******************** Kerzen Schein von Fuxich ******************** ++++++++++++++++++++ Kurzbeschreibung ++++++++++++++++++++ Andis Weihnachtsrealität unterscheidet sich vom puderzuckerweißen, kaminfeuerbeschienenen Traum des Mainstreams. Dies ist mein Beitrag zum #SchreibnachtAdventskalender. (*Triggerwarnung zum Thema Dr*gen) Der Schein der Kerze wirft flackernde Miniaturschatten in den halbleeren Raum, in dem es nach alten Wolldecken und undichten Rohrleitungen riecht. Es ist kein beißender Geruch, sondern eher eine schwere Note, die den Kopf nach einer Zeit, die unmöglich näher bestimmt werden könnte, in Watte hüllt. Andis Blick lässt vermuten, dass auch sein Geist sich in einem flauschig-weißen Dazwischen befindet. Mit weiten Pupillen starrt er seit Minuten auf die leere Wand gegenüber. Draußen rieselt ein feucht-kalter Schneeregen auf den Asphalt und irgendwie hat es was von dem, was in ihm los ist. Da ist so viel Kaltnass in ihm, was doch nie liegen bleibt. Was sich in eine nichtgreifbare graue Pfütze auflöst, sobald es den asphaltierten Grund seiner Seele erreicht. Vielleicht war das der Grund, wieso er hier saß. So saß. Allein saß. An Heiligabend. Mit einem verächtlichen Schnauben gepaart mit einem sarkastischen Lachen löst er sich aus seiner Starre. Heiligabend. So ein Schwachsinn. Was soll an diesem Fest der prätentiösen Konsumgeilheit schon heilig sein? Er fährt sich mit der Hand über die unrasierte Wange und lässt sich in die Kissen sinken, die er in seinem Rücken auf der unbezogenen Matratze aufgetürmt hat. Er schließt die Augen. Heiligabend. Weihnachten. Als er sich dieses Wort wie ein Bonbon im Mund zergehen lässt, tauchen plötzlich Bilder vor seinem inneren Auge auf. Seine Mutter beim Schmücken des Weihnachtsbaumes. Sein Vater am Esstisch mit einer Flasche Bier. Seine Schwester, die ihm stolz ihr neues Stofftierpferd präsentiert. Weihnachten. Ist lange her. Das laute Zuknallen einer Wohnungstür auf seiner Etage lässt ihn zusammenzucken. „Zieh deine Mütze auf, habe ich gesagt! Ich hab kein Bock morgen wieder mit dir zum Kinderarzt zu rennen, weil du Ohrenschmerzen hast.“ Die Stimme seiner Nachbarin ist eine Mischung aus gleichgültig und genervt und er weiß nicht, was ihn mehr anwidert. Kleine Gummistiefelschritte flitzen an seiner Wohnung vorbei. Es folgt das Quietschen der Tür zum Treppenhaus und die kleinen Schritte verschwinden dahinter, als diese mit einem lauten Schlag zufällt. Halblaut, halbleise flucht die Nachbarin und kramt hörbar in ihrer viel zu vollen Handtasche. Dann schließt sie ihre Wohnungstür ab. Zwei Mal. Er ist froh, als auch ihre Schritte endlich an seiner Tür vorbei gestöckelt sind und ebenfalls hinter der eisernen Treppenhaustür verschwinden. Jetzt ist es wieder vollkommen ruhig und er fragt sich, ob er der einzige auf seiner Etage ist, der noch da ist. Hat der Typ, der vorn links wohnt, eigentlich eine Familie? Der ist doch mit Sicherheit schon Ende 50 und seine Eltern dürften wohl tot sein. Und an Kinderbesuch kann Andi sich nicht erinnern. Zur Hölle, was geht es ihn auch an, ob der fette Alte gerade ein Bier nach dem anderen ext oder selig mit irgendeiner Exschnalle unterm Weihnachtsbaum hockt, damit das Balg eine verkrüppelte Familienerinnerung mehr abspeichern kann, von einer Familie, die keine ist, um sich später dann daran zu erinnern, wenn es allein in seiner scheiß Einzimmerwohnung im Märkischen Viertel sitzt. Scheiß drauf. Mit einem weiteren Kopfschütteln erhebt er sich aus seinem Kissenberg und geht zur Fensterbank. Der Ausblick aus seiner Wohnung ist trotz der Höhe nicht gerade eine Augenweide. Das Panorama wird hauptsächlich vom Block gegenüber dominiert. Kitschig in allen Farben blinkende Lichterketten und halb zerrissene Bettlaken, die als Vorhänge dienen, schmücken die Fenster. Die Mühe mit den Bettlaken macht er sich schon lange nicht mehr. Sollen die Nachbarn doch sehen, wenn er seinen mageren Körper nackt aus der Dusche auf die Matratze vor der Heizung schiebt. Als ob noch so viel von ihm übrig wäre, dass ihm jemand etwas weggucken könnte. Mit einem selbstironischen Grinsen zündet er sich eine Kippe an und öffnet das Fenster. Stimmen aus dem Hof schallen an den Häuserwänden empor und ziehen seine Aufmerksamkeit auf sich. Im Eingang des Wohnblocks zu seiner rechten tummeln sich ein paar Halbstarke um einen Kampfhund. Von ihren großen Brüdern kauft er regelmäßig seinen Stoff und er sinniert über das Erbe, was sie einmal antreten werden. Mechanisch zieht er immer wieder an seiner Zigarette, bis ihm der beißende Geruch des angesengten Filters in die Nase steigt. Verfluchte Scheiße! Er schnipst den Filter aus dem Fenster und geht zur Küchenzeile, auf der eine geöffnete Dose Chili sin Carne steht. Mit 16 hatte er aufgehört Fleisch zu essen, nachdem er mit ein paar Kumpels "zum Spaß" in einen Schweinemastbetrieb bei Neubrandenburg eingestiegen war. Eigentlich hatten sie nur etwas Unfrieden stiften und die Wände besprühen wollen, doch als er die armen Viecher so eingepfercht und halbtot dort hatte liegen und stehen sehen, war etwas in ihm kaputt gegangen. Der Glaube an die Menschheit vielleicht, auch wenn das ein bisschen pathetisch klingt. Er hatte schon damals so viel Dreck erlebt und wusste, wozu der Mensch fähig war. Doch das hatte selbst ihn noch einmal geschockt. Als die Zinken der verbogenen Gabel auf dem Grund der Konservendose ankommen, schmeißt er beides mit einem lauten Scheppern in die Spüle. Er schließt das Fenster und dreht die Heizung auf. Draußen ist es mittlerweile fast vollständig dunkel und er merkt, wie der Druck im Innern immer größer wird. Noch ein letzter Blick auf sein Handy. Keine Nachricht. "Na dann woll'n wir mal", stöhnt er als er sich wieder auf die Matratze fallen lässt und das kleine Ledermäppchen unter einem der Kissen hervor fischt. Mit routinierten Bewegungen legt er alles fein säuberlich auf dem kleinen Couchtisch vor sich aus. Ein Einmalspritzbesteck, ein Tütchen mit Kippenfiltern, ein weiteres mit einem weißen Pulver. Etwas, das wie ein kleiner Ball aus Alufolie aussieht, einen verrußten Löffel und ein Teelicht. Für einen kurzen Moment kommt er ins Stocken und blickt zu dem Adventsgesteck auf seinem Schuhschrank, was ihm Lilly Anfang des Monats mitgebracht hatte. Drei der Kerzen waren bereits abgebrannt, aber die vierte flackert tapfer in der zugigen Luft der kleinen Wohnung. Das mit Lilly geht eigentlich schon viel zu lange. Zu lange für eine Partybekanntschaft und zu lange, um sich irgendwann nicht doch zwangsläufig wieder beschissen zu fühlen. Er hasst es, den Gegenpart zu ihrem Helfersyndrom zu spielen, aber unterm Strich ist sie die Einzige, die sich noch für ihn interessiert. Vielleicht, weil sie jung und naiv ist und es nicht besser weiß. Oder weil er so ein verdammt toller Fang ist. Einen Augenblick überlegt er, das Teelicht gegen die Weihnachtskerze zu tauschen und entscheidet sich doch dagegen. Nein, das wäre ihr gegenüber nicht fair. Auch wenn es eigentlich seinem Sinn für Humor entsprochen hätte. Sie hatte das Gesteck auf der Arbeit mitgehen lassen, um "ein bisschen Frohsinn in seine triste Wohnung zu bringen". Den einzigen Frohsinn, den sie ihm brachte, waren ihre Brüste, aber das hätte er ihr so nicht sagen können. Und so ist das. Mit den Menschen. Man kann nicht sagen, was man denkt und nicht fühlen, was man sagt. Für das Gesteck hatte er sich wortreich bedankt und ihr versprochen, an Heiligabend an sie zu denken, wenn er die vierte Kerze anzündet. Seinem Versprechen ist er also nun mit diesem Gedanken an ihre ziemlich perfekten Möpse nachgekommen und so kann er sich nun voll und ganz seinem Ritual widmen. Als er sein Sweatshirt über den Kopf zieht, um anschließend nach einer halbwegs offenen Vene auf seinem linken Arm zu forschen, rinnt ihm bereits kalter Schweiß über die Schläfen. Es ist schon erstaunlich, wie exponentiell diese Affenkurve ansteigt. Erst ist es nur ein leises Klopfen an der Schädeldecke und plötzlich kann es dem Körper gar nicht schnell genug gehen. Das Chili in seinem Magen beginnt sich zu regen, während er immer wieder tastet und drückt. Verdammt, sein linker Arm war komplett dicht. "Na dann eben mit dem Stief-Händchen heute," murmelt er und begutachtet seinen rechten Arm. Auch diesen zieren zahlreiche Einstiche, doch es dauert nicht lange und er findet eine Stelle, die funktionieren wird. Mit zitternden Händen fummelt er das Alufolienpäckchen auseinander und zum Vorschein kommt ein kleiner krümeliger Klumpen, der in seinen Augen an Schönheit nicht zu übertreffen ist. Nicht einmal Lillys Brüste können da mithalten. Wie ein Laborant wirkt er, als er mit ernstem Blick die verschiedenen Substanzen zu seiner persönlichen Symphonie vereint. Liebevoll betrachtet den fertigen Löffel, der wie in perfekter Waage auf der zerkratzten Tischplatte liegt. Mit einer gekonnten Bewegung schlägt er die Kappe seines Zippos zurück und zündet das kleine Teelicht an. Wo ist sein Gürtel? Ernsthaft? Langsam wird er fahrig. Der Affe in seinem Inneren will seinen verdammten Zucker und er kann seinen scheiß Gürtel nicht finden? Das kann doch nur ein schlechter Scherz sein. Schließlich fällt sein Blick auf die verdreckten Schuhe, die er direkt neben der Wohnungstür ausgezogen hatte, um den Berliner Straßendreck nicht noch weiter in seinen vier Wänden zu verteilen. Mit einer ruppigen Bewegung zieht er einen der Schnürsenkel aus den Ösen und bindet sich damit mehr schlecht als recht den rechten Arm ab. Die Verpackung des Einwegbestecks knistert und zerreißt die die stickige Stille, die den Rest des kleinen Raumes jetzt füllt. "Same procedure as every year", kommentiert er den Moment und kocht die Lösung auf, bevor er sie aufziehen kann. Eine letzte Probe, ob sich noch Luft in seiner Mische befindet. Als er die Flüssigkeit betrachtet und dabei die Spritze vor sein Gesicht gen Zimmerdecke hält, muss er kurz grinsen. Er hätte ja auch Arzt werden können. Das Abi mit 1,2 hätte für den NC gereicht. Er und Arzt. Das Grinsen auf seinem Gesicht wird breiter, als er die Nadel ansetzt, anzieht und abdrückt. Er löst den Schnürsenkel und lässt sich in den Kissenberg hinter ihm sinken. Das Gluckern der Heizung lullt ihn ein und ihm ist, als ob jede seiner Zellen in die sanfte Umarmung einer Mutter zurücksinkt, die er so nie gehabt hat. Eine Mutter, die Gutenachtgeschichten vorliest und Geburtstagskuchen backt. Eine, die aufgeschürfte Knie heile küsst und den Elternsprechtag in der Schule besucht. Eine, die stolz auf ihn ist und ihm zeigt, wie sehr sie ihn liebt. Liebe. Liebe. Liebe. Er lässt das Wort in seinem Kopf hin und her rollen und betrachtet es von allen Seiten. Liebe. Es schmeckt so weich auf der Zunge. So rund. So warm. Liebe. Wie das wohl ist? Vielleicht morgen. Und bevor er einschläft denkt er an Lillys weiche, runde, warme ... ******************** Am 11.12.2018 um 17:47 von Fuxich auf StoryHub veröffentlicht (http://sthu.de/s=S%25myJ) ********************