******************** Phantomschmerz von BerndMoosecker ******************** ++++++++++++++++++++ Kurzbeschreibung ++++++++++++++++++++ Immer wieder, mit zunehmendem Alter zum Glück seltener, steigt eine Art Phantomschmerz in mir auf, wenn sich die Gedanken auf meinen Vater lenken. Es ist der Schmerz der fehlenden Vatererfahrung. Eines Tages kam mir die Idee, einmal die Geschichte meines Vaters zu schreiben. Daraus wurde am Ende nichts, zu dürftig war das, was ich in Erfahrung gebracht hatte. Auslöser war wohl eine Tasche mit den Papieren meiner Mutter – ich meine Versicherungspolicen, Stammbuch und ähnliches. Ich recherchierte in den Unterlagen und Briefen aus dem Nachlass meiner Mutter, ich bemühte das Rote Kreuz und den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. So kam ich zu einem eigentlich beachtlichen Aktenberg. Leider enthielt der nur wenig Greifbares, denn die ererbten Akten bestanden weitgehend aus persönlichen Briefen, die meine Mutter an meinen Vater geschickt hat und ein oder zwei Briefen meines Vaters an meine Mutter. Die Briefe an meinen Vater waren ungeöffnet und haben ihn offensichtlich nie erreicht. Das Lesen brachte mich nicht weiter, es waren sehr persönliche Nachrichten – Nachrichten, die mich nichts angingen, meine Mutter hätte die Briefe vernichten sollen. Ich hätte nicht in die Privatsphäre meiner Eltern eindringen dürfen, aber als ich einmal angefangen hatte zu lesen, konnte ich einfach nicht mehr damit aufhören. Trotzdem bleibt mein Wissen über meinen Vater dürftig. Das Rote Kreuz meldete mir in einem Gutachten als Todesdatum den 30. November 1942 und als Sterbeort das Dorf Strelizy südöstlich des Ilmensees im Kessel von Demjansk. Soweit so gut, das ist dann laut Todeserklärung auch das offizielle Sterbedatum meines Vaters. Der Volksbund nennt mir den gleichen Ort, weicht aber im Datum einen ganzen Monat vom Gutachten ab und nennt den 1. November 1942 als Todesdatum. Das ist schwer vorstellbar, denn die Kämpfe, die meinem Vater zum Schicksal wurden, begannen laut historischer Quellen erst in der zweiten Novemberhälfte. Das macht für mich aber großen keinen Unterschied, tot ist eben tot. Noch zu Lebzeiten meiner Mutter habe ich mich bemüht, mehr über meinen Vater zu erfahren. Aber was sollte meine Mutter weiter über meinen Vater sagen, als dass sie ihn geliebt hat? Schließlich hat sie nie mit ihm zusammengelebt. Mein Vater war gut dreiundzwanzig Jahre alt, meine Mutter war ein Jahr jünger, als beide heirateten. Sie heirateten, nachdem mein Vater vom Polenfeldzug zurückgekehrt war. Er wurde danach in die Lüneburger Heide abkommandiert und zog von dort aus in den Frankreichfeldzug und so ging es immer weiter, bis zu dem verhängnisvollen Tag in Strelizy. Was genau an diesem Tag geschah, ist unklar. Es gibt ein Schreiben des Batteriechefs vom 16. Dezember 1942 an meine Mutter, in dem er Ihr mitteilte, dass mein Vater seit zwei Wochen vermisst sei. Seine Darstellung der Ereignisse des Tages halte ich für frei erfunden. Er berichtete von einem kühnen Funker, der versucht hatte, meinen Vater zu retten. Weiter schrieb er von den Grüßen an meine Mutter, an mich und seine Eltern, die mein Vater angeblich den Funker gebeten hatte zu übermitteln. Das Unfassbare für mich ist, er legte dem Brief das Eiserne Kreuz 1. Klasse bei. Er schrieb, dass er meiner Mutter den Orden im Namen des Führers übergebe. Gegen all das, was in dem Schreiben meiner Mutter mitgeteilt wurde, steht das Rotkreuzgutachten. Da steht klipp und klar, dass mein Vater an diesem Tag einfach spurlos verschwunden ist und das liest sich so: Der Verteidigungsabschnitt war infolge der hohen Verluste weit überdehnt und deshalb nicht durchgehend besetzt. So war es möglich, dass Soldaten in dem unübersichtlichen Gelände fielen, ohne dass ihr Tod beobachtet und gemeldet werden konnte. Mit letzter Sicherheit kann ich nicht sagen, ob die Schilderungen des Batteriechefs einen Funken Wahrheit enthalten. Nach all meinen eigenen Recherchen, gehe ich aber davon aus, am Tage seines Todes ging mein Vater einfach verloren. Das Eiserne Kreuz befand sich neben den Briefen in den Unterlagen meiner Mutter. Ich wollte es zerstören, das schaffte ich nicht, denn es ist das einzig greifbare, das mir blieb. Ich habe es mit alten Unterlagen tief in einem Schrank vergraben. Das Hakenkreuz auf der Schatulle, in der das Eiserne Kreuz lagert und das mitten auf dem Kreuz dargestellte Hakenkreuz sind somit meinen Blicken entzogen. Das Aktenbündel habe ich mithilfe meiner Frau sortiert und abgeheftet unserer Tochter übergeben. So geht an meinem Lebensende nichts verloren und wenn unsere Tochter die Kraft dazu hat, soll sie den verfluchten Orden vernichten. Die besondere Tragik der Vermisstenmeldung, die meine Mutter erhielt, war wohl, dass der Brief gut einen Monat gebraucht hat, bis meine Mutter ihn in Händen hielt. In diesen Monat hat meine Mutter meinem Vater fast täglich geschrieben, daher die vielen ungeöffnet zurückgekommenen Briefe. Die Schreiben, einmal sortiert, drücken von Tag zu Tag mehr Verzweiflung aus. Das machte das Lesen fast unerträglich. Einer der ungeöffneten Briefe gehörte nicht in diese Reihe von Briefen. Er war auf den Weihnachtstag datiert und gemeinsam von meinen Großeltern verfasst. Sie berichteten darin meinem Vater, dass sie am Weihnachtstag von ihren beiden Enkelkindern besucht wurden. Der Brief fiel noch nicht in die Phase der größten Verzweiflung, war aber doch von Sorge geprägt, da sich der Sohn schon länger nicht mehr gemeldet hatte. Die Frage ist, was bleibt? Nichts oder nicht viel, vielleicht die innere Einstellung, dass aus Kanonenrohren nur Tod und Verderben kommen kann. Ich fühlte mich lange Jahre wie amputiert, mir fehlt der Teil meiner Persönlichkeit, der sich mit meinem Vater identifiziert oder auch nicht identifiziert. Die Erfahrung, dass ich nicht verorten konnte und kann, welcher Teil meines Wesens sich an meinem Vater orientiert, war schmerzhaft. Das hat sich ausgewachsen, schließlich würde mein Vater in diesem Jahr einhundert und zwei Jahre alt und ich habe mich seit Jahrzehnten damit abgefunden, dass ich die Vatererfahrung nicht habe und auch nicht haben kann. Die Amputation schmerzt nicht mehr, ab und zu, früher häufiger, jetzt immer seltener, stellt sich ein Phantomschmerz ein, so wie er bei Amputationen üblich ist. ++++++++++++++++++++ Autorennotiz ++++++++++++++++++++ Das Original der Geschichte findet Ihr hier: erzaehlungen.moosecker-hassels.de/text/text_02_pdf.php?v=oeffentliche_adobe&d=phantomschmerz.pdf ******************** Am 2.9.2018 um 19:38 von BerndMoosecker auf StoryHub veröffentlicht (http://sthu.de/s=djA2H) ********************