******************** Die Fledermaus von PhilipGrabbert ******************** ++++++++++++++++++++ Kurzbeschreibung ++++++++++++++++++++ Eine umfassend recherchierte Horrorgeschichte zwischen düster-romantischen Freundschaften, exotischer Mythologie und Post-Hardcore-Kultur. Für alle, die ‚A Nightmare Before Christmas‘ in guter Erinnerung haben. VORWORT Okay, Leute, diesmal wird es drastischer. Es ist eine Horrorgeschichte. Eindeutiges „FSK ab 16 Jahren“ von mir. Ich werde euch an der Hand haltend dort durch begleiten. Kein Splatter, kein mikroskopischer Gore — keine Grenzüberschreitungen. Bereit? LET'S GO Hallo. Ich bin Marc und dies sind Aufzeichnungen zu Ereignissen, welche sich mir unabänderbar in meine Biographie graviert haben. Wie ein Tattoo unter die Haut. Immer sichtbar und im Fluss der Zeit verblassend. Mehr als ein Jahrzehnt ist vergangen, seit sich alles ereignet hatte. Und doch: Jede Szene, jedes Detail, jeder Dialog ist mir in Erinnerung geblieben. Es sitzt dort wie etwas, das kein Laser mehr entfernen kann. Es will einfach nicht vergehen. Ich lebe. Das möchte ich auch weiterhin. Das Leben ist voller Wunder. Und Wunder müssen nicht immer schön sein. Das Leben unterscheidet nicht zwischen schön und hässlich. Es findet einen Weg, dann breitet es sich aus. Was die einen als schön empfinden, verursacht bei anderen Abscheu — wie der weittragende Duft von Baldrian. Du hast meine Aufzeichnungen gefunden. Egal, ob es sich um Found Footage, Leaked Documents oder Augmented Reality handelt, lies es ruhig. Ich habe es nicht aus Versehen verloren. Manchmal verrät der letzte Satz die ganze Geschichte. Du kannst da jetzt hinscrollen, aber du wirst es noch nicht verstehen können. Es war an einem warmen Frühlingsabend im Mai 2007, als Saosin im Logo spielten. Ein kleiner Konzert-Club in Hamburg mit spezieller Atmosphäre und einer langen Tradition. Unter dem Post-Hardcore, den ich damals gehört habe — und es immer noch gerne tue —, war das Album von Saosin mit dem Käfer auf dem Cover eines meiner Favoriten. Pierce The Veil, From First To Last, Scary Kids Scaring Kids, The Bled. Das war meine Welt. Ich trug Nietengürtel, weiße Hemden mit schwarzen Rosenmustern und verfügte über eine beachtliche Anzahl von T-Shirts mit Zombie-Motiven. Es mag jetzt vielleicht so klingen, als hätte ich dazu gehört, doch ich war ein Spätzünder. Die Bewegung an sich befand sich in den letzten Zügen ihrer Kindheit. Ich war ein Teil davon geworden über die Musik, nicht über die sozialen Kontakte. Weit entfernt von der Bühne lehnte ich an der Wand, fieberte dem Peak entgegen und nuckelte an meinem Orangensaft. Ein blutjunger Rotzlöffel, er hatte vermutlich gerade erst die Führerscheinprüfung bestanden, trat vor mich. Er setzte an, meine Kopfbedeckung zur Profilierung gegenüber seiner Freundin zu verwenden: „Wieso trägst’n ’ne Mütze hier drin?“, ätzte er. Ich reagierte nicht auf ihn. Sowas fällt mir leicht. Arroganz auf Maximum, Schilde halten. An ihm und seiner Gefährtin war äußerlich rein gar nichts Emo, eher Tote Hosen und Golf GTI. Äußerlichkeiten hatten nicht unbedingt etwas zu bedeuten, doch daraus ließ sich in so einer Situation Kraft zur Ruhe schöpfen. Er blieb noch kurz eine Antwort erwartend stehen, dann führte er seine Freundin weg von mir. Ich schüttelte den Kopf und verzog mein Gesicht. „Was wollte der?“, sprach mich eine weibliche Stimme an. „Hat mich gefragt, warum ich hier eine Mütze trage.“ Ihre Erscheinung war eigenständig. Wie aus einer anderen Zeit und dennoch passend für das Terrain, auf dem wir uns begegneten. Sie trug das blondierte Haar im Nacken kurz. Der Pony war lang und fiel ihr leicht abstehend über die Stirn. Garantiert gefestigt durch eine Prise Haarspray oder Wachs. Sie trug elegante dunkle Kleidung mit einem Hauch von New Romanticism der achtziger Jahre sowie zeitlosem Synthpop. Zwischen Schwarz und Grau meliert. Ihre tief lila Tasche — übersät mit Ansteckbuttons — hatte das Format einer großen Einkaufstüte und hing ihr mit den abgenutzten weißen Tragegriffen gut gesichert über den Hals. Auf ihrem Nasenflügel saß ein Piercing, ein zierlicher Stecker mit einem kirschroten Kristall. Sie versprühte das Flair von „Ein Teil meiner selbst ist älter, als du vermutest. " „Hast du’s ihm gesagt?“ „Nein. Der war mir zu unangenehm. Hing noch der Dottersack dran.“ Sie schmunzelte. „Sagst du's mir?“, fragte sie und legte ihren Kopf im Millimeterbereich leicht schräg. „Kreisrunder Haarausfall“, erwiderte ich, tippte mit dem Zeigefinger an meine Stirn unter der schwarzen Mütze, nahm einen Schluck aus der Flasche und schaute ihr in die Augen. „Oh mein Gott, auf einem Emo-Konzert? Du arme Sau“, reagierte sie. Dann brach sie in Lachen aus. Es war kein erniedrigendes oder verhöhnendes Lachen. Es war erfrischend. Wir schienen da ein gemeinsames Verständnis gefunden zu haben, ich genoss das sehr. „Hatte kurz überlegt, ob ich ihm sage, meine Chemotherapie sei noch nicht so lange her. Aber eigentlich übernehme ich nicht gerne den dominanten Part. Und, na ja, seine Freundin war mit dabei.“, grinste ich. Sie suchte wieder Augenkontakt und streckte mir ihre Hand entgegen: „Ich bin Annie. Kennst du die Band?“ Ein hoffnungslos betrunkener Mann stolperte zwischen uns. Er gröhlte und verlangte den Beginn des Konzerts. Sein straßenköterblondes, halblanges Haar stand wirr in alle Richtungen ab, als wäre er gerade aus dem Schlafsack gestiegen. Seine Kleidung erschien zweckgebunden aus dem Warenhauskatalog — die Jacke groß und weit ausgestellt. Alles hing irgendwie locker an ihm herum, als wäre es für reichlich Spaß im Windkanal designt worden. Who cares, dachte ich. Wenn ihm die Band gefällt. Ist Hardcore. Bierdusche. Let's go. Der Club hatte einen ganz besonderen Charme: die Decke niedrig, die Bühne familiär dicht am Publikum. Saosin begannen mit einem Track aus dem erwähnten Album, und der Saal ging von null auf hundert. Es schien wirklich, richtig, richtig gut zu werden. Alle freuten sich. Auch der betrunkene Clochard. Plötzlich war er wieder da, stürmte wie von der Tarantel gestochen nach vorne zur Bühne und riss dabei Stühle aus dem Bereich der Bar mit, die anderen in die Waden flogen. Auweia... Annie schaute mich an. Ich nahm sie in den Arm, zog sie damit ein wenig aus der Schusslinie und brüllte ihr ins Ohr: „Ich heiße Marc! Fangen wir ihn auf, wenn er stage dived?“ „Auf keinen Fall!“, schrie sie zurück und drückte sich kurz an mich. Und so kam es dann auch. Er stieg auf die Bühne und sprang. Alle wichen aus. Wie er landete, war nicht schön. Nicht gefährlich, weil die Bühne, wie gesagt, sehr niedrig war. Man musste beim Stagediven im Logo mehr darauf achten, nicht gegen die Decke zu knallen. Dennoch war es schmerzhaft für ihn gewesen: Er wurde vom Personal aufgeklaubt, behilflich aus dem Konzertsaal geführt und wurde nicht wieder gesehen. IN DIE TASCHE GESTECKT Während das Schwitzwasser begann, an den Wänden des Logo herunterzulaufen, ging ich kurz vor die Tür, um mich abzukühlen. Als ich wieder hineinkam, war das Konzert zu Ende. Annie stand mit einem Bekannten auf der sich leerenden Fläche des Clubraums. Zuvor hatte sie schon Winkewinke und Handzeichen mit ihm über die donnernde Musik hinweg gemacht. Sie stellte mich vor: „Das ist Marc. Er hat kreisrunden Haarausfall. Marc, das ist Stevo. Er hat 'nen Knall.“ Ihr Bekannter, irgendwo im Beginn seiner Zwanzigerjahre so wie ich, hatte Flesh Tunnel in den Ohren und trug eine extra zu groß wirkende Baseballkappe auf seinen langen dunklen Haaren. Sie flossen ihm strähnig um das strahlende Gesicht herum den Hals hinab. Die Flesh Tunnel waren klein. Nicht von der Sorte, wo sich eine halbe Hand durchstecken lässt und die Ohrläppchen bis zu den Schultern hängen. Es stand ihm gut. Er schaute mich an, lächelte breit, wuschelte mir mit einer Hand über die Mütze und hielt mir dann seine Bierflasche hin zum Anstoßen. Wir prosteten uns zu. Er ging leicht in die Hocke und breitete die Arme aus. Dann lief er geschmeidig rückwärts von uns weg, als würde er gleich einen Discofox tanzen: „Geiiiiiiles Konzert!“ Annie und ich strebten zur Garderobe, um unsere Jacken abzuholen. Bei meiner bemerkte ich, dass ein Ansteckbutton fehlte. Der einzige Button, den ich trug. Er zeigte den Kopf eines Grey-Aliens in einem fahlen Hellblau auf schwarzem Grund. Hatte gezeigt. Jetzt war er weg. „Bist du sicher, dass er nicht abgefallen ist?“, fragte Annie. „Hundert Pro. Ist dir schon mal ein Button abgefallen?“ „Noch nie.“ Mein Alien-Button war geklaut worden. „Die Welt ist schlecht“, kommentierte ich meine Misere. Annie spürte, dass mir der Verlust meines Schmucks naheging: „Du meinst es wirklich ernst mit dem ganzen Trend. Ich liebe das.“ „True“, antwortete ich und legte spaßeshalber meinen Kopf auf ihre Schulter. Hundebaby. „Ach doof, hab gerade die Leine nicht dabei.“ Sie kramte in ihrer Tasche. Die Motive ihrer Buttons darauf zeigten Bandnamen, auffällig viele Tiere in Comic-Stilen und Jack Skellington. „Musst du so mitkommen“, tütete sie die Nummer ein. Bei ihr zu Hause angekommen, war alles rot. Alle Wände in ihrer Wohnung waren in der Farbe gestrichen. Nicht aufdringlich. Ein dunkler, beruhigend erdiger Ton. Als wir in der Küche standen, bemerkte ich eine Bratpfanne mit Essensresten auf dem Herd: „Uh, was war das denn mal?“ „Fliegenpilze.“ „Du hast dir Fliegenpilze in die Pfanne gehauen?“ „Ja. Hab gekotzt wie blöd danach, aber hatte sich gelohnt.“ „Du musst die Pilze trocknen, dann bauen sich Stoffe ab, die die Übelkeit erzeugen. Auf achtzig Grad im Backofen ist ideal.“ „Echt?“ „Mhm. Mein Vater ist perma-bekiffter Alt-Hippie. Fachgebiet Naturdrogen. Ist nicht ungefährlich. Fliegenpilze sind unterschiedlich potent. Am besten sammelst du an verschiedenen Stellen und mischt hinterher alles.“ So kamen wir ins Gespräch über unsere Familienverhältnisse. Wir unterhielten uns die ganze Nacht hindurch bis zum Sonnenaufgang. Sie stammte aus einer „einfachen“ Familie. Mutter indoor, die gute Seele. Vater outdoor, als Straßenbauarbeiter. Ethnologie und Mythologien waren ihr Steckenpferd. Sie hatte sich die Schneidezähne anfeilen lassen, wie es bei Kulturen im Pazifikraum weit verbreitet sei, erklärte sie mir. Am Ende hatten wir zwei unumstößliche Gemeinsamkeiten herausgearbeitet: (1) Zu ihren Lieblingsbüchern gehörte Interview mit einem Vampir von Anne Rice. Einer meiner Lieblingsfilme war die Verfilmung dazu von Neil Jordan. (2) Wir wollten wie Freunde sein, die sich gemeinsam eine Umkleidekabine teilen. Was wir beide aneinander gefunden hatten, war zu magisch, um es mit schnellen Ficks über den Haufen zu schießen. AM MORGEN DANACH Annie hatte Frühstück vorbereitet. Ich war duschen gewesen. „Ich hoffe, du magst das. Ich lebe vegan.“ Es gab Granatapfelsaft, Rote-Bete-Salat und Kidneybohnen mit Zwiebeln in einer herrlich abgeschmeckten Tomatenmarksoße. Sie roch nach Paprikapulver, Knoblauch und Thymian. Alles rot. „Ich bin Vegetarier. Die Bohnen riechen hammer“, und das taten sie wirklich. Ich freute mich riesig darauf, den ersten Löffel davon zu kosten. „Mit Orangenschale und Koriandersamen. Rezept von meiner Urgroßmutter. Sie war Türkin.“ Sie sah am Tisch vorbei, herunter zu meinem Bein. Meine Hose hatte ich noch nicht wieder angezogen. „Was hast du da?“ „Das? Äh... Ich mache Parkour. Die Wunde ist schon wieder verheilt. Der Schorf fällt bestimmt bald ab.“ „Parkour? Skatest du?“ Ich erklärte ihr, was für eine Sportart das ist. Außerdem persönlichere Details über meine Verbindung dazu. „Du nimmst die Welt über deine Hände wahr? Kinästhetiker?“ „Ja. Das und noch mehr. Wenn ich Dinge berühre, kann ich ihren Code lesen. Nicht immer. Es kommt auf die Stärke des Codes an.“ „Du meinst, du kannst in ihre Vergangenheit schauen?“ „Genau. So in der Richtung... Ich erhalte Eindrücke.“ „Zeig mal her“, deutete sie wieder auf meinen Unterschenkel. Ich legte den Fuß auf den Tisch. Annie strich über den Schorf der alten Wunde meines Schienbeins. „Tut das weh?“, fragte sie. „Jein. Ich steh drauf, wenn es wehtut. Nicht so, wie du denkst. Irgendwie mag ich das Gefühl von Muskelkater und Prellungen, wenn mal was daneben ging. Es fühlt sich lebendig an. Kennst du Scarred auf MTV? Die Sendung?“ „Ja, die ist cool. Aber ist mir echt zu heftig.“ Sie schob den Nagel ihres Zeigefingers sanft und vorsichtig unter die Kruste meiner Wunde. Ich spürte die Hautverbindung reißen. Ein leichter Blutstrom trat aus. Dann hatte sie das Stück Schorf zwischen ihren Fingern. „Soll ich's essen?“, fragte sie mich. „Wenn du Veganerin bist: nein.“ „Ich bin ein hungriges Geschöpf der Nacht. Und ich habe dich zum Fressen gern.“ Während sie das sagte, zog sie ihre Lippen soweit zurück, dass ihre angefeilten Schneidezähne sichtbar wurden. Sie spielte — dachte ich — und das sehr überzeugend. „Haben Vampire ein Pflaster im Medizinschrank oder gibt's da nur Laudanum?“ „Moment, ich geh mal nachschauen.“ Sie strebte ins Badezimmer. Ich blickte über die Schulter, um besser mit ihr sprechen zu können. „Kein Pflaster. Aber mein Deo“, erklärte Annie. Sie ließ ihren neongrünen Bademantel fallen. Über ihren Rücken erstreckte sich ein hochwertig ausgeführtes Tattoo. Eine Fledermaus. „Mach mal Vogel“, forderte ich sie auf. Annie bewegte ihre Arme, als würde sie versuchen zu fliegen. Die Fledermaus auf ihrem Rücken erwachte zum Leben und flatterte beinahe mit den Flügeln. Großartige Illusion. „Kompliment an den Stecher. War das teuer?“ „Ich habe meine Eltern dafür beklaut.“, antwortete sie nüchtern, „Ich zahl immer noch Raten bei ihnen deswegen.“ Mein Hals begann zu zerren. Ich widmete mich wieder dem Frühstückstisch: „Ah. Jugendsünde.“ „Ich war jung und brauchte das Tattoo“, untermauerte Annie ihre Leidenschaft. DER TREFFPUNKT An diesem Donnerstagmorgen trennten wir uns. Annie musste putzen gehen, ich hatte noch für den Rest der Woche Urlaub. Ich arbeitete im Kundenservice eines Spiele-Publishers. Es hielt mich über Wasser. Nachmittags erhielt ich ein E-Mail von Annie. SUBJECT: dein Haarschnitt hat Stil Sie hatte das Video zu „Gotta Get Away“ von The Offspring angehängt. Den Song kannte ich, das Video noch nicht. Einige Typen in dem Video waren hot dargestellt. Kurze Haare, Piercings im Gesicht, nackte Oberkörper. Ich antwortete. SUBJECT: du hattest es gut Ich hing ihr den Kurzfilm Papa von Jörg Buttgereit an. Am gleichen Abend erhielt ich ihre Antwort: „Toller Film! Kommst du morgen zum Treffpunkt? Ich möchte dich der Gang vorstellen. 16 Uhr.“ Der Treffpunkt, den sie meinte, war der Mönckebergbrunnen in der Innenstadt von Hamburg. Sie hatte mir davon erzählt. Ich antwortete. SUBJECT: sehr gerne \o/ Kein weiterer Text. Am Freitag fieberte ich dem Treffen entgegen. Ich machte mir Gedanken. Viel zu viele Gedanken. Dann legte ich „Hope Road“ von Anne Clark auf. Beruhigen konnte mich das nicht, doch es trug mich traumwandlerisch durch meine Aufgeregtheit. Nenne ein Gefühl und spiele die Musik dazu. Als ich zur verabredeten Zeit am Mönckebergbrunnen ankam, bevölkerten unzählige Emos den Platz. Viele von ihnen waren noch sehr jung. Eine quietschvergnügte Farbenpracht mit Punk-Anleihen und fröhlichen Gesichtern. Was war das schön! Direkt in der Nähe in einer Einkaufspassage befand sich das Geschäft, in dem ich meinen verlorenen Alien-Button gekauft hatte. Ich trug eines meiner Zombie-T-Shirts in Weiß. Darauf abgebildet ein Untoter aus Zombies im Kaufhaus von George A. Romero. In grüner Schrift darunter: THE END IS EXTREMELY FUCKIN' NIGH. Keine Mütze. Es war eh viel zu warm — und ich hatte mir den Schädel frisch geschoren, so kurz wie möglich. Wie immer, wenn ich nicht einfach wieder zu faul gewesen war und dann etwas drüberwerfen musste. Ich erkannte Annie und Stevo. Sie machten gestikulierend auf sich aufmerksam und ich gesellte mich zu ihnen. „Ratty, das ist Marc“, stellte Annie mich vor. „Hey“, grüßte Ratty, „cooles Shirt.“ „Gammelfleischparty“, kommentierte ich. Wir lachten. „Ist das die ganze Gang?“, fragte ich. „Miriam, Sakura und Legato fehlen noch“, erwiderte Stevo. „Da kommt Miriam“, sagte Annie. Miriam war in einem erbärmlichen Zustand, gemessen an der Stimmung, die auf dem Platz herrschte. Ihr Kajal war verlaufen, als hätte sie geweint. Und sie wirkte verstört. „Was ist los mit dir?“, fragte Annie, „Wieder Stress mit deinen Eltern?“ „Nein“, stammelte sie und sah zu Boden, „Legato... Er hat...“ Sie sah Annie an: „Er hat sie gebissen. Er hat Sakura in den Hals gebissen. Es... Es sollte doch nur Cosplay sein!“ Wir schwiegen. „Nur ein kleines Stückchen weiter und er hätte ihre Halsschlagader getroffen“, schluchzte Miriam. Sie brach in Tränen aus. Annie nahm sie in ihre Arme und tröstete sie. „Ich hab’s euch immer gesagt, Lego braucht eine Therapie!“, machte Stevo sich Luft, „Du hättest ihn bei der Nummer mit dem Zähnefeilen nicht auch noch unterstützen dürfen, Annie.“ „Ist gut, Stevo“, sagte Ratty, „Bringt jetzt nichts.“ Zu der Therapie für Legato sollte es nicht mehr kommen. VERGELTUNG Es war Stevo, der Legato am späten Freitagabend auffand. Er wollte ihn zur Rede stellen. Als er sich dem Mehrfamilienwohnhaus näherte, fiel ihm im Licht der Straßenlaternen ein Gegenstand nahe eines Gebüschs beim Eingang auf. „What the fuck...“, dachte Stevo, „ist das denn?“ Vor ihm lag etwas, das ihn an eine Armbrust erinnerte. Klein, handlich und ohne Bogen. Es sah alt und fremdartig aus. Er hob den Gegenstand auf und untersuchte ihn genauer. Die Mechanik wirkte erstaunlich modern. Das sonderbare Ding verfügte über eine Führungsschiene. Einige Teile des womöglich zerlegbaren Gerätes waren mit hellem Holz laminiert. Und etwas Schwarzem. Er kratzte daran. Metall. An der Vorderseite war ein Gesicht eingraviert. Kantig, starre Augen, strenger Unterkiefer. „Mitnehmen.“ Er verstaute das Fundstück in seinem Rucksack. Dann fuhr er mit dem Fahrstuhl in die oberste Etage. Die Tür von Legatos Wohnung stand leicht offen. Augenblicklich legte sich ein Mantel aus Schwere und Beklemmung auf Stevo. Als sei er in Blei eingeschlossen worden, erklärte er es mir später. Er sah sich um, näherte sich langsam der Wohnungstür und drückte sie mit dem rechten Ellenbogen etwas weiter auf. Keine Fingerabdrücke hinterlassen. Der Anblick war entsetzlich. Legato saß leblos an der Wand des Flures. In seiner Herzseite steckte ein Pflock aus Holz. Ein zweiter Pflock hatte sich in seine Stirn gebohrt. Ein dritter Pflock steckte in seinem Oberschenkel nahe des Schritts. „Heilige Scheiße!“, entfuhr es Stevo. Er zückte sein Handy, um die Polizei zu rufen. Dann lief er zügig aber beherrscht die Treppen hinunter — der Fahrstuhl erschien ihm zu klaustrophobisch — und beruhigte sich mit tiefen Atemzügen der reinigenden Luft, als er wieder vor dem Haus stand. Die Polizei nahm seine Personalien auf. Sie boten ihm psychologische Betreuung an. Stevo lehnte das ab: „Ich werde es mit meinen Eltern besprechen.“ Als er gehen wollte, rief ihm ein Polizist noch etwas hinterher: „Hey Junge, Vorsicht. Dein Rucksack ist offen. Pass auf, dass da nichts rausfällt.“ Stevo erzählte mir hinterher, dass er sich aus Schock noch nie so sehr in die Hose geschissen hatte wie bei dieser Rucksack-Szene mit dem Polizisten. Wir saßen zu dritt in Annies roter Wohnung. Vor uns auf dem Tisch lag die Tatwaffe. Für uns bestand kein Zweifel daran, dass sie es war. „Fass es an und sag uns, was das ist, Marc“, drängte Stevo. Annie hatte es ihm erzählt — mein besonderes Talent mit Gegenständen und Codes lesen. Kein Problem. Es war Annie, die es Stevo anvertraut hatte, nicht ein Psychoklempner, der es meinem Briefträger zu erklären versuchte. Ich habe schon viele Dinge berührt, vor denen ich Respekt hatte. Aber das? Ich nahm all meinen Mut zusammen und ließ meine Fingerspitzen vorsichtig über die Oberfläche des Gegenstandes fahren. So dicht, dass noch etwas dazwischen passte. Ein Haar? Dann betaste ich es und schloss die Augen: „Es ist... alt... Sowas...“ Es entstand eine Pause. Annie und Stevo schwiegen. „Sowas Altes habe ich noch nie berührt.“ „Mach weiter“, führte mich Stevo. Annie mischte sich nicht ein. „Wärme.“ „Hitze?“ „Nein. Es ist angenehm.“ „Angenehm? Das Ding hat Lego hingerichtet!“, fauchte er mich an. Ich ließ das merkwürdige Teil los und öffnete meine Augen. Mein Blick und der von Stevo trafen sich. „’tschuldigung. War nicht so gemeint“, riss er sich zusammen. Ich fuhr fort. Anfassen. Augen zu. Die Bilder kamen. Eigentlich waren es keine Bilder. Es sind nie Bilder. Es sind Erinnerungen. „Palmen. Ein Strand am Meer. Der Geruch von Früchten.“ „Exotisch?“ „Ja... Ja, das ist es! Vielleicht aus Asien. Oder der Karibik.“ „Lalondong“, vermutete Annie. Stevo und ich sahen sie fragend an. „Indonesische Mythologie. Wartet. Ich zeige es euch.“ Annie suchte in ihren überquellenden und sympathisch unaufgeräumten Bücherregalen. Sie kehrte mit einem schlichten blauen Softcover-Buch zurück. Der Titel war: „The Sa’dan-Toraja“ — das gehörte zu den Dingen, die sich mir ins Gehirn eingebrannt haben. Annie führte uns blätternd durch hinweisgebende Stellen. An diesem Punkt verwischte sich bei mir die Grenze zwischen Real und Irreal. Ein Fiebertraum der Spitzenklasse. „Wer die Zähne des Raubtiers trägt, öffnet Tore zur Seele und sieht die Jäger im Dunkel. Das Anfeilen der Zähne ist ein Initiationsritus. Lego hat ihn nicht einfach übernommen, was okay gewesen wäre, er hat ihn mit Füßen getreten.“ „Du denkst... Moment...“, Stevo musste das für sich sortieren, „Es ist ein Rachefeldzug? Von dem Fraggle da aus dem Buch?“ „Ich denke es nicht, ich weiß es. Wer soll es sonst gewesen sein? Einer von uns? Schau dir Lalondongs Atem an“, verwies sie mit ihrem Kopf zu der Waffe auf dem Tisch, „Drei Pflöcke. Einer im Kopf als Hinweis auf falsche Übernahme der Riten. Einer im Herz als Entsprechung dafür, wie wir in unserer Kultur Vampire bestrafen.“ „Und einer in der Nähe seines... Da hat der Jäger nur knapp daneben getroffen.“, vollendet Stevo. „Bittere Realität“, stimmte Annie zu. In mir vibrierte es. Wo war ich nur hineingeraten? Aber es faszinierte mich. Es berührte einen Teil meiner Identität, der dafür gebaut worden war, sowas zu ertragen. Komme, was wolle, ich würde meinen Platz hier nicht aus Feigheit räumen. Nett euch kennengelernt zu haben, aber nun lasse ich euch hängen. Niemals. Einer für alle, alle für einen. „Was machen wir jetzt?“, fragte Stevo. „Gib es mir“, schlug Annie vor. „Für deine Vampirsammlung? Vergiss es, Annie.“ Ich behielt meine Position bei, mich nicht einzumischen. Ich analysierte, was da abging. „Was, wenn die Polizei deine Wohnung durchsucht? Du hast Lego gefunden. Du hast immer wieder Streit mit ihm gehabt.“ Ich erkannte jetzt, was Annie plante. Sie wollte es nicht für ihre Sammlung. Sie wollte, dass das Wesen, der Spirit — was immer da in unsere Welt gekommen war — ihre Witterung aufnahm. Mit der Aufbewahrung des bolzenverschießenden Hinrichtungsapparates beschützte sie auch Stevo, der noch nicht auf den Gedanken gekommen war, wie gefährlich es für ihn sein konnte, damit herumzulaufen. „Das ist sicherer, Stevo“, sprang ich ihr zur Seite. „Okay. Aber es gehört uns dreien. Nicht dir alleine.“ „Versprochen“, setzte Annie den Schwur. „Versprochen“, bestätigte ich diesen. „Und wird nicht gebrochen“, besiegelte ihn Stevo. UNTER DEM BETT, IM SPIEGEL — UND AUF DEM DACH Am Samstag blieben wir alle für uns selbst. Keine Mails, keine Telefonate. Ich musste an Annie denken. War sie in Gefahr? Ich wusste es nicht. Vermutlich würde sie einen Kreis aus Salz um sich herum ausstreuen und das Spektakel feiern. Trotzdem hatten Stevo und ich drauf bestanden, dass sie das Artefakt bei sich im Keller aufbewahren sollte. „Nein“, hatte sie es abgelehnt, „Das ist viel zu unsicher. Bei meinen Nachbarn wurde gerade erst der Keller aufgebrochen.“ Am Ende hatten wir uns geeinigt, dass sie die Waffe im großzügig dimensionierten Eisfach ihres Kühlschranks lagerte. Eine Idee von mir. Heute war Sonntag. Ich war mit Annie zu einem Spaziergang verabredet. Sie wollte mir das Niendorfer Gehege zeigen, ein städtisch eingebettetes, weitläufiges Landschaftsschutzgebiet im Norden von Hamburg. Ihre Wohnung grenzte direkt daran. Unser Weg an einem Bach entlang, der an seinen Rändern dicht mit Brennnesseln bewachsen war, führte über eine kleine Brücke tief in das kaum genutzte Stück Natur hinein. Die Stadt lag hinter uns. Und vor uns etwas, das wir beide schweigend genossen. Wir nahmen einen Weg durch dichten Tannenwald. „Kennst du das?“, fragte ich Annie, und zeigte ihr eine Ansammlung bodennaher, zierlicher Gewächse, so zart wie Seide in einer leichten Brise: „Das ist Waldsauerklee. Es ist die schattenverträglichste Pflanze unserer Region. Wächst sogar hier unter Nadelbäumen.“ „Sauerklee? Den kann man essen, oder?“ „Ja. Aber wenn du ihn pflückst, weint eine Elfe.“ „Oh Marc...“, freute sie sich behaglich, „Komm, lass uns weitergehen, ich will dir ein Haus zeigen.“ Als wir den Weg durch den Tannenwald hinter uns gelassen hatten, liefen wir auf einen Teich zu, der an der Wasseroberfläche mit winzigen Seerosen bewachsen war. „Froschbiss“, erklärte ich, „Sieht aus wie Mini-Seerosen, ist aber eine andere Pflanzenfamilie.“ „Passt gut. Hier quaken gerne mal die Frösche. Schau: das Haus.“ Mitten im relativ lichten Laubwald, in dem wir uns nun befanden, stand das zweistöckige Backsteinhaus nahe des Teiches. Es erweckte den Eindruck einer Försterei oder etwas ähnlichem, das nicht einfach nur eine kleine Privathütte darstellte. Davor parkte ein Auto. „Immer wenn ich hier vorbeikomme“, schwärmte Annie, „träume ich davon, darin zu wohnen.“ „Gute Wahl. Und nachts? Hier ist niemand. Ich hätte da Muffensausen.“ „Schrotflinte“, erwiderte Annie. Wir liefen weiter, und als das Gebäude nicht mehr zu sehen war, bemerkte Annie etwas, worauf sie mich mit einer flüsternden Note in ihrer Stimme hinwies: „Spürst du das? Wie ruhig es plötzlich geworden ist?“ Jetzt, als sie es sagte, spürte ich es. Und wie ich es spürte. Ich kann das nur schwer beschreiben. Platt gesagt war es totenstill geworden. Eine Stille, als würde sich nichts mehr bewegen. — Deine Haut empfängt es, nicht deine Ohren. Dann ertönte ein Klopfen, an einem Baumstamm nicht weit von uns entfernt. Wir zuckten beide zusammen. Ich dachte zuerst an einen Specht. Es hörte sich genauso an, aber es war rhythmisch. Monoton rhythmisch. Es machte eine Pause und wiederholte sich. Ich wollte gerade etwas sagen, da knackten Zweige hinter uns. Erst einer. Dann noch einer. Ich war noch nie der panische Typ gewesen, aber das hier entwickelte Potential, mich so ein Verhalten mal auskosten zu lassen. Wieder wollte ich etwas sagen, doch dann ging das Licht aus. Wie in einem Kinosaal, wenn der Raum langsam heruntergedimmt wird und der Vorhang sich aufzieht. „Keine Sorge, ich habe eine Taschenlampe mit dabei“, versuchte Annie mich zu beruhigen. Sie blieb cool, als wüsste sie, was gespielt wurde. Der Baum, von dem vermutlich das rhythmische Klopfen gekommen war, brach. Mit einem gigantischen Knirschen kippte er nicht einfach um, er wurde in zwei Hälften zerbrochen und seine Krone stürzte krachend ins Unterholz. Es wurde dunkler. Immer dunkler. Wie hatte sie das Wesen genannt? Lalondong? Lalondongs Atem? „Was hast du in deiner Tasche, Annie?“ Ich wusste, was es war. Und Annie wusste, dass ich es wusste: „Wenn ich es dir gesagt hätte, dass ich es dabei habe, wärst du trotzdem mitgekommen.“ Da hatte sie recht. „Aber es wäre nur fair gewesen, wenn du es mir gesagt hättest.“ „Nein. Es hätte dich verunsichert. Unser Spaziergang wäre ganz anders verlaufen.“ In diesen Gedanken von ihr ging ich kurz rein — und musste ihr zustimmen. Jetzt war es so finster, dass wir uns nicht mehr sehen konnten, obwohl wir dicht beieinander standen. „Marc, das ist vielleicht unser letzter gemeinsamer Moment. Ich möchte den so nahe wie möglich mit dir teilen.“ Ich schluckte. Dieser Satz fiel auf einen Boden in mir, der steinig war — aus ihm drängten sich öffnende Blüten ans Licht, die ihre Staubgefäße in den Himmel streckten. Licht in der Dunkelheit. Dieser kurze Moment eines Funkens, der die Welt aufflammen lässt. Mir fehlten die Worte. „Ich werde dich nie vergessen“, brach Annie die zurückgekehrte Stille. Ich spürte, wie sie die exotische Waffe aus der Tasche nahm. Dann holte sie vernehmbar tief Luft und stieß einen einzigen, entschlossenen Schrei aus, der als Übereinkommen stand: „Wenn du das hier zurückhaben willst, dann musst du mich mitnehmen!“ Das war ihr Moment. Sie teilte ihn mit mir. Ich brauchte nichts mehr sagen. Nur wenige Meter von uns entfernt tat sich über dem Trampelpfad, auf dem wir uns befanden, ein Riss auf, aus dem sich spukhaftes graues Licht ergoss. Wir konnten unsere Umrisse wieder erkennen. Sie blickte rasch zu mir hinüber, und ich nickte ihr in einer „Zieh das durch“-Geste zu. Annie wurde in die Luft gerissen. Sie überschlug sich und hing kopfüber. Dann griff etwas nach ihr und zog sie an ihrer Tasche — die mit den Buttons — in etwas hinein, das sie sich so sehr gewünscht hatte. An den Baumstämmen um mich herum klopften und pochten die Rhythmen wie ein Chor aus Skeletten, die sich gegenseitig in Rage trommelten. Annie verschwand im Strudel des Phänomens. Sie war so schnell weg, wie sie zu mir gekommen war. Es hatte die Qualität eines japanischen Horrofilms, wo sich etwas nähert, dann — CUT! — und das Gespenst steht direkt vor dir. Das Abendrot kehrte wieder zurück. Es verdrängte die undurchdringliche Schwärze wie dichthängende Wolken an einem wechselhaften Tag im April. Parallel dazu begann das Portal sich zu schließen. Es entwickelte einen Sog, der mir die Füße wegschlug. „Nein...“, stammelte ich zutiefst erschrocken, als ich auf den Bauch fiel — mit dem Gesicht voran in den Dreck. Meine Augen starrten in den noch einige Meter von mir entfernten Schlund aus verkehrter Physik. Robbend bekam ich meinen liegenden Körper in die entgegengesetzte Richtung gedreht und blickte mich angestrengt nach etwas um, an dem ich mich festhalten konnte, um einen rettenden Move, einen Hebel, einen Sprung ausführen zu können. Währenddessen packte mich der Irrsinn an meinen Beinen und ich begann wieder zu rutschen. Weiter. Und weiter. Meine Hände suchten Halt im bemoosten Waldboden. Vergeblich. Meine Finger glitten an feuchten Hölzern ab, sie zerfetzten Wurzelwerk, während der Riss in meiner Realität mich zu sich rief und ich versuchte, alles was ich besaß, in den Sand zu krallen. So behäbig wie die Passage sich schloss, würde ich noch hindurchpassen. Oder ein Körperteil dabei verlieren. Oder... „Nein. Nicht ich. Das ist nicht richtig“, versuchte ich mich gegen die fremde Macht zu stemmen. Nur noch eine Armeslänge oder zwei entfernt kam ich zurück auf die Beine. Dann griff die Kraft des Loches mir unerbittlich in den Rücken und ein Körper stürzte gegen mich. In einem gebieterischen Tonfall wurde mir befohlen: „Du bleibst hier, Hase!“ Die Wucht des Einschlages brachte mich aus dem Einflussbereich des sich zurückziehenden Infernos. Es war Stevo. Wie aus dem Nichts aufgetaucht hatte er sich todesmutig gegen mich geworfen. Wir stolperten taumelnd durch dornige Sträucher, während er mich fest umschlungen mit einem seiner Arme hielt — und ich selbst drohte, das Bewusstsein zu verlieren. Meine Beine wurden weich wie Pudding, mein Sichtfeld trübte sich ein, mein Kopf sackte weg. „Fall mir jetzt nicht auch noch in Ohnmacht wie ’ne alte Hollywood-Diva.“, sagte er und gab mir leichte Schläge auf die Wange. Mein Bewusstsein kroch zurück an die Oberfläche. Das war es, was ich an Stevo mochte. Sein unerschütterlicher Mut. Und diese respektvolle, beinahe alles verstehende Art, die er — wenn angemessen — mit einem Zwinkern vortrug. Lebensfreude. Wann? Wann, wenn nicht jetzt? „Zeig mir, dass ich keine schrullige Diva bin“, sah ich ihm in die Augen und hielt meinen Blick. Vermutlich so benebelt aussehend wie mein Vater. „Avec plaisir, Mademoiselle“, lächelte er. Dann küsste er mich kurz und sanft auf die Lippen. Ich setzte nach. Der Kuss wurde lang und intensiv. Wir rauften uns die Haare dabei. Seitdem sind wir ein Paar. Wir sind es bis heute geblieben. DER LETZTE SATZ Stevo hat mir empfohlen, endlich Abstand zu gewinnen: „Schreib es auf ein Blatt Papier und spül es in der Toilette runter.“ Ich habe kein Blatt Papier verwendet, sondern einen USB-Stick. Ich habe den Stick nicht in der Toilette runtergepült, sondern ihn in eine leere Flasche gesteckt, sie mit einem Korken verschlossen und in einem Club auf einem Tisch liegen gelassen, wo Minderjährige keinen Zutritt erhalten. Zuneigung ist, wie gemeinsam auf einer Bank zu sitzen. Am Wegrand im Park. Nahe dem Wasser am Hafen. Unter einem Mirabellenbaum im Garten. Dicht gedrängt als Publikum bei einem Basketball-Spiel. Du kannst es mit Freunden. Du kannst es mit einem Familienmitglied. Du kannst es mit einem Nachbarn. Selbst mit einem fremden Menschen, der sich einfach nur zu dir setzt, funktioniert es. Ein verbindender Moment — das gemeinsame Atmen in einer Atmosphäre. Geteiltes Leid ist halbes Leid, heißt es. Und geteilte Freude ist Ekstase. Define the Great Line (Underoath) - - - NACHTRAG Basierend auf der Mythologie der Toraja (Indonesien), aber frei interpretiert. Inspiriert durch das Buch The Sa’dan-Toraja von Hetty Nooy-Palm (1979). ++++++++++++++++++++ Autorennotiz ++++++++++++++++++++ Eine Übersetzung ins Englische liegt noch nicht vor. ******************** Am 4.12.2025 um 23:01 von PhilipGrabbert auf StoryHub veröffentlicht (https://storyhub.de/?s=bNvGh) ********************