Mutiny

Kurzbeschreibung:

Am 20.2.2020 um 15:53 von RitaSolex auf StoryHub veröffentlicht

Hinter der milchigen Glasscheibe sah ich die Silhouette und wappnete mich innerlich vor der Begegnung.
Man traf sich immer zweimal im Leben, im ungünstigsten Falle sogar öfter, und auch wenn ich es nicht wirklich erwartet hatte, so traf das wohl auch in diesem Falle zu.
Geglaubt hatte ich fast nicht mehr daran, so viele Jahre war es einfach nicht passiert, und trotzdem stand ich nun hier, und war im Begriff, dem Teufel gegenüberzutreten.
Hunderte von Malen, vielleicht sogar öfter, hatte ich ein Aufeinandertreffen im Kopfe durchgespielt, und doch hatte keines meiner Szenarien die Gefühle in mir ausgelöst, die ich aktuell empfand.
Was ich erwartet hatte, war Wut.
Was ich erwartet hatte, war die Wut einer Frau, die verlassen und verletzt worden war, und einfach niemals wichtig genug gewesen war, um um sie zu kämpfen.
Was ich jedoch sehr viel eher empfand, und womit ich aktuell wirklich nicht umgehen konnte, war die Vorfreude darauf, ihm tatsächlich noch einmal gegenüberzustehen.
Das leise Flattern, nur allzu bekannt, erklang in mir, ohne das ich etwas dagegen tun konnte.
Schon immer war es so gewesen, die leise Ahnung auf ihn zu treffen hatte mich fliegen lassen, und auch heute, nach so vielen Jahren, hatte ich anscheinend nichts daran geändert.
Seine pure Anwesenheit in fast greifbarer Nähe, ich spürte sie einfach.
Wann immer er in meiner Nähe gewesen war, sei es auch getrennt durch Türen oder Wände, hatte ich es gewusst.
Jede Faser meines Körpers hatte darauf reagiert, als sei ich ein Magnet.
Auch jetzt empfand ich diese Anziehung, sie schien stärker als jedes andere Gefühl, und ich fragte mich, ob ich jemals ein ähnliches Gefühl in ihm ausgelöst hatte.
Wie armselig das war und wie wenig es zu unserer Geschichte passte, erkannte mein Herz dabei einfach nicht.
Wie dumm es doch war und wie wenig es verstand, dass solche Empfindungen nicht gut waren, sah nur mein Kopf.
Mein klarer Kopf, der sich an all die fiesen Gemeinheiten, die trostlosen Nächte und einsamen Tage erinnerte, mich ermahnte, dass Menschen sich niemals änderten, und der einfach nie gegen meinen verklärten Verstand zu siegen schien.

Meine Hand fuhr zu Klinke und ich atmete tief ein, um mich darauf gefasst zu machen, dass es schlimmer werden würde.
Wenn ich ihn sah, dann würde sehr viel mehr in mir passieren.
Alles, was ich so mühsam zu vergraben versucht hatte, würde aus seinen Löchern kriechen.
Es würde sich aufrichten, bis es seine ganze Größe endgültig erreicht hatte, und ich würde wieder das junge Mädchen sein, dass alldem schutzlos ausgeliefert war.
Der einzige Unterschied zu damals würde sein, dass ich darauf gefasst war, und dass ich mit vollem Bewusstsein in dieses Unheil lief.
Er würde lachen, ganz sicher, und noch sicherer würde er tun, als sei all das mit uns nur eine lächerliche kleine Erinnerung, an die man einfach keinen Gedanken mehr verschwenden durfte.
Für ihn rannte die Zeit, er gehörte niemals zu den Menschen, die zurücksahen. Nur ich war es, deren Leben nach ihm einfach für Monate in der gleichen Sekunde verharrt war.
Eine kurze Zeit, für ihn vielleicht nur einige Sekunden in seinem Leben, an die er sich vielleicht nicht mal mehr wirklich erinnern würde.
Ein dummer Fehler, etwas, dass zwar existiert hatte, aber niemals wirklich real gewesen war, und vor allem etwas, dessen Existenz ihn nicht im geringsten beeinflusst hatte.
Mich allerdings hatte es beeinflusst, jeden Tag und jede Stunde meines Lebens, und es würde für immer so sein.
Was für ihn nur ein kurzes Abenteuer gewesen war, hatte mich in meinen Grundfesten erschüttert. Vielleicht sogar, hatte er all das als Teil seines Jobs gesehen, und nur ich hatte geglaubt, es könne für den Rest meines Lebens so sein.
Jung, dumm und verliebt wie ich gewesen war, hatte ich es einfach glauben wollen. Obwohl nichts dafür gesprochen, er mir nie etwas versprochen hatte, und obwohl die Mauer um ihn an keinem einzigen Tag weniger hoch gewesen war, als sie es vermutlich jetzt war.

Der Stich in mir war tiefer, als ich ihn erwartet hatte, und brachte meinen Körper sofort dazu, sich zu krümmen. Unauffällig drehte ich mich von ihm weg, der lässig und entspannt zu sein schien, und dem die Jahre deutlich anzusehen waren.
Das ehemals glatte Gesicht war einem Dreitagebart gewichen, und auch eine Brille hatte ihren Platz gefunden, wo vorher keine nötig gewesen war.
Der Anblick erschrak mich, vielleicht aber genoss ich ihn auch ein wenig, und ich sah auf das schlichte silberne Gestell, dass so gar nicht zu ihm zu passen schien.
Klassischer Schick, das war einfach nicht er, und auch wenn sie ihm ganz gut stand, fand ich den fremden Gegenstand irgendwie merkwürdig.
„Du hast dich kaum verändert.“
Ich hörte den tiefen Bass, der sofort eine neuerliche Welle von Erinnerungen wachrief. Fast hätte ich gelacht, denn sicher stimmte das nicht.
Optisch hatte ich mich vielleicht wenig verändert, aber der Mensch in mir hatte es sicherlich, und er war am Ende der einzige Grund dafür.
Eine Begrüßung wie diese hatte ich erwartet, jemand wie er vergeudete keine Zeit mit höflichen Floskeln, und ein wenig war ich ihm sogar dankbar dafür. Der Austausch von belanglosen Worten, ich zumindest brauchte ihn nicht, und um so schneller wir in diesem Gespräch zum Kern meines Besuches kommen würden, um so schneller würde ich zurück in meinem Leben können.
Langsam, um meine Nervosität nicht allzu deutlich sichtbar sein zu lassen, trat ich zu dem großen Schreibtisch und dem Stuhl davor.
„Du schon, Joe.“
Ich nahm platz, obwohl er mich nicht dazu aufgefordert hatte, und empfand selbst das schon als Sieg. Nicht mehr für alles um Erlaubnis zu bitten, nicht mehr ohne die geringste Ahnung von der Welt, einem übermächtigen Gegner gegenüber zu stehen, fühlte sich besser an.
Die Augen blitzten und er fuhr sich mit der Hand durch den Bart, als wüsste er selbst, dass die Zeit es mit ihm weit weniger gut gemeint hatte als mit mir.
Fünfzehn Jahre vorher, als er der strahlende Stern gewesen war, und ich lediglich ein winziges Licht in seinem Universum, hatte es anders ausgesehen.
Ich sah ihn noch, den durchtrainierten Mann mit den perfekten Hemden und dem akkuraten Haarschnitt, aber er schien verblasst.
Noch immer sah dieser Mann gut aus, aber das Strahlen war weniger geworden, und auch die überwältigende Dominanz seiner Person, hatte sich in meinen Augen verändert. Ob dieses Empfinden allerdings an mir selbst oder tatsächlich an ihm lag, konnte ich in diesem Augenblick nicht sagen.
„Du hast gewonnen, fühlst du dich besser?“
Der große Körper drehte sich mit dem Bürostuhl langsam zu mir hin, und sofort flammten Erinnerungen in meinem Kopf auf.
Er, auf diesem oder irgendeinem anderen Stuhl dieser Art, und ich, die nichts als eine Bittstellerin war. Hundertfach hatte ich ihm gegenüber gesessen, darauf gehofft, er würde mir einen winzigen Knochen entgegenwerfen, und immer wenn das passiert war, hatte ich mich groß gefühlt.
Jedes seiner Worte hatte ich in mich aufgesogen, egal wie verletzend es auch gewesen war, und jede noch so kleine Handlung, war für mich ein Universum gewesen.
Ein Lächeln, ein Blick, eine Bewegung seiner Hand.
Sie alle waren für mich Zeichen gewesen, die es zu analysieren und einzuordnen galt, und mit denen ich Stunden meines Lebens verbracht hatte, weil sie mir wichtiger als alles andere vorgekommen waren.
Was immer dieser Mann verlangt hatte, ich hatte es getan.
Nichts anderes war mir möglich gewesen, ich MUSSTE ihm einfach gefallen, und doch hatte es nie gereicht.
Meine Hand fuhr zu der schwarzen Mappe auf meinem Schoß und ich legte sie vor mir auf den Tisch, wo hunderte von Blättern in einem endlosen Wust bereits lagen.
Die für mich wahrlos aussehenden Stapel, deren Sinn sich nur ihm erschließen würden, ich kannte sie bis ins letzte Detail.
Zumindest daran hatte sich nichts geändert, das Chaos schien kein bisschen weniger zu sein, und irgendwie tröstete es mich.
Zu sehen, dass nicht alles sich verändert hatte, tröstete mich.
Wie nah Genie und Wahnsinn einander waren, hatte ich erst durch ihn erfahren, und noch immer war ich mir sicher, dass er jedes der vielen Blätter auf seinem Tisch bis ins Detail kannte.
Wenn ich danach fragen würde, nach irgendeinem der Worte darauf, würde ein einziger Griff reichen, und es wäre das Richtige.
Mein jugendliches Ich hatte das beeindruckt, ich hatte es für eine echte Gabe gehalten, aber heute sah ich auch diese Dinge anders.
Das Chaos auf dem Tisch, passte perfekt in das Chaos seines Lebens, und spiegelte im Grunde nur wieder, was in seinem Inneren an jedem neuen Tag geschah.
Er war Chaos, mehr als alles andere, und auch wenn ich es nicht hatte sehen wollen, so übertrug er dieses ohne Scheu auf jeden, der auch nur in seiner Nähe auftauchte.
Auch ich war im Chaos versunken, kaum war er in meinem Leben aufgetaucht, und er hatte bewegungslos dabei zugesehen, wie ich in dem Strudel mehr und mehr versunken war.
Zu gerne hätte ich ihn gefragt, wie es ihm in all den Jahren ergangen war.
Die wenigen Dinge, die ich wusste, allesamt aus Fachzeitschriften und über Dritte, waren einfach zu wenig, für ein vollständiges Bild.
All die Heldengeschichten, die großen Erfolge, die kannte ich. Was ich jedoch nicht wusste, war, was aus dem Mann geworden war, der so lange ein Teil von mir gewesen war.
„Hast du es gelesen?“
Ich zeigte auf die Kladde, in der ich meine eigenen Blätter sorgfältig sortiert und abgeheftet hatte. Versehen mit Seitenzahlen, ohne auch nur einen Knick und lupenrein, wie ich den Schatz meiner Arbeit eben hütete.
„Natürlich, deshalb bist du hier.“
Mein Nicken fand statt, ohne dass ich es selbst wahrnahm, und ich sah auf das schwarze T-Shirt, dass sich wie eine zweite Haut um seinen Körper schmiegte.
So wenig Aufwand, so viel Wirkung. So wenig Stoff, der doch solche Empfindungen in mir auslöste.
Ich hatte ihn gemocht, in den Hemden und Anzügen seiner Vergangenheit, und ich war nicht sicher, ob ich dieses neue, lockerere Ich, tatsächlich akzeptieren konnte.
Der einschüchternde Mann meiner Vergangenheit, der die Frau geformt hatte, die ich heute war, existierte vielleicht nicht mehr.
Auch davor hatte ich mich gefürchtet, denn wenn ich jetzt sah, dass es ihn vielleicht nie gegeben hatte, dann wären all die Jahre des Leidens umsonst gewesen.
Manchmal irrte man sich in Menschen, man sah sie in einem völlig verklärten Licht, und oft hatte ich geglaubt, es sei auch bei ihm der Fall gewesen.
Das fast übernatürliche Dasein in meinem Kopf, vor dem ich so viel Respekt verspürt hatte, konnte am Ende eine miese Lüge gewesen sein.
In meinem Kopf hatte er existiert, ich hatte das Bild selbst geformt, aber was würde sein, wenn nur ich es gesehen hatte?
„Was hast du damit vor?“
Dass gerade er jetzt vor mir saß, und wir tatsächlich über die Seiten sprachen, konnte ich noch immer nicht glauben. Was ich geschrieben hatte, war gut, daran bestand kein Zweifel, aber ganz sicher waren diese Worte an jedem anderen Ort besser aufgehoben, als in seinen Händen.
„Die Frage ist, was hast du damit vor?“
Der Stuhl bewegte sich, und er spielte mit dem Kugelschreiber in seiner Hand, während die Reflexion der Deckenlampe kleine Lichter im Glas seiner Brille produzierte.
Nicht ich war die, die eine Antwort schuldig war. Er war es, der um dieses Gespräch gebeten hatte, und ich hatte tagelang darüber nachgedacht, ob ich mich zu dieser Dummheit hinreißen lassen sollte.
Tage, in denen ich mich stark und überlegen gefühlt hatte, weil ich sehr genau wusste, dass er sekündlich auf meine Antwort warten würde.
Ich hatte sie herausgezögert, bis mein Innerstes vor Anspannung hatte zu bersten gedroht, und die wenigen Worte meiner E-Mail so lange zusammengeschnitten, bis ich selbst das Gefühl hatte, dass es nach Gleichgültigkeit klingen würde.
Keine Emotion, keine Freude, nichts, was den Tornado in meinem Inneren würde verraten können.
„Ich werd es veröffentlichen, das ist dir doch wohl hoffentlich klar?“
Ich versuchte, meinen Worten Nachdruck zu verleihen, genau so, wie ich es mir vorgenommen hatte.
Da er auf meine Frage nicht geantwortet hatte, fühlte ich mich tatsächlich noch in einer komfortablen Position, und ich hatte keinesfalls die Absicht, daran etwas zu ändern.
Warum noch genau saß ich hier?
Warum hatte ich mich, wider jeden besseren Wissens, auf dieses Gespräch eingelassen?
Ich war diesem Mann nichts schuldig, schon gar keine Erklärung, und ganz sicher würde ich nicht zulassen, dass er die Arbeit aus Jahren, einfach so in der Luft zerriss.
Dass er darin gut war, und besser zerstören konnte als aufbauen, wusste ich ebenfalls zu gut.
Jedes meiner geschriebenen Worte war kritisiert und zerpflückt worden, und nur selten hatte ich das Glücksgefühl gehabt, was ein Lob seinerseits auslösen konnte.
Ich hatte Jahre, vielleicht auch bis heute gebraucht, um darüber hinweg zu kommen, und um eine Selbstsicherheit zu entwickeln, die für diesen Job so dringend nötig war.
„Es ist gut.“
Überrascht hob ich den Kopf, denn damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet, und mich eigentlich auf einen Kampf eingestellt.
Ich war mir absolut sicher gewesen, dass wir um meine Erinnerung würden kämpfen müssen, um jedes der Worte auf den Blättern, und auch damit, dass er versuchen würde, die Bedeutung dieser völlig zu verändern.
„Hast du das gerade wirklich gesagt? Das sieht dir nicht ähnlich, Joe.“
„Es ist gut, darüber gibt es nichts zu streiten. Aber warum hast du es geschrieben?“
Fast hätte ich gelacht. Wenn es nicht so wahnsinnig frustrierend und traurig gewesen wäre, ich hätte über die Frage gelacht.
Warum ich die vielen Seiten mit Worten gefüllt hatte, all den Schmerz und Kummer niedergeschrieben hatte, sollte niemand besser wissen als er.
„Warum? Was glaubst du, warum ich es getan habe?“
„Rache?“
Das Lachen drang aus meiner Kehle, kühl und verbittert, und genau in diesem Moment erkannte ich den Mann, der in meiner Erinnerung einen festen Platz eingenommen hatte.
Rache, ein Gefühl, dass vermutlich nur Menschen wie er kannten, und das in meinem Wortschatz einfach nicht existierte.
Ich war nicht so, ich rechnete mit niemandem ab, und wenn er das tatsächlich glaubte, dann bestätigte sich hier nur mein Verdacht, dass der einzige Grund meiner Anwesenheit hier Angst war.
Angst davor, dass auch die Welt dort draußen sah, was für ein Mensch er war, und wie sehr sich die Kunstfigur Joe von der Realität unterschied.
Der Mythos, den er geschaffen hatte, weit über jede Grenze dieser Stadt hinaus, war sein Leben.
„Rache, wäre deine Art mit so etwas umzugehen. Meine ist es nicht, ich verarbeite nur.“
Wo genau die Grenze dabei war, danach hatte ich lange gesucht. Worte zu finden, die nicht Rache oder Abrechnung waren, sondern lediglich die Aufarbeitung der Geschehnisse, hatte mich Nächte gekostet.
Viele Male hatte ich Worte geändert, Passagen neu geschrieben, denn was ich niemals hatte tun wollen, war, ihn mit Schmutz zu bewerfen.
Das taten Leute wie er, in meinen Augen schwache Menschen, die sich anders nicht zu helfen wussten.
„Warum jetzt, nach so langer Zeit?“
Der Körper lehnte sich über den Tisch zu mir herüber und sofort spannte mein Körper sich an. Eine Bewegung, ebenso oft erlebt wie gefürchtet, die in der Vergangenheit nur unterstrichen hatte, wie klein uns schwach ich eigentlich war.
Wann er immer er das getan hatte, hatte ich gewusst, dass ich verloren war. Ich hatte gespürt, dass ich niemals gegen ihn gewinnen würde, niemals gut genug, und für immer unterlegen sein würde.
Auch heute verspürte ich es noch, auch wenn es schwächer geworden war, und war mit trotzdem darüber bewusst, dass er es erneut würde wachsen lassen können.
Er war so, er stand über allem, und es würde ein Leichtes für ihn sein, mich zurück in der Zeit und meinen Gedanken wandern zu lassen.
„Für dich mag es ein langer Zeitraum sein, für mich war er es nicht.“
Es hatte mich Monate gekostet, nach ihm auch nur ein einziges Wort zu Papier zu bringen und Jahre, dieses Manuskript zu schreiben.
Immer wieder war ich gescheitert, hatte in meinem Kopf seine Stimme gehört und diese einfach nicht abstellen können.
Wann immer ich geglaubt hatte, das Geschriebene sei perfekt, hatte ich ihn gehört, der die Lächerlichkeit meines Tuns in Worte fasste.
Für ihn war ich nie gut genug gewesen. Nie gut genug für ihn, für die Welt, nie gut genug, um je ein druckreifes Werk zu liefern. Worte wie „trivial“ oder „banal“ hatten meinen Weg gepflastert, und immer wieder hatte er mich spüren lassen, dass er mir das Geschriebene nicht abnahm. Zu wenig Tiefe, nicht genug Details, all das hatte er mir vorgeworfen.
„Ach komm, tu doch nicht so, als würde dir diese Sache noch immer so nachhängen.“
Das Lächeln traf mich tief in meinem Brustkorb und ich musste würgen.
„Diese Sache“, die er als so klein und unbedeutend darstellte, hatte mich verändert.
Der aufstrebende Mensch, der an sein Talent und seine Fähigkeiten geglaubt hatte, war durch ihn verschwunden.
„Ich denke nicht, dass ich mit dir darüber sprechen muss. Du musst es nicht veröffentlichen, das werden andere tun, aber verhindern kannst du es nicht.“
Schon vor diesem Termin, als ich atemlos die Stimme seiner Sekretärin am anderen Ende der Leitung gehört hatte, war genau das meine Befürchtung gewesen.
Der Anruf war nicht gekommen, weil er sich diesen Deal und das damit verbundene Geld nicht durch die Lappen gehen lassen wollte. Der Anruf war gekommen, weil er mit aller Macht verhindern wollen würde, dass auch nur eins meiner Worte hinaus in die Welt ging, und damit verriet, wer er wirklich war.
Schon alleine die Tatsache, dass er diesen Anruf durch diese Frau hatte durchführen lassen, hatte mich erneut zu einer wertlosen Person gemacht. Nicht mal einen persönlichen Anruf war ich wert gewesen, nicht mal nach so langer Zeit, und das Einzige, was mir geblieben war, war die Bedenkzeit, die ich mir selbst zugestanden hatte.
„Musst du nicht? Aber ich bin es, dem du diese Story zu verdanken hast, und dem du, gelinde gesagt, darin das Fell über die Ohren ziehst.“
Das stimmte. Jedes Wort. Jeder, der Joe auch nur ein einziges Mal begegnet war, würde ihn darin erkennen.
Die Geschichte des Verlegers, der auf einer Veranstaltung die junge, aufstrebende Autorin trifft, nur um die dann nach seinen Wünschen zu formen, war sicher nicht neu oder innovativ, aber erzählte unsere Geschichte.
Das junge Ich, dass praktisch auf Knien vor ihm und seinen Erfolgen gerutscht war, und dabei einfach nicht hatte sehen wollen, dass es in Joes Leben einfach niemanden gab, der neben ihm einen Platz einnehmen konnte.
Kein Raum, nicht mal für eine winzige Maus, und egal wie klein ich mich gemacht hatte, natürlich auch keiner für mich.
„Hab ich das? Dann wirst du es wohl verdient haben.“
Vielleicht war das alles doch Rache. Vielleicht nahm ich doch Rache dafür, dass er mir all das angetan hatte, auch wenn ich es nicht gewollt hatte.
Eine romantische Geschichte mit einem Happyend zu schreiben, darüber hatte ich keine Sekunde nachgedacht. Was ich hatte schreiben wollen, und was mir am Ende die Türe zu allen großen Verlagen geöffnet hatte, war die erschreckend düstere Wahrheit.
Eine Geschichte über Hingabe, den dringenden Wunsch zu gefallen, und über einen Mann, der Worte wie „Vertrauen“ oder „Empathie“ einfach nicht kannte.
„Vielleicht hab ich das, aber vergiss dabei nicht, dass du nur so gut geworden bist, weil ich das alles getan habe.“
Ich lehnte mich im Stuhl zurück und dachte über seine Worte nach. Wenn ich jetzt antwortete, und nicht jedes meiner Worte genau bedachte, würde es zu Eskalation kommen.
Ja, sicherlich stimmte ein Teil davon. Ich war gut geworden, besser als jemals davor, weil ich gelitten hatte. All die vorher nicht gekannten Gefühle, der Schmerz und die Trauer, nichts davon hatte es vor ihm gegeben.
Aber am Ende war ich es gewesen, deren Talent all das möglich gemacht, und die es aus eigener Kraft geschafft hatte.
„Soll ich dir jetzt etwa dafür danken?“
„Dank ist sicher zu viel, aber du musst zugeben, dass es geholfen hat.“
Was jemand wie er unter Hilfe verstand, hatte zumindest ich nie verstanden. Jeder Verriss meiner Arbeit, mit lächerlich harten Worten, hatte ich nicht als wirkliche Hilfe gesehen.
Was immer ich geschrieben hatte, es hatte seinen Ansprüchen nie gereicht, und mehr als einmal hatte ich darüber nachgedacht, es einfach nicht mehr zu tun.
Ich hatte aufgeben wollen, obwohl es das war, was ich mehr als alles andere liebte. Weil es niemals reichen würde, wenn der Rest der Welt es mochte, und er genau das nicht tat.
„Warum bin ich hier, Joe? Warum dieser Termin, wenn du es doch ohnehin nicht veröffentlichen wirst?“
Ich hätte es besser wissen müssen. Der kluge und rationale Teil meines Geistes, hätte diesen Termin gar nicht wahrnehmen dürfen.
Weil es nichts als Kummer brachte, meine gerade erreichten Erfolge minderte, und mein Handeln in Frage stellte.
Die Wahrscheinlichkeit, dass gerade der Mann mein Buch veröffentlichte, der die Hauptfigur darin übernommen hatte, hatte es nie gegeben.
Der andere Teil jedoch hatte es nicht zugelassen, ihn nicht zu treffen, und auch die schiere Neugier darauf, was wohl aus der Liebe meines Lebens geworden war, hatte mich dazu gedrängt.
„Ich wollte wissen, was aus dem kleinen Mädchen voller Ideen geworden ist.“
„Es existiert nicht mehr.“
Lüge. Ich hörte es selbst, aber würde es nie zugeben. Das kleine Mädchen, gerade neunzehn, es war noch in mir. Es huschte am Rande meiner Seele herum, suchte noch immer nach seiner Aufmerksamkeit, und erinnerte sich daran, wie die Dinge zu einer anderen Zeit gewesen waren.
Selbst negative Aufmerksamkeit war welche, und dieses kindliche Ich sehnte sich selbst nach dieser. Jedes Wort aus seinem Mund wollte ich hören, auch wenn das sicher falsch war, aber doch sehnte ich mich danach.
„Höre ich da Verbitterung?“
Vielleicht. Ja, vielleicht war ich verbittert, weil er mir Jahre und Erlebnisse gestohlen hatte, die durch nichts zu ersetzen waren.
Während die anderen in meinem Alter geliebt, und ihren beruflichen Weg gefunden hatten, hatte ich versucht, etwas zu erreichen, dass einfach unerreichbar war.
Ich hatte tausende von Worten zu Papier gebracht, immer darauf gehofft, er würde sie gut finden, und hatte voller Enttäuschung feststellen müssen, dass das nie der Fall sein würde.
„Ich werde dir nicht danken, das wird nicht passieren, Joe.“
„Du hast mich geliebt, ich hab dich nie dazu gezwungen.“
Wie einfach ihm die Worte über die Lippen kamen, und wie wenig es ihn zu berühren schien, schockierte mich zutiefst.
Ja, ich hatte geliebt. Zum ersten Mal und aus tiefster Seele. Ich hatte alles für diesen Mann tun wollen, jedes Kunststück aufführen, jede Grenze erreichen.
Auch wenn er es vielleicht nicht so sah, und er nie mit vorgehaltener Waffe etwas von mir erzwungen hatte, so hatte ich mich doch so gefühlt.
Weil ich mich gezwungen gefühlt hatte, all das zu tun, nur um ihm nahe zu sein.
Ich hatte, kaum hatte ich das erste Mal seine Hand auf meiner Schulter gefühlt, mein Selbst völlig vergessen.
Die unscheinbare Berührung am Rande der Veranstaltung, die sicher niemand anderem aufgefallen war, und nach der ich mich am Ende des Tages im Keller des Hauses wiedergefunden hatte.
Wie schmutzig und benutzt man sich vorkommen konnte, hatte ich bis zu diesem Moment nicht einmal gewusst, und es erst erkannt, als er die Hose neben mir geschlossen hatte, als sei ich eine weggeworfene Puppe, mit der nun keiner mehr spielen wollte.
Noch Minuten vorher hatte ich mich auserwählt gefühlt, und hatte kaum glauben können, dass der umschwärme Star, gerade mich aus der Menge herausgepickt hatte.
Unter all den vielen Menschen, all den Möglichkeiten, hatte er sich für mich entschieden. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich mich wie etwas Besonderes gefühlt, wie jemand den man sah, und daher alles andere ausgeblendet.
„Du hast deine Mittel gehabt, was du getan hast, war falsch.“
Jeder erwachsene Mann, der wie er mit Mitte dreißig so viel erreicht hatte, hätte anders handeln müssen. Er hätte sehen müssen, wie sehr mich das alles belastet hatte, und auch, dass ich daran zu zerbrechen drohte.
„Falsch? In meiner Erinnerung bist du nicht schlecht dabei weggekommen, und hast es trotzdem fortgeführt.“
Hatte ich. Weil ich mich, kurz nachdem das schmutzige Gefühl verblasst war, erhaben gefühlt hatte.
Der Mann, der für mich der Inbegriff von allem gewesen war, was ich in meinem Leben erreichen wollte, hatte mich gewollt.
Ich hatte mich gefühlt, als sei ich aus dem Schatten in das Licht getreten, wie ein Geheimnis, und hatte tatsächlich geglaubt, es hätte auch ihm etwas bedeutet.
Der irrsinnige Teil meines Geistes hatte es glauben müssen, und hatte einfach nicht sehen wollen, dass in diesen wenigen Minuten mein Untergang besiegelt worden war.
Seine eben noch gespürten Hände, die wenigen geflüsterten Worte, all das war Grund genug für mich, mich hinzugeben.
Auch wenn er es mit keinem Wort gesagt, mit keiner seiner Handlungen unterstrichen hatte, so hatte ich doch einfach glauben wollen, dass daraus etwas entstehen konnte.
„Ich war jung, ich konnte es nicht besser wissen.“
„Du warst jung, ja. Aber erzähl mir nicht, dass es nicht auch Kalkül war.“
Ich hob eine Augenbraue, denn so hatte ich mich selbst nie gesehen. Das kleine Mädchen, dass seine Aufmerksamkeit so dringend gebraucht hatte, hatte nicht mal gewusst, was Kalkül überhaupt bedeutete.
Sicher gab es diese Art Frauen, die mit Bedacht und Planung handelten, aber ich gehörte ganz sicher nicht dazu.
Dass er überhaupt in Betracht zog, dass dieser Gedanke je existiert hatte, traf mich zutiefst. Wie konnte er mich so falsch sehen, obwohl ich niemals auch nur den geringsten Grund dazu gegeben hatte?
„Wie kommst du darauf?“
„Ach komm, du hast es gut gefunden. Du bist in meinem Windschatten in diese Welt gekommen, in der du immer hattest sein wollen. All die Leute, die Aufmerksamkeit, du hast das doch genossen.“
„Du hast mich dorthin gezerrt, ich habe das nie gewollt. Ich hab nur dich gewollt, aber heute weiß ich, dass dieses Gefühl völlig einseitig war.“
Ich griff nach der Kladde und drückte sie an meinen Brustkorb, denn ganz sicher würde ich nichts davon zurücknehmen. Keines meiner Worte, keines der Blätter.
Was immer er glaubte zu wissen, entsprach absolut nicht meiner Ansicht der Geschehnisse, und ich würde mich nicht von etwas anderem überzeugen lassen.
Schon immer war gut darin gewesen, jedes gesprochene Wort zu verdrehen, und mich am Ende glauben zu lassen, dass nur ich das alles falsch verstanden hatte.
Funktioniert hatte das millionenfach, für mich hatte es immer wieder Sinn ergeben, aber heute würde ich das nicht mehr zulassen.
Die falschen Gedanken, die er immer wieder und wieder in mein Gehirn gepflanzt hatte, würden heute keinen Zugang mehr dazu haben.
Natürlich stimmte es, dass die Verbindung zu ihm mir Türen geöffnet hatte. Ich hatte wichtige Menschen kennengelernt, war Teil der Welt geworden, für die ich mehr als alles andere geschwärmt hatte. Der Preis dafür jedoch war hoch gewesen, ich hatte genug dafür zahlen müssen, um am Ende war kaum etwas davon übrig geblieben.
„So siehst du das? Als einen unfairen Tauschhandel?“
Ich nickte, denn genau das war meine Meinung. Ich hatte mein Leben und meine Selbstständigkeit gegen all das getauscht, und am Ende nichts davon gehabt.
Was ich für Schicksal und Fügung gehalten hatte, war nichts anderes, als benutzt zu werden.
Kaum hatte er mich ausgetauscht, gegen eine neue und dümmere Version, waren auch all die Bekanntschaften verschwunden. Niemand wollte etwas von mir und meiner Arbeit wissen, denn er hatte mich abgelegt wie ein altes Hemd.
Ein altes Hemd, dass niemand haben wollen würde, weil er es auch nicht mehr hatte haben wollen.
Die Sekunden des Ruhms und der Ehre, bei denen er voller Stolz behauptet hatte, meine Arbeit sei das Resultat seiner Führung, verschwanden danach sofort.
Ich war erloschen wie die Flamme einer Kerze, die er von einer Sekunde zur anderen ausgepustet hatte, weil es nun ein helleres Licht in seinem Leben gab.
„Du weißt doch, wie es läuft, wir alle sind nur kurzweilige Helden.“
Die Hand legte den Kugelschreiber zurück auf den Tisch, und erneut beugte sich der Körper näher zu meinem. Getrennt nur durch die Tischplatte, die in meinen Augen einfach nicht genug Raum zwischen uns brachte.
Zumindest an der Aura, die diesen Mann umgab, hatte sich nichts geändert.
In meinen Gedanken flammten all die Hochglanzartikel auf, die ich gesammelt und immer wieder gelesen hatte. Über den Helden der Branche, den Erfinder all der Wunderkinder, und vor allem die Bilder, auf denen er überheblich und doch wahnsinnig anziehend in die Kamera geblickt hatte.
Eines dieser Bilder hatte über meinem Schreibtisch gehangen, jeden Tag hatte er auf mich herabgesehen, und hatte mich dazu angetrieben, die nächste Stufe doch noch zu erreichen.
Ich hatte ihn angehimmelt, lange bevor ich ihm begegnet war, und nie und nimmer hatte ich auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass er irgendwann der Grund für die bittersten Tränen sein würde.
Das weiße Hemd, das stahlblaue Jackett und auch der Ansatz seines Lächelns, waren der Grund gewesen, warum ich immer weiter gemacht hatte.
Diesem Mann mit den so lässig verschränkten Armen zu begegnen, nur ein einziges Mal, war mein ganz großes Ziel gewesen.
Dafür hatte ich gelebt, gearbeitet und mich gequält.
„Das gilt nur für mich, nicht für jemanden wie dich. Jemand wie du, der sich im Glanz von anderen sonnt, der hat dieses Problem nicht.“
Natürlich wusste ich selbst, dass der Stern schnell verblasste. Wer auch immer etwas von Erfolg schrieb, konnte fest damit rechnen, dass genau das geschah. Nur wenige schafften es, überhaupt an einen Erfolg anzuknüpfen, und noch weniger, sich länger als ein paar Monate an der vordersten Front zu bewegen.
Er allerdings, der als Schöpfer all dieser Erfolge galt, würde einfach weitermachen, und einen neuen Stern zum Leuchten bringen.
Auch bei mir war das der Fall gewesen, die kurze Spanne der Aufmerksamkeit hatte mich so vieles glauben lassen, aber kaum hatte ich das hohe Level nicht mehr halten können, war sein Interesse an mir sofort verschwunden.
„Es ist mein Job, Menschen wie dich zu finden.“
Ich rieb mir mit der Hand über die Stirn, denn er würde es nie verstehen. Zwischen „finden“ und dem, was er mit mir getan hatte, lagen Welten.
Schon die unsägliche Sache in dem schmutzigen Keller, war Beweis genug dafür, und all die anderen Male, in denen ich ähnlich dumm gehandelt hatte, ebenfalls.
„Das klingt weit weniger ehrlich, als das, was tatsächlich passiert ist. Du hättest nicht mit mir schlafen dürfen, das war unprofessionell, und mich auch nicht glauben lassen dürfen, dass du etwas für mich empfindest.“
„Du warst erwachsen, du hättest es verhindern können.“
„Ich war nicht erwachsen.“
Mein Kopf schien zu platzen, und ein wenig kam ich mir vor, als würde er mir erneut eine Gehirnwäsche verpassen. Immer wieder hatten wir ähnliche Gespräche geführt, und immer hatte ich danach geglaubt, dass ich das Problem bei all dem sein musste.
Das junge Ich hatte nicht wissen können, dass es Menschen gab, die ihren Handlungen so wenig Bedeutung zumaßen, und es hatte auch nicht wissen können, dass es Menschen gab, die waren wie er.
Nie vorher war mir so jemand begegnet, und ich hatte einfach glauben wollen, dass Joe vielleicht wirklich jemanden in mir gefunden hatte, der sein Leben bereicherte.
„Was willst du hören? Ich kann und will nicht lügen, schon gar nicht nach so langer Zeit. Aber du musst selbst zugeben, was auch immer danach mit dir passiert ist, hat dich zu einer guten Autorin gemacht. Der Schmerz, die Emotionen, über nichts davon könntest du schreiben, wenn du es nicht selbst erlebt hättest.“
„Wenn es dich nicht gegeben hätte, Joe, dann hätte ich vielleicht eine Liebesgeschichte schreiben können.“
„Niemand will das Lesen. Davon gibt es mehr als genug. Was die Menschen lesen wollen, ist genau das.“
Sein Finger zeigte auf die Mappe in meinen Händen, die ich noch immer wie ein Schutzschild an mich drückte.
„Dann solltest du dich nicht daran stören, dass du die Hauptperson bei all dem bist.“
Wenn er das wirklich glaubte, und die Story wichtiger war, als alles dahinter, dann sollte es ihn höchstens erfreuen. Er sollte froh darüber sein, dass ich geschrieben hatte, was ich empfunden hatte, und es zulassen, dass auch andere es lasen.
„Ich störe mich nicht daran, versteh das nicht falsch. Aber es gibt auch meine Version, die sich doch grundlegend von deiner unterscheidet.“
Nervös rutschte ich auf dem Stuhl von einer Seite auf die andere, und war nicht sicher, ob ich diese Version überhaupt hören wollte.
Was auch immer er in meinen Kopf pflanzen würde, ich würde darüber nachdenken, und vielleicht würde auch das mich verändern.
„Ich will sie nicht hören, Joe. Ich will nicht hören, dass du bei all dem ein Opfer warst, denn das stimmt nicht.“
„Nicht? War es nicht im Detail so, dass du dich von der ersten Sekunde an, angeboten hast? Warst nicht du es gewesen, der meine Hand genommen hatte, und mich aus der Menge der Menschen gezerrt hat?“
Erinnerungen flammten in mir auf, allesamt sehr verworren und unvollständig, und tatsächlich fand ich die Situation, von der er gerade sprach.
Es stimmte, jedenfalls von außen betrachtet. Ich hatte, nachdem seine Hand so locker und freundschaftlich auf meiner Schulter gelegen hatte, Blut geleckt.
Dem Mann zu begegnen, der für mich der Held meines Lebens gewesen war, hatte mich mutig gemacht.
Schon kurz nach dem Autogramm auf einem der Flyer der Veranstaltung, hatte ich es einfach getan.
Heute würde ich sagen, dass sein Blick der Grund dafür gewesen war, denn niemals vorher hatte mich jemand so angesehen.
In den wenigen Sekunden hatte ich darin alles gesehen, was ich mir je von einem Mann erhofft hatte, und hatte tatsächlich geglaubt, dass diese schicksalhafte Begegnung mehr bedeutete.
Entgegen all der anderen Bittsteller, war ich einfach stehengeblieben, und hatte genau in diesem Moment beschlossen, dass ich diese Chance auf keinen Fall verstreichen lassen würde.
Dem Mann von der Magazinseite gegenüberzustehen, seine Berührung gefühlt zu haben, war sehr viel mehr gewesen, als ich hatte ertragen können.
Also hatte ich ebenfalls gelächelt, einfach ausgeharrt, und die erste Möglichkeit zur Flucht genutzt.
Den Mann in dem schicken Anzug, der so lässig die Ärmel von diesem nach oben gekrempelt hatte, als sei er der nächste Miami Vice, hatte es passieren lassen.
Als hätte er nie etwas anderes getan, und würden wir uns seit einer Ewigkeit kennen, war er mir gefolgt, und hatte nicht einen einzigen Blick zurückgeworfen.
Ich hatte ihn hinfortgezerrt, einfach weil ich ihn für mich alleine gewollt hatte, und ihn hinaus auf den Flur geführt.
Noch heute erinnerte ich mich an das laute schlagen meines Herzens, den Puls, den ich bis in die Spitzen meiner Finger gefühlt hatte, und an seinen Blick, der mich in jeder Sekunde zu durchbohren schien.
„Du warst mein Held, wie hätte ich es nicht tun können?“
Es wollte mir einfach nicht in den Kopf, dass er tatsächlich glaubte, ich hätte irgendetwas davon aus Kalkül getan. Als hätte ich die Begegnung geplant, vielleicht sogar mit sehr viel mehr Hintergrund, und als sei es einzig und allein mein Bestreben gewesen, mich damit in den Mittelpunkt zu bringen.
Für mich war es anders gewesen, lediglich die Erfüllung eines Herzenswunsches, und ganz sicher hatte ich nie damit gerechnet, dass es so enden würde.
„Held? Das ist doch das falsche Wort dafür. Du hast sehr wohl gesehen, welche Möglichkeiten da vor dir standen, und du hast sie genutzt. Ich werfe dir das nicht vor, ganz sicher nicht, aber du schreibst die Geschichte eines armen Mädchens, und das warst du ganz sicher nicht.“
„Nicht? Hab ich mich nicht in diesem Keller wiedergefunden, schon kurze Zeit danach?“
Der schmutzige Boden, mein lautes, stolperndes Herz, seine Hände auf meinem Körper. All das rotierte in meinem Kopf, ohne das ich etwas dagegen tun konnte. Nichts davon hatte ich verstanden, ich erinnerte mich nicht mal im Detail daran, wie genau das alles passiert war. Es mussten wenige Worte gewesen sein, falls sie denn überhaupt gesprochen worden waren, bis ich dort gelandet war.
„Das alleine ist doch Beweis genug, findest du nicht? Ich hab nicht gewusst, wer du bist. Auch nicht, dass du schreibst, schon gar nicht, dass du es kannst. Was genau also wirfst du mir hier vor?“
Überrascht hob ich den Kopf, denn darüber hatte ich nie nachgedacht. Er hatte es nicht wissen können, es hatte nicht genug Worte gegeben, um darauf schließen zu können, und trotzdem waren die Dinge gekommen, wie sie eben gekommen waren.
Der erste Kuss, noch auf dem Flur, hatte mir den Boden unter den Füßen hinfortgerissen.
Egal wie viele Männer ich vor ihm geküsst hatte, sie alle schienen ab diesem Moment nicht mehr relevant zu sein, und meine Zeitrechnung hatte neu begonnen.
„Was ich dir vorwerfe? Siehst du das nicht selbst? Du warst älter, du hättest es besser wissen und eine richtige Entscheidung treffen müssen.“
„Ist das so? Ich hätte also, wenn man es dann aus deiner Sicht betrachtet, einfach gehen sollen? Obwohl diese Anziehung da war und obwohl du mir so nah gekommen bist?“
„Vielleicht.“
Wie dumm das klang, wenn er es aussprach, hörte ich selbst. Ich hatte mich angeboten, ja, vielleicht. Vielleicht war ich ihm zu nah gekommen, es hatte diese Anziehung gegeben und er hatte nichts anderes glauben können. Die elektrische Spannung, die wir ganz eindeutig beide verspürt hatten, war ohne Zweifel da gewesen. Aber gehen hätte er trotzdem können.
„Man muss nicht nach jedem Strohhalm greifen, nur weil er da ist.“
Die Hände vor mir stützten sich auf der Tischplatte ab und er richtete sich auf. So groß hatte er in meiner Erinnerung nicht gewirkt, und noch immer fand ich, dass der Körper all dem glich, was ich in meinen Beschreibungen wiedergegeben hatte.
Sportlich, nicht zu durchtrainiert, und im Gegensatz zu seinem Gesicht, nicht wirklich gealtert.
Der durchdringende, noch immer in gleichem Maße überhebliche Blick, der sich so tief in mir eingebrannt hatte, war ebenfalls unverändert.
Millionenfach hatte ich diesen Blick in meinen Träumen gesehen und war erschrocken aufgewacht.
Für Sekunden sah ich den Mann im Anzug, nur um dann erneut zu erkennen, dass die neue Version vor mir, sich von diesem Unterschied.
Fast kam es mir vor, als würde er sich heute selbst erlauben, weniger perfekt zu sein. Als hätte er das einfache T-Shirt gegen den Anzug getauscht, um menschlicher zu wirken, und auch das kam mir wie Kalkül vor.
Hatte er es getan, nur um mich milde zu stimmen?
„War nicht viel mehr ich der Strohhalm?“
„Das hattest du nicht nötig, Joe. Dort waren so viele Frauen, es hätte jede sein können.“
Immer wieder hatte ich mich gefragt, warum genau es mich getroffen hatte. Warum ich, und nicht irgendeine der anderen, die ebenso nach seiner Aufmerksamkeit gesucht hatten.
Ich hatte sie gesehen, die aufgetakelten und unbeschreiblich schönen Frauen, die wie eine Meute um ihn gestanden hatten. Ein paar von ihnen hatte ich sogar gekannt, sie alle waren erfolgreicher als ich gewesen, die bis zu diesem Zeitpunkt nicht eine einzige Veröffentlichung vorzuweisen gehabt hatte.
Gesehen hatte er keine davon, jedenfalls hatte ich es nicht so empfunden, und trotzdem hatte er seine Wahl treffen können.
Eine einzige Geste hätte vermutlich gereicht, und ein Großteil dieser Frauen hätte keinerlei Fragen gestellt.
In meiner Gedankenwelt jedoch war nur ich schwach gewesen und damit ein Opfer. Nur ich war es gewesen, die er hatte beeinflussen und steuern können, und die am Ende leicht zu überzeugen gewesen war.
„Mach dich nicht kleiner, als du wirklich bist. Du bist es gewesen, und nicht ich war es, der dich zu irgendetwas gezwungen hat. Natürlich ist es leicht, es so zu sehen, aber du warst nie ein Opfer.“
„Wenn du alles gelesen hast, dann weißt du, dass ich das nicht so sehe.“
„Nicht? Für was hältst du dich dann?“
Die blinde Frau meiner Geschichte war ein Opfer, daran bestand kein Zweifel. Geschrieben hatte ich es nicht, jedenfalls nicht ausdrücklich, aber jeder würde das wohl so sehen.
Dumm, verliebt und fremdgesteuert, konnte man mit ihr einfach nur Mitleid haben.
Es stand zwischen den Zeilen, man las es in jedem meiner Worte, und jeder würde daraus nichts anderes schließen.
„Sagen wir vielleicht, ein Opfer der Umstände.“
„Ist das nicht das Gleiche? Du stellst dich da, als hätte ich eine Beute erlegt. Als hätte ich dich gejagt, erlegt, und dein Fell vor meinem Kamin ausgebreitet.“
Ich musste Lächeln wegen der Beschreibung der Geschehnisse, aber ja, das traf es ganz gut. Mein Körper hatte vor dem Kamin gelegen, ich hatte mich dort zusammengerollt wie eine Katze, und mich damit sensationell gefühlt.
Viele Male hatte ich das Ende der Treffen als Sieg empfunden, weil die wenigen Minuten der Aufmerksamkeit dafür gereicht hatten. Wenn ich bei ihm war, und er für Minuten oder wenige Stunden mir gehört hatte, war ich eine Siegerin gewesen.
Wirklich damit gerechnet, dass ich ihn je wiedersehen würde, hatte ich nicht, nicht nach den Minuten in dem dunklen Kellerraum, aber es war passiert.
Schon wenige Tage danach, als ich die Erinnerung an den Moment zu verdrängen versucht hatte, war der Anruf gekommen.
Nur Gott wusste, wie er überhaupt an meine Nummer gekommen war, und ich hatte es einfach nicht glauben können.
Die dunkle Stimme, die in meinem Körper vibrierte, hatte mich sofort erneut verführt.
Obwohl er einfach gegangen war, und mich in dem so fremden Raum zurückgelassen hatte, war er zurückgekehrt.
Nie vorher war ich glücklicher gewesen, nie hatte ich mich lebendiger gefühlt, und hatte einfach nichts anderes glauben können, als dass sein Interesse an mir echt war.
„Hast du nicht genau das getan? Du hättest mich nicht anrufen müssen, aber du hast es getan. Obwohl du schon damals gewusst hast, dass dein Interesse an mir nicht echt war.“
Die Einladung in sein riesiges Haus hatte ich sofort angenommen. Die wenigen Worte hatten gereicht, um mich davon zu überzeugen.
Dass er überhaupt an mich gedacht hatte, und dann noch nach mir gesucht hatte, war Grund genug gewesen. Das schmutzige Gefühl, ein benutztes Taschentuch zu sein, hatte sich sofort verflüchtigt, und ich glaubte einfach daran, dass das alles Schicksal sein musste.
Kein Märchen und kein Film hätten es schöner schreiben können, und ich war das arme Mädchen, dass der Prinz am Ende auf sein Schloss holte.
Dieser überirdische Mann, wollte mich.
Warum, wieso, weshalb, danach hatte ich nicht gefragt.
Alles, was für mich zählte, war, dass er es getan hatte, und ich bei ihm sein konnte.
Ich hatte den Zeitungsausschnitt von der Wand genommen, die ausgerissenen Ränder fein säuberlich abgetrennt, und dem Bild einen Rahmen verpasst.
Die fremde Person darauf, war nun keine mehr, und war nun Teil meines Lebens. Dass er überhaupt meinen Namen kennen würde, darauf hatte ich nicht mal gehofft.
„Nicht echt? Was daran war nicht echt? Woran machst du das fest, und wie definierst du „echt“?“
Der Körper glitt zurück auf seinen Stuhl, als hätte er tatsächlich Interesse an mein Antwort, und auch das überraschte mich. Ich hatte mit vielem gerechnet, aber ganz sicher nicht damit, dass es sich bei all dem um eine Aussprache handeln würde.
Jemand wie Joe, der dachte nicht über die Vergangenheit nach. Er hakte sie ab, vergrub sie in einer seiner unzähligen Schubladen, und öffnete diese nie mehr.
Er gehörte nicht zu den Menschen, die Dinge bereuten. Auch nicht zu denen, die ihre Handlungen in Frage stellten, und schon gar nicht zu denen, die hinter sich aufräumten.
Joe hinterließ Schlachtfelder, er sah weder die Verletzten noch all das Blut, und selbst wenn es so war, würde es ihn nicht interessieren.
Vermutlich war das Teil seines Erfolges, Menschen wie er mussten über Leichen gehen, und ich war eine davon geworden.
„Echt bedeutet, dass du nie wirklich etwas für mich empfunden hast. Ich war doch nur ein Spielzeug, eine willkommene und willige Abwechslung, und du hast mich etwas anderes glauben lassen.“
Ich war in das Haus gekommen, es hatte wenige Worte gegeben, und erneut hatte ich mich einfach hingegeben. Was auch immer mich dazu getrieben hatte, wusste ich selbst nicht.
Meine Erwartungen an die neuerliche Begegnung waren andere gewesen, aber kaum hatte ich seine Hand auf meiner Wange gespürt, hatte sich das alles in Luft aufgelöst.
Es hatte nur ihn und mich gegeben, nichts anderes hatte ich sehen können, und die merkwürdige Erinnerung an unser erstes Aufeinandertreffen war sofort gelöscht worden.
Ich hatte wirklich geglaubt, der atemlose Moment, in dem er einfach aus dem Keller und weg von mir gegangen war, sei ein Irrtum gewesen.
Ich hatte glauben wollen, dass er es bereut hatte, und es daher erneut versuchte.
Dankbar hatte ich die Entschuldigung angenommen, die am Ende keine gewesen war.
Jeden atemlosen Kuss, die hektischen Handlungen, all das war für mich der Beweis dafür, dass er mich vermisst hatte. Ihn zu fühlen und ihm nah zu sein, das hatte mich gänzlich ausgefüllt, und nie wieder danach hatte ich etwas Ähnliches mit einem Mann gefühlt.
Es war mir vorgekommen, als hätte ich etwas Verlorenes gefunden, von dessen Existenz ich nicht einmal gewusst hatte.
„Ich bin nicht dafür verantwortlich, was in deinem Kopf vorgeht. Ich habe dir das tausendfach gesagt, aber du bist die, die einfach nicht hören wollte.“
Auch das stimmte irgendwie. Was auch immer ich mir ausgemalt hatte, es war nur in meinem Kopf passiert. Nie, mit auch nur einem Wort, hatte er von Liebe gesprochen.
Wann immer ich meine überschwänglichen Gefühle in Worte hatte fassen wollen, waren sie an ihm abgeprallt.
Ganz so, als wären sie weder echt noch ernst zu nehmen, und irgendwann hatte ich es selbst geglaubt. Was auch immer ich empfunden hatte, war kindlich und naiv gewesen, und nur er war es, der die Dinge klar sehen konnte.
Ich hatte es mit Unterdrückung und Verdrängung versucht, denn alles was ich wollte, war, so erwachsen zu sein, wie er es in meinen Augen war.
„Aber du hast es gesehen, und trotzdem nicht damit aufgehört.“
Ein wirklich starker Mann mit Rückrad und Empathie, hätte es einfach gelassen. Er hätte, beim ersten Anzeichen, sofort die Notbremse gezogen.
In meinen Augen musste man das, man musste beenden, was beendet gehörte.
„Du bist wiedergekommen. Wie hätte ich wissen sollen, dass du das nicht willst?“
Ja, ich war erneut zu dem Haus gekommen. Viele Male, und immer wieder. Weil ich die Einsamkeit nicht ausgehalten hatte, ohne ihn zu sein mich aufgerieben hatte, und ich es einfach nicht ertragen konnte, darüber nachzudenken, was er ohne mich tat.
Egal wie er mich behandelt hatte, wie wenig er auch mit mir gesprochen hatte, ich war zurückgekehrt.
Selbst als das Gefühl von Benutztwerden mich fast umgebracht hatte, konnte ich nicht damit aufhören, und wann immer auch nur das kleinste Lächeln in seinem Gesicht zu sehen gewesen war, hatte ich Hoffnung verspürt.
Über Monate redete ich mir ein, dass er irgendwann selbst einsehen würde, dass ich gut für ihn war.
Ich, die sich alle Mühe gab keinen Ärger zu machen oder unbequem zu sein, und die einfach niemals Widerworte gab. Ich hatte es zu meiner Obsession gemacht, die Frau zu sein, die neben ihm würde bestehen können.
Für mich war klar, dass er irgendwann erkennen MUSSTE, dass ich die Richtige sein würde, und das es nur eine Frage der Zeit sei, bis er sich so sehr an mich gewöhnte, dass auch er das sah.
In meinen Augen war auch genau das passiert, seine Handlungen hatten auf nichts anderes schließen lassen.
Nie hatte er mich abgewiesen, mir nicht einmal die Türe vor der Nase zugeschlagen, und mir am Ende sogar den Schlüssel überreicht.
Für mich hatte das gereicht, auch wenn er nicht wirklich mit mir sprach, war das der plastische Beweis dafür, dass auch er mich in seinem Leben wollte.
Das wiederum hatte mich dazu aufgefordert, ihm meine Worte zu zeigen, er schien es mir einfach wert zu sein, und hatte das erste Manuskript auf seinen Schreibtisch gelegt, ohne darüber ein Wort zu verlieren.
„Ich wollte ja, aber aus anderen Gründen als die, die du vielleicht gesehen hast.“
„Ich hab sie gesehen, und glaub mir, ich verstehe dich schon. Aber jeder ist für sich selbst verantwortlich, das ist so, wenn man erwachsen ist. Du hättest nichts tun müssen, außer den Schlüssel auf den Schrank im Flur zu legen und zu gehen. Ich hätte es nicht verhindert, das weißt du selbst.“
Nie. Nie hätte ich es übers Herz gebracht, diesen Schritt zu gehen. Nie hätte ich gehen können, dieses Zeichen zurücklassen können, und nicht mehr an ihn denken.
So lange ich den Schlüssel besaß, war ich Teil seines Lebens, und auf keinen Fall hatte ich das aufgeben können.
Im Nachhinein fand ich auch das einen geschickten Schachzug seinerseits, denn der Schlüssel hatte mich an ihn gebunden, ohne dass ich es selbst gesehen hatte.
Der dämliche Schlüssel, der der Zutritt sei seiner Welt gewesen war, hatte mich fast verrückt gemacht.
„Wie kannst du nur so sein, Joe? Wie kannst du so kalt und herzlos sein?“
„Das bin ich nicht. Ich konnte dir nur nicht vorspielen, was du dir gewünscht hast.“
Was für ein dummes, naives Kind ich doch gewesen war.
Wie hatte ich so lange Hoffnung haben können, obwohl die Wahrheit so klar vor mir gelegen hatte?
„Warum dann das alles? Warum so lange, und warum überhaupt?“
Das Zucken seiner Schultern, dass für mich bedeutete, dass er es im Grunde selbst nicht wusste, tat weh.
„Du warst und bist hübsch. Du bist eine schöne Frau, und wir haben gut zueinander gepasst. Dein Talent hat mich beeindruckt, du warst wie der Hauptpreis in einer Lotterie, und ich habe ihn gewonnen.“
War das ein Kompliment?
Ich ließ die Worte in meinem Kopf Revue passieren, aber egal wie ich es drehte und wendete, es passte einfach nicht.
Hübsch zu sein, das reichte sicher nicht, um jemanden zu lieben. Zu jemanden zu passen, was in unserem Fall vermutlich nur auf den Sex zuzutreffen schien, auch nicht.
Dass er mich für talentiert hielt, war bei all dem vermutlich das einzige Kompliment, aber auch das wurde gemindert, weil es für mich so aussah, als hätte er einfach nur die Möglichkeiten für sich selbst dabei gesehen.
Wenn ich also übersetzte, in eine Sprache, die auch ich verstand, dann hieß das alles nichts anderes als: Du warst ein sehr hübsches Spielzeug, einfach in der Bedienung, und hast mir auch noch geliefert, was gerade für mich passend war.
„Ich hab dir vertraut.“
Nie vorher hatte ich jemanden lesen lassen, was in den vielen einsamen Stunden in meinem Studentenzimmer entstanden war. Obwohl es viele Worte waren, hatte ich nie den Mut dazu gehabt, und erst mit ihm hatte sich das geändert.
Ich hatte Hoffnung gehabt, er würde mich lernen und wachsen lassen.
Passiert war auch das nicht, er hatte die kurze Geschichte sofort in der Luft zerrissen, und den kindlichen Stil als banal abgetan.
„Das war auch gut so. Du hast dich verändert, bist besser geworden, und das ist doch alles, was am Ende zählt?“
Auch das stimmte nur in Teilen. Ich hatte die Geschichte neu geschrieben, immer wieder und wieder, bis sie nicht mehr als die meine zu erkennen war. Ich hatte geschrieben, was auch immer er hatte lesen wollen, und den Verlauf geändert, weil er es so wollte.
Ob das wirklich gut war, wagte ich heute zu bezweifeln.
„Aber es war meine Geschichte, sie war gut, genau so, wie sie war.“
Noch heute ärgerte ich mich enorm darüber, dass es die Originalfassung nicht mehr gab. Alles, was es gab, war die von ihm Geschaffene.
In all den vielen Jahren, in denen ich immer wieder nach diesem ersten Erfolg gefragt worden war, hatte es mich geschmerzt.
Gelesen hatte ich sie danach nie wieder, denn es war, als würde jedes Wort darin in seiner Stimme gesprochen werden.
„Niemand hätte sie gelesen, und das war es doch, was du wolltest?“
Nein, das hatte ich nicht gewollt. Es war mir nicht darum gegangen, ob irgendjemand sie las, sondern nur darum, dass er sie mochte.
Mehr als alles andere hatte ich mir genau das gewünscht, und den Traum von irgendeinem Erfolg dahinter zurückgestellt.
Natürlich hatte ich immer gehofft, meine Geschichten würden irgendwann gelesen werden. Ab dem Zeitpunkt, an dem es ihn gegeben hatte, allerdings nicht mehr.
Ich hatte nichts mehr verspürt als die stille Hoffnung, er würde in mir sehen, was ich mir mehr als alles andere wünschte.
Der Wunsch, eines seiner Wunderkinder zu sein, und ihn damit zu beeindrucken, war mir wichtiger gewesen, als die Meinung aller anderen.
„Das stimmt so nicht. Ich wollte dir gefallen, nicht den Leuten dort draußen.“
Dass die Geschichte am Ende ein Erfolg geworden war, und ich plötzlich tatsächlich jemand war, hatte ich jedoch im zu verdanken. Ohne meine Zustimmung und mein Wissen, war ich über Nacht eine Autorin geworden.
Unter seinen Flügeln, und mit dem Einfluss seines Namens, war ich jemand geworden, dessen Namen plötzlich viele kannten.
„Es war doch eine gute Zeit, wir hatten doch gute Zeiten.“
Ich schüttelte ungläubig den Kopf, denn noch immer konnte ich einfach nicht fassen, wie einfach diese Dinge für ihn waren.
Die ohne meine Zustimmung veröffentliche Geschichte, hatte dafür gesorgt, dass ich mich praktisch von einer Sekunde auf die andere, in einem hellen Lichtkegel wiedergefunden hatte.
Fremde Menschen riefen mich an, baten um ein Interview, und alles, was ich gewollt hatte, war ein möglichst dunkles Mauseloch, in dem ich mich würde verkriechen können.
Nie hatte ich darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn Fremde meine Gedanken lasen.
Selbst mit ihm an meiner Seite, hatte ich mich bloßgestellt und ausgeliefert gefühlt.
Für ihn hingegen waren es goldene Zeiten gewesen, denn der Diamant, der meinen Namen trug, schien hell.
„Es waren gute Zeiten für dich, Joe. Für mich war das ein Alptraum. Die Geschichte spiegelte nicht mehr mich, du hast sie geschrieben, und ich war nur die Hülle, die das alles vermarkten sollte.“
Über Tage hatte ich mich in meinem Zimmer eingeigelt, einfach gehofft es würde vorbeigehen, und trotzdem an ihm festgehalten.
Was immer Joe sagte, ich verließ mich darauf, und am Ende war ich sogar stolz, weil er es war.
Auch wenn mir die Geschichte fremd war, und ich sie einfach nicht für meine eigene halten konnte, war ich glücklich, weil er mir so viel Aufmerksamkeit schenkte.
Die vielen Telefonate oder Besuche, die es vorher nie gegeben hatte, waren alles, was ich wollte. Um so mehr er mir eintrichterte, dass alles schon perfekt lief, um so mehr hatte ich es selbst geglaubt.
An Joes Seite der helle Stern zu sein, fühlte sich an, als würde er seine Gefühle vielleicht doch noch überdenken.
Das er sich mit mir in der Öffentlichkeit zeigte, war für mich ein Zeichen dafür, dass wir die nächste Stufe erreicht hatten.
„Es sind deine Worte, ich hab dich nur inspiriert, auch wenn du das nicht so siehst. Aber wir hatten gute Zeiten, ich lasse keine anderen Ansichten zu. Du und ich, wir waren ein gutes Team, und die Welt hat uns offen gestanden.“
Erinnerungen an Abende schossen durch meinen Geist, bei denen ich am gleichen Tisch wie meine Helden gesessen hatte.
Sie alle hatten mich in ihren Kreis aufgenommen, weil ich mit ihm dort war. Die besten Autoren, Verlagsleute, und lauter Menschen, zu denen ich aufgeschaut hatte.
Keiner von ihnen hatte je gefragt, warum Joe gerade mich auserwählt hatte, und sie hatten mich behandelt, als sei ich, ebenso wie sie, schon lange Teil dieses Theaters.
Die Euphorie darüber hatte jedes schlechte Gefühl verschwinden lassen, und auch die Tatsache, dass Joe sich mit mir zu schmücken schien, hatte mich alles andere vergessen lassen.
Näher als in dieser Zeit, hatte ich mich ihm nie gefühlt, und manchmal hatte ich wirklich geglaubt, wir seien ein Paar.
Behandelt hatte er mich so, auch wenn er es nie laut ausgesprochen hatte, aber für mich hatte es gereicht.
Die schönen Kleider, allesamt von ihm ausgesucht, die geschönte Vita meines Lebens, die ich nur in Teilen als meine eigene erkannt hatte, nichts davon hatte ich in Frage gestellt.
Ich hatte einfach geglaubt, es müsse so sein, und er würde schon wissen, wie man sich in diesen Kreisen verhielt.
Ein Wunderkind zu sein hatte sich phantastisch angefühlt, und mich am Ende dazu gebracht, mein Studium an den Nagel zu hängen.
„Welche Welt? Die, in den paar Monaten, in denen du ein Interesse an mir gehabt hast? Wir waren kein Team, du bist mit niemandem ein Team, du kennst nur dich selbst.“
Nervös strich ich mir eine Strähne blonder Haare aus der Stirn, denn das hier war sicher das erste Mal, dass ich die Dinge so klar aussprach.
Immer hatte ich versucht, diplomatisch zu sein, Joe zu verärgern, hatte ich immer vermieden, aber auch damit war nun endgültig Schluss.
Was auch immer er sich einzureden versuchte, war nicht die Wahrheit, und er würde sie ertragen müssen.
„Du wolltest ausbrechen, nicht ich.“
„Ich? Du hast mich fallen lassen, weil ich nicht mehr das liefern konnte, was du von mir erwartet hast!“
Ich klatschte die Kladde mit einem lauten Knall auf den Tisch und stand nun ebenfalls auf, weil die Wut in mir übermächtig zu werden schien.
Zu gehen, darüber hatte ich nie nachgedacht, aber am Ende hatte es keinen anderen Ausweg gegeben. Ich hatte nicht mehr schreiben können, was ihn glücklich machte, denn ich verstand es einfach nicht.
Was auch immer ich begonnen hatte, und selbst für gut befunden hatte, war für ihn einfach schlecht gewesen. Und ich hatte, trotz aller Bemühungen, einfach keine Kraft mehr, seine Worte zu Papier zu bringen.
„Du bist gegangen.“
Ich drehte mich zur Tür und dachte an Flucht. Warum tat ich mir das hier an? Warum ging ich nicht, nahm meine Geschichte mit, und verscherbelte sie an irgendjemanden, der dafür auch noch Geld zahlte?
„Ich bin gegangen, weil es keinen Ausweg mehr gab. Ich kann nicht die Gedanken von jemand anderem schreiben, ich will meine Gedanken schreiben.“
„Der Ausweg wäre gewesen, stärker zu sein, nicht der, einfach zu gehen.“
Hörte ich da Verbitterung?
Ich suchte in seinem Gesicht nach der eben gehörten Emotion, und fand nichts, außer ein kleines Flackern in seinem Blick.
„Stärker? Stärker als du? Das hättest du nie akzeptiert.“
Jemand wie Joe, der alles in seinem Weg einfach plattwalzte oder mit einer einzigen Bewegung hinwegfegte, den besiegte man nicht.
„Woher weißt du das? Du hast es nicht mal versucht, vielleicht hätte ich dann erkannt, dass du erwachsen bist?“
Ungläubig schüttele ich den Kopf. Es war einfach nicht auszuhalten, wie er die Geschehnisse verdrehte und zurechtbog, nur um mich erneut zu einer Schuldigen zu machen.
„Und was hättest du getan, wenn ich mich aufgelehnt hätte? Wärst du auf die Knie gefallen, und hättest mir deine Liebe gestanden?“
Das Lächeln huschte über sein Gesicht und ich wollte ihn schlagen.
„Vielleicht.“
Verdammt. Was Joe hier tat, kannte ich nur zu gut. Er legte den Köder, in fast unerreichbare Ferne, und wartete ab.
Schon früher hatte das gut bei mir gewirkt, ich hatte immer wieder gehofft, dieses Ziel doch noch zu erreichen, und auch jetzt taten seine Worte ihren Dienst.
Was wäre gewesen, wenn ich damals wirklich anders gehandelt hätte? Hätte er, weil er vielleicht doch etwas für mich empfunden hatte, dann anders gehandelt?
Ich schüttelte den Gedanken sofort wieder ab, denn das war krank. Nie und nimmer, hätte er jemals zugelassen, dass die Puppe neben ihm sich auflehnt, und schon gar nicht, dass sie ein Eigenleben entwickelt.
Egal ob beim Sex oder in unserem gemeinsamen Leben, ich war es, die Befehle ausführte. Ich war es gewesen, die funktionieren musste, und die niemals eine Wahl gehabt hatte.
„Ach komm, Joe. Das ist doch gequirlte Scheiße, was du da redest.“
„Bist du dir sicher? Ist es nicht viel eher so, dass du das glaube willst, weil es so einfacher ist? Du bist nie ein Risiko eingegangen, das hab immer ich für dich getan, und geschadet hat es dir nicht. Ich bin Verleger, was hast du geglaubt, tue ich mit deiner Geschichte? Hast du geglaubt, ich lasse sie in der Schublade verstauben, und gebe dir keine Chance? Du solltest mich gut genug kennen, um zu wissen, das ich Gold erkenne, wenn ich es sehe. Und du bist Gold, wenn man dich dazu zwingt.“
Ich ließ mich gegen den Stuhl vor mir sinken und die Kladde rutschte aus meiner Hand auf die Stuhlfläche. Was sagte dieser Mann da?
Warf er mir vor, dass ich auch die Übergabe meines ersten Skripts aus Kalkül geplant hatte? Oder etwa, dass ich es getan hatte, weil mir selbst der Mut für eine Veröffentlichung gefehlt hatte?
„Das war nicht so, ich hab das nie so gewollt. Ich wollte, dass du es liest, aber nie, dass du das damit tust.“
„Ein Teil von dir hat das gewollt, du kannst es dir ruhig eingestehen. Genau der Teil, der auch all die anderen schmutzigen Dinge gewollt hat. Die, die du nicht schreiben wolltest, und es dann doch getan hast.“
Erneut schüttelte ich den Kopf wie automatisch, denn auch das war einfach nicht wahr. Die schmutzigen Teile, die meine erste Geschichte zu ihrem Erfolg geführt hatten, waren aus seinem Geist gekommen. Alles Szenen, die wir zwar erlebt hatten, aber die ich nie aus eigenem Antrieb zu Papier gebracht hätte.
Selbst der Keller, der sicherlich nicht zu meinen ruhmreichen Erlebnissen gehörte, hatte dort seinen Platz gefunden. Ich hatte schreiben sollen, was ich empfunden hatte, und war daran gescheitert.
Bis zu dem Punkt, an dem Joe mir eingeredet hatte, dass es im Grunde ich war, die das alles erschaffen hatte. Um so mehr er mir einredete, dass ich es war, die all das verursacht hatte, um so mehr wurde ich zu der Person, die Handlungen wie diese sogar begrüßte.
„Das warst du, nur du.“
„Wir, wir waren es. Was auch immer du geschrieben hast, haben wir erschaffen.“
„Ich bin dieser Mensch nicht. Ich wollte nicht darüber schreiben, nicht mal mehr darüber nachdenken, und du hast mich dazu gezwungen.“
Es hatte mich all meine Kraft gekostet, die Frau in meiner Geschichte zu der zu machen, die Joe darin gesehen hatte. Eine Frau, die sich nahm, was sie wollte, und nach nichts fragte.
Eine Frau, die anders war als ich selbst, und deren Beweggründe ich nicht nachvollziehen konnte. Die Männer benutzte, für ihre Zwecke zurechtbog, und sich keine Sekunde dafür schämte.
„Aber du hast es getan, und du warst gut darin.“
Die Leere hatte mich gelähmt, kaum hatte ich die betreffende Passage beendet. Ich hatte mich gefühlt, als hätte ich dem Mann angetan, was die geschriebenen Worte ergeben hatten.
Die Frau war diejenige gewesen, die einfach gegangen war, und den Mann einfach zurückgelassen hatte. Ich hatte ihr die Emotionen gegeben, die ich in Joe gesehen hatte, und ihn fühlen lassen, was ich gefühlt hatte.
„Es hat mir nicht gefallen, es war schrecklich, und ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich mit dir darüber diskutiere.“
Ganz stimmte das nicht. Ein winziger Teil von mir hatte die Geschichte genossen. Irgendwo tief in mir, hatte ich Befriedigung gefühlt. Weil nicht die Frau es war, die leiden musste, und weil ich insgeheim hoffte, Joe würde irgendwann jemandem begegnen, der genau das mit ihm tat.
Der ihm antat, was er anderen tat, damit er selbst sah, wie falsch es war.
Auch diese Emotion hatte ich zu verdrängen versucht, denn sie passte nicht in das romantische Bild von Liebe, dem ich nachzueifern versuchte.
„Tust du das? Was ich sehe, ist, dass du im Grunde selbst weißt, dass es in dir ist. All das Dunkle, der Schmutz, er ist in dir. Du kannst ihn ignorieren, ihn auch verleugnen, aber er ist da. Der Keller, der Boden meiner Wohnung, mein Bett und auch die Couch. All das ist in dir, du hast es genossen, und daran kannst du nichts ändern.“
Was ich bei diesen Worten fühlte, war Fieber. Nicht das Fieber einer Krankheit, bei dem man sich matt und krank fühlte, sondern ein anderes.
Das Fieber, dass ich immer dann empfunden hatte, wenn er mich berührt hatte. Der atemlose Sex, der immer heftiger und unkontrollierter geworden war, und der irgendwann mein komplettes Leben übernommen hatte.
Ich hatte nur noch dafür gelebt, im Grunde für nichts anderes mehr, und hatte passieren lassen, was auch immer er für mich vorgesehen hatte.
Vielleicht stimmte dieser Teil wirklich, es gab dieses Dunkle in mir wirklich, aber trotzdem war das sicher kein Grund dafür, darüber zu schreiben.
„Wenn es das gibt, dann gehört es mir, niemand anderem.“
Zuzugeben, dass dieser Teil existierte, fiel mir schwer. Zuzugeben, dass er ihn gefunden hatte, noch schwerer.
„Aber wenn es das ist, in dem du gut bist, dann solltest du darüber nachdenken. Und wenn du das wirklich so siehst, was ist dann damit?“
Er zeigte auf die Mappe und dann auf mich, und ich musste zugeben, dass auch das stimmte. Es war mir nicht gelungen, die Geschichte ohne diesen Teil zu schreiben, denn alles zwischen ihm und mir bestand praktisch einzig und alleine daraus.
Was immer uns auch verbunden hatte, die Anziehung war ein großer Teil davon, und ich hatte nicht mal versucht, irgendetwas dabei auszulassen.
All die vielen Male, bei denen ich einfach mein Gehirn ausgeschaltet hatte, waren dort verewigt.
„Du weißt selbst, dass es ohne das nicht funktionieren würde.“
Ohne all den Sex, hätte kein Mensch auf der Welt verstanden, was mich bei ihm gehalten hatte. Niemand würde sich gefallen lassen, was ich einfach hingenommen hatte, ohne dafür entlohnt zu werden.
„So funktionieren Menschen, daran ist nichts falsch.“
„Wenn sich beide einig sind, und nicht einer mehr erwartet, dann vielleicht.“
Ich war durchaus nicht der Meinung, dass es immer die ganz große Liebe benötigte. Ich war alt genug, um es besser zu wissen.
Nur mit Joe war es anders gewesen, ich hatte geliebt, während er nur Befriedigung gesucht hatte.
„Ich hab nichts von dir erwartet, außer das, was du gegeben hast.“
„Aber ich hab mehr erwartet, und du hast das gewusst.“
Wir drehten uns im Kreis, und noch immer war ich nicht sicher, was das alles bringen sollte.
„Du hättest es bekommen, wenn du über deinen Schatten gesprungen wärst.“
„Wann? Wann hätte ich das tun sollen?“
In meinem Kopf rotierten die Gedanken, und erneut war ich in der Falle. Hätte ich etwas am Verlauf der Dinge ändern können, wenn ich anders gehandelt hätte?
„Egal wann, irgendwann bei all dem. Du hättest dir nur nehmen müssen, was du als dein Eigentum angesehen hast. Aber das hast du nie getan.“
Ich nickte, denn ich verstand es wirklich. Ich hatte nie etwas gefordert, nie gezetert und geschrien. Ich hatte nie auf mein Recht gepocht, nie gesagt, dass ich so nicht mehr leben würde können.
Andere Frauen hätten vielleicht genau das getan, aber ich hatte einfach verstanden, dass man Männer wie Joe nicht mit Druck an sich binden konnte. Man nahm, was auch immer man bekam, und musste sich damit abfinden.
Ich war einfach irgendwann gegangen, weil er es nicht gesehen hatte, und mich in dem Gedanken heimisch eingerichtet, dass er der Schuldige an meinem Unglück war.
Weil ich sicher war, dass es nichts bringen würde, und er niemals darauf eingehen würde.
Und weil die nach meinem Fortgang folgende Stille für mich der Beweis dafür war, dass er mich weit weniger brauchte, als ich ihn.
„Du sagst mir also gerade, dass es gereicht hätte, wenn ich dich niedergestreckt hätte, und dann meinen Fuß auf dich gestellt hätte?“
Es klang so einfach, so nachvollziehbar, dass ich fast gelacht hätte. Eine einzige Handlung, und nichts von all dem danach wäre passiert?
„Zum Beispiel. Niemand will ein Opfer, man sucht immer nach Gegnern, aber du warst keiner.“
Nein, ein Gegner war ich nicht. Nicht damals, und heute auch nicht.
Ich wollte nicht die Frau sein, die ihr Eigentum pflasterte und eifersüchtig bewachte.
Was ich wollte, war jemand, der es aus freien Stücken mit mir aushielt, und aus freiem Willen seine Zeit mit mir teilte.
Nie war mir das klarer gewesen als nach ihm, und auch jetzt sah ich das nicht anders.
„Liebe ist kein Kampf, Joe. Man bleibt, weil man das will, und nicht, weil man dazu gezwungen wird. Niemand ist der Besitz von irgendjemanden, und ich wollte dich nie besitzen.“
„Nie? Da erinnere ich mich anderes. Ich hab es genossen, dich zu besitzen.“
„Vermutlich ist das auch ein Grund gewesen, warum ich gegangen bin.“
Sehr lange hatte auch ich es genossen, der Privatbesitz von Joe zu sein. Hätte er es gewollt, ich hätte ein Halsband mit seinem Namen getragen.
Wie eine kleine Hauskatze hatte ich mich an ihn geschmiegt, und jede noch so kleine Streicheleinheit genossen.
„Sicher. Es langweilt auf die Dauer. Aber du hättest den Spieß herumdrehen können, spätestens nach „Mutiny“.“
Die Kälte drang sofort durch meine Glieder, kaum hatte er es ausgesprochen. Der Titel des einzigen Werkes, dass ich bis zur letzten Zeile aus meinem Geist gelöscht hatte, war einfach zu viel.
„Sprich nicht darüber, nie wieder.“
Wenn irgendjemand wusste, wie sehr ich unter „Mutiny“ gelitten hatte, dann er. Der letzte Versuch, die Autorin zu sein, die er in mir sah, hatte mich fast zerstört.
Monatelang hatte ich daran gearbeitet, wirklich versucht, die Person in der Geschichte nachzufühlen, und mich dabei selbst fast verloren.
„Warum? Du hast es gefühlt, ich war dabei, und die Person, die du warst, war sensationell.“
Ich schüttelte den Kopf, eine endlose Bewegung, die einfach nicht zu enden schien, und versuchte mit aller Macht, die Erinnerung abzuschütteln.
„Mutiny“, was im Grunde nichts anderes als „Befehlsverweigerung“ bedeutet, war nicht ich.
Mehr noch als in meiner ersten Geschichte, hatte ich versucht, eine Frau zu erschaffen, die war wie Joe.
Eine Frau, die völlig unkontrolliert tat, was auch immer ihr in den Sinn kam, und die den Mann an ihrer Seite beeinflusste. Härtere Sexszenen als dort, hatte ich nie geschrieben, und immer wieder hatte ich festgestellt, dass ich der Frau in der Geschichte, auch im echten Leben nicht mehr aus dem Weg gehen konnte.
Mit jeder Seite war es schlimmer geworden, mit jeder seiner Lobeshymnen auf das Geschriebene, und immer mehr drehten sich meine Gedanken darum, wie der weitere Verlauf dieser unsäglichen Geschichte vonstatten gehen sollte.
Die Wut war in mir, auch die Leidenschaft und der pure Trieb, was meine Tage zu einer endlosen Aneinanderreihung von Emotionen gemacht hatte.
Was auch immer ich schrieb, es wurde ein Teil von mir, und auch Joe war diese Veränderung nicht entgangen.
Ich hatte den stillen Applaus in seinem Blick gesehen, ihn jedoch nicht im geringsten verstanden.
„Mutiny“ gefiel ihm, mehr noch als alles andere, und es war das erste Mal, dass er nicht jedes Kapitel in seine Einzelheiten zerpflückt hatte. Anfangs noch hatte ich Freude empfunden, weil ich endlich etwas gefunden hatte, was zu funktionieren schien.
Die Worte waren geflossen, ohne das ich viel dafür tun musste, und ich war selbst darüber erstaunt, dass es so war.
Später allerdings, als die ersten Kapitel ihren Weg auf die Festplatte gefunden hatten, fragte ich mich selbst, was überhaupt ich dort tat.
Ich war nicht so, nichts davon war, was ich mir tatsächlich wünschte, und auch wenn er mir für jedes neue Wort applaudiert hatte, konnte ich mich nicht mehr darüber freuen.
„Das war krank, Joe. Das bin nicht ich, nicht diese Frau.“
Was „Mutiny“ mit mir gemacht hatte, hatte ich nie verkraftet. Der Schmerz, die fehlenden Emotionen, die Härte, all das hatte mich verstört. Wo überhaupt das alles aus mir gekommen war, konnte ich nicht mal heute sagen, und wollte es vielleicht auch gar nicht wissen.
Es war mir vorgekommen, als hätte eine fremde Person alle Macht über mich und meine Worte, und immer wieder hatte ich sprachlos vor den Zeilen gesessen, von denen ich einfach nicht glauben konnte, dass ich sie geschrieben hatte.
„War es nicht, es gehört zu dem Dunkel in dir. Diese Frau hätte ich geliebt, mehr noch, als ich es vielleicht getan habe.“
„Wenn es das ist, was du suchst, dann bin ich die Falsche dafür.“
Ich griff nach der Kladde und beschloss nun endgültig zu gehen.
„Ich muss nicht danach suchen, ich hab es schon gefunden. Ich hab fünfzehn Jahre darauf gewartet, und einfach gehofft, du würdest die Frau in der Geschichte in dir finden. Sie ist da, irgendwo dort drinnen, und du musst sie nur rauslassen.“
Hoffnung. Nur zu gut kannte ich die Art, mit der er Hoffnung in mir schürte, und gerade versuchte er es erneut.
Unterschwellig stellte er mir etwas in Aussicht, dass in der Realität niemals existieren würde.
„Es gibt sie nicht, nirgendwo dort drinnen. Worte sind Worte, Joe, nichts anderes.“
„Heißt das, du willst jetzt wirklich gehen?“
Er stand auf und umrundete den Tisch, was mich sofort einen Schritt nach hinten machen ließ. Auf keinen Fall würde ich ihm die Chance geben, mir näher als nötig zu kommen, und ganz sicher auch nichts anderes.
„Werd ich. Und ich werde das hier mitnehmen und es verkaufen. Die Welt soll wissen, wer du wirklich bist.“
„Und du glaubst, du wirst dich dann besser fühlen?“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber weißt du, Joe, vielleicht bin ich wirklich die Frau aus „Mutiny“ geworden. Ich folge dir nicht mehr, lasse mich nicht mehr beeinflussen, und tue, wonach mir der Sinn steht. Ich bin nicht mehr dein Opfer, vielleicht hast du auch mit allem, was du gesagt hast, recht, und ich war es nie. Aber auch das spielt keine Rolle mehr, denn es ist vorbei. Wenn du geglaubt hast, ich würde dir an dieser Stelle irgendwas beweisen, dann irrst du dich. Ich muss dir nichts beweisen, ich hab es auch ohne dich geschafft, und werde es auch weiter tun.“
„Wenn du das hier veröffentlichst, wirst du dich all den Fragen stellen müssen, die du nicht beantworten willst.“
Ich zuckte mit den Schultern, denn auch das schien mir keine große Hürde zu sein. Was auch immer jemand fragen würde, ich würde darauf antworten. Wahrheitsgemäß und mit dem Abstand, den man zu etwas haben sollte, dass so lange her war.
Ich würde nicht Rache nehmen, nicht nachtreten und schlecht machen. Ich würde vielleicht, wenn ich die Zeit dazu finden würde, auch noch Änderungen vornehmen, und meine eigene Schuld dabei deutlicher machen.
Es würde mich nicht stören, wenn die Leute erkennen würden, dass auch ich mich falsch verhalten hatte, und daran gewachsen war.
Was auch immer die Welt in mir sehen würde, ich würde schon damit klar kommen, und auch damit, dass Joe und ich durch diese Geschichte immer verbunden sein würden.
Er war meine Vergangenheit, nicht meine Zukunft, und wenn ich irgendwie vorankommen wollen würde, dann würde ich auch das akzeptieren müssen.
„Du, Joe, ich bin gespannt, wie du das erklären wirst. Wir sehen uns, bestimmt.“
Ich griff nach dem Türgriff und öffnete sie, während Joe noch immer unverändert an der gleichen Stelle stand.
Jetzt zu gehen, und all das hinter mir zu lassen, tat tatsächlich ein bisschen weh. Der kleine Ausflug in die Zeit mit ihm, so schmerzhaft er auch gewesen war, hatte mir geholfen.
Ich hatte erkannt, dass er noch immer der manipulative Mensch war, der er immer gewesen war, und auch, dass ich sehr viel stärker war, als ich es mir selbst zugetraut hatte.
Viele Male hatte ich darüber nachgedacht, dass ich ihn schlimmer in meiner Erinnerung abgespeichert hatte, als er tatsächlich war, um mich selbst zu schützen.
Damit es weniger weh tat, der Schmerz mich nicht erdrückte, und damit ich einfach an das Gute dort draußen noch weiter glauben konnte.
Jetzt allerdings sah ich, dass er genau der Mensch war, den ich auch damals schon in ihm gesehen hatte.
„Vielleicht erzähle ich die Geschichte, so wie ich sie erlebt habe.“
„Tu das, ich werde dich nicht daran hindern.“
Ich trat durch die Türe hinaus in den Flur, die Kladde noch immer dicht an meinem Körper. Die Wahrheit hatte immer drei Seiten, die der beiden Menschen, die sie erlebten, und die echte Wahrheit dazwischen.
Es würde mich nicht stören, wenn die Leute genau das auch erkannten, und auch nicht, wenn sie in mir die Frau aus „Mutiny“ sahen.
Vielleicht war ich sehr viel mehr diese Frau, als ich es selbst sah, und ganz sicher würde es mir nicht schaden.
Die Leute würden sehen, dass ich all das überlebt hatte, und noch immer atmete. Vielleicht würde der ein oder andere Trost darin finden, oder aber auch verwundert feststellen, dass man auch über eine so böse Geschichte hinwegkommen konnte.
Die Menschen würden lernen, dass man das Dunkle nicht die Macht geben musste, auch wenn es da war. Jeder hatte wohl diesen Teil in sich, manch einer mehr als ein anderer, aber niemand war dazu gezwungen, ihm die Kontrolle zu überlassen.
Wenn es etwas gab, was ich Joe am Ende zu verdanken hatte, dann wohl genau das.
„Geh nicht, nicht jetzt.“
Ich wand mich ein letztes Mal und schüttelte langsam den Kopf.
„Nein Joe, du hättest damals sehen müssen, was für ein Mensch ich bin. Jetzt zu erkennen, dass auch ich mehr als eine Facette habe, reicht einfach nicht.“
Ich ging über den Flur, zum ersten Mal in meinem Leben wirklich frei, und ganz sicher auch zum ersten Mal als echte Siegerin.