Der Engel

Kurzbeschreibung:
Das Original dieser Geschichte gibt es hier:

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Am 4.8.2021 um 19:26 von BerndMoosecker auf StoryHub veröffentlicht

Eine Hauptverkehrsstraße trennt unsere Wohnung von einer kleinen Siedlung, die in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erbaut wurde. Es handelt sich um eine Siedlung, die aus kleinen Reihenhäusern besteht, die damals zur Zeit großer Wohnungsnot für jeweils zwei Parteien ausgelegt waren. Die Häuser sahen früher alle gleich aus. Der einzige Unterschied, die Häuser gibt es in drei verschiedenen Größen. Mit den Jahren hat sich dort vieles geändert. Fast alle Häuser werden heutzutage als Einfamilienhäuser genutzt, viele davon sind aufwendig energetisch saniert worden. Durch diese Sanierungsmaßnahmen macht die Siedlung auch nicht mehr diesen einheitlichen Eindruck vergangener Tage. Seit wir vor ungefähr vierzig Jahren in diese Gegend gezogen sind, gehen wir oft durch diese Siedlung, sie stellt neben der Fußgängerbrücke über die Autobahn die einzige direkte Verbindung zu den Spazierwegen des nahen Waldes her. Die Siedlung besteht aus einer einzigen Straße, die es während ich als Kind und Jugendlicher dort lebte, wohl noch nicht gab, zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. Nur das an der Ecke, gleich gegenüber der Kirche gelegene Forsthaus, das gab es damals schon. Ich weiß es nicht genau, aber ich vermute, die Straße wurde angelegt, um das Gelände für die Siedlung zu erschließen.

Wir beobachteten in den Jahrzehnten, die wir dort entlang gingen und gehen so manche Veränderung. In den ersten beiden Jahrzehnten tat sich wenig, nur in den beiden kleinen Ladenlokalen, die in die Siedlung integriert sind, tat sich ab und zu etwas. Eins der Geschäfte stand leer als wir hierhergezogen sind. Später gab es dort nacheinander einen Instrumentenhandel, das Büro eines Installationsbetriebs, danach das Büro eines freien Betriebswirts und dann residierte dort ein Reinigungsunternehmen. Heutzutage steht es wieder leer. Im Ladenlokal gegenüber befand sich damals eine Bäckerei, einmal wechselte der Besitzer, danach stand der Laden jahrelang leer. Im Zuge der Sanierung des Hauses, an das dieses Ladenlokal angebaut ist, wurde der Laden in ein Appartement umgebaut und auf das Flachdach kam eine Terrasse.

Die Veränderungen an den Häusern sind vielfältig, aber da vielleicht ein oder zwei Häuser im Jahr saniert werden, verändert sich das Bild der Siedlung nur langsam. Wird ein Haus an exponierter Stelle saniert, fällt das mehr auf. So wurde eins der Häuser, am Durchgang zum Wald vor einigen Jahren aufwendig und über einen langen Zeitraum saniert. Das Werk kann als gelungen beschrieben werden. Vom Stil der Zeit, in der das Haus entstand, blieb nichts übrig. Die Fenster wurden vergrößert. Die Dachgaube auf der Straßenseite ist um ein vielfaches gewachsen und statt der kleinen Dachgaube auf der Gartenseite, gibt es dort eine fast über die ganze Hausbreite reichende Dachterrasse. Der Vorgarten wurde arbeitssparend umgestaltet, heißt, statt des früher vor sich hin kümmernden Rasens, wurde heller Schotter aufgeschüttet (das kann man bedauern, aber ich verstehe Menschen, die sich für diese Art Vorgarten entscheiden). Darauf ein paar Pflanzkübel drapiert und fertig war der arbeitssparende Vorgarten. Zu Anfang des letzten Sommers geschah etwas Seltsames, auf dem Schotter stand eines Tages die Statue eines Engels. Eine tönerne Statue, der Engel sitzt auf einem vierkantigen Podest von vielleicht vierzig Zentimeter Höhe, der Engel selbst mag auch an die vierzig Zentimeter groß sein – vielleicht etwas weniger. Der unbekleidete Engel ist weiß angestrichen, das Podest ist von unbestimmbarer Farbe, es scheint aber einmal gelb oder orange eingefärbt gewesen sein. Die Statue und Podest bedeckenden Farben haben wohl schon viele Jahreszeiten hinter sich gebracht – verwaschen, wie sie sind. Das alles ist aber nicht das Besondere, einmal abgesehen davon, dass ich mir nicht vorstellen kann, warum sich jemand eine Engelsstatue in den Vorgarten stellt. Die Statue weist eine Besonderheit auf, die sie eigentlich für jede weitere Verwendung disqualifiziert, denn dem Engel fehlt der Kopf. Ein kopfloser Engel in einem Vorgarten, aus dessen linkem Flügel zudem ein großes Stück herausgebrochen ist, das regt meine Fantasie an.

Wie wurde der Engel um seinen Kopf gebracht? Da kann es eine ganz einfache Antwort geben, eine tönerne Figur braucht nur umfallen, der Kopf des Engels stößt an einen Stein und weg ist er, zersprungen in tausend Scherben. Meine Fantasie gaukelt mir aber etwas ganz Anderes vor. Der Engel stand direkt unterhalb der Stufen, die von der Terrasse hinunter in den Garten führen. Er stand da viele Jahre, die Frau des Hauses hatte ihn mit in die Ehe gebracht. Ab und zu, meist nach dem Winter, hatte die Statue einen neuen Anstrich erhalten. So verging Jahr um Jahr, die Kinder wurden geboren, die Kinder kamen in die Schule, die Kinder studierten und zogen aus. Der jüngste Sohn blieb länger, er hatte es sich angewöhnt, dem Engel all seine Sorgen anzuvertrauen, so auch seinen Liebeskummer, als er sich mit der hübschen Nachbarstochter zerstritt. Er zog aus, da er die räumliche Nähe zu seiner angebeteten nicht ertragen konnte und dabei hatte er das Gefühl, der Engel würde traurig hinter ihm her gucken. Das Haus war wieder so leer, wie zu Anfang, als die Hausbesitzer jung und verliebt waren. Die verwaisten Eltern, nennen wir sie der Einfachheit halber Friedel und Herbert, beschlossen sich noch einmal an die Arbeit zu machen und das Haus zu modernisieren. Der Zusammenhalt in der Siedlung war gut und so gab es etliche Nachbarn, die die vom Umbau gestressten unterstützten. Die Nachbarn, in deren hübsche Tochter sich Friedels und Herberts jüngster Sohn so unglücklich verliebt hatte, kochten oft mehr, als sie für sich selbst brauchten und brachten die Überschüsse zu den Nachbarn, deren Küche gerade in Trümmern lag. Ihre Tochter spielte gern die Botin, konnte sie sich doch so unauffällig nach ihrer verlorenen Liebe erkundigen. Friedel, die den Kummer der beiden kannte, sprach jetzt oft mit dem Engel. Einmal bekam die Botin ungewollt einen Teil des zwar einseitigen aber inbrünstigen Gesprächs mit. Sie lächelte verlegen und wollte sich unauffällig zurückziehen. Sie war aber schon bemerkt worden, wurde bei der Hand genommen und mit vor den Engel gestellt. Ich kenne eure Nöte, mein Kind, ich weiß der Engel kann nicht helfen, aber es kann nicht schaden mit ihm zu sprechen, meinte Friedel.

Die Zeit ging dahin, der Umbau wurde fertig, Winter und Sommer kamen und gingen im gewohnten Rhythmus. Der jüngste Sohn trauerte weiterhin um seine Liebe, das Mädchen weinte in den Nächten bittere Tränen in ihr Kopfkissen. Eines Morgens klingelte sie entschlossen bei den Nachbarn und bat verlegen darum den Engel in den Vorgarten stellen zu dürfen. Friedel, die die Tür geöffnet hatte, lachte und führte das Mädchen in den Garten zum Engel. Der Engel auf seinem Sockel war schwer, so schleppten ihn die beiden Frauen gemeinsam durch das Gartentor um das Haus herum. Beim Betreten des Vorgartens geschah das Unglück, auf dem Schotter knickte dem Mädchen ein Fuß um und es stürzte. Friedel konnte die Statue allein nicht halten und so entglitt sie ihren Händen. Schwer schlug der Engel mit dem Kopf voran auf dem Boden auf, der Kopf zersprang in tausende Teile.

Regungslos lag das Mädchen auf dem Schotter. Es blutete aus einer Kopfwunde, das rechte Bein wirkte unnatürlich verdreht. Besorgt beugten sich Friedel über die unglückliche und rief um Hilfe. Ein zufällig vorbeikommender Spaziergänger zog sein Smartphone aus der Tasche und rief den Rettungsdienst. Ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben wurde das Mädchen im Rettungswagen abtransportiert. Es erwachte im Krankenzimmer, ihr Blick fiel als Erstes auf ihr eingegipstes Bein, das aufgebockt am Fußende lag, so als gehörte es gar nicht zu ihr. Es dauerte einige Zeit, bis ihr bewusst wurde, was vorgefallen war. Erst dann merkte sie einen Druck auf ihrem rechten Arm, sie wandte ihren Blick dorthin. Sie erblickte eine Hand, die auf ihrem Arm ruhte. Ihr Blick glitt über die Hand zu deren Arm, darauf glitt ihr Blick weiter nach oben entlang einer Schulter und als sie noch weiter nach oben blickte, blickte sie in das Antlitz ihres Geliebten. Ein paar Wochen später gingen die beiden entlang der heimatlichen Straße, sie noch auf Krücken. An Friedels und Herberts Vorgarten angekommen, hielten sie an, betrachteten den kopflosen Engel, sie nahmen sich in die Arme und küssten sich, dabei fielen die Krücken auf den Asphalt, wobei sie einigen Lärm verursachten.

Autorennotiz:
Das Original dieser Geschichte gibt es hier:

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