Portrait der Sünde

Kurzbeschreibung:

Am 14.1.2017 um 21:26 von LauraAStern auf StoryHub veröffentlicht

1. Kapitel: Prolog

Prolog

Der aufgewirbelte Staub tanzte golden durch die von Terpentin und Ölfarbe geschwängerte Luft der Mansarde, als Mr. Crawford sich mühsam durch die Tür zwängte, die von Staffeleien. Farbkästen und allerlei Unrat versperrt, ja regelrecht verbarrikadiert war.
“Mr. Sterling?“, rief Mr. Crawford in den Raum, den die letzten Sonnenstrahlen dieses Septembertages gerade noch erhellten.
“Lawrence? Bist du da?“, klang es auch von Victor, Mr. Crawfords Sohn, der nun ebenfalls durch den Türspalt in das Atelier seines Freundes schlüpfte.
Doch ihren Rufen antwortete nur Stille.
“Nun, der gute Mr. Sterling scheint nicht zugegen zu sein.“, stellte Mr. Crawford fest. “Wo wir aber schon einmal hier sind, Viktor, geh und öffne das Fenster, man kann hier ja kaum atmen...“
“Eigenartig...“, murmelte Viktor und stiess mit dem Fuss einige Pinsel weg, während er tat, wie ihm geheissen. “Dabei ist Lawrence sonst so ordentlich.“
Sein Vater lachte. “Ein ordentlicher Maler? Geht das denn? Ich dachte immer, Maler wären allesamt Chaoten.“
“Aber nicht Lawrence“, antwortete Viktor, obwohl das Zimmer eine ganz andere Sprache sprach, “Wenn er an einem Bild arbeitet, ergibt sich naturgemäss eine gewisse Unordnung, ja, aber sonst ist er die Ordnung in Person. Schon fast pedantisch. Letzte Woche erst zeigte er mir sein neustes Werk, da war sein Atelier geradezu glänzend sauber.“
“Ah, dieses hier? Wirklich eine wundervolle Arbeit. Der junge Mann hat Talent, das muss man schon anerkennen...“ Mortimer Crawford deutete auf das geradezu überwältigend schöne Gemälde auf der einzigen, noch stehenden Staffelei.
Viktor trat neben seinen Vater und runzelte die Stirn. “Wann hat er das denn gemalt?“, murmelte er.
Das Gemälde war längst getrocknet und gefirnisst, ja, sogar bereits gerahmt, obschon es auf der Staffelei stand. Es zeigte einen Engel von zauberhafter Schönheit, mit wallenden, blonden Locken, der wohlwollend auf den Jüngling, dessen Kopf im Schosse des Engels gebettet lag, hinabsah. Es fiel Viktor nicht schwer, den Jüngling als seinen Freund Lawrence zu erkennen, so sorgfältig und genau war jedes Detail seines Antlitzes, jede Locke seines braunen Haares auf die Leinwand gebannt worden.
Auch den Engel erkannte Viktor wieder, wenn auch nicht so schnell. Doch er war sicher, dass es sich um die Figur der Cherubina handelte, ein Mädchen, nein, ein Ausdruck weiblicher Schönheit, der Lawrences überbordender Phantasie entsprungen war. Ihr Antlitz zierte auch das Werk, das Viktor zuletzt von Lawrence gesehen hatte.
Nein, dieses Bildnis war letzte Woche bestimmt noch nicht hier gewesen. Gewiss hätte Lawrence es ihm gezeigt, war er doch ganz vernarrt in seine Schöpfung Cherubina.
“Eine solche Arbeit nimmt sicherlich viel Zeit in Anspruch.“, bemerkte sein Vater und hob ein kleines, in schlichtes, braunes Leder gebundenes Journal vom Boden auf, das Viktor als Lawrences Tagebuch erkannte. “Vielleicht gibt das uns ja ein wenig Aufschluss über den Verbleib des guten Mr. Sterling und darüber, was mit seiner viel gepriesenen Ordentlichkeit geschehen ist“, vermutete Mortimer und blätterte durch die Einträge der vergangenen Woche.

2. Kapitel: 07. September

07. September


Natürlich konnte Viktor nicht umhin, Cherubina zu bewundern, als er mich heute besuchte und natürlich war ich begierig, sie ihm zu zeigen.
Hoheitsvoll thronte sie auf der Staffelei am Fenster, wie eine Prinzessin in einem elfenbeinernen Turm, die Nachmittagssonne spielte auf ihrem Rahmen, brachte ihre wunderbaren Augen erst richtig zum Leuchten. Ach, ich könnte sie noch immer stundenlang ansehen, glückselig in ihren Augen versinken. Gott selbst hätte kaum ein schöneres Wesen schaffen können.

“Dein Freund scheint mir ja sehr von sich überzeugt gewesen zu sein“, bemerkte Mortimer und Viktor entging der missbilligende Unterton in der Stimme seines Vaters nicht.
“Ja. Dafür war er nicht allzu überzeugt von Gott“, antwortete er, als sei es eine Entschuldigung für Lawrences Anmassung.


Ihr Blick ist sanft, wie der eines Engels, silbergrau und geheimnisvoll wie die Nebel Avalons, und als ich da sass und sie Strich für Strich auf der Leinwand Wirklichkeit werden liess, war mir, als hörte ich ein Flüstern, das mich rief und lockte, all die phantasmagorischen Mysterien und Wunder jenseits dieses Nebelschleiers zu entdecken. Auch jetzt ist mir, als flüstere mir Cherubina mit sirenengleicher Stimme zu, als röche ich sogar den betörenden Duft nach Hyazinth, weissem Flieder und Jasmin, der von ihrem zarten, weissen Hals aufzusteigen scheint.

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich diesem vermeintlichen Flüstern und dem verführerischen Duft nur zu gerne nachgab und in geradezu kindlich-naiver Leidenschaft ihre vollen Lippen küsste. Was für eine Enttäuschung es doch war! Statt weichem Samt erwartete mich die harte Realität aus getrockneter Ölfarbe und Leinen.
Ich muss wohl ganz in Gedanken versunken da gestanden haben, denn erst Viktors Worte liessen mich aus den magischen Gefilden, in denen meine geliebte Cherubina mehr als Farbe und Leinen ist, in die kalte, triste Realität zurückkehren.
“Sag, Lawrence, wer ist die Schöne?“, fragte er mich, wohl eine heimliche Liebschaft mit einer wohlhabenden Dame der Gesellschaft vermutend. “Ich bin sicher, ich habe ihr Gesicht noch nie gesehen. So eine Schönheit würde ich sicherlich nicht so schnell vergessen.“
Seine Frage machte mich lachen. “Viktor, mein Freund, wie hättest du sie jemals sehen können, wo ich es doch war, der sie schuf?“
“Dann ist sie also nicht wirklich? Ein blosses Produkt deiner Phantasie?“, fragte er und wirkte nun seinerseits belustigt.
“Sie besitzt alles an Wirklichkeit, was ich ihr zu geben vermag“, versetzte ich seufzend. “Ach, was gäbe ich nicht, um sie wahrhaft wirklich werden zu lassen? Alles verkaufte ich für sie, all mein Hab und Gut und mein Leben und meine Seele auch.“
“Sprich nicht so, Lawrence“, sagte Viktor tadelnd. “Deine Seele ist ein kostbares Geschenk Gottes. Du solltest sie nicht leichtfertig für etwas Vergängliches wie ein schönes Mädchen hergeben. Such dir lieber eine richtige Braut aus Fleisch und Blut.“
Ach, was weiss er denn schon? Keine Dame der Welt könnte mein Herz und meine Gedanken so sehr in Besitz nehmen, wie die schöne Cherubina. Ja, wahrlich, ich gäbe sofort meine klägliche, kleine Seele hin, wenn sie dafür der Enge des Bilderrahmens entfliehen und Wirklichkeit werden könnte.
Doch so sehr ich auch wünsche und mich sehne, vereint werden wir, Cherubina und ich, wohl immer nur im Traume sein. Ach, wie bittersüss ist dieser Gedanke, tröstlich und niederschmetternd zugleich...
 
Die ersten Zeilen des nächsten Eintrags waren zittrig, als hätte der Schreiber gerade erst einen grossen Schrecken erfahren.

3. Kapitel: 08. September

08. September


Ich kann kaum glauben, was ich mit eigenen Augen sah. Sie ist fort! Cherubinas Bilderrahmen war leer, als ich heute Morgen aufstand und noch schnell einen Blick auf sie werfen wollte, bevor ich aufbreche um Mrs. Finley zu besuchen. Nichts als weisse, unberührte Leinwand blickte mir entgegen. Wie kann das sein?
Ich weiss nicht, ob ich in der Lage sein werde, Mrs. Finleys Wunsch nach einem Portrait ihrer selbst, für ihren wohl oft abwesenden Ehemann zu erfüllen.

An dieser Stelle kehrte die zittrige Schrift zu den für Lawrence üblichen, wohlgeordneten Buchstabenfolgen zurück. Vermutlich hatte er den Eintrag zu einem späteren, ruhigeren Zeitpunkt fortgeführt.

Ach, Mr. Finley ist gewiss ein glücklicher Mann, hat er doch eine solch liebevolle Gattin voller Verständnis. Schon als sie mich empfing, bemerkte sie mein aufgewühltes Gemüt.
“Aber mein guter Mr. Sterling!“, rief sie aus. “Sie sind ja so blass heute. Ist Ihnen nicht gut? Ich kann unseren Termin gerne verschieben, wenn Sie sich nicht wohl fühlen.“
Natürlich lehnte ich diesen Gedanken mit aller Höflichkeit ab: “Aber nein, Mrs. Finley, nicht doch! Ja, es ist wahr, mir ist heute nicht ganz wohl, aber bitte, lassen Sie mich meine Arbeit tun, damit ich meinen Schrecken für ein paar gnädige Stunden vergessen darf.“
Wohl von meinem Pflichtbewusstsein beeindruckt, führte Mrs. Finley mich in den Salon, wo ich wirken sollte.
“Aber sagen Sie, lieber Mr. Sterling, was war es denn, das Sie so erschreckt hat?“
Ach, unmöglich hätte ich ihr die Wahrheit berichten können. Ein Bild verschwindet über Nacht ohne jede Spur von der Leinwand... Ha! Hat man je etwas Absurderes gehört?
“Offenbar wurde eines meiner Bilder gestohlen“, sagte ich ihr deshalb, um der Wahrheit wenigstens nahe zu kommen.
Mrs. Finley war entsetzt. “Nein! Wirklich? Das ist ja schrecklich! Waren Sie bereits bei der Polizei, mein Lieber?“ Und nach kurzem Überlegen fügte sie hinzu: “Die Zeitung sollten Sie auch informieren. Wer weiss, vielleicht wird ihre wunderbare Kunst so auch unter ehrbaren Leuten begehrter.“
Ich versprach ihr, die Polizei zu benachrichtigen, sobald es mir möglich sei, und machte mich ans Werk.

Tatsächlich vermochte die Arbeit mich zu zerstreuen und ich fühlte mich etwas beruhigt, als ich Mrs. Finley wieder verliess, doch schon auf dem Heimweg kehrten meine Gedanken zurück zu der leeren Leinwand, auf der gestern noch Cherubinas Bildnis zu sehen war.
In der Hoffnung, meine geschundenen Nerven so erneut beruhigen zu können, nahm ich mich in dem kleinen Teehaus in der Holy Well Street Platz und beschloss, meine Gedanken nieder zu schreiben. Glücklicherweise trage ich ja mein Tagebuch stets bei mir. Und tatsächlich tun bereits die duftende Tasse chinesischen Tees und der Teller mit süssem Gebäck ihre Wirkung: Der Gedanke an den leeren Rahmen erscheint mir weniger unerträglich als noch zuvor; die anklagende Nuance, die das unberührte Weiss der Leinwand in meiner Erinnerung angenommen hatte, als wäre es in irgendeiner Weise mein Vergehen, dass die Schönheit Cherubinas mit einem Mal verschwunden ist, scheint wieder zu verblassen.
Dennoch, diese ganze Angelegenheit ist so kurios, so irreal, als finde sie in einem Traum statt.
Doch es ist wohl Zeit, darüber nachzudenken, was als Nächstes zu tun ist und ich bin doch recht ratlos. Wer würde mir diese Geschichte schon glauben? Wen könnte ich in einer solch seltsamen Angelegenheit schon um Hilfe oder wenigstens Beistand bitten, ohne dass man glaubt, ich hätte den Verstand verloren?
Dies ist doch sicherlich nicht der Fall. Ach, ich zweifle an meinen eigenen Worten. Habe ich wirklich gesehen, was ich glaube, gesehen zu haben? Kann das sein?
Besser ist es wohl, nichts zu überstürzen und die Dinge noch einmal genau zu prüfen. Vielleicht spielte mir das Morgenlicht einen scheusslichen Streich. Wenn die Hitze der Wüste  Reisenden Oasen vorgaukeln kann, wo keine sind, so kann ein trüber Oxforder Morgen möglicherweise auch einem schlaftrunkenen Maler weismachen, dass kein Bild da ist, wo eines sein sollte.
Aber sollte es wirklich so sein, sollte ich den Rahmen verlassen vorfinden, so werde ich wohl Viktor um Rat fragen. Beschäftigt sich nicht der alte Crawford mit übernatürlichem Firlefanz? Mit etwas Glück ist das genug um ihn zu überzeugen, dass ich das Portrait nicht selbst gegen eine weisse Leinwand ausgetauscht habe, um einen dummen Scherz mit ihm zu treiben.

Mortimer blickt von dem Text auf und sah seinen Sohn fragend an.
Viktor schüttelte den Kopf. “Ich habe nichts mehr von Lawrence gehört, seit ich ihn besuchte. Kein Sterbenswort.“
Sein Vater nahm die Worte schweigend zur Kenntnis, doch Viktor konnte förmlich sehen, wie sich seine Gedanken hinter der Fassade der Reserviertheit überschlugen. Dies war genau der “übernatürliche Firlefanz“, wie Lawrence es so despektierlich genannt hatte, für den sein Vater sich brennend interessierte. Besorgt stellte Viktor fest, dass die nächsten Zeilen wieder zittriger waren.


Wenn ich zuvor nicht an meinem Verstand zweifelte, so tue ich es ganz sicherlich jetzt.
Als ich das Teehaus verliess, war mir leichter zu Mute, so leicht sogar, dass ich beschloss, nicht sofort nach Hause zu eilen, sondern noch einen Spaziergang durch den Magdalen Grove zu unternehmen, obwohl es allmählich kühl wurde und der Mond bereits aufgegangen war.
Mir stockte der Atem, wie ich so, nichts Böses ahnend, um eine Ecke bog, denn dort, unter einer Gruppe dichter, dunkler Eiben stand sie. Das silberne Mondlicht hüllte ihre anmutige Silhouette in einen Glorienschein, liess die blassviolette Seide ihres weiten Krinolinenrockes und ihrer Pelerine sanft schimmern, tanzte auf dem goldenen, zum eleganten Chignon gesteckten Haar und spiegelte sich in den Peridoten ihres Schmuckes. Cherubina. Ach, meine wunderbare Cherubina war es, die dort stand, in der Hand eine Schwertlilie haltend, als sei sie wirklich und wahrhaftig ihrem Portrait entstiegen. Doch obgleich sie der betörende Duft nach Hyazinth, Flieder und Jasmin umwehte und sie in ihrer Anmut ganz und gar ein Bildnis perfekter Weiblichkeit repräsentierte, packte mich ein jähes, kaltes Grausen, als unsere Blicke sinch trafen.
Nicht die Tatsache, dass es unmöglich Cherubina, die ich schuf und liebte, sein konnte, dass sicherlich nur ein Trugbild war, eine Täuschung meiner seltsam-geschundenen Nerven, war es, das mich plötzlich schaudern liess, denn solcherlei logische Gedanken kamen mir in diesem Moment der euphorischen Verzückung nicht in den Sinn. Nein, es war ihr Blick, der mich - mit einem Mal zitternd - zurückweichen liess.
Dies waren nicht die silbernen Augen, die ich Cherubina gab. Kalt wirkten sie, wie alte Asche im Kamin; leblos und seltsam leer, als fehlte dem Mädchen eine Seele. Und doch sprachen aus diesen Augen tiefe Gier und namenloses Grauen, strafte all die Schönheit, die das Mädchen umgab Lügen und Täuschung.
Kein Wort verliess ihre rosigen Lippen, doch breitete sie die Arme aus und schritt auf mich zu.
Mir hingegen entfuhr ein Schrei des kalten Entsetzens und ehe ich’s mich versah, hatte ich die Beine in die Hand genommen. An den Weg nach Hause erinnere ich mich kaum, zu tief sass mir der Schrecken in den Knochen.
Und dort sitzt er auch jetzt noch. Ich kann kaum ruhig atmen.
Habe ich diese Gestalt wirklich gesehen? Kann ich meinen eigenen Augen trauen? Oder werde ich etwa tatsächlich wahnsinnig?
Gütiger Gott, was geschieht mit mir?

4. Kapitel: 09. September

09. September


Es scheint mir, als hätte ich die ganze Nacht lang wachgelegen, doch irgendwann muss ich wohl eingeschlafen sein, denn ich erwachte früh und blickte einem strahlenden, goldenen Septembermorgen entgegen.
Doch nicht nur auf den Boden meiner Mansarde fällt der wohltuende Schimmer der Morgensonne; er erhellt auch die Geschehnisse der letzten Nacht, vertreibt ihre schattenhaften Schrecken.
Ach, wie lächerlich und pathetisch mir der Eintrag von gestern Nacht doch nun erscheint. Wenn ich irgendetwas mit absoluter Gewissheit sagen kann, dann ist es dies: Wen auch immer ich da sah, Cherubina war es nicht!
Ich gestehe, der Gedanke daran, dass irgendwo in Oxford eine arme Dame ist, die von unserer nächtlichen Begegnung ebenso verwirrt und erschreckt wurde, weil ich, ihr vermeintlicher Geliebter, schreiend vor ihrer liebevollen Umarmung flüchtete, beruhigt und erheitert mich.
Und doch: Das Portrait ist noch immer leer.

Erneut wurde Lawrences Schrift zittrig und unstet und blieb es bis zum Ende des Eintrages.
Ein schlechtes Gefühl machte sich in Viktors Magengrube breit. Natürlich war die Idee einer einem Bild entstiegenen Gestalt lachhaft. Allerdings musste er gestehen, dass er sich fragte, was wohl wäre, wenn dies doch keine Spinnerei seines Freundes war.


Genauso wie ich den Eintrag von gestern Nacht heute Morgen für albern hielt, so ist es nun der Eintrag von heute Morgen, der mir lächerlich erscheint.
Wie sehr wünsche ich mir diese absolute Gewissheit, dass es nicht Cherubina sein kann, zurück. Doch diese Gewissheit ist ein falsches Biest. Ich weiss es nun: ich lag falsch. Denn heute sah ich Cherubina erneut und das helle Tageslicht liess keinen Zweifel.
Schon während meines Tagewerks, als ich weiter an Mrs. Finleys Portrait arbeitete, hatte ich das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden, glaubte, aus dem Augenwinkel heraus eine Silhouette im Türrahmen stehen zu sehen. Zunächst dachte ich mir nichts weiter dabei, wähnte die Gestalt ein neugieriges Hausmädchen, das gewiss gleich wieder verschwinden würde.
Doch die Figur machte keinerlei Anstalten, den Türrahmen und meinen Augenwinkel zu verlassen und wieder brav ihrer Arbeit nachzugehen.
Schliesslich gewann meine Neugier die Oberhand, ich wollte wissen, wer mich und Mrs. Finley so unverschämt beobachtete und wandte mich für einen Moment mit finsterem Blick der Tür zu.
Ein Beistelltisch auf der anderen Seite des Flurs mit einer Vase, in der sich kunstvoll arrangierte Feuerlilien befanden, war jedoch alles, was ich dort sah. Der Türrahmen war leer.
Und doch kehrte die schattenhafte Figur in meinen Augenwinkel zurück, sobald ich mich wieder meiner Arbeit zuwandte. Ich sah erneut zur Tür, und wieder sah ich nichts im Mindesten Ungewöhnliches.
Dies mag ein vernünftiger Mensch wohl als Sinnestäuschung abtun und dies war genau, was auch ich tat. Zumindest versuchte ich es, aber der geisterhafte Schatten erwies sich als äusserst hartnäckig, sodass ich immer wieder finstere Blicke nach der Tür warf, nur um immer und immer wieder lediglich jenes prächtige Liliengesteck vorzufinden.

Als ich Mrs. Finley nach einem hervorragenden Mittagessen wieder verliess, hoffte ich, den Schatten gleichfalls hinter mir lassen zu können und machte mich auf zu Mr. Kingston, meinem nächsten Kunden.
Dessen Butler liess mich ein und teilte mir mit, ich möge bitte im Salon warten, denn der Hausherr befand sich noch in einer Besprechung mit einem seiner Kunden.
Während der brave Mann mich durch die Diele führte, beschlich mich abermals das Gefühl, beobachtet zu werden.
Der Schrecken von letzter Nacht kehrte jäh in mein Gedächtnis zurück, als ich oben an der Treppe ein Mädchen erspähte. Mit weitem, blassviolettem Krinolinenrock und wallenden goldenen Locken schaute das schöne Kind um eine Ecke in die Diele hinab.
Gerade noch konnte ich einen Schrei des Entsetzens unterdrücken, beruhigte mich mit dem Gedanken, es werde sich dabei wohl um die Tochter oder Dame des Hauses handeln, die meiner Cherubina auf den ersten Blick unglücklich ähnlich sah. Sicherlich werde sich diese frappante Ähnlichkeit bei näherer Betrachtung als Täuschung herausstellen, sagte ich mir.

Mortimers vielsagendes Lächeln bestätige die stumme Vermutung seines Sohnes, der ihm einen fragenden Blick zuwarf. Auf keine der Damen aus dem Haus Kingston traf die Beschreibung des seltsamen Mädchens, das Lawrence gesehen haben wollte, zu.
Viktor fühlte, wie eine Gänsehaut langsam seinen Rücken hinaufkroch.

Mr. Kingston erwies sich als grossgewachsener Mann mit strengen Gesichtszügen und vorzeitig ergrautem Backenbart.
Er beauftragte mich mit einem Familienportrait, was mir gerade sehr gelegen kam, sah ich doch die perfekte Möglichkeit, meine Ängste vor der Mädchengestalt auf der Treppe zu zerstreuen. Also bat ich ihn, doch die Familie kurz für eine erste Skizze zusammenkommen zu lassen.
Mr. Kingston entschuldigte rasch seine Gattin - sie war ausser Haus, beim Tee mit einer anderen Dame, an deren Name ich mich nicht mehr erinnern kann - liess jedoch die Kinder der Familie holen.
Als die Kinder den Raum betraten, schnürte sich mir die Kehle zu. Mr. Kingstons älteste Tochter kam der Figur von der Treppe zwar in Alter und Grösse nahe und sicherlich war sie ein hübsches Kind, doch mit dem mausbraunen Haar und dem sommersprossigen Gesicht, konnte sie es sicherlich nicht gewesen sein. Die jüngeren Kingstontöchter - Zwillinge, wie Mr. Kingston mir nicht ohne Stolz mitteilte - glichen ihrer älteren Schwester nicht nur, sondern trugen auch noch Zöpfe.
Ach, auch jetzt wird mir noch ganz flau, wenn ich an diesen fürchterlichen Moment gnadenloser Realisation zurück denke.
Natürlich war ich kaum zu einem sauberen Strich fähig, das Skizzieren schien sich eine Ewigkeit hinzuziehen, war ich doch nun sicher, dass meine nächtliche Begegnung mit Cherubina keine Einbildung, keine überschäumende Fantasie, sondern ganz und gar echt war. Sie ist hier. In dieser Welt, in diesem Haus. Dem Bilderrahmen wahrhaftig entstiegen, um mich zu verfolgen, einzufordern, was ich versprochen habe: Meine Seele, mein Leben.
Ach, ich Tor! Ich Narr!
Hätte ich doch auf Viktor gehört, als er mir riet, meine Seele nicht leichtfertig zu verschenken.

Mortimer konnte nicht umhin, neben Unglauben auch eine gewisse Genugtuung in den Augen seines Sohnes zu entdecken.

Natürlich versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen und doch zitterten mir die Hände, wieder und wieder sah ich gehetzt von der Skizze auf. Zwei- oder dreimal glaubte ich, mir müsste wahrhaftig das Herz stehen bleiben, weil ich Cherubina lauernd hinter den schweren Samtvorhängen wähnte.

Ach, es war fürchterlich und es wurde nicht besser, denn als ich das Haus Kingston eilig verliess, ja geradezu flüchtete, schien mir jede Dame, welche unschuldig die Strasse entlang spazierte, Cherubinas Antlitz zu tragen. Wo auch immer ich mich hinwandte, überall sah ich nur sie, als hätte sie ganz Oxford in ihrem vermaledeiten Bann gezogen.

Ein Teil mag sicherlich meinem geschundenen Nervenkostüm und meiner von Natur aus überschäumenden Phantasie geschuldet sein, und doch: Nicht alles, was ich in jenem Moment des Schreckens sah, war erdacht. Ich bin sicher, ich sah Cherubina in Mr. Kingstons Haus und auf der Strasse. Sie verfolgte mich mit einer Schnelligkeit, die wohl nur Engel oder Dämonen zu Wege bringen.
Sah ich sie eben noch in der Albert Street stehen, erwartete sie mich nur einen Augenblick später bereits in der Observatory Street, als hätte sie die ganze Zeit dort gestanden.
Mehrmals bog ich um eine Ecke, nur um sie bereits dort vorzufinden, als sei sie geradewegs aus dem Boden gewachsen, sodass ich einen grossen Umweg nach Hause nehmen musste.
Ausser mir schien niemand die infernalische Erscheinung zu bemerken, einmal sah ich sogar eine Droschke direkt durch das scheussliche Gespenst hindurch fahren!

Meine Tür ist versperrt, obwohl ich nicht weiss, ob dies den Dämon, der mir auf den Fersen ist, aufzuhalten vermag. Ohne Zweifel werde ich in dieser Nacht kein Auge zutun können...

5. Kapitel: 10. September

10. September

Wie ich befürchtet hatte, verbrachte ich die Nacht auf scheusslichste Art und Weise.
Ich hatte alle Lampen und Kerzen, die ich finden konnte, entzündet, um dem Dämon keine Möglichkeit zu geben, sich in den Schatten zu verstecken.
Den Rosenkranz, den mir meine Mutter schenkte, als ich mein Elternhaus verliess, - er war mir beim Versperren der Tür in die Hände gekommen - hielt ich fest umklammert, sodass die Perlen und das kleine, hölzerne Kreuz hässliche Abdrücke auf meinen Handflächen hinterliessen.
Mir war fürchterlich kalt, als sässe ich mitten im Winter ohne Rock und Mantel draussen auf der Strasse und die Stille in meiner Kammer war mir unerträglich, doch jedes Geräusch, welches sie durchbrach, liess mich mit wild klopfendem Herzen aufschrecken, wie ein gehetztes Tier bei der Treibjagd.
In meiner Verzweiflung stimmte ich ein “Ave Maria“ an, doch schon nach wenigen Worten schnürte sich meine Kehle zu, sodass ich nur noch zu einem kläglichen, misstönen Krächzen im Stande war.
Ich wusste, Cherubina war in der Nähe, lauerte, beobachtete mich auf irgendeine Art und Weise, die ein Sterblicher nicht zu verstehen vermag.
Die leere Leinwand ihres Portraits schien mir zu wachsen, mich zu erdrücken, zu verschlingen, wie ein Fenster zu einem unendlichen, weissen Nichts, einem Abgrund ohne Wiederkehr.
Ach, ich muss es loswerden, dessen bin ich sicher.
Ja, ich werde mir eine Droschke kommen lassen, hinunter an die Themse fahren und mich dieser verteufelten Leinwand ein für alle Mal entledigen. Soll der Fluss sie meinetwegen bis nach London spülen! Und vielleicht nimmt die Themse ja auch diesen bösen Geist, die Furie von mir.

Ach, wie einfach schien mir doch dieses Vorhaben heute Morgen noch.
Der Kutscher brachte mich also nach Süden zur Folly Bridge und wie erleichtert war ich, festzustellen, dass unsere Fahrt unbehelligt blieb. Keine schattenhaften Geister oder Rachedämonen mit Engelsgesicht verfolgten mich, einzig die kühle Brise, die aufgekommen war, liess mich erschauern, als ich aus der Droschke stieg.
Die Themse lag träge und schmutzig zu meinen Füssen, ein stinkendes, grün-braunes Band, das sich durch die Landschaft schlängelte.
Ich schickte den Kutscher fort und suchte meinen Weg ans Ufer unterhalb der Brücke, niemand sollte mich beobachten, wie ich mein unliebsames Werk loswürde.
Die Leinwand hatte ich, samt Rahmen, in Zeitungspapier verpackt. Mit wilder Entschlossenheit hob ich sie hoch über meinen Kopf, bereit, sie in das dunkle Wasser zu werfen.

Und ach, ich konnte es nicht!
All die Stunden, all die Nächte, die ich wie ein Besessener vor dieser Leinwand sass, entschlossen, Cherubinas Schönheit für die Ewigkeit festzuhalten, all die tiefe Liebe, die ich bei jedem Pinselstrich und bei jedem Blick auf das vollendete Werk empfunden hatte, all dies hielt meine Hand zurück, liess mich zögern zu tun, was das Beste für mich gewesen wäre.
Und so liess ich das Paket wieder sinken, sank selbst in mich zusammen, bis ich auf der Erde sass, das Gesicht in meinen Händen vergraben und heisse Tränen weinend, wie ein kleiner Junge, der verloren gegangen war.
Wenn ich’s recht bedenke, werde ich der Welt wohl abhandenkommen, sollte meine Seele Cherubina anheimfallen. Ich bin also kurz davor, tatsächlich verloren zu gehen. Ein Gedanke, der mich schaudern macht.
Ich weiss nicht, wie lange ich unter der Folly Bridge sass und hemmungslos und verzweifelt weinte. Doch plötzlich hörte ich leichte Trippelschritte auf der Brücke. Eigentlich viel zu leise um tatsächlich hörbar sein zu können, hörte ich sie doch klar und deutlich. Sie näherten sich mir langsam, doch unaufhaltsam. Zu dem Gestank von Algen, Fisch und Gott allein weiss, welch anderem Unrat, welcher der Themse entstieg, mischte sich das liebliche Aroma von weissem Flieder, Hyazinth und Jasmin.
Es waren ihr Parfum und ihre Schritte, daran hatte ich keinen Zweifel und die eisige Klaue der Angst packte mein Herz einmal mehr.
Schon sah ich kleine, weisse Füsse die ersten Stufen der Ufertreppe herunterkommen, gefolgt von einem schmutzig-grauen Saum und ich flüchtete Hals über Kopf.
Das Paket mit der Leinwand liess ich achtlos liegen.

Erschöpft erreichte ich meine Wohnung, doch wagte ich nicht recht, das Haus zu betreten. Hörte ich da nicht ein leises, kinderhaftes Lachen jenseits der Tür und elfenhaft leichte Trippelschritte auf der Treppe?
Mein Herz sank mir in die Kniekehlen, mit einem mal schien sich alles um mich herum zu drehen und ein unsagbares Grausen ergriff mich, liess mich wie vor Kälte zittern, obwohl mir der Schweiss ausbrach, als hätte ich Fieber.
Konnte es sein? War sie hier? War ich denn nirgend mehr sicher vor dieser Erinnye, diesem fürchterlichen Dämon?
Zitternd tastete ich nach dem Rosenkranz, den ich in meine Manteltasche gesteckt hatte und da traf mich eine kleine Erleuchtung: Nur einen Katzensprung von hier liegt die Kirche des heiligen Aloysius von Gonzaga.
Zwar bin ich - obwohl katholisch erzogen - kein gläubiger Mensch und schenkte dem kunstvollsten Gemäuer meiner Nachbarschaft in der Vergangenheit nicht die Aufmerksamkeit, die es wohl verdient hätte, doch nun erscheint es mir als genau der Ort, an den ich gehen muss.
Sicherlich wird man einer armen, geschundenen Seele wie mir Zuflucht bieten und bestimmt weiss der Pater auch, wie mit dämonischen Mächten wie Cherubina zu verfahren ist.

Kaum dass ich das stolze Eichentor durchschritten hatte, wusste ich, dass dies die richtige Entscheidung gewesen sein muss.
Die Stille, in dem von warmem, beruhigendem Licht in Gold getauchten Mittelschiff war ehrfurchtgebietend. Sie schien aus sich selbst widerzuhallen und dieses unendliche, lautlose Echo nahm meine Furcht von mir.
Das Licht, das durch das grosse Buntglasfenster hinter mir fiel und der goldene Schein der Kerzen umgaben mich wie eine schützende Umarmung, beruhigten mein nervöses Gemüt.
Ja, hier war ich sicher vor ihr und für den Moment war alles gut.
Doch zugleich regte sich in einem Winkel meines Verstandes das Wissen, dass dieser friedvolle Zustand nicht ewig andauern, diese Umarmung aus Licht und Ruhe vergehen werde. Mochte ich hier auch für den Augenblick sicher sein, bald müsste ich zurückkehren in diese Hölle, in welche Cherubina mein Leben verwandelt hat.
Aber obwohl dieser Gedanke in all seiner Düsternis und Schwermut einen allzu schroffen Gegensatz zu der hellen und heiligen Umgebung, in der ich mich befand, darstellte, versank ich nicht in Hoffnungslosigkeit, hatte ich armer Narr doch noch immer Vertrauen darauf, hier Hilfe zu finden. Und so schritt ich in diesem eigentümlichen Zustand der hoffnungsvollen Bedrücktheit geradewegs auf den Beichtstuhl zu.

“Vater, ich habe gesündigt“, begann ich meine Beichte leise.
“Bekenne dich vor Gott zu deinen Sünden und sie mögen dir vergeben werden“, antwortete der Priester, wie nicht anders zu erwarten war.
“Vor zwei Monaten traf ich in Osney ein schönes, jedoch leichtes Mädchen. Sie war so schön, dass ich sie auf der Stelle heiraten wollte“, erzählte ich dem Pfarrer ein wenig wehmütig, nachdem ich einen Moment lang überlegt hatte, wo ich am besten beginnen sollte, “Doch sie verschmähte meine ewige Liebe! Warf sich lieber jedem, der einen Penny oder zwei übrig hat an den Hals!“
“Und was tatest du, als das Mädchen dich abwies?“, hakte der Pfarrer nach, geduldig und dennoch mit wachsamem Misstrauen.
“Ich konnte es nicht ertragen sie mit jedem anderen Mann teilen zu müssen. Niemand ausser mir sollte sie haben, sie küssen, sie berühren...“ Meine Lippen bebten bei diesen Worten und roter Zorn ergriff mich heiss, wie er es in jener Nacht schon getan hatte.

Viktor las den Absatz ein zweites und dann noch ein drittes Mal, doch der Inhalt blieb unverändert.
Von all den unmöglichen, phantastischen Dingen, die er bisher im Tagebuch seines Freundes gelesen hatte, war dies - dies Geständnis einer vollkommen weltlichen und bedauernswert häufigen Tat - mit Abstand das Unmöglichste. Viktor konnte den bitteren Geschmack dieser Ironie fast schon auf der Zunge schmecken.
Natürlich, Lawrence mochte seine Fehler haben, aber er war ein kluger, ehrbarer, junger Mann. Zumindest hatte Viktor das bisher immer geglaubt.
Doch die Worte im Tagebuch des Malers sagten etwas ganz anderes.
Mortimer schüttelte indes nur ungläubig den Kopf.
“Armes Kind...“ Mehr sagte er nicht.


Der Pfarrer schwieg während ich meine aufwallende Erregung zu beruhigen suchte.
“Das ist tatsächlich eine äusserst schwere Sünde, mein Sohn“, begann er schliesslich bedächtig und wohl in dem Glauben, ich hätte weiter nichts zu sagen, doch ich unterbrach ihn.
“Das ist nicht alles!“
Und ich erzählte ihm, wie die schöne Dirne mir nicht mehr aus dem Sinne ging, wie ich sie schliesslich malte; nicht so, wie sie in ihrem unwürdigen, ordinären Leben gewesen war, sondern so, wie es hätte sein sollen: Als Prinzessin und Fee von elysischer Schönheit und hoheitsvollem Stolz. Ich beschrieb ihm, wie ich nächtelang wie ein Besessener malte, um Gottes Fehl an diesem bedauernswerten Geschöpf post mortem zu korrigieren, aus der schmutzigen Hure, die schöne, engelsgleiche Cherubina erschuf. Und schliesslich sprach ich von jenem verhängnisvollen Tag, als ich dem Teufel unbedacht meine Seele feilbot, um das Trugbild meiner Malerei auferstehen zu lassen und wie der Teufel diese in kindlicher Unschuld gesprochene Gelegenheit wahrnahm und Cherubina als seine Dienerin nach mir schickte. Ist es wirklich noch keine Woche her? Ach, es scheint mir eine Ewigkeit...
Der Pfarrer hörte mir geduldig zu, doch glaube ich, einen gewissen Unglauben in seinem Schweigen zu erkennen; Ratlosigkeit sprach daraus, als ich geendet hatte.

“Der hat vielleicht Nerven...“, murmelte Mortimer, während Viktor gar nicht mehr wusste, was er noch sagen oder denken sollte.
Nicht nur schien Lawrence ein Mörder zu sein, aus seinen Worten sprach auch keinerlei Reue für diese fürchterliche Tat.
Es war offensichtlich, dass Lawrence sich im Recht fühlte, sogar noch von “kindlicher Unschuld“ sprach.
Viktor musste einen Anflug von Übelkeit niederkämpfen, seine Knie fühlten sich an, als wären sie mit Watte gefüllt.
Das war nicht Lawrence, wie er ihn kannte, das war ein Monster, ein widerliches Monster in menschlicher Gestalt und ohne Gewissen.


“Das... ist ein äusserst seltsamer Fall“, gab der Priester schliesslich von sich. “Ich fürchte jedoch, mein Sohn, ein bescheidener Priester wie ich, kann in einer solch aussergewöhnlichen Situation kaum Absolution erteilen.“
Er versprach, sich mit dem Bischof in Verbindung zu setzen, sodass mir geholfen werden könne. Ich sollte währenddessen warten, denn hier im Hause Gottes sei ich ja sicher.

Es war mein Glück, dass ich durch Zufall hörte, wie er einem Burschen auftrug, die Polizei zu holen. Ganz offensichtlich hielt mich dieser Scharlatan, dieser Betrüger für einen entflohenen Wahnsinnigen.
So floh ich denn aus diesem “Hause Gottes“ und konnte feststellen, dass wenigstens Cherubina mich wohl für den Moment unbehelligt lies.
 Zwischen den Seiten steckte ein loses Stück Papier, welches Viktor als einen Artikel aus dem Oxford Journal vom 11. September erkannte, den er selbst kopfschüttelnd überflogen hatte

6. Kapitel: Wahnsinniger auf freiem Fuss

Wahnsinniger auf freiem Fuss

Kurz vor Redaktionsschluss erreichte uns diese Meldung aus der katholischen Kirche St. Aloysius Gonzaga in der St. Giles Street.
Simon Kelley - der zuständige Pfarrer der Kirche -  liess gestern Abend gegen sechs Uhr dreissig nach der Polizei schicken, da in seinem Beichtstuhl ein womöglich gefährlicher Wahnsinniger sass.
“Natürlich ist es eigentlich nicht mit dem Beichtgeheimnis zu vereinen“, erklärte der Jesuitenpater auf unsere Anfrage, “aber was hätte ich sonst tun sollen? Dieser junge Mann hatte mir gerade einen Mord gestanden und behauptete, von einem Gemälde der Ermordeten, das ihm seine Seele rauben wolle, verfolgt zu werden. Ich fürchtete um die Sicherheit und das Wohlergehen der Bürger Oxfords und beschloss, dass es wohl das Beste für alle wäre, den jungen Mann in die Hände von Spezialisten zu übergeben.“
Als die Polizei jedoch eintraf, war der mutmassliche Mörder bereits flüchtig.
Kommissar James Sullivan von der Oxforder Polizei gab an, man bemühe sich nach Kräften, den Flüchtigen aufzuspüren, jedoch erschwere die mit dem Beichtstuhl verbundene Anonymität die Ermittlungen erheblich, da so lediglich Pater Kelleys Einschätzung anhand der Stimme - Er schätzte den Mann auf rund zwanzig - und  keine exakte Beschreibung des Mannes vorhanden sei.
Die Bürger Oxfords und ganz besonders die werten Damen, werden zur äussersten Vorsicht aufgerufen und gebeten, verdächtige Vorgänge umgehend der Polizei zu melden.

7. Kapitel: 11. September

11. September


Ach, diese Kleingeister der Zeitung und der Polizei. Sehen sie denn nicht, dass ich das Opfer der Dirne wurde, nicht sie das meine?
War nicht sie es, die mein Herz in Stücke schlug, als sie mich verschmähte? Welche andere Wahl hatte ich denn?
War nicht sie es, die mich behexte, sodass ich bei Tag wie auch bei Nacht nur noch an sie denken konnte?
War nicht sie es, die als Dämon dem Portrait entstieg, um mich zu peinigen?

“Genug davon!“, rief Viktor aus und wandte sich schaudernd von dem Tagebuch ab. Das konnte unmöglich wahr sein, es konnte nicht Lawrences Hand gewesen sein, die diese Worte geschrieben hatte. Und doch sprach alles dafür, jeder Strich und jeder Bogen, jeder säuberlich gesetzte Punkt war exakt, wie Lawrence zu schreiben pflegte und die Sprache war die seine.
Mortimer warf seinem Sohn einen besorgten Blick zu, als dieser sich erschüttert auf einem Hocker niederlies. Viktor wusste, dass sein Vater sich bei aller Besorgnis doch auch darauf brannte, das Ende dieser unglaublichen Geschichte zu erfahren und nickte ihm zu, um ihm zu zeigen, dass er seines Trostes nicht bedurfte.
Mortimer runzelte kurz die Stirn, las dann jedoch scheinbar ungerührt weiter.


Es ist mein Glück, dass der Priester mein Gesicht und meine Stimme nicht erkannte, sonst wäre ich wohl schon längst in einem Irrenhaus, eingesperrt wie ein vernunftloses Tier.
Doch andererseits, wem könnte ich es tatsächlich übelnehmen, wenn er mich für wahnsinnig hielte? Ich glaube ja selbst kaum, was mit mir geschieht.
Und doch geschieht es, und es ist - das kann ich mit aller Gewissheit sagen - so wirklich wie der dichte Nebel vor meinem Fenster.
Erneut sitze ich ratlos da. Ich bin auf mich allein gestellt, das weiss ich nun.
Ach, ich hätte mich nicht zieren dürfen, das Portrait zu zerstören, ich fühle, dass es der Schlüssel ist. Ganz gewiss birgt es eine Möglichkeit in sich, Cherubina in die Tiefen der Hölle aus denen sie gekrochen ist, zurück zu stossen, sie zu versiegeln und zu bannen.
Ja, bannen...
Das ist es doch, was man üblicherweise mit bösen Geistern tut! Dass mir das nicht früher eingefallen ist!
Doch zunächst muss ich das Portrait zurückholen. Ich bete, dass niemand die Leinwand gefunden und sie mitgenommen hat oder - noch schlimmer - vollendete, was ich nicht konnte...

Ich hatte Glück. Die leere Leinwand lag noch immer an der Uferböschung, als ich die Folly Bridge erreichte, selbst das Zeitungspapier bedeckte sie noch; es war lediglich etwas aufgeweicht vom Nebel.
Ich drückte das feucht-kalte Paket an mich, als sei es ein teurer Schatz und eilte damit zurück zu meiner Droschke.
Sobald ich den wertvollen Inhalt wieder in der Sicherheit meiner Mansarde wusste, eilte ich in die Bodleian Library, wo ich seit nunmehr drei Stunden über alten Schriften brüte.
Diese Idee erschien mir heute Morgen geradezu genial, ich war mir sicher, in all diesen Büchern und Texten einen Anhaltspunkt zu finden, ein Ritual oder einen Zauberspruch, um böse Geister auszutreiben, altes Brauchtum, das mir helfen würde, mich von der schändlichen Präsenz Cherubinas zu befreien.
Doch alles, was ich bisher erreicht habe, ist, dass mir der Kopf von wirren Geschichten und Legenden schwirrt und brummt, weshalb ich beschloss, mein Tagebuch fortzuführen, um meine Gedanken zu ordnen.
Natürlich gibt es Texte, die sich - unter anderem - auch mit dem Bannen und Vertreiben von Geistern und Dämonen beschäftigen; ihre Anzahl erstaunt einen rationalen Mann wie mich.
Doch der Inhalt dieser Schriften erwies sich bei kritischer Betrachtung als ebenso nützlich, wie ihre Sprache zeitgemäss ist.
König James I brachte die banalen Vorschläge in seiner Daemonologie am besten auf den Punkt, als er schrieb, es gäbe nur zwei Möglichkeiten, einen bösen Spuk zu beenden: Entweder müsste man inbrünstig beten oder Busse tun und sich von den Sünden befreien, die zu der Heimsuchung geführt hätten.
Narren! All diese gelehrten Köpfe sind blosse Narren!
Habe ich nicht gebetet?
Habe ich nicht Hilfe im Schoss der Kirche gesucht?
Und was hat es mir gebracht?
Cherubina verfolgt mich noch immer! Sie ist noch immer dort draussen! Wartet, lauert in den Schatten auf den perfekten Moment zuzuschlagen wie ein wildes Tier.
Aber noch ist nicht die Zeit, zu verzweifeln, noch gebe ich nicht auf. Die Bodleian Library ist gross und viele Bücher habe ich noch nicht angerührt. Es muss eine Lösung geben, es muss!

Mortimer schüttelte den Kopf. Soweit er wusste, musste man seine Sünden erst einmal einsehen, um Vergebung erfahren zu können. Im Stillen fragte er sich jedoch, ob eine derart späte Einsicht Mr. Sterling wohl überhaupt noch irgendwie hätte helfen können.

Den ganzen Tag verbrachte ich also in der Bibliothek - ungestört, wie ich einigermassen erleichtert berichten kann. Mögen die Gelehrten aus den Büchern auch Narren sein, ihre Berichte erschrecken mich. Ist auch nur ein Quäntchen davon wahr - und so viel Wahrheit steckt ja bekanntlich in jeder Legende - so sind die Höllenkräfte dieser Dämonin noch viel gewaltiger, als ich bisher anzunehmen wagte.
Ich fühle mich, als hätte ich mindestens jedes zweite Buch schon einmal in Händen gehalten und ich bin doch kein Wort klüger als zuvor, sodass ich diesen Tag wohl als verloren betrachten muss – und das, obwohl ich nicht weiss, wie viel Zeit mir bleibt, bis Cherubina beschliesst, dass sie genug mit mir armem Tor gespielt hat und es Zeit für den finalen Stoss sei.
Dass sie mit mir spielt, dessen bin ich mir mittlerweile so gut wie gewiss.

Die Szene, die sich mir bot, als ich die Bibliothek niedergeschlagen verliess, bestärkt mich nur in diesem Glauben.
Es war einer jener Abende, an denen man glauben mochte, das Ende der Welt bräche herein.
Der dichte Nebel hatte sich längst verzogen und es hatte begonnen in Strömen zu regnen, als wollte eine neue Sintflut über die Welt kommen. Donner grollte und krachte, als stürze die Bodleian Library hinter mir zusammen und Blitze erhellten zuckend das finstere Firmament.
Und in mitten dieser kleinen Apokalypse stand sie, die sich anschickte, das Ende meiner eigenen, bescheidenen Welt zu sein.
Für einen Moment schien alles vor Schreck still zu stehen: Ich selbst, mein Herz, die Welt um mich herum.
Und auch sie stand still, vom unsteten Licht der Blitze beleuchtet, das sie bald als die strahlende und engelsgleiche Gestalt im blassvioletten Kleid, die ich malte, bald als die schmutzige und elende Dirne mit offenem Haar und unansehnlichen graubraunen Lumpen, die sie gewesen war, zeigte.
Kein Wort kam über ihre Lippen, sie sah mich bloss an. War es Verachtung in ihren Augen? Hass? Mitleid? Eine schändliche Freude an meinem Leiden? Oder all dies, vermischt mit der fürchterlichen, seelenlosen Leere ihrer Augen? Ich vermag es nicht zu sagen.
Sie tat nichts, und ach, sie hätte dabei nicht grausamer sein können.

Sie war wie eine Katze mit einer Maus, labte sich an der Angst, die mir in den Nacken kroch und mich lähmte. Ich war nicht gewillt, ihr noch einmal die Freude zu bereiten, Hals über Kopf wegzulaufen, jedoch fürchtete ich den Moment, da sie etwas täte, das ihr Spiel ein für alle Mal beendete. Ich wagte nicht, ihr den Rücken zuzukehren und war gleichzeitig zu ängstlich, ihr entgegen zu gehen.
Schliesslich war es Cherubina, die den Blick senkte und so den eigentümlichen Bann, der uns erfasst hatte, brach.
Sie verschwand vor meinen Augen, als hätte der Sturmwind sie davon geweht.
Ja, sie spielt mit mir, behexte mich erneut, um mich mit ungewollten Gedanken zu quälen. Gedanken an sie.
Ach, dieses Bild geht mir nicht mehr aus dem Kopf. In diesem Moment, ganz kurz vor ihrem Verschwinden, schien sie keine Dämonin mehr zu sein, sondern wieder das schöne, reine Mädchen, das ich malte und so inbrünstig liebte. In dieser Sekunde schien sie so wehmütig, so voller Melancholie, als plage sie die Sehnsucht nach ihrem fernen Geliebten, als hätte sie doch eine Seele.
Es würde sich wahrhaftig lohnen dieses Bild festzuhalten, auch wenn ich mich dafür verabscheue, dass sie mich so leicht wieder in ihren Bann ziehen kann; als wäre ich eine Puppe an ihren Fäden...

Mortimer runzelte die Stirn. Der letzte Teil von Mr. Sterlings Eintrag machte nicht gerade den Eindruck, als sei es ihm besonders ernst damit, Cherubina zu bannen. Er machte vielmehr den Eindruck eines verliebten Mannes.

8. Kapitel: 12. September

12. September

Ich befand mich in meiner Dachkammer, rastlos wie ein in die Enge getriebenes Tier ging ich auf und ab, eine Möglichkeit zu entkommen suchend, bis ich bemerkte, dass etwas mit der Leinwand vor sich ging.
Es schien, als bewegte sich etwas hinter dem Leinen, als drückte jemand von hinten dagegen.
Ich sah schauernd, doch fasziniert, zu, wie vor meinen eigenen Augen von Geisterhand ein Bild auf diese leere Leinwand gemalt wurde. Erst skizzenhaft erschien eine Figur auf ihr, zunächst vermutete ich Cherubina, doch je klarer und ausgearbeiteter das Bild wurde, desto deutlicher erkannte ich, dass die Figur männlich sein musste und schliesslich stand ich meiner selbst gegenüber.
Ich war es, der mir panisch von der Leinwand entgegen starrte, das Gesicht von unbeschreiblichem Schrecken entstellt und verzerrt, die Hände hilflos erhoben, als presste ich sie gegen eine Glasscheibe. Mein gemaltes Selbst wand sich und schien zu schreien, doch ich hörte keinen Ton.
Der Anblick war grauenvoll, doch nicht so grauenvoll, wie das, was dann mit mir geschah.
Mir war, als erfasse mich ein Polarsturm, so eisig kalt war der Wirbel, der mich plötzlich packte und mir für einen Moment die Sinne raubte.
Als ich wieder zu mir kam, sah ich meinen Körper von aussen, beobachtete voller Entsetzen, wie er zusammenbrach und leblos liegen blieb. Und ich war gefangen in einer kalten Schwärze, in der nichts lebte, nur mit einem kleinen Fenster zur Wirklichkeit; der Leinwand auf der Staffelei.
Alsdann betrat Cherubina mein Blickfeld.
Ganz ruhig beugte sie sich über meinen Körper, streichelte langsam, geradezu zärtlich über meine Wange und ich spürte diese Geste tatsächlich. Und ebenso fühlte ich den Kuss, den sie meinem scheinbar toten Körper auf die Stirne hauchte.
Ich schauderte und wollte mich abwenden, doch ich konnte nicht, ich war wie hypnotisiert und musste mitansehen, wie mein Körper verschwand, sich in ihren Armen in Luft auflöste, wie Nebel in der Morgensonne.
Dann schliesslich erhob sich meine Peinigerin wieder und wandte sich der Leinwand zu. Sie sah mir direkt in die Augen und lachte, unschuldig, wie ein Kind, das ein schönes Geschenk bekommen hatte.
Dieses Lachen - es hätte schöner und zugleich grausamer nicht sein können - klang mir noch in den Ohren, als ich aus dem Schlaf schreckte.
Ich tastete bebend nach meiner Brust, als ich zurück in die Kissen sank, froh, meinen eigenen Leib zu spüren, ja, überhaupt noch einen Körper zu besitzen. Der Schrecken des Traumes sass mir tief in den Knochen und ich spähte misstrauisch nach der Leinwand, die jedoch still und scheinbar unschuldig auf der Staffelei stand, wo ich sie selbst abgestellt hatte.

Dass ich derzeit - von wirren Träumen geplagt - nur wenig Schlaf finde, ist nichts Neues für mich, doch im Gegensatz zu den vorherigen Träumen, die ich nur vage, aber als seltsam und schrecklich in Erinnerung habe, erinnere ich mich an jedes scheussliche Detail dieses Traumes.
Ist dies das Schicksal, das mich erwartet, wenn es mir nicht gelingt, Cherubinas verdorbenes Tun aufzuhalten?

Auch Mortimer blickte zu der Leinwand, dem Portrait des Malers und seiner Kreation, das auf ihr zu sehen war, und stellte sich dieselbe Frage.

Ich werde es nicht so weit kommen lassen!
Ich bin nach wie vor überzeugt, dass es eine Möglichkeit gibt und ich habe auch schon eine Idee, wie ich es bewerkstelligen will.

Mortimer bezweifelte, dass Mr. Sterling noch grossen Einfluss auf diese Geschichte nehmen konnte und die zackige, eilige Schrift des nächsten Absatzes bestätigte seine Vermutung.

Diese verdammte Leinwand!
“Wenn bereits etwas auf der Leinwand gemalt ist“, dachte ich naiv, “kann man meine Seele auch nicht darauf bannen.“
Also sammelte ich rasch meine Pinsel und Farben zusammen. Ich vergeudete sogar ein paar Momente damit, eine schnelle Skizze anzufertigen, da ich es ja hasse, einfach ins Blaue hinaus zu malen.
Und trotz meines Zorns auf diesen höllischen Haufen Stoff und Holz und die Misere, für die er steht, lässt mich der Gedanke an diese alte Eigenheit lächeln. Bei all dem Phantastischen und Unnatürlichen, das in den letzten Tagen passierte, erscheint es doch so erfrischend und wunderbar, etwas so Profanes zu tun, wie vor dem ersten Strich auf der Leinwand eine kleine Skizze anzufertigen.

Tatsächlich fand Mortimer zwischen den Seiten einen Zettel mit einer groben Skizze und studierte ihn aufmerksam. Unglaublich, dass aus so etwas später Kunst wurde; sogar er hätte das zu Stande gebracht.

Nervös und mit zitternden Fingern setzte ich also an, den ersten Strich zu tun.
Aber, oh, dieses dreimal vermaledeite Teufelsding!
Kaum war der Strich getan und mein aufgewühltes Gemüt dabei, sich etwas zu beruhigen, da verschwand er auch sogleich wieder!
Fort! Einfach so! Als wäre da nie irgendetwas auf dieser Leinwand gewesen, als hätte ich sie gerade erst gekauft!
Ich kann noch jetzt kaum glauben, was dort geschah.
Von keinem meiner verzweifelten Pinselstriche, blieb auch nur die geringste Spur zurück.
Ich versuchte in einem Anflug von Panik eine grosse Farbfläche mit einem Spachtel aufzutragen, doch auch sie verschwand!

Es war Cherubinas Art, mich und meine Bemühungen zu verspotten, mir zu zeigen, dass keiner meiner Angriffe ihr etwas anhaben konnte. Wie die Dame beim Schach wich sie elegant nach allen Richtungen aus, während ich, der gejagte König von Feld zu Feld floh, und doch nicht vom Fleck kam. und mit dieser Erkenntnis ergriff mich einmal mehr heisser Zorn, wie er es in dieser schicksalhaften Nacht schon getan hatte.
Sollte sie spotten, solange sie denn noch konnte!
Ich rammte meinen Spachtel mitten in das Leinen, riss es in Fetzen und zertrümmerte den Rahmen bis nur noch kleine Stücke von ihm übrig waren.
Als ich damit fertig war, atmete ich schwer, doch mein Herz schlug leicht.
War dieser Ausbruch auch zweifelsohne rüde und ungesittet, ach, so war er doch auch so befreiend wie es die blosse Entledigung von Ärger und simpler Frustration nicht hätte sein können.
Der Bann ist gebrochen, ich weiss es, ich fühle es.

Auch daran wagte Mortimer noch erheblich zu zweifeln, immerhin fehlte heute, nur zwei Tage nach diesem Eintrag, jede Spur seines Verfassers.
“Viktor? Mr. Sterling schreibt hier, er wollte eine Dame namens Christine besuchen. Weisst du, um wen es sich dabei handeln könnte?“, fragte Mortimer seinen Sohn interessiert, nachdem er die letzten Zeilen des Eintrages gelesen hatte.
Viktor legte den Kopf schief, während er überlegte, eine Angewohnheit, die er - im Gegensatz zu seinen Geschwistern - von seinem Vater übernommen hatte.
“Ich glaube, seine Schwester heisst Christine. Wenn ich mich recht erinnere, wohnt sie in Liverpool“, sagte er dann.
“Also... lebt Lawrence noch?“, fügte er nach einem Moment des Schweigens zögernd hinzu.
“Zum Zeitpunkt dieses Eintrages war er sicherlich noch recht lebendig, aber ob das noch immer so ist... Das muss sich erst noch zeigen“, erwiderte sein Vater bedächtig. Ein letzter Eintrag befand sich noch im Tagebuch und seine ersten Worte liessen Mortimer nichts Gutes ahnen.
“Du solltest zum Postamt gehen und versuchen, Miss Christine zu telegraphieren. Frag sie, ob sie etwas von ihrem Bruder gehört hat, wenn du kannst“, wies Mortimer seinen Sohn an und steckte ihm ein paar Schilling für das Telegramm zu, bevor er sich dem letzten Eintrag zuwandte.

9. Kapitel: 13. September

13. September

Mochte ich auch glauben, Cherubinas bösen Fluch besiegt zu haben, so wurde ich heute Morgen eines Besseren belehrt und meine Scham und Angst sitzen zu tief, als dass ich darüber hinaus noch Zorn empfinden könnte.
Ich ging gestern mit leichtem Gemüt zu Bett, mit guter Laune und der Gewissheit, dem Übel, das mich plagte entronnen zu sein; war doch die Last, die dieses Übel auf meine Seele gelegt hatte, verschwunden und die dämonische Gestalt der Cherubina mit ihr, Mein Schlaf war tief und friedlich, sodass man nicht hätte glauben mögen, wie sehr mich die Ereignisse der letzten Tage aufgezehrt hatten.
Und doch fand ich an diesem Morgen, dass all dies, all die Friedlichkeit, all die Erleichterung, auch nur Teil von Cherubinas Spott waren, denn das Erste, was ich erblickte, war die Leinwand.
Dieses Höllending hatte sich über Nacht wieder zusammengesetzt, stand auf der Staffelei als wäre nie etwas gewesen und die Erkenntnis traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel, liess mich taumeln und zurück auf meine Bettstatt sinken.
Dort blieb ich eine ganze Weile erschüttert sitzen.
Was soll ich denn noch tun?
Ich erwog, noch einmal in die Bodleian Library zu gehen, in einem verzweifelten Versuch noch einmal dort nach einer Lösung zu suchen.
Doch im selben Moment ahnte ich, dass meine Zeit im Begriff ist, abzulaufen.
So oder so: Es wird heute enden und ich stehe Schach. Ausser beten und hoffen scheint es nichts mehr zu geben, das ich noch tun könnte. Ich habe wohl verloren.

Aber, nein, so kann ich es doch nicht enden lassen, ich kann nicht einfach aufgeben! Damit würde ich ihr nur in die Hände spielen. Sicherlich gibt es noch immer etwas, was ich tun kann.
Ach, wenn ich nur wüsste, was.
Vielleicht war es nicht der schlechteste Gedanke, die Leinwand zu zerstören, vielleicht war es einfach nicht der richtige Weg...
Ja, ich darf ihr einfach keine Möglichkeit geben, sich zu regenerieren. Ich muss sie vollkommen zerstören.
Feuer wäre sicherlich eine Möglichkeit. Schon die Hexenjäger des finsteren Mittelalters suchten doch, mit dem Feuer die Seelen der unglücksseligen Weiber, die ihnen in die Hände gerieten, zu reinigen, wie auch das Fegefeuer von dem Bösen reinigt.
Es mag einem aufgeklärten, rationalen Mann des 19. Jahrhunderts wohl als barbarisch erscheinen, doch wer bin ich, darüber zu richten?
Ich werde diesen Albtraum also im Feuer beenden!

Ich nahm mir also einmal mehr die Leinwand, schlug sie einmal mehr in Zeitungspapier und trug sie einmal mehr die enge Treppe hinunter und in den Garten hinter dem Haus. Dann eilte ich zurück und holte zwei Flaschen Terpentin, die ich mit der kindlichen Begeisterung eines Brandstifters über das unselige Paket goss.
Ich zögerte einen Moment, das Streichholz anzureissen, freute mich dann jedoch an dem Ton, den es von sich gab und fasziniert sah ich zu, wie aus dem kleinen, geradezu unschuldigen Streichholz-Flämmchen ein höllisches Inferno wurde, welches das Paket lodernd einhüllte. Das Zeitungspapier krümmte und wand sich unter der Flamme Kuss und bald - da war ich sicher - bald würde sich auch die Leinwand krümmen und winden, während das Feuer sie verzehrte.

Doch so kam es nicht. Der kalte Westwind wehte die verkohlten, noch kläglich glimmenden Überreste des Papiers davon und die Leinwand lang unberührt vor mir auf den Steinplatten der Terrasse.
Das Teufelsding wollte einfach nicht brennen! Egal, wie viel Terpentin ich darauf schüttete, egal, wie viele Schwefelhölzer ich darauf warf, es wurde nicht einmal warm.

Ich war der Verzweiflung nahe, trat heftig gegen die Leinwand, so dass der Rahmen knackte und flüchtete mich in meine Kammer, wo ich mir zur Beruhigung eine Pfeife mit Opium stopfte.
Jene schreckliche Angewohnheit, die ich mir ja eigentlich schon längst abgewöhnt hatte. Doch Pfeife, Tabak und Opium besitze ich noch immer und - Herrgott - was spricht schon dagegen?
Ich hatte kaum zwei Züge genommen, da hörte ich ein Klopfen an meiner Tür.
Zunächst wagte ich nicht zu öffnen, doch dann erklang die resolute Stimme der Witwe Philips, meiner Vermieterin, durch die Tür. Also ich ihr die Tür öffnete, stiess sie mir die Leinwand heftig gegen die Brust.
“Ich weiss ja nicht, warum Sie versuchen, meine Lilien anzuzünden und es ist mir auch egal, aber nehmen Sie doch bitte ihren Plunder wieder mit. Dies ist ein ordentliches Haus und ich wünsche nicht, dass irgendwelcher Unrat in meinem Garten liegt!“
“Verzeihen Sie, Mrs. Philips“, murmelte ich. “Es wird bestimmt nicht wieder vorkommen.“
Ich reichte Mrs. Philips etwas Geld um die angesengten Lilien zu ersetzen und nahm die Leinwand also Notgedrungen wieder an mich. Nachdem ich sie auf die Staffelei - wo sie noch immer thront -  gestellt hatte, kehrte ich zu meiner Pfeife neben dem Bett zurück.
Wie es scheint, kann ich dieses Spiel nicht gewinnen. Also was macht es schon, dass die verdammte Leinwand wieder wie ein Tor zu einem Höllenschlund über mir droht?
Es ist ohnehin alles verloren, was kann ich also noch anderes tun als mich dem gnädigen Rausch und seinen schönen Visionen hinzugeben?

Und so lag ich träumend da. Ein Stunde? Zwei? Ich vermag es nicht zu sagen, war ich doch frei von Zeit, während Bilder von phantastischen Orten und fernen Sommertagen durch meinen benebelten Kopf zogen.
Und Bilder von ihr, wie ihre goldenen Locken im Wind wehten und wie sie sanft und prinzessinnengleich mein Haar streichelte, als wäre sie keine Hure und Dämonin, sondern wieder jener sanfte Engel, den ich vor scheinbar unendlich langer Zeit malte und liebte.
Doch nun ist die Wirkung des Opiums abgeklungen und mein Geist ist wieder klar. Es ist Zeit.
Auf der Treppe höre ich leise, leichte Trippelschritte, ein Hauch von Hyazinth, Jasmin und weissem Flieder weht ihnen voraus.

Ich Tor habe versprochen meine Seele zu geben um ihr Wirklichkeit zu verleihen, habe einen Dämon, meinen eigenen Untergang geschaffen. Und nun ist es Zeit, dieses fatale Versprechen einzulösen.

10. Kapitel: Epilog

Epilog

Mr. Sterlings offensichtliches Ende verblüffte Mortimer wenig, damit war zu rechnen gewesen, doch die letzte Zeile des Tagebuchs warf selbst ihn etwas aus der Bahn. Nur ein einziges Wort stand da, doch es war nicht Mr. Sterlings Hand gewesen, die es schrieb. Die Buchstaben stammten offenkundig aus der Feder einer Dame, so schön geschwungen und fliessend wie sie waren.

Schachmatt...

Mortimer schloss das Tagebuch und erhob sich von der Bettkante, auf der er gesessen hatte.
Seine Aufmerksamkeit galt ganz dem Bild auf der Staffelei, den friedlichen Gesichtern Cherubinas und ihres närrischen Schöpfers. Mortimer konnte nicht anders als zu lächeln.
Er hätte schwören können, dass die Augen von Mr. Sterlings Abbild zuvor noch ganz geschlossen gewesen waren.
Endlich wandte er sich von dem Bild ab und suchte Mrs. Philips auf, um sie zu bitten, ihm eine Droschke nach Hause zu rufen.
Dann zog er seine Geldbörse hervor und zählte fünf Pfund heraus, die er der Witwe reichte.
“Bitte geben Sie das Mr. Sterling, sollte er zurückkommen. Für das Bild oben“, erklärte er, obwohl er nicht im mindesten daran glaubte, dass es dazu kam. Viel eher würde Mrs. Philips sich irgendwann über den grosszügigen Zustupf zur Haushaltskasse freuen.

Aber es sollte schliesslich alles seine Ordnung haben. Auch wenn Mortimer fand, dass fünf Pfund eigentlich ein schäbiger Preis für eine Künstlerseele waren.

Während Mrs. Philips eilte, um ihm eine Droschke zu besorgen, stieg Mortimer noch einmal die vielen Stufen hinauf und hob vorsichtig das Bild, dieses Portrait der Sünde, von der Staffelei.
Es würde sich gewiss hervorragend in seinem Studierzimmer machen.