelo kreisen dabei wie Satelliten um ihn herum. Sie versuchen zu analysieren und zu helfen. DELPHIN IN SEENOT Finn stand in der Küche und ging den ersten Abschnitt seiner Aufgabenliste für heute durch: * Mittwoch * Jetzt, 7:11 Uhr. * Unterrichtsbeginn um 9:00. Die erste Stunde fiel heute aus für seine Kinder. * Für Anita die Edelstahlbrotdose mit Bambusholzdeckel. Keine Kunststoffe. Rohkostgemüse, Haferschnitte. Kein Obst, keine Tomaten. * Für Angelo eine der Boxen, die sein Sohn selbst bemalt und beklebt hatte. Neun Stück — jeden Tag eine andere. Eiweißriegel, Grüner Smoothie (Ingwergeschmack), Toastsandwiches mit veganem Aufstrich und Blattsalat. Anita und Angelo waren fünfzehnjährige Zwillinge. Seit ihre Mutter mit einem anderen Kerl durchgebrannt war und wegen möglicher Unterhaltszahlungsforderungen ihren Aufenthaltsort effektiv verschleierte, stand Finn alleine mit der Betreuung von den beiden da. Das machte ihm nichts aus. Er fand es sogar besser: keine Debatten über wie, was und wann mit einer Partnerin. Finn besaß die Kontrolle über alles und machte es gerne für seine Kinder. Das war seiner Einschätzung nach wiederum auch ein Vorteil für die Entwicklung, wenn Eltern keine Erziehungsdebatten gegenüber ihren Kindern auslebten. Einer seiner Sprösslinge kam mit schlaftrunkener Miene — wie es sich für normale Teenager zu so einer unmenschlichen Uhrzeit gehörte — die Treppe aus dem ersten Stock des Mittelklasse-Appartments heruntergetappst. In einem braunen Onesie mit Hasenohren. Sie waren so süß. Und er würde sie gerne länger schlafen lassen, aber das ging nicht: Schule war auch wichtig. „Hallo Schatz. Hast du gut geschlafen? Liegt Angelo noch im Bett?“ „Ich bin Angelo, Papa.“ „Oh. Verdammt. Sorry. So war das nich gemeint. Ich mein... Ihr seht euch immer ähnlicher, seit du...“ „Seit ich den Pferdeschwanz trage wie sie? Ist das wieder eine deiner prodigestiven Gender-Theorien?“ „Progressiv. Es heißt progressiv. Und du weißt, dass ich es nich so meine. Keine Sorge — wenn Anita größere Brüste bekommen hat, passiert mir das garantiert nich mehr.“ Angelo zuckte innerlich merklich zusammen und verschwand im Badezimmer: „Hast du immer noch nicht gewaschen?!“, rief er. „Nimm die Klamotten von gestern! Wird dich nich umbringen! Liegen neben der Waschmaschine!“ „Warum dürfen wir nicht selber waschen?!“ „Weil’s dann verfärbt oder einläuft! Ich kann euch nich ständig Geld für neue Sachen geben!“ Für Finn war das eine Frage der Erziehung. Ein schmaler Grat. Nicht zu viel Bekleidung, um keinen modebedingten Konsumrausch zu fördern sowie Achtung vor Wert und Besitz zu fördern. Nicht zu wenig trendige Sachen, um die Kinder nicht leiden zu lassen oder eine Ausgrenzung in der Schule und unter Freunden zu fördern. Außerdem — das schmerzte ihn am meisten: Finn war arbeitsuchend. Das Geld war knapp. Sehr knapp. Angelo kam zurück aus dem Badezimmer und setzte sich an die Theke der offenen Wohnküche. Er war Weltmeister im Speed-Washing. „Hast du dir die Zähne geputzt?“ „Warum? Willst du mich küssen?“ Finn schmunzelte. Küsse hatte Angelo überhaupt nicht gerne. Don’t hug me, I’m scared. Er akzeptierte generell nichts Körperliches von seinem Vater. Anita gesellte sich schweigend zu ihnen. Sie brauchte immer erst mal einen heißen Kakao aus pflanzlicher Milch, bevor sie ins Bad ging. Die Körperlichkeit ihres Vaters, seine Art, anderen auf die Schulter zu klopfen und sie dabei zu reiben, einem mit der Hand ins Gesicht zu greifen und die „Schnute“ dabei zusammenzudrücken — all das mochte sie auch nicht, nahm es jedoch still hin. „Hier Schatz, dein Kakao.“ Anita saß an der Küchentheke neben Angelo und Finn hielt ihr den dampfenden Becher hin. Er blickte ihr gedankenverloren auf den Oberkörper, der ebenfalls in einem braunen Onesie mit Hasenohren steckte. „Warum starrst du mich so an, Paps?“, fragte Anita. „Ach nichts, Purzel. Ich dachte nur...“ „Er wartet, bis du größere Brüste hast.“ „Angelo!“ „Iiiih! Papa!!“, reagierte Anita. Dann startete sie ihre Playlist fürs Frühstück. Sie begann mit „Spoiled Little Brat“ von Underscores. Angelo wippte mit.   AUCH DAS NOCH Während Finn im Kopf bereits den nächsten Abschnitt seiner To-Do-Liste für den heutigen Tag abrief, stand Anita vor der Wohnungstür und versuchte, den Rucksack auf ihrem Rücken zu öffnen, um ihre Snack-Dose darin zu verstauen. Finn trat näher, nahm ihr das Gefäß aus der Hand und zog den Reisverschluss auf. Dabei dachte er an den Briefkasten. Er hatte ihn zuletzt am Samstag geleert. Schon ein paar Zustelltage her. „Pass auf, dass dir der Zopf nich hinten im Rucksack verhakt. Wir können uns keinen neuen leisten“, sprach er abwesend mit seiner Tochter, während er die Dose sicher hinter dem elastischen Innenfutternetz verankerte. Heute war Mittwoch. Es musste mal wieder sein. Dieser scheiß Briefkasten... Seit Finn vom Arbeitslosengeld ins Bürgergeld eingegliedert worden war, hatte er regelrecht Angst vor dem blechernen Paragraphen-Leviathan, der Einladungen, Rechtsbelehrungen, Bescheide und ziemlich weit hergeholte Arbeitsangebote ausspuckte. Finn bekam Beklemmungen, wenn er nur daran dachte, dort hingehen und ihn öffnen zu müssen. Jobcenter. Das alles war neu für ihn — und es war wirklich beängstigend, was von denen alles mit Menschen wie ihm versucht wurde. „Zopf oder Rucksack?“, fragte Anita. „Was meinst du?“ „Keinen neuen Zopf oder keinen neuen Rucksack?“ „Ich versteh dich nich — warum fragst du mich das? Brauchst du Geld für Extensions, oder was? Das kann ich nich bezahlen. Weißt du doch.“ Die Zwillinge trabten ab zur Schule. Finn atmete kurz durch und gönnte sich einen Kaffee und ein Stück Schokolade. Fünfundachtzig Prozent Kakao-Anteil. Keine Bio-Produkte, das war bei Süßigkeiten nicht mehr bezahlbar. Er überwand sich, zum Briefkasten zu gehen. Es musste sein. Er hatte es instinktiv schon richtig erfasst, dass wichtige Behördenschreiben in seiner Situation nicht schleifengelassen werden durften. In dem fremd gewordenen Alltagstool, das er mit all seinem zur Verfügung stehenden Mut öffnete, fand er zwei neue Briefe vor. Absender bei beiden: team.arbeit.hamburg. Das Jobcenter. Der erste Brief war eine Gesprächseinladung seiner Arbeitsvermittlerin. Er nahm es nicht als Einladung wahr, sondern als Vorladung. Wer unbegründet nicht hinging, erhielt eine Sanktion. Schlimmer als bei einer Aufforderung, zu einer Polizeivernehmung zu erscheinen. Der zweite Brief war von der Leistungsabteilung. Das Schreiben erläuterte, dass die vollen Kosten für Finns Wohnung sehr bald nicht mehr übernommen werden würden. Er müsse umziehen oder aus eigener Tasche bei der Miete ergänzen. Auch das noch.   KLARTEXT Am späten Nachmittag kam Finn vom Einkaufen nach Hause. Angelo empfing ihn: „Paps, wir wollen es dir einfacher machen“, sagte er mit einem beinahe belehrenden Unterton, „Wir haben uns die Fingernägel unterschiedlich lackiert. Schwarz und rosa abwechselnd. Nita startet mit Daumen rosa — ich mit schwarz.“ Angelo hielt seine Hände hoch. „Wie findest du’s? Hat Nita gemacht.“ „Ich muss mit euch sprechen. Jetzt sofort. Bitte hol Anita dazu.“ Er erklärte den Zwillingen, dass sie sich alle auf Wohnungssuche begeben mussten. Seine Kinder nahmen es unerwartet gelassen hin: „Abenteuer!“, rief Angelo. „Ja! Abenteuer!“, bestätigte Anita. Sie startete wieder eine ihrer Playlisten. Diesmal: „Fuckboy“ von Brakence. Finn liebte den Song. Das Gespräch hätte nicht besser verlaufen können. Er war stolz auf seine kleine Rasselbande. Die folgenden Tage waren geprägt von Durchforstung des Internets zur Thematik der Wohnungssuche. Registrierung auf Portalen, Anmeldungen bei Baugenossenschaften und erste Terminvereinbarungen zu Wohnungsbesichtigungen. Finn sprach auch persönlich beim Wohnungsamt vor, um einen Dringlichkeitsschein zu erhalten. Die Gebühr hatte er an einem Automaten auf dem Flur bezahlt — mit den letzten beiden Fünf-Euro-Noten aus seiner Brieftasche. Er legte die Quittung dafür in Zimmer 211 vor. Er erhielt den Dringlichkeitsschein und hörte danach nie wieder etwas von dem Amt; keine Vorschläge zur Wohnungsvermittlung wurden ihm zugesandt.   CRINGE Wohnungsbesichtigung mit einem Hausmeister. „Da wären wir. Hallo. Guten Tag. Wir sind Familie Thiel. Das ist Anita meine Tochter. Und das ist mein Sohn Angelo.“ Finn trug ein efeugrünes Kapuzensweatshirt mit einem dezenten Print einer Anime-Figur auf seiner Herzseite: Yu-Gi-Oh. Er streckte dem Hausmeister seine Hand zum Gruß entgegen. „Da hätte ein gemeinsamer Name gereicht bei Ihren Kindern“, knurrte der Hausmeister. Er genoss die Pause. Finn nahm sie auf und ließ sie gleichermaßen wirken. Dann übernahm er die Kontrolle, seine Geste zum Handschlag weiterhin anbietend: „Sie können sich nich vorstellen, wie oft wir das schon gehört haben. Angelita ist safe unser Favorit für die Kombo.“ Anita kicherte. Angelo legte den Kopf schräg und bereitete dem Hausmeister schöne Augen. Der Hausmeister signalisierte körpersprachlich wohlwollend, dass er an einem Handschlag nicht interessiert war. Finn nahm die Geste zurück. Der Mann schien doch ganz nett zu sein, nur ein bisschen polterig — aber ehrlich. „Wenn Sie die Wohnung haben möchten, dann werden Sie sich benehmen müssen. Hier wohnen anständige Leute, die früh raus müssen und abends ihre Ruhe haben wollen.“ Finn überlegte. Seine Zwillinge waren schon immer ruhige Kinder gewesen. Ihre Musiklautstärke ließe sich runterregeln. Zur Not halt Kopfhörer. „Hier riecht es nach Dixi-Klo“, stellte Anita nüchtern fest. „Und das Licht im Treppenhaus geht auch nicht“, ergänzte Angelo faktisch. Finn kam zur Vernunft: „Sie finden bestimmt einen anderen Homie für das Kloster.“   REGELBASIERT Massenwohnungsbesichtigung. Trüber Tag im Januar. Es regnet. Die Schlange zum Anstellen war lang. Sie reichte bis auf den Gehweg hinaus und führte an den örtlichen Geschäften entlang. Wie bei einem Blockbuster, wo die Fans gespannt zur Premiere anstehen, um die ersten Eintrittskarten zu erhalten. Nachdem sich Finn mit den Zwillingen zusammen auf der Straße einen abgefroren hatte, rückten sie bis zum Treppenhaus vor. Die Menschen-Anakonda zog sich die Treppen hinauf weiter. Von oben bahnten sich Interessierte, die fertig hatten, ihren Weg nach unten. Die Gesichter wirkten erschöpft, registrierte Finn. Im zentralen Bereich des Besichtigungsobjekts angekommen, wurde er wütend: „Wir sind eine dreiköpfige Familie. Sie lassen uns zwei Stunden lang im Regen und in der Schlange steh’n, und dann so ein winziges Loch?“ Der Besichtigungsleiter blieb cool: „Wieso zu klein? Die Kinder gemeinsam ins hintere Zimmer — und Sie schlafen auf dem Sofa in der Wohnküche. Sie haben doch ein Sofa, oder? Ist allemal besser, als auf der Straße zu landen.“ In Finn wechselte der Wahrnehmungszustand. Gemeinsam schalteten all seine Neuronen in einen Modus, der ihm unbekannt war. Das Licht erschien ihm heller, fast milchig. Sein Blick fokusierte sich auf den Mann, der ihm das eben schonungslos beigepult hatte. Alles in Finn flüsterte: feindlich. Hier ist feindlich. Feindlich. Es gehörte zu der klarsten Wahrnehmung seines beinahe vierzigjährigen Lebens, und es ergriff ihn wie ein Trauma. Eine Verschiebung der Zeit. Etwas, das keinen Takt oder Rhythmus besaß. Nur ein Impuls wollte sich aus ihm lösen: Dem schlag ich die Fresse ein! Er ballte seine Faust. Anita bemerkte es zuerst. Der alles aus dem Weg räumende Rasenmäherdelphin, dessen achtsame Flosse stets sichtbar an der Oberfläche blieb, drohte zu ertrinken. Sie fasste ihren Vater sanft am Ärmel der Hand, die sich verkrampfte. Angelo nahm das wahr und unterstützte seine Schwester. Er bezog Stellung auf der anderen Körperseite von Finn, als würde er sich ihm in den Weg stellen. „Nicht“, sprach Angelo leise. Finns Verkrampfung löste sich. Er sah Angelo an. Dann den Mann, dem er eben noch eine reinhauen wollte. „Wir gehen“, entschied er entschlossen.   KONSEQUENZEN Es gab ein Meeting an der Küchentheke. Wie gewohnt saßen die Zwillinge auf den Barhockern und Finn stand vor ihnen mit dem Rücken zu den Einbauschränken. Er lehnte sich dort an und erklärte seinen Kindern ruhig, vorsichtig und ausgedehnt, dass er sie nicht mehr zu Besichtigungen mitnehmen würde. „Ist scheiße, aber is’ besser so.“ „Ich weiß gar nicht, warum du dir darüber so einen Kopf machst“, kommentierte Anita. „Das sind die Spielregeln. Tarnen und täuschen“, unterstrich Angelo. Finn wollte Angelo auf die Schulter klopfen und ihn über die Theke gebeugt in den Arm nehmen. Er entschied sich dagegen. Lass es einfach. Nicht jetzt. Die Zwillinge wechselten in Angelos Zimmer. Dort prüften sie die Registrierungen, die Finn zuletzt bei Baugenossenschaften angelegt hatte. Sie besaßen Zugriff darauf. Finn vertraute ihnen rückhaltlos — ein gemeinsames Team. Sie würden keinen Blödsinn veranstalten, sie waren mehr von widerstandsbefreiten Regeln geleitet als er selbst. „Was ist nur los mit ihm?“, fragte Anita verzweifelt. „Lass uns Chat fragen“, schlug Angelo vor. Chat war ihr Name für die KI, die sie nutzten. Das Sprachmodell erklärte ihnen, dass Finn an einem Burnout-Syndrom litt. „Er hat das Wunschvorstellungsfeld bei den Genossenschaften überall nicht ausgefüllt“, bemerkte Anita begutachtend. Angelo bat Chat erneute um seine Hilfe. Die KI sollte einen kurzen Absatz formulieren, den sie dort eintragen konnten. Nach einigen Modifikationen hatten sie ihren Text: Wir wünschen uns ein schönes Zuhause für unseren Vater. Er braucht Ruhe. Sie trugen den Wunsch in den dafür vorgesehenen Feldern ein.   TERMIN BEIM JOBCENTER Die Tage waren vergangen und Finn betrat das Gebäude mit einem mulmigen Gefühl. Er hasste es, sich in einer Opferrolle zu fühlen. Doch das war es: in diesem Gebäude wurde Menschen die Würde geraubt. Er hatte noch keine neue Anstellung gefunden. Es war keine Scham — es waren Befürchtungen. Er berichtete der Sachbearbeiterin von seiner kleinen Familie, dem Verschwinden seiner Frau und den Problemen wegen der Wohnungssuche. Sie sah ihn gefasst und mütterlich an und begann zu sprechen: „Herr Thiel, ich werde Ihnen da keine Steine in den Weg legen. Und falls ich Ihnen doch mal ein Arbeitsangebot schicken muss, versuche ich es ohne beigefügte Rechtsfolgenbelehrung. Dann müssen Sie sich nicht bewerben, genauer gesagt, wir können nicht sanktionieren, wenn Sie das Angebot ablehnen. Selbst mit einer Rechtsfolgenbelehrung: Sie sind klug genug, sich in einem Vorstellungsgespräch so darzustellen, dass niemand Sie nehmen möchte.“ „Ist das erlaubt? Ich mein, ich vereitel damit doch die Arbeitsaufnahme. Eine Meldung von denen und ich kassier ’ne Sanktion.“ Er vermied Augenkontakt. Nur ganz kurz mal hinsehen. „Das ist nicht unbedingt erlaubt, wenn es ein Angebot ist, das genau zu Ihnen passt und der Arbeitgeber Sie haben möchte. Trotzdem machbar. Wenn die uns melden, dass Sie verhaltensbedingt bewusst vereitelt haben, und wir sanktionieren Sie deswegen, können Sie uns alle gemeinsam verklagen.“ Sie ließ das einsickern. Sie spürte Finns Skepsis. Er blickte auf die Mappe, die er mitgebracht hatte. „Eine Sanktion, wie immer sie auch zustande kommt, ist schmerzhaft. Ja. Weil erst mal das Geld fehlt und Sie sofort anwaltlich darauf reagieren müssen, damit die Sanktion aufgeschoben wird. Oder Sie machen das ohne Anwalt. Vor dem Sozialgericht brauchen Sie bei Anträgen und Klageeinreichungen erst mal keinen Anwalt. Sie brauchen auch die Klage nicht selbst schreiben — das machen Rechtspfleger bei Gericht, mit denen Sie dort sprechen können. Einen Anwalt können Sie zur Not über Prozesskostenhilfe hinzuziehen, wenn wir, vom Jobcenter... Wenn wir nach Ihrer Klageeinreichung nicht schon kleinbeigeben, bevor überhaupt ein Verhandlungstermin angesetzt wird.“ „Oh“, war das einzige, was Finn dazu herausbrachte. „Wissen Sie, eigentlich steht das bedingungslose Grundeinkommen seit Beginn unserer Republik im Grundgesetz. Deutschland ist ein sozialer Rechtsstaat. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das Recht auf freie Berufswahl. Die Bewegungsfreiheit. Das Verbot von Zwangsarbeit. Auch im Sozialgesetz ist die Rede von zumutbarer Arbeit. Das wichtigste Wort hier ist zumutbar, Herr Thiel.“ Sie ließ es wieder einsickern. Finn suchte erstmalig offen ihren Blickkontakt und hielt ihn. „Auf der großen Bühne wird so getan, als müssten Sie sich verbiegen, und als gäbe es diese Grundrechte nicht. Aber wenn es ans Eingemachte geht: Sie würden uns am Ende vor dem Verfassungsgericht in die Knie zwingen. Das wissen auch die Sozialgerichte. Die heben Entscheidungen von uns Jobcentern wieder auf, weil es so ablaufen soll. Es soll möglichst niemand durch alle Rechtswege hindurch bis vors Verfassungsgericht kommen. Und wir sollen probieren, Ihnen Angst zu machen und Ihnen schockierende Erlebnisse zu bereiten. Wir sollen Sie erziehen.“ Jetzt sickerte es nicht mehr, Finn verarbeitete es. „Unterschreiben Sie nichts, was ich Ihnen vorlegen muss. Eingliederungsvereinbarung oder Kooperationsplan. Solche Sachen. Wenn Sie das unterschreiben, dann verzichten Sie freiwillig auf Ihre Grundrechte. Das wäre ein zivilrechtlicher Vertrag zwischen Ihnen und dem Jobcenter. Da kann Ihnen dann kein Sozialgericht und kein Verfassungsgericht mehr wieder raushelfen. Wenn Ihnen so eine Vereinbarung per Verwaltungsakt von uns auferlegt wird — also ohne Ihre Unterschrift —, dann legen Sie Widerspruch dagegen ein. Wir dürfen Sie nicht zu einem Vertragsabschluss zwingen. Aber eines rate ich Ihnen dringend: Seien Sie kein Totalverweigerer. Sie müssen der Gesellschaft ein Angebot machen. Aus Ihrer Persönlichkeit heraus. Sie verstehen, was ich meine?“ Bestürzung und Erleichterung zugleich überkamen Finn. Was für ein Strudel... Seine Flosse kam zurück an die Oberfläche: „Das heißt, ich schaff sowas, weil ich weiß, was ich will. Weil ich das Handbuch gelesen habe und mir mein... Mein Spielkartenset neu zusammenstellen kann.“ Er hätte beinahe „Deck“ statt „Spielkartenset“ gesagt, doch das wäre bei seinem die Wahrheit flüsternden Engel bestimmt wie eine Sprache von einem anderen Planeten angekommen. Er beendete mit: „Weil ich es intellektuell durchdringe. Weil ich meine Rechte kenne und kämpfen kann. Und die anderen?“ „Die verlieren. Viele trauen sich noch nicht einmal mehr an ihren Briefkasten. Die reagieren nicht und gehen unter.“ „Das Gefühl mit dem Briefkasten kenn ich. Mildert sich aber gerade ein bisschen ab, durch das, was Sie mir erklärt haben.“ „Dann gehen Sie jetzt nach Hause, finden eine Wohnung, und wir sehen uns in sechs Monaten wieder.“   SCHMERZ Es wurde zeitlich eng. Finn könnte den Anteil zur Miete niemals aufbringen, wenn es soweit wäre. Sie hätten dann schlicht und ergreifend nichts mehr zu essen. Alles war so kompliziert und klebrig: Bonitätsbescheinigung bei der Schufa einholen zur Vorlage beim potentiell neuen Vermieter. Zusätzlich eine lobende Bescheinigung des aktuellen Vermieters organisieren über das hochwohlgeborene Verhalten seiner Familie in den genutzten Wohnräumen. Bei der letzten Wohnungsbesichtigung mit der SAGA war seine sich entwickelnde Erkältung ausgebrochen. Als er sich dort in eine Liste für Interessenten eintragen wollte, kochte sein Körper fiebrig heiß. Seine Hände hatten geschwitzt, und ein winziger Tropfen Rotz aus seiner Nase war auf das Dokument gekleckert, während die zwei Mitarbeiterinnen der Wohnungsgesellschaft daneben standen. Aus die Maus. So einem gibt man keine Wohnung. Diplomatischer ausgedrückt: Da präferiert man erst einmal andere Bewerber. Finn stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und lehnte sich mit der linken Seite seines Oberkörpers gegen eine Ecke des Schranks im Wohnzimmer. Es schmerzte. Wie ein Kranz zog sich der Schmerz — ähnlich einem Muskelkater — um sein Herz herum. Das war nich gut. Das war nich metaphorisch. Das war körperlich. Oh kacke Mann, wo sollte das alles noch enden? Er könnte einen Teil der wichtigsten Möbel einlagern lassen, falls sie keine Wohnung fänden. Aber nicht städtisch unterstützt — dort würden Sachen verschwinden und schlecht behandelt werden, hatte er recherchiert. Gebührenpflichtig einlagern bei einem spezialisierten Unternehmen? Er hatte das für mehrere Monate ausgerechnet. Genauso gut könnte er sich die einzulagernden Teile günstig neu kaufen. Alles war ein Brombeerbusch: ineinander verschlungen, ausladend in der Dimension und gefährlich dornig. Wer dort hineingeriet, in den verbiss das Gewächs sich und erzeugte kleine aber entzündliche Wunden beim Losreißen.   IN LETZTER SEKUNDE Kurz bevor das letzte Stündlein schlug, traf ein Email des Bauvereins der Elbgemeinden ein. Finn wurde ein verfallendes, kleines und zur Miete überaus günstiges Haus angeboten. Mit der Auflage, es auf eigene Kosten zu renovieren. Es verfügte noch nicht einmal mehr über Wasseranschluss. „Bringen Sie mir Ihren Dringlichkeitsschein mit. Damit die Stadt sieht, dass jedenfalls wir uns kümmern“, bat ihn der Sachbearbeiter während des ersten Telefongesprächs. „Und kommen Sie am besten jetzt sofort, nicht morgen.“ Finn ließ alles stehen und liegen und fuhr mit der S-Bahn zur Zentrale des Bauvereins. Ohne sich das Objekt anzuschauen, schloss er den Vertrag. „Es wird Ihnen gefallen. Ihre Kinder haben einen so wunderbaren Text geschrieben. Das Haus und das Gelände haben was Besonderes. Ein bisschen wie bei Harry Potter, fast schon verzaubert.“ „Meine Kinder haben was? Echt jetzt? Muss ich seh’n. Das ist ja nice“, reagierte Finn. Der Sachbearbeiter drehte seinen Bildschirm. Finn las und begann zu strahlen — seit Langem mal wieder. „Das ist on point, Herr Thiel. Hat mich wirklich berührt.“   DAS HAUS Finn zahlte das Geld für die Genossenschaftsanteile — die ähnlich einer Kaution für eine Mietwohnung waren — aus den Ersparnissen, die er für die Zwillinge zurückgelegt und bisher nicht angetastet hatte. Sein Schonvermögen, an das auch das Jobcenter nicht heran durfte. Egal, wie eng es geworden war: Über das Geld sollten Anita und Angelo ab ihrem einundzwanzigsten Geburtstag verfügen dürfen. Jetzt ging es nicht mehr anders, denn die Kaution für seine alte Wohnung erhielt er nicht sofort zurück. Außerdem entstand eine Doppelmiete im April: eine Zahlung für die Wohnung und eine für das Haus. Dann noch Kosten für den gemieteten Umzugswagen sowie Lohn für einen Umzugshelfer. Finn besaß keinen Führerschein. Der Fahrer konnte mithelfen beim Tragen der Einrichtungsgegenstände, die sie im neuen Haus unterzubringen vermochten. Der Rest wanderte auf den Müll. Spermüllabholung. Gebührenpflichtig. Küchengeräte der alten Wohnung durfte er nicht entfernen. Er würde einen Anwalt damit beauftragen, jedenfalls einen Teil der Kosten über das Jobcenter zurückzuerhalten. Alles war terminlich so eng und auf den letzten Drücker gewesen, dass vorherige Anträge bei der Behörde nicht mehr möglich gewesen waren. Sogar kontraproduktiv — er hatte schlicht und ergreifend keine Zeit dazu gehabt bei all den notwendigen Handgriffen. Um eine erste Beratung bei einem Anwalt bezahlen zu können, würde er beim Amtsgericht einen Berechtigungsschein für Beratungshilfe beantragen müssen. Damit zahlte er nur noch zehn Euro für ein anwaltliches Gespräch hinzu. Solche Beträge waren im Regelsatz des Bürgergelds nicht enthalten; er würde die zehn Euro unter anderem aus den monatlichen Kopfpauschalen zusammenkratzen für: die Kostenansparung einer Beantragung eines Personalausweises (40 Cent), dem Bildungswesen (2,03 Euro) sowie der Beherbergungswesen- und Gaststättendienstleistungen (14,69 Euro). So schob man es sich theoretisch im Kopf zurecht. Praktisch war unterm Strich jedoch jeden Monat einfach nur zu wenig Geld vorhanden. Während Finn mit diesen ganzen Dingen beschäftigt und der Druck weiterhin hoch für ihn war, stand er gemeinsam mit den begeisterten Zwillingen in dem sehr vereinzelt noch möblierten Haus, in dem alles so wirkte, als sei es schon viele Jahrzehnte lang nicht mehr benutzt worden. Es trug den Charme des Alters — von Staub und Spinnenweben, von vergangenen Erinnerungen, von Wintern ohne Heizung und von den Menschen, die in ihm gelebt hatten. Im unteren Geschoss bestand es eigentlich nur aus einem Flur und einem großen Raum mit einem Kamin, in dem einmal die Kücheneinrichtung gestanden haben musste. Eine Treppe ging hinauf zum ersten Stock mit Bad und drei weiteren Zimmern. Eine zusätzliche, noch viel schmalere Treppe führte zum Dachboden. Finn würde zu seinem Bruder fahren müssen. Übers Wochenende. Er brauchte dringend Geld für die Instandsetzung des Hauses. Es gab ja noch nicht einmal fließend Wasser. Sie durften es sich bei einem Nachbarn weiter entfernt aus dem Hahn an der Außenwand seines Hauses holen. Finn hatte probiert, einen Kredit bei verschiedenen Banken zu erfragen. Den erhielt er nicht als Bezieher von Bürgergeld. Vielleicht könnte sein Bruder bürgen. Er war Field Manager bei Bridge Builder Vision Africa und gerade für ein paar Wochen aus dem Ausland zurückgekehrt. Er wohnte in Kassel. Finn würde mit seinem Deutschland‑Ticket dort hinfahren — ungefähr vier Stunden Reisezeit mit Regionalzügen und allerlei Umsteigen. Wie gut, dass es das Deutschland-Ticket gab, und er seine verbriefte Bewegungsfreiheit dadurch auch relativ sozial ausgewogen in Anspruch nehmen konnte. Der Preis des Tickets war höher als der monatliche Anteil für Verkehr und Mobilität im Bürgergeld. Sie versammelten sich zu dritt im Erdgeschoss vor einem Beistelltisch. Er war aus dunklem Holz gearbeitet und verfügte über zierliche Beine. Auf ihm befand sich ein Schwarz-Weiß-Foto in einem Standrahmen. Es zeigte das Bild einer Frau mittleren Alters. Sie besaß langes hochgebundenes Haar, ein sanftes Gesicht und trug eine feine Bluse. Ein Marienkäfer landete direkt auf einem ihrer Augen. Er klappte seine Flügel ein und blieb dort sitzen. „Ich werde am Freitag zu Onkel Lukas fahren. Bis dahin sortieren wir unseren ganzen mitgebrachten Krempel. Und ich zeige euch, wie ihr den Kamin und die Küchenhexe richtig benutzt. Versprecht mir, dass ihr immer die beiden Feuerlöscher daneben stehen habt — für alle Fälle. Was für ein Glück haben wir Strom.“ Die Küchenhexe war ein schwerer, gusseiserner Herd, der mit Holz befeuert werden musste. „Versprochen beim Bart des Propheten“, orakelte Angelo. „Dreimal schwarzer Kater“, würzte Anita. „Den Bart nicht ins Feuer hängen lassen, Angelo“, feixte Finn. Die Zwillinge kicherten und schmiegten sich beide gleichzeitig kurz an ihren Vater. Anita beobachtete den Marienkäfer. Er saß auf dem Auge der Frau und bewegte sich nicht. Der Kontrast, den sein orangeroter Körper auf dem Bild erzeugte, hätte auch das Cover eines Musikalbums sein können, dachte sie.   DER GARTEN Der frühe April war kühl, die volle Sonne schon stark. Im verwilderten Garten, der sich einmal komplett ums Haus herum zog und an der Hinterseite besonders weitläufig war, erwachte zum Leben. Erste Unkräuter zeigten sich und die Forsythien erstrahlten in gelber Blüte. Hinter dem Haus fanden die Zwillinge etwas, von dem sie nicht wussten, um was es sich handelte. Es besaß ein Gesicht aus Stein. Mit einem geöffneten Mund und Haaren, die wie nach hinten getragene Rastalocken aussahen. Es besaß überdimensioniert große Ohren. Darunter befand sich auf einem Sockel ein Becken, das bis obenhin mit allerlei Unrat aus dem Garten angefüllt war. Sie machten ein Foto von dem ungewöhnlichen Deko-Teil und gaben es Chat. Er antwortete: Das, was ihr da zeigt, nennt man einen Wasserspeier. Genauer gesagt: einen dekorativen Wasserspeier mit Auffangbecken. Früher waren Wasserspeier Teil von Kirchen oder alten Gebäuden. Sie hatten eine echte Aufgabe: Sie haben Regenwasser vom Dach weggeleitet, damit die Mauern nicht kaputtgehen. Der hier in eurem Garten ist keiner mit Funktion, sondern eine Gartenfigur. Das Auffangbecken ist meist gedacht: * als Vogeltränke * oder einfach als Dekoration Wenn man es noch genauer sagen will, kann man auch sagen: * Gargoyle (englischer Begriff, sehr verbreitet) * oder Wasserspeierfigur „Wir haben einen Gargoyle im Garten...“, murmelte Angelo. „...und eine Küchenhexe im Wohnzimmer. Schau“, stieß Anita ihn an und verwies auf den Wasserspeier. Auf dem Rand des Beckens kroch langsam eine große Weinbergschnecke entlang. Die farbintensive und verwirbelte Zeichnung ihres Gehäuses zog die Zwillinge in ihren Bann. Dann trat Wasser aus dem Mund des Speiers. Ganz sanft, aber mit Druck. Beinahe schwerelos hoben die Geschwister ihre Köpfe weg von der Schnecke hin zu dem plätschernden Atemhauch des Gargoyles. Ein Vogel flatterte von einem Baum auf. Sie erschraken entrückt. Drehten wieder ihre Köpfe. Eine Krähe. Krächzend stieg sie in den Himmel auf und flog davon. Anita und Angelo sahen sich an. Zwei Geschwister, ein Gedanke — zugleich ausgesprochen: „Hier spukt es.“ Der Speier beendete sein Schauspiel. Der Wasserstrahl versiegte.   FRIDAY I’M IN LOVE Bermerkt, getan: Die Zwillinge posteten eine Einladung auf ihrem Discord-Channel NachtmahrHashes. Eine kleine Gruppe nahestehender Freunde: Von PlaylistHydraX (das war Anita): Lost Place gehört jetzt uns. Freitag ab 20 Uhr im neuen Haus -> Am Mooswinkel 4 Von sandyWitch (das war Angelo): Bringt eure Geräte mit! und was warmes zum anziehen, wir heizen nicht Von Russel: ich komme mit kenny Kenny — echter Name Kenshin und gerade dreizehn geworden — war der kleine Bruder von Russel. Kenny selbst und alle anderen schrieben seinen Namen immer klein. Nicht, um ihn zu ärgern; er gehörte dazu und war der Bro fürs Grobe: Was getan werden musste, das musste getan werden. Von LumaNoxie: Bin auch dabei! Von Glitch08fairy: würde gern dabei sein aber Familienfeier Von schattensprite: ist mir zu weit weg wo ihr wohnt. BITTE macht videos LumaNoxie reiste mit ihrem Auto an: ein Subaru Impreza 2024 in der Lackierung ’Oasis Blue Pearl’. Sie war zwanzig Jahre alt und Cutterin für populäre YouTube-Channels. Sie vergötterte Colby Brock, Mitbetreiber des Channels Sam and Colby. Ihre Ansage zu Colby: Sowas. Und nur sowas! Sie erreichte den Mooswinkel etwa eine Stunde zu früh und traf die Zwillinge direkt vor dem Haus an. Sie befanden sich nahe der Eingangstür — bei der Wäscheleine auf einem Stück Rasen — und warteten, bis Luma das Auto rückwärts unter einem Holunderbusch eingeparkt hatte. Sie stieg aus, schaute sich um und sagte: „Wow, das crazy. Hier wohnt ihr jetzt?“ Sie standen zu dritt unter dem Holunderbusch neben dem leuchtend blauen Auto, das so energetisch kompakt aufgeladen wirkte wie Luma selbst. Sie zeigte auf den Strauch, der seine Zweige über ihren Flitzer hängen ließ: „Wisst ihr was das ist? Das ist Holunder. Den hat man früher immer vors Haus gesetzt oder an den Hofeingang. Er zieht die bösen Geister nach unten in die Erde zu Frau Holle.“ „Oh Luma...“, vibrierte Angelo. „Schön, dass du da bist Lumi“, freute Anita sich. „Ich habe euch was mitgebracht.“ Sie ging zum Kofferraum, öffnete ihn und erklärte: „Hirse, Haferflocken, Buchweizen, Nüsse, Trockenfrüchte, Passata, Tomatenmark, Olivenöl, Kokosfett, Gewürze, Saft... Uuuuund... Süßigkeiten!“ Den Zwillingen verschlug es den Atem. „Alles hier drin braucht keinen Kühlschrank und wird euch helfen. Dankt mir nicht, ihr wisst, ich bin reich.“ Sie nahm Pose an ihrem Wagen ein. Ellenbogen auf dem Dach, Kopf leicht nach oben gerichtet. Ihr grau gefärbter Pagen-Schnitt verwuchs mit dem Zwielicht des kalten Aprilabends. „Du bist die Beste, Lumi“, hauchte Anita, „Das ist total lieb von dir.“ „Los, Angelo. Tragen“, befahl LumaNoxie. „Wieso ich?“ „Ladies first“, scherzte sie. Sie lachten. Dann wurde das Loot ins neue Haus transportiert. Alles Bio-Ware, überwiegend von Rapunzel, Demeter und Sonnentor. Epic Set.   AUFEINANDERTREFFEN Russel und Kenny kamen mit der Bahn. Russel, der einen Tick durch die Namensgebung seiner Eltern bekommen hatte und deswegen immer mal wieder ein seeräuberisches „Yar!“ zum Besten gab, war sechzehn Jahre alt. Sie holten die beiden zu dritt mit Lumas Auto an der Haltestelle ab. Russel trug ein weißes Langarmshirt — wie immer — und eine hellgraue Winterjacke. Kenny schmückte eine weinrote Kappe mit Katzenohren. Die Zwillinge sahen sich wieder täuschend ähnlich: Sie waren komplett in schwarz gekleidet und trugen ihre Pferdeschwänze heute hochgesteckt — so wie die Frau auf dem Bild. Auf dem Hof der Angelitas angekommen machte die untereinander vertraute Gruppe eine Bestandsaufnahme der Ausrüstung für die bald anbrechende Nacht: Luma hatte ihr Ovilus mitgebracht. Ein sündhaft teueres Gerät mit Lautsprecher. Es übersetzte die Messwerte von elektromagnetischen Feldern, Temperatur und anderen „unsichtbaren Schwingungen“ in einzelne Wörter. Die Zwillinge besaßen jeweis ein REM-Pod. Im Normalzustand leuchtete es grün. Bei Störung seines kleinen elektromagnetischen Feldes leuchtete das REM-Pod rot. Aktivität! Russel verfügte über eine Firefoto AC13BA-4K 42MP. Ein 4K-Camcorder mit 18x Digitalzoom, einem drehbaren 3-Zoll-Display, zwei Akkus und 128GB SD-Karte. Die Kamera arbeitete mit einem LED-Licht: Stark genug für Nachtaufnahmen, aber man musste nah ans Motiv rangehen. Come close... Es war kurz nach 22 Uhr. Finn befand sich bereits unterwegs zu seinem Bruder in Kassel. Die Zwillinge hatten ihren Freunden das innere des Hauses gezeigt und eine Zeitlang mit ihnen im Erdgeschoss unter Wolldecken gechilled. Niemand hatte sich bis ganz nach oben auf den Dachboden getraut. Luma hatte geraten: „Da oben gibt es immer nur Psychos.“ Der Garten, in dem sie jetzt dicht beieinander standen, ruhte still im Dunkel des Neumonds. Eines der REM-Pods lag neben dem Sockel des Wasserspeierbeckens auf dem nackten Boden. Das Ovilus trug Luma auf ein Kamerastativ geschraubt; es besaß ein Gewinde dafür an seiner Unterseite. Sie platzierte es weit genug entfernt, damit es vom REM-Pod nicht beeinflusst werden konnte, und kehrte zur Gruppe zurück. „Meine Schwester und ich sind neu in das Haus eingezogen. Die anderen sind unsere Freunde. Wir kommen mit guten Absichten. Wenn hier jemand ist, der mit uns sprechen möchte, dann berühre jetzt das grün leuchtende Gerät bei dem Gargoyle“, sprach Angelo laut und deutlich. Nichts. Keine Reaktion. „Hast du den Wasserspeier am Dienstag laufen lassen, als wir dabei waren?“, fragte Anita. Das REM-Pod piepte und wechselte von grün auf rot. Russel filmte. Kenny verschlug es die Sprache. Luma drehte sich zu Anita: „Kontakt.“ „Erwachen“, schnarrte das Ovilus. „Oh Scheiße!“, entfuhr es Russel. Er senkte seine Kamera. „Film weiter“, drängte Luma. „Innen“, schnarrte das Ovilus. „Im Haus?“, fragte Angelo. Das REM-Pod piepte und signalisiere kurz wieder rot. „Es will, dass wir reingehen...“, analysierte Kenny geschwind — und mit einer Heidenangst. „Ist gut, Kenny. Wir sind bei dir“, beruhigte Luma, „Dir passiert nichts. Gespenster sprechen nur, sie können uns nichts tun.“ „Außer Angst einjagen. Yar!“, ergänzte Russel.   VERBINDUNG HERSTELLEN Sie bauten die Geräte ab und wechselten ins Haus. Dort stellten sie im Erdgeschoss alles wieder auf — diesmal nicht bloß ein REM-Pod, sondern beide. Anita platzierte ihres auf der antiken Ablage neben dem Foto von der Frau. Angelo seins im nicht angefeuerten Kamin. Das Ovilus positionierte Luma zwischen den Pods. Kein Licht brannte. Sie hatten dafür gesorgt, dass nur das Leuchten ihrer Geräte die Spirits leitete. „Ist sie das?“, fragte Luma und zeigte auf das gerahmte Foto. Russel richtete das diffuse LED-Licht seiner Kamera darauf. Das REM-Pod piepte. Es signalisierte rot. Er erschrack von der Kopfhaut bis runter zu den Fußsohlen und verriss die Kamera: „Das wird hier verwackelt wie Found Footage Style, Leute.“ „Hauptsache du filmst“, lächelte Angelo. Er genoss die Atmosphäre wie sein Vater ein Glas eines wirklich guten und teuren Weins. Alle schwiegen. Dann ergriff Anita das Wort: „Kannst du unserem Vater helfen?“ „Anruf“, schnarrte das Ovilus. Russel wollte gerade fragen, was das jetzt wieder bedeutete, als ein schrillendes Geräusch erklang. Alle zuckten zusammen. Kenny schrie. Das Geräusch erklang wieder. Es war das Klingeln eines Telefons. „Wo ist das Teil?“, fragte Luma. „Es kommt aus dem Flur“, erfasste Anita. Es läutete wieder. Richtig laut. Sie rannten in den Flur. Vor einer Tür, welche die Zwillinge als Zugang für eine Garderobe oder eine Abstellkammer gehalten hatten, blieben sie stehen. Das regelmäßige Klingeln schien dort herzukommen. Ein Kabel aus einer Buchse verschwand durch ein kleines Loch in der Wand in den noch nicht erkundschafteten Raum hinein. „Einer muss die Tür aufmachen“, sagte Russel. Anita lief zum nicht angefeuerten Kamin und kam mit einem Schürhaken zurück. Das Eisen lag kalt in ihrer Hand. Das unsichtbare Gerät hinter der Tür klingelte weiter. „Mach du, Noxie“, forderte Kenny auf. „Ich muss auf das Ovilus aufpassen“, redet sie sich raus. Anita stand etwas entfernt von der Tür und hielt den Schürhaken hoch. Sie dachte kurz nach, ob das bei Spuk überhaupt wirken würde. Egal. Wir halten zusammen — Baby! —, nimm dich in acht. „Du machst die Tür auf, Kenny“, ordnete Russel an. Das Läuten des Telefons fraß sich allen langsam, aber sicher in die Ohren wie ein unliebsamer Zahnarztbohrer. „Wenn die Tür hinter mir zufällt, wenn ich da drin bin, sterbe ich“, sagte Kenny entschlossen. „Ich mach auf. Dann lehn ich mich gegen die Tür und du gehst rein“, schlug Angelo vor. „Okay.“ Schrill, schrill. Durchatmen. „Auf drei: Eins... Zwei... Drei!“, gab Angelo den Takt vor und riss die Tür auf. Schrill, schrill. Kenny blickte auf etwas, das er noch nie gesehen hatte: „Was ist DAS denn?“, fragte er. „Ein Handy von vor zweihundert Jahren mit Kabelanschluss“, erklärte Luma es ihm. Schrill, schrill. „Bro!“, entfuhr es Kenny überrascht, „Wie soll man sich sowas denn ans Ohr halten?“ Es war schwarz und verfügte über eine Wählscheibe. „Du musst den Hörer abnehmen“, erklärte Angelo. Er machte die dazu passende Handbewegung. Schrill, schrill. Kenny stand jetzt in dem engen Raum, in dem sich nichts befand, außer das exotische Gerät, und fragte: „Was soll ich sagen, wenn ich annehme?“ „Es ist ein Hörer. Sag einfach: Ich höre“, schlug Angelo vor. Schrill, schrill. Kenny nahm ab: „Ich höre.“ „Hörst du was?“, fragte Luma. „Scht!“, machte Kenny.   ANALYSE „Ab... spülen... Es sagt: abspülen“, berichtete Kenny mit dem Hörer an seinem Ohr. Damit konnte niemand etwas anfangen. „Jetzt läuft ein Song“, erklärte Kenny weiter. „Warte! Nicht auflegen“, befahl Anita, reichte Angelo den Schürhaken und holte ihr Smartphone aus der Tasche ihrer weiten, schwarzen Jogginghose. Sie hatte es ausgeschaltet, um die REM-Pods und das Ovilus nicht zu beeinflussen. „Moment... Hier“, reichte sie das Handy an Kenny weiter. „Ah. Shazam“, verstand Kenny und hielt den Hörer an das Gerät. Dann las er das Ergebnis ab: „Your Ghost von Kristin Hersh. Der ist... nice. Soll ich wieder auflegen?“ Beide REM-Pods piepten kurz hintereinander und signalisierten rot. „Alter! Ich krieg hier gleich ’nen Herzinfarkt“, schnaufte Russel, der die ganze Zeit standhaft gefilmt hatte. „Ha, ha!“, amüsierte sich Kenny über seinen großen Bruder. „Komm raus“, entspannte Luma die Situation, „Das hast du gut gemacht.“ Kenny überlegte kurz. Wohin mit dem Hörer? Ach ja. Einfach wieder auf das Ding drauf. Sie versammelten sich im Wohnzimmer. „Das hieß nicht abspülen“, vermutete Angelo, „Abspielen war gemeint.“ „Wir sollen das abspielen?“, rief Luma die Entität an. Ihr Ovilus schnarrte: „Nacht.“ Anita hatte sich schon die Lyrics zu dem Song angesehen: „Hier steht es: and let your house ring.“ „Okay, fassen wir das mal zusammen:“, begann Luma. Russel filmte. Der fahle Schein des LED-Lichts ließ ihr Gesicht aus der Dunkelheit hervortreten. „Nita hat gefragt, ob es eurem Vater helfen kann. Dann hat es das Telefon klingeln lassen, abspielen gesagt und einen Song ausgewählt. Und das Ovilus hat Nacht gesagt.“ „Wir sollen den Song nachts abspielen“, führte Angelo den Gedanken weiter. „Dann klingelt es wieder, und Paps soll rangehen“, setzte Anita es fort. Niemand widersprach. „Das ist es“, sagte Kenny. „Sehe ich auch so. Yar!“, bestätigte Russel. Schweigen. „Leute, ich brauche eine Pause. Die Karte von meiner Kamera ist auch gleich voll.“ Sie atmeten alle erleichtert durch. Luma nahm Kenny in den Arm: „Mein kleiner Held.“ Kenny presste sich eng an sie und schaute zu seinem großen Bruder: „Siehst du, wie das geht?“   BIS ZUM MORGENGRAUEN Nachdem sie wieder für mehr Licht gesorgt hatten, kuschelten sie sich unter ihre warmen Decken. Sie erzählten sich gruselige Lagerfeuergeschichten und verzehrten die Süßigkeiten. Dann machte Luma einen Vorschlag: „Was haltet ihr davon? Wir setzen uns jetzt alle in mein Auto. Nita nimmt ihre Sticks mit den Playlisten mit und wir fahren durch die Nacht. Einfach irgendwohin.“ Das taten sie. Mit brachial lauter Musik, Scheinwerfern, die über leere Straßen und weite Natur streiften, fuhren sie, hielten an, stiegen aus, vergnügten sich, stiegen wieder ein und reisten weiter. Als die Sonne aufging schlief Kenny auf dem Beifahrersitz bereits. Luma hatte darauf bestanden, dass ihm der Platz dort zustünde. Sie brachte Russel und Kenny zur Haltestelle, wo diese die Bahn nach Hause nahmen. Anita, Angelo und Luma gönnten sich danach eine Mütze voll Schlaf. Dann brach Luma am Samstagabend ebenfalls zu ihrer Abreise auf: „Diesen Freitag werden wir nie vergessen. Es war schön mit euch.“ Die Zwillinge standen vor ihrem Haus und winkten ihr zum Abschied.   VORBEREITUNG Finn kehrte am frühen Sonntagnachmittag zurück von seinem Bruder. Anita und Angelo hätten beinahe die Lebensmittelspende von Luma in die Kammer mit dem Telefon getragen. Das wäre riskant gewesen, denn Finn sollte keinesfalls bemerken, dass sich darin das Kernobjekt ihres Planes befand. Sie improvisierten ein Regal aus alten, verwitterten Ziegelsteinen, die sie in einem Abschnitt des Gartens gefunden hatten. Sie nutzten auch Bretter vom Dachboden. Es war kein Psycho dort gewesen. War ja auch hell. Obwohl... Der Speier — da war es auch hell gewesen. Sie waren zügig wieder vom Dachboden ins Erdgeschoss gewechselt. Sie crafteten ihr Regal an der Wand hinter der Küchenhexe, deren Abzug neben dem Kamin durch den gleichen Abluftschacht geleitet wurde. Dann räumten sie die Lebensmittel dort ein. Zwischen dem Mampf und der Hexe würden sie sich gut verstecken können, wenn es soweit ist. Dann bemerkten sie, dass an der Innenseite der Tür zur Telefonkammer ein Schlüssel stecke. Sie probierten ihn aus. Er blockierte. „Es wäre perfekt, wenn wir den Raum abschließen könnten, aber das Schloss funktioniert nicht mehr“, ärgerte sich Anita. „Lass uns Chat um Hilfe fragen.“ Angelo formulierte seine Bitte, und Chat antwortete, dass es am besten sei, ein Silikonspray zu verwenden: 1. Schutz beachten: Papier oder Lappen unterlegen, damit kein Spray auf den Boden oder die Tür tropft. 2. Spray sparsam verwenden: Ein paar Sprühstöße ins Schlüsselloch reichen. 3. Schlüssel vorsichtig drehen: Nach dem Sprühen den Schlüssel vorsichtig hin und her bewegen, nicht mit Gewalt. 4. Nachreinigen: Eventuell überschüssiges Spray abwischen. Sie suchten in dem kleinen Schuppen neben dem Haus nach so etwas. Dort hatte Finn all sein Werkzeug verstaut. Sie fanden eine schlanke weißrote 200ml-Dose mit einem langen dünnen Röhrchen. Auf ihr stand: Universal Silikon Öl. Damit machten sie das Schloss wieder funktionstüchtig. „Flutscht jetzt wie Verhüterli“, konstatierte Angelo. „Möchtest du den Schlüssel nochmal reinstecken, um es zu genießen?“ Anita ließ es wirken. Angelo wurde beinahe rot. Sie hatten seit Samstag noch viel mehr für den besonderen Moment vorbereitet. Vor allen Dingen beschäftigte sie, wie laut sie die Musik stellen durften, damit beides — die Musik und das Telefonklingeln — bis in den ersten Stock vordringen konnten, und die Musik dabei das Läuten nicht übertönte. Dafür hatten sie Chat ein Foto von dem Telefon gegeben. Es hatte wirklich funktioniert. Chat erkannte, dass ein Telefon dieser Bauart über ein sehr lautes Klingeln verfügte. Er erklärte ihnen ausführlich, dass er keine präzisen Angaben machen konnte, weil auch die Umgebung der Räumlichkeit eine Rolle spielte. Doch er gab ihnen eine grundlegende Faustregel mit: Stellt die Musik so ein, dass ihr euch noch gegenseitig hören könnt. Finn war übermüdet, aber entspannt. Sein Bruder hatte ihm einen Kredit versprochen und gesagt: „Besser du zahlst das bei mir ab, als bei den Bandidos von der Bank oder dem Jobcenter. Ich richte ein Konto auf meinen Namen ein, von dem du abheben kannst. Dann kriegt das Jobcenter nichts von alldem mit. Sicher ist sicher.“ Noch bis vor Kurzem hätte Finn sich mit sowas unwohl gefühlt — es als nicht korrekt empfunden. Aber jetzt? Er hatte das Manual gelesen und sein Deck neu zusammengestellt. Weißer Drachen der Survivaltechnik, fünftausend Verteidigungspunkte. Bam! „Sind das Lebensmittel?“, fragte Finn und zeigte auf das improvisierte Regal. „Biokost“, erläuterte Anita, „Hat LumaNoxie uns gespendet.“ „Ehrenfrau. Das können wir gut gebrauchen. Jeder Euro zählt. Habt ihr Spaß gehabt bei eurer Party mit den NachtmahrHashes?“ „Erzählen wir dir später“, lenkte Angelo ab. „Kochst du uns was? Wir haben Kohldampf“, lenkte Anita noch mehr ab. Finn bereitete ihnen allen ein Risotto aus Buchweizen mit Tomatenpassata, Olivenöl und Kräutern der Provence zu. Darüber rieb er Mandeln, so wie andere es mit Parmesankäse taten. Er hatte eine Kochlehre begonnen und sie abegebrochen, kurz bevor die Zwillinge geboren worden waren. Nicht wegen der Zwillinge — das Gewerbe hatte sich für ihn nicht passend angefühlt: ein viel zu rauer Ton und übergriffige Arbeitszeiten. Gastronomen erwarteten vielfach, dass der Koch quasi familiär mit dem Arbeitsplatz verschmolz und erst dann nach Hause ging, wann der Chef es für angemessen hielt. Er ließ Angelo und Anita den Herd anzünden. Er wolle sehen, ob sein Tutorial Früchte getragen hatte. Sie kamen mit gebrauchsfähigem Material aus dem Garten zurück und bekamen das Feuer problemlos zum Brennen. Die Küchenhexe strahlte ihre wohltuende Wärme in den großen Raum aus. „Kamin machen wir noch nicht. Wir brauchen das Holz für den Herd“, stellte er eine den Zwillingen einleuchtende, neue Regel auf.   KOBOLDAKTIVITÄTEN Nach dem Essen zogen sich alle drei auf ihre Zimmer im ersten Stockwerk zurück. Finn nahm sich seit langer Zeit mal wieder ein Buch zur Hand: Malorie von Josh Malerman in der englischen Originalfassung. Er las es, während er mit T-Shirt und Boxershorts unter seiner dicken Schlafdecke lag. Drei große Kissen befanden sich hinter ihm. Kissen waren eine der besten Erfindungen der Menschheit. Ein Leben ohne Kissen ist wie eine Beziehung ohne Umarmungen. Der Roman spielte in einem Post-Apokalypse-Setting und thematisierte starke emotionale Komponenten, die auch familiäre Bindung und Überleben beinhalteten. Nach den ersten ungefähr fünzig Seiten nickte er kurz ein. Als er wieder aufwachte, legte er das Buch weg, losch seine kleine Lampe und setzte sich aufrecht gegen die Kissen an der Lehne seines Bettes. Er liebte den Punkt zwischen Wachsein und Einschlafen. Wo alles sich verwischte und Freiheit ihr edles Gesicht offenbarte. Die Zwillinge hatten sich derweil unbemerkt ins Erdgeschoss vorgewagt und bauten auf. Angelo platzierte jeweils eine lange Reihe Teelichter, die Luma in den Kartons ihrer Spende mitgebracht hatte. Links von der Treppe an der Wand eine Reihe und rechts. Anita legte Wolldecken aus und — natürlich — ein paar kleine Sofakissen. Sie tat es direkt vor dem Telefon, dass sie soweit in den Raum hineingetragen hatte, wie das lange Kabel es zuließ. Alles war vorbereitet. Telefon: check. Hifi-Anlage: check. Song: check. Lautstärke: check. Fernbedienung für die Hifi-Anlage: check. Teelichter brennen: check. Licht aus: check. Sie versteckten sich hinter dem Herd vor ihrem selbstgebauten Regal. Die Hexe war noch warm. Es würde klappen. Ganz sicher würde es klappen.   FÜR DICH Finn erreichte den Punkt in seinem Universum, der für ihn Heimat bedeutete. Nicht einschlafen! — befahl er sich dort innezuhalten. Dann hörte er Musik. Eine zarte Frauenstimme begleitet von ruhiger akustischer Gitarre. Schon die ersten Takte berührten ihn. Er bekam eine Gänsehaut. Der Delphin setzte sich auf die Bettkante. Und lauschte. Push your old numbers, hatte sie gesungen. Mann, war das bodenlos. Irgendwas lief hier ab. Das waren die Zwillinge. Garantiert. Er verließ sein Zimmer barfuß. „Anita? Angelo? Seid ihr das?“ Keine Antwort. Nur der Song. Von der Treppe hinauf drang ein dünner Rest Kerzenschein bis zu der Stelle, an der Finn stand. Er konnte noch nicht sehen, was da unten abging. Falscher Winkel. Dann klingelte ein Telefon. Finn stutzte. Es klingelte wieder und verschmolz mit der Musik. Er stand dort und hätte eigentlich schon beginnen müssen, ein bisschen zu frieren. Er spürte die Kühle des Bodens unter seinen Fußballen. Er blieb stehen und lauschte. Jedes Klingeln des Telefons löste etwas in ihm. Wie brechender Kalk rieselte es aus seiner Seele und verflüchtigte sich in der Atmosphäre des Moments. Träumte er? Weit bevor die Zwillinge geboren worden waren, hatte er luzides Träumen trainiert und angewendet. Dabei war er über die Dächer von Hamburg geflogen. Nur das Landen war schwierig und irgendwie unangenehm gewesen. Rrrritsch und boing — und er war wieder in seinem weltlichen Körper drin gewesen. Jetzt wurde die Sängerin von einer männlichen Stimme ergänzt. Wo hatte Anita bloß immer diesen ganzen geilen Scheiß her? — Oder war es das Haus, das in seinem Traum resonierte? Geh nachsehen!, leitete er sich durch die dichte Atmosphäre. Das Telefon klingelte. Seine verlorenen Flügel wuchsen nach. Er spürte das an seinen Schulterblättern. You were in my dream, sang die männliche Stimme im Duett. Finn stand auf der Treppe und sah die Reihen der Teelichter links und rechts. Das Erdgeschoss war erfüllt von ihrem Glanz. Das Telefon klingelte. Er konnte es sehen. Es hatte eine Wählscheibe und ein Kabel. Davor war eine Kuschelecke eingerichtet. Nicht aufwachen!, gab er seine nächste Richtung vor. Die Musik endete. Das Telefon klingelte. Er machte einen weiteren Schritt auf der Treppe nach unten und sah links zur der Teelichtreihe hinüber. Rechts saßen die Zwillinge unbemerkt hinter der Küchenhexe und platzten vor Aufregung. Dann passierte etwas Magisches. Die Flammen der Teelichter, auf die er blickte, nahmen nacheinander an Größe zu. Sie wuchsen an und fielen wieder auf ihre eigentliche Brennhöhe zurück. Wie eine Raupe die sich geschmeidig mit einem Buckel über etwas hinwegbewegte. Es war einladend. — Komm zu mir. Finn tappste auf seinen nackten Füßen zum Telefon. Schrill, schrill. Er nahm sich ein Kissen, setzte sich im Schneidersitz darauf und griff sich eine der Wolldecken. Schrill, schrill. Er legte sich die Decke über wie einen Poncho und hob ab: „Hallo?“ Die dünne Stimme am anderen Ende der Leitung antwortete. Es klang weit entfernt. Mit Interferenzen und einem leichten Kratzen. Finn musste an ein Zitat aus einem Film von John Carpenter denken: Dies ist kein Traum — wir senden aus der Zukunft. „Lass uns sprechen“, sagte die körperlose Stimme. „Worüber wollen wir sprechen?“, fragte Finn. „Über alles, was du möchtest.“ Die Zwillinge verließen ihr Versteck und stahlen sich auf leisen Sohlen davon. - - - Ergänzung des Autors: Vielleicht habt ihr Lust, nach dieser Geschichte noch einen animierten Kurzfilm zu schauen. Ihr findet ihn unter CGI 3D Animated Short ’Witch’ - by The Animation School | TheCGBros auf YouTube. Regie: Goddy Roodt. ******************** Am 26.12.2025 um 19:51 von PhilipGrabbert auf StoryHub veröffentlicht (https://storyhub.de/?s=hasoL) ********************