Wintermorgen

Kurzbeschreibung:

Am 15.1.2017 um 10:54 von Sephigruen auf StoryHub veröffentlicht

Ich finde nicht die richtigen Worte, dir zu sagen, dass meine kleine Welt sich einst nur um dich drehte – und es manchmal auch heute noch tut.


Es war ein Samstagmorgen im Januar, vor dem Küchenfenster lag der vollkommen verschneite Garten und Arno saß zusammen mit seiner Tochter Mariam am Küchentisch. Zwischen seinen zu korrigierenden Deutschaufsätzen und ihren Biologiehausaufgaben standen zwei riesige Becher mit heißem Kakao. Sie hatten sich darauf geeinigt, alles Anstehende jetzt zu erledigen, um das Wochenende über Ruhe davor zu haben. Auch wenn das vernünftig war, verlangte es ihnen beiden doch einiges an Disziplin ab. Normalerweise tendierte Arno dazu, so etwas auf die Nacht zum Montag zu verschieben, und dann auch wirklich nur das, was bis Montag fertig zu sein hatte. Lena hatte sich beschwert, dass ihre Tochter langsam dieselben Tendenzen an den Tag legte, also wollten sie die Zeit, die sie hatten, nutzen, um das gemeinsam zu ändern.

  Über dem Aufsatz einer Schülerin, bei der er sich keine Gedanken über Rechtschreibung machen musste, schweiften Arnos Gedanken ab. Er dachte an den Anruf, den er in der Nacht zuvor erhalten hatte. Wie die Panik aus Tinas Stimme geklungen hatte, als sie ihn um Hilfe gebeten hatte. Mehr hatte sie nicht gesagt, was eigentlich los war und welche Art Hilfe sie brauchte. Aber sie hatte geweint, als er gesagt hatte, dass sie immer zu ihm kommen konnte, was auch immer es war.

  Davon hatte er Mariam nichts erzählt, weil es sie auf der einen Seite natürlich überhaupt nichts anging, auch wenn sie das vielleicht anders sah. Auf der anderen Seite war er sich aber auch vollkommen bewusst, dass sie Tina nicht besonders mochte. Sie wusste darüber bescheid, was zwischen ihm und ihr gewesen war, zwei Jahre zuvor, und machte sie nun dafür verantwortlich, dass Arno und Lena sich hatten scheiden lassen. Dabei war das vollkommener Blödsinn, die Sache war schon längst vom Tisch gewesen, als sie diesen Fehler begangen hatten. Ein Fehler war es nur gewesen, weil Tina verheiratet gewesen war und es noch immer war. Doch in Mariams Kopf war ein Bild von der Situation entstanden, von dem sie nur nicht mehr so leicht abzurücken bereit war.

  Zum Glück war sie vernünftig genug, dennoch höflich mit Tina umzugehen, die ja noch immer ihre Lehrerin war. Sie ließ sich nichts anmerken, aber er wusste trotzdem, wie es ihr damit ging.

 

  „Übersprungshandlung?“, fragte Mariam aus heiterem Himmel.

  Arno hob die Hand, las noch schnell den Aufsatz zuende und legte dann den Stift beiseite. „Stell dir vor, du sitzt in deinem Zimmer und weißt nicht, ob du lieber lesen willst oder fernsehen, also schnappst du dir den Gameboy und spielst etwas. So als grobes Beispiel. Treffender ist wohl der Vogel, der in seinem Nest sitzt und brütet. Das hat in dem Moment oberste Priorität für ihn. Aber wenn jetzt ein Räuber ankommt, dann müsste er flüchten. Nun ringen in seinem Kopf „brüten“ und „flüchten“, zwei Aktionspotenziale. Es gibt sozusagen einen Kurzschluss und es wird eine dritte Aktion durchgeführt, meinetwegen putzt er sich oder so.“

  Seine Tochter schaute ihn eine Weile einfach nur schweigend an. „Es stimmt, was die Leute über dich sagen“, meinte sie schließlich und schrieb etwas in ihr Heft, in ihrer geschwungenen Schrift, die der ihrer Mutter so ähnlich war. Alles an ihr war ihrer Mutter ähnlich, ihre blonden Locken, die Art, wie sie sie alle nach einer Seite über die Schulter legte, ihre Vorliebe für weite Kleidung – wenn sie hier war, natürlich seine. Die weniger schmeichelhaften Dinge hatte sie hingegen von ihm geerbt.

  „Was davon?“, fragte er nur und stützte den Kopf auf die Hand. Es wurde viel erzählt, unter Kollegen und Schülern, Haarsträubendes und Schmeichelndes, das wenigste davon allerdings wahr.

  „Dass du eine Antwort auf alles hast“, antwortete sie und nahm ihren Becher Kakao in beide Hände. „Ich hätte nicht gedacht, dass du das jetzt aus dem Stegreif weißt.“

  Er wollte sagen, dass es sich nun einmal auszahlte, jahrelang mit einer Biologielehrerin verheiratet zu sein. Aber dann würde sie fragen, warum er nicht einfach wieder nachhause kam. Die offensichtlichen Gründe, dass ihre Mutter wieder verheiratet war und sie nicht ohne Grund auseinander gegangen war, interessierten sie dabei überhaupt nicht. „Ich weiß einfach alles“, antwortete er stattdessen dasselbe, was er allen antwortete, die das zu ihm sagten. Es kam öfter vor, manchmal höhnisch und manchmal dankbar. Dass Mariam zur letzteren Kategorie gehörte, beruhigte ihn. Er war allein schon froh darüber, dass sie nach wie vor gern zu ihm kam, dass die Pubertät nicht zu sehr mit ihr durchgegangen war und dass sie ihn dem neuen Mann ihrer Mutter stets vorzog, auch wenn der kein schlechter Kerl war.

  Sie hob die Brauen. Aus dem Alter, dass sie ihm das vorbehaltlos geglaubt hätte, war sie mit ihren fünfzehn Jahren gewiss schon eine ganze Weile heraus. „Dann weißt du bestimmt auch, was Theo mir gestern angeboten hat, oder?“

  Wirklich wissen konnte er das natürlich nicht, aber er konnte es sich denken. „Er hat dich gefragt, ob ihr etwas unternehmen wollt, weil er gern mit dir zurechtkommen würde und darum nett sein wollte“, riet er.

  Mariam schnalzte mit der Zunge. „Es ist kaum zu fassen“, sagte sie. „Auch kaum zu fassen, dass gerade du ihn verteidigst. Weißt du, er hat gesagt, er würde mit mir einkaufen fahren, nächste Woche, wenn ich wieder daheim bin. Weil ich ja langsam mal wieder ein paar Klamotten bräuchte. Aber was sollen denn die Leute denken, wenn ich mit einem wie ihm unterwegs bin? Er ist ein Langweiler.“

  Mit einem Blick brachte er sie zum Schweigen, bevor sie noch mehr sagen konnte, was sie zweifelsfrei wollte. „Mari, bitte. Du bist doch kein trotziges Kind mehr, oder? Versuch doch wenigstens, mit ihm klarzukommen. Sei froh, dass er überhaupt so nett zu dir ist.“

  Natürlich war das nicht, was sie hatte hören wollen. Viel eher hatte sie sich wohl gewünscht, dass er auf ihrer Seite war. Das war er auch, immer, aber nur dafür ließ er die Vernunft nicht fahren. „Ja, ja, ich weiß ja, das sagt Mama auch immer… Aber ich will trotzdem nichts mit dem machen… Darum müssen wir gleich am Montag in die Stadt fahren. Hab auch Geld von Mama bekommen, musst dir also keine Sorgen machen, ich würde dich arm machen.“

  Er lächelte. Freilich erfüllte es ihn mit einer Art Stolz, dass sie keine Angst hatte, mit ihm gesehen zu werden. „Können wir gern machen. Wenn du mir versprichst, dich ein bisschen weniger zu benehmen, als wärst du fünf.“

  Sie streckte ihm die Zunge raus, wie um noch ein bisschen kindischer zu wirken. „Ja, Mann, ich versprech’s dir, okay?“ Wahrscheinlich musste er schon dankbar dafür sein, dass sie nicht mehr versuchte, Theo aus dem Haus zu ekeln. Am Anfang hatte sie wirklich alles darauf angelegt und es hatte Arno einige ernste Worte gekostet, das zu unterbinden. Er hatte sich überhaupt nicht gut dabei gefühlt, sie auszuschimpfen, wie es immer gewesen war. Für so was war immer Lena zuständig gewesen, aber die hatte in dieser Angelegenheit nichts ausrichten können.

  Aus irgendeinem Grund begann sie, zu kichern. „Ich muss mir nur grad vorstellen“, sagte sie auf seinen fragenden Blick hin, „wie ein Vogel sich eifrig in seinem Nest putzt, während unter dem Baum eine Katze lauert. Danke für die Hilfe.“

  Er war ihr dankbar dafür, dass sie von diesem ernsten Thema weggekommen war, und wollte sich gerade wieder dem zweiten Durchlauf des Aufsatzes widmen, als es an der Tür klingelte.

  Mariam drehte sich auf dem Stuhl herum und schaute zur Haustür. „Wer kann das denn sein um die Zeit?“, fragte sie und wollte schon aufstehen.

 

  Er hatte einen Verdacht, deswegen hielt er sie zurück, als er an ihr vorbei ging. „Ich mach schon auf.“ Als er die Tür geöffnet hatte, fand er da genau, wen er erwartet hatte. Es war Tina, die Wangen gerötet von der Kälte, ihre Mütze war mit Schnee bedeckt und einzelne Haarsträhnchen waren gefroren. Aus irgendeinem Grund hatte sie eine große Reisetasche bei sich. „Hallo“, hauchte sie und lächelte schwach.

  „Hallo.“ Er trat zur Seite und ließ sie in den Flur kommen, hinaus aus der Kälte, und nahm ihr die Tasche ab.

  „Entschuldige, dass ich so hereinplatze“, sagte sie und klopfte sich die Mütze ab, schaute sich im Flur um. „Oh, du hast jemanden hier?“ Sie klang unsicher, als würde sie gleich wieder zur Tür hinaus verschwinden wollen.

  „Mari ist hier“, sagte er und deutete mit dem Daumen über die Schulter zur Küche. Die Tür hatte er geschlossen, aber er war sicher, dass sie bereits mitbekommen hatte, wer der unangekündigte Besuch war. Zumindest unangekündigt für sie, Arno hatte sich etwas in der Art schon gedacht, nach diesem Telefonat. Aber den Grund kannte er noch immer nicht.

  „Oh… Dann geh ich besser wieder, ich wollte wirklich nicht stören…“ Sie drehte die Mütze in ihren verkrampften Händen und wich seinem Blick aus.

  „Du störst nicht“, versicherte er ihr. „Was führt dich her?“ Er half ihr aus dem Mantel und klopfte auch von diesem den Schnee ab.

  Noch immer wich Tina seinem Blick aus, rieb sich die Hände und schlüpfte aus ihren Schuhen und in die Pantoffeln, die immer bereit standen. „Ich… Ich muss mit dir reden.“

  „Und das ziemlich lang, wie’s aussieht.“ Er hob ihre Tasche wieder vom Boden auf. „Am besten gehen wir in die Küche. Möchtest du einen Kaffee? Tee? Kakao? Hast du schon gegessen?“

  Sie nickte, als sie an ihm vorbei ging. „Ein Kakao wäre nicht schlecht… Ich hab eine Weile vor dem Haus gestanden, weil ich mir nicht sicher war, ob ich wirklich herkommen sollte.“

  „Du bist unmöglich. Bei dem Wetter hättest du dir sonst was holen können.“ Er kam sich vor, als würde er mit einem Kind reden, das ohne Jacke nach draußen gegangen war, und es gefiel ihm nicht. Doch mit Tina passierte ihm das öfter, obwohl sie im letzten Jahr dreißig geworden war, war sie dem noch nicht entwachsen, in manchen Belangen furchtbar unselbstständig und unsicher. Andererseits jedoch war sie ein wunderbarer Mensch, immer guter Laune und bestrebt, andere daran teilhaben zu lassen. Darum wunderte er sich noch intensiver darüber, was sie nun in diesen Zustand versetzt haben konnte.

  Sie blieb vor der Küchentür stehen und lächelte, klemmte sich die Hände unter die Achseln. „Keine Sorge, ich war seit Jahren nicht mehr krank.“

  „Lass es nicht drauf ankommen. Rein.“ Er öffnete die Küchentür und schob sie sanft hinein. „Sieht vielleicht ein bisschen chaotisch aus, stör dich nicht dran.“

 

  Am Tisch stand Mariam und war gerade dabei, ihre Hälfte der Platte aufzuräumen, stapelte ihre Zettelwirtschaft und klemmte alles zwischen die Buchseiten. Ihr Becher stand schon leer neben der Spüle. „Hallo.“ Sie drehte sich um. Als sie die Tasche in Arnos Hand sah, bemerkte er nur für den Bruchteil einer Sekunde, wie ihr Lächeln gefror. „Ich wollte grad gehen und fürs Mittagessen einkaufen“, sagte sie und ging an ihnen vorbei. „Papa, ich glaub, ich brauch dafür ein bisschen Geld.“

  Das war eine ungesagte Aufforderung zu einem Gespräch unter vier Augen, das hatte sie von ihrer Mutter gelernt. Arno nickte und stellte Tinas Tasche auf einen der Stühle, zog ihr einen anderen zurück. „Setz dich bitte, ich bin gleich wieder da.“ Im Vorbeigehen nahm er eine Tasse aus dem Schrank und die Milch aus dem Kühlschrank. Das Kakaopulver stand noch auf der Arbeitsplatte.

  Als er alles vorbereitet hatte, ging er nach oben in Mariams Zimmer, wo sie gerade vor dem Spiegel saß und sich die Haare zusammenband.

  „Was wird das?“, zischte sie. „Warum taucht sie hier auf, mit einer Reisetasche? Will sie einziehen, oder was?“

  „Ich habe keine Ahnung“, gestand er. „Sie hat letztens angedeutet, dass sie meine Hilfe braucht, aber mehr hat sie nicht gesagt.“

  „Soll ich lieber heimgehen?“ Sie schaute ihn aus dem Augenwinkel an, auf die Art, wie es nur Frauen konnten. Er wusste, wenn er jetzt etwas Falsches sagte, würde sie ihm das über lange Zeit übel nehmen.

  „Natürlich nicht. Warte doch erst mal ab, was überhaupt los ist. Ich werd mit ihr reden und dann sehen wir weiter.“ Er reichte ihr einen Zwanziger. „Kannst den Rest behalten.“

  Mariam nahm das Geld nur zögerlich. Sie war nicht verschwenderisch erzogen worden und das hier war mehr, als sie normalerweise im Monat bekam. „Schweigegeld, oder was?“, fragte sie mit einem frechen Lächeln.

  „Raus, bevor ich es mir anders überlege.“ Er verließ ihr Zimmer. Noch auf der Treppe überholte sie ihn und sprang die letzten beiden Stufen hinunter. „Und zieh dir ne Jacke an.“ Er hatte ihr schon die kurzen Hosen nicht ausreden können, die ihm etwas wenig erschienen, obwohl sie Strumpfhosen und Stulpen trug. „Und pass auf der Straße auf.“

  „Ist ja gut“, rief sie und da konnte er schon die Haustür zufallen hören.

  Bevor er in die Küche ging, vergewisserte er sich, dass ihre Jacke, Schal und Mütze fehlten.

 

  Tina saß noch am Tisch, wärmte sich die Hände an ihrem Becher Kakao und betrachtete die Aufsätze, die noch immer über die halbe Tischplatte verteilt lagen. Arno setzte sich neben sie und räumte alles zusammen. Er war so gut wie durch und um den Rest konnte er sich auch später noch kümmern.

  „Was ist los?“, fragte er, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten. „Gibt es daheim Probleme?“ Das konnte er sich eigentlich nicht vorstellen. Werner, ihr Mann, war ein ruhiger Typ, immer freundlich. Er hatte ihr damals verziehen, was eigentlich schon alles sagte, was man über ihn wissen musste. Einer wie er machte keine Probleme.

  „Ich weiß nicht…“, sagte sie leise, den Blick auf ihre Tasse gesenkt. „Es fühlt sich alles nur noch falsch an. Es geht schon seit einigen Wochen so, aber gestern Abend ist es mir erst richtig klar geworden.“

  „Wovon sprichst du?“

  Sie schaute ihn an, mit großen Augen, als hätte sie für einen Moment vergessen, dass er es war, der hier saß. „Von einfach allem“, sagte sie. „Es fühlt sich falsch an, abends neben ihm einzuschlafen und morgens an seiner Seite aufzuwachen. Mit ihm am Tisch zu sitzen und… Ich bin ein furchtbarer Mensch.“

  „Nein, das bist du nicht.“ Arno legte den Arm auf die Rückenlehne ihres Stuhls, traute sich in diesem Moment nicht mehr. Er fragte sich, wie viel ihres Gedankengangs er da nicht mitbekommen hatte.

  „Doch!“, entgegnete sie heftig und schaute ihm jetzt in die Augen, er sah, wie sich die Tränen in ihren sammelten. „Er ist so gut zu mir, verständnisvoll und er liebt mich so sehr, aber ich denke die ganze Zeit nur…“ Sie fing an, zu weinen.

  „Nicht doch.“ Er konnte nicht mehr anders, als sie in den Arm zu nehmen, ihre Tränen machten das mit ihm. Mit der freien Hand zog er ein Taschentuch aus der Packung, die auf dem Tisch lag. Er musste sie gar nicht darum bitten, mehr zu sagen, denn ihm war alles klar. Erst einmal musste sie sich beruhigen, dann konnte er sie darauf ansprechen.

  Sie legte den Kopf in seine Halsbeuge und er spürte, wie sie die Augen zusammenkniff. „Entschuldige“, nuschelte sie und wischte sich mit dem Taschentuch übers Gesicht.

  Er schüttelte den Kopf und strich ihr mit dem Kinn über den Scheitel, wobei ihre Haare sich in seinen Bartstoppeln verfingen. „Schon gut. Lass dir Zeit.“

  Sie saßen da eine ganze Weile, und er fragte sich, wie lang Mariam wegbleiben würde. Aller Wahrscheinlichkeit nach ahnte sie, was hier in etwa los war, und ließ sich ausreichend Zeit. Würde nicht in die Küche kommen, wenn sie zurück war, sondern einfach alles in den Flur stellen und in ihr Zimmer gehen. Ihm war klar, wie sehr er sie verletzte, und es tat ihm unendlich leid, aber er konnte nicht anders.

 

  Tina löste sich nicht von ihm, auch als sie sich zumindest teilweise beruhigt hatte. Er streichelte ihren Arm, spürte ihr Herz nach wie vor heftig schlagen und sein Blick hing an seinem leeren Becher. „Warum bist zu gerade zu mir gekommen?“, fragte er und seine Stimme klang seltsam hohl in seinen eigenen Ohren. Er fühlte sich wie erschlagen durch die Bedeutung der Worte, die sie nicht einmal hatte aussprechen müssen.

  „Weil du immer weiter weißt“, sagte sie leise in flehendem Ton. „Weil du selbst zu mir gesagt hast, dass ich immer zu dir kommen kann.“

  „Aber meinst du nicht, dass ich gerade in diesem Belang der Falsche bin?“ Von den meisten Problemen konnte er sich leicht distanzieren und sie nüchtern betrachten, aber hier würde ihm das wohl kaum möglich sein. Er merkte es in diesem Moment, als er sie hielt und ihren Geruch nach Pfirsich einatmete. Einmal hatte er nach der Vernunft entschieden, aber er war sich nicht sicher, ob er das auch ein zweites Mal konnte.

  „Wer ist sonst der Richtige, wenn nicht du?“, fragte sie. „An wen soll ich mich wenden? Außer dir und mir geht das niemanden etwas an.“

  „Ganz so ist es nicht“, bemerkte er. „Du hättest zuerst mit ihm darüber reden sollen.“

  Tina setzte sich auf und schaute ihn an, ihre Augen vom Weinen gerötet und die dunklen Locken ganz zerzaust und noch ein bisschen schwer von der Nässe. „Ich weiß. Aber ich kann nicht. Im Moment will ich überhaupt nicht mit ihm reden… Aber wie soll ich ihm das beibringen? Ich will ihn nicht verletzen, aber ich will ihn auch nicht belügen…“

  „Tina.“ Er schob die leeren Becher weg und nahm ihre Hand, streichelte mit dem Daumen über ihren Handrücken. „Es wird vorbeigehen. Es geht vorbei, genau wie…“

  Ihre Augen weiteten sich. „Es ist nie vorbei gegangen“, sagte sie und klang plötzlich fest, von den eigenen Worten überzeugt. „Ich konnte mir das einreden und ihm auch, aber eigentlich… Ich bin so mies.“

  „Sag das nicht.“ Er legte die Hand auf ihre Schulter. „Du bist kein schlechter Mensch. Jeder macht einmal so etwas durch.“ Es war genau dasselbe gewesen, das schließlich zur Scheidung mit Lena geführt hatte, allerdings von beiden Seiten her. Und sie verstanden sich nach wie vor ausgezeichnet, weswegen es wohl besser auf diese Weise war als nach weiteren Jahren frustrierenden Ehelebens. Doch das musste er Tina nicht sagen, sie wusste das alles.

  Sie sagte nichts, senkte nur den Blick und seufzte.

  „Du kannst eine Weile bleiben“, bot er an und stand auf, räumte die Becher in die Spülmaschine. Das war es doch, worum sie ursprünglich hatte bitten wollen, sonst hätte sie diese gepackte Tasche nicht dabei. Dass es ein Fehler war, gerade bei ihm zu bleiben, war ihr selbst wohl genauso bewusst wie ihm. Doch jedem anderen hätte sie sich erklären müssen, wovor sie sich mit Sicherheit fürchtete. „Wenn Mari nichts dagegen hat, versteht sich.“

 

  Er hatte irgendetwas erwartet, einen zustimmenden Laut von ihr, aber da kam nichts. Doch als er sich umdrehte, stand sie vor ihm. Legte die Hände in seinen Nacken, zog seinen Kopf ein Stück zu sich herunter, überbrückte die letzte Distanz dadurch, dass sie sich auf Zehenspitzen stellte.

  Der Gedanke daran, sich zu wehren, kam gar nicht erst auf. Es hatte niemals aufgehört. Wenn er ganz ehrlich war, dann auch für ihn nicht, er hatte es nur immer wieder zurückdrängen können, wenn die falschen Gedanken aufgekommen waren, wie die Vernunft es ihm geboten hatte. Aber nun?

  Er merkte erst, was er gerade im Begriff war zu tun, als er sie schon auf den Tisch gesetzt hatte. Er konnte das nicht, richtete sich ruckartig auf und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. „Tina, nicht.“

  Sie atmete scharf ein, hielt sich die Hände vor den Mund, realisierte wohl ebenfalls erst in diesem Moment, was gerade beinah passiert wäre. Schon wieder. „Arno, ich…“

  „Nicht.“ Er legte die Hände auf ihre Hüften, seine Stirn an ihre. „Die ganze Zeit war es in Ordnung, und jetzt?“ Es war anfangs nicht leicht gewesen, sie immer wieder zu sehen, aber es war immer einfacher geworden. Sie war wieder zu ihrer alten Form und Größe gelangt, nach einer Woche des Schocks. Er wollte das ihr, Werner und auch sich selbst nicht noch einmal antun.

  Vorsichtig legte sie die Arme um ihn, drückte den Kopf gegen seine Brust und verlor den Kampf gegen die Tränen ein weiteres Mal. „Es war nie in Ordnung“, schluchzte sie.

  „Nicht weinen.“ Er streichelte ihre Haare, atmete einmal tief durch, musste sich auch selbst erst wieder beruhigen. „Es kommt alles wieder in Ordnung, aber du solltest jetzt nichts überstürzen. Mach dich nicht unglücklich.“

  Sie machte einen Laut, der wie ein missglücktes, in einem Schluchzer untergehendes Lachen klang. „Wie kann ich noch unglücklicher werden als ich schon bin? Ich habe einen Mann, der mich liebt, und wie danke ich es ihm?“

  „Hör auf.“ Er wusste nicht, warum es ihn plötzlich so sehr störte, was sie da sagte. Oder, er wusste es doch, wollte es sich aber nicht eingestehen. „Du musst mit ihm darüber sprechen, da führt kein Weg dran vorbei.“

 

  Wie aufs Stichwort klingelte es an der Tür und es war klar, wer das sein musste. Mariam würde nicht klingeln, sie hatte einen Schlüssel. Arno ließ Tina los, sie hielt seine Hand fest, wollte ihn nicht gehen lassen. Erst jetzt bemerkte er, was sie da trug, einen Norwegerpullover, der ihr viel zu weit war. Er erkannte ihn sofort, und sein erster Gedanke war, ob Mariam ihn wohl ebenfalls erkannt hatte.

  „Ich bin nicht da“, sagte sie trotzig.

  Arno löste ihre Hand von seiner. „Ich werde nicht lügen“, stellte er fest und schloss die Küchentür hinter sich.

  Vor der Haustür stand natürlich Tinas Mann, und er war nicht dumm. Seinem Blick war zu entnehmen, dass er die dunklen Flecken auf Arnos Pullover als das erkannte, was sie waren. „Lass mich rein, ich will mit ihr reden.“ Er nahm beide Eingangsstufen auf einmal und war schon im Begriff, an ihm vorbeizustürmen. Das war gar nicht seine Art, aber die Situation tat so etwas mit einem, das hatte er ja selbst gerade erst feststellen dürfen.

  Arno legte eine Hand an den Türrahmen und versperrte ihm den Weg. „Dir auch einen schönen guten Morgen, Werner.“

  „Ach, hör doch auf!“, fuhr Werner ihn an. „Spar dir die Höflichkeiten! Was soll an dem Morgen gut sein? Ich wache auf und finde einen Zettel auf dem Küchentisch, dass sie eine Pause braucht.“ Er ging einen Schritt zurück. „War klar, dass sie gerade hierher kommt, aber dann soll sie wenigstens mit mir reden, anstatt sich zu verkriechen.“

  „Sie will im Moment nicht mit dir reden“, entgegnete Arno ruhig, weil irgendjemand hier ja die Ruhe bewahren musste. Im Moment war er überhaupt nicht dazu aufgelegt, sich auf sinnlose Streitereien einzulassen. Im Grunde war er das nie und Werner sollte das auch wissen. „Und das kann ich auch vollkommen nachvollziehen, so wie du hier auftrittst. Fahr am besten wieder nachhause und komm zur Ruhe, Tina wird sich schon melden, wenn sie dazu bereit ist.“

  „Ich soll einfach wieder nachhause gehen?“ Werner ballte die Hände in seinen Jackentaschen zu Fäusten. „Ich soll daheim rumsitzen, während ihr…“ Anstatt den Satz zu beenden, presste er nur die Kiefer zusammen. Aber die Wut in seinen Augen war deutlich genug.

  „Während wir was?“, fragte Arno, mittlerweile ebenfalls leicht gereizt. Ob es wegen der Unterstellung war oder der Tatsache, dass beinah Wirklichkeit geworden wäre, war ihm nicht ganz klar, spielte aber auch keine Rolle. „Ich denke wirklich, du solltest erst mal wieder zur Vernunft kommen. Mach dir mal um deine Frau keine Sorgen, die ist hier gut aufgehoben.“ Erst nachdem er das ausgesprochen hatte, wurde ihm bewusst, was das für eine Provokation war. Getroffen hatte sie ebenfalls, wie Arno daran erkennen konnte, wie Werner die Augen zusammenkniff, und er war ein wenig sauer auf sich selbst dafür, dass ihn das mit einer gewissen Genugtuung erfüllte.

  Für einen Moment sahen sie sich einfach schweigend an. Irgendetwas wollte Werner sagen, es wäre mit Sicherheit nicht besonders nett gewesen, aber wie auch immer, er kam nicht dazu. Es knirschte im Schnee und an ihm vorbei schlüpfte Mariam, in der Hand einen Beutel vom Supermarkt.

  „Hallo“, sagte sie, ihre Laune war aus irgendeinem Grund glänzend, und sie stellte sich neben ihn in den Türrahmen, schmiegte sich in ihrer eisig kalten Jacke an ihn. Sie zitterte, würde aber unter Garantie verneinen, wenn man sie fragte, ob ihr kalt war. „Hab Gehacktes gekauft. Du weißt, was du zu tun hast.“

  „Danke.“ Arno legte einen Arm um sie und nahm ihr den Beutel ab.

  Sie grinste ihn an, was ihm bewies, dass sie verstanden hatte, dass er nicht nur den Einkauf gemeint hatte. Sie hatte die bemerkenswerte Fähigkeit, immer dann passend aufzutauchen, wenn es galt, eine Situation zu entschärfen.

  „Was ist mit ihr los?“, fragte Werner, tatsächlich wieder ruhiger, auch wenn man hörte, wie sehr er sich dazu zwingen musste. „Kannst du mir wenigstens das verraten?“

  „So genau weiß ich das auch nicht“, gestand er, versuchte, es harmlos auszudrücken. „Und ich schätze, sie selbst genauso wenig. Aber ich geh davon aus, dass sich das wieder gibt, es braucht nur etwas Zeit.“ Er selbst hatte nicht so arge Mühe, einen versöhnlichen Ton anzuschlagen.

  „Dann geh ich mal besser.“ Werner wandte sich ab, hob nur die Hand zum Abschied, was mehr aussah, als würde er abwinken.

  „Wiedersehen!“, rief Mariam ihm hinterher und langsam fragte Arno sich wirklich, wen oder was sie im Laden gesehen hatte, dass sie jetzt plötzlich so fröhlich war.

 

  Arno schloss die Tür und fiel im Umdrehen beinah um, weil seine Tochter es für nötig hielt, sich an ihm festzuhalten, während sie die Schuhe auszog. Natürlich, ohne ihm bescheid zu sagen. „Du grinst wie ein Honigkuchenpferd. Aus irgendeinem bestimmten Grund?“

  Sie streckte ihm die Zunge raus, grinste dabei aber immer noch und schwankte ein bisschen, weil sie offensichtlich Probleme mit einem Reißverschluss hatte. Er hielt sie mit beiden Händen fest, sodass sie etwas sicherer stand. „Na ja, nicht wirklich. Aber die Frau an der Kasse hat irgendwie gedacht, ich hätte ihr nen Fünfziger gegeben und wollte mir total viel Wechselgeld geben. Als ich sie darauf aufmerksam gemacht hab, hat sie sich an die tausendmal bedankt.“

  „Und natürlich hast du jetzt die ganze Zeit nur drauf gewartet, mir das zu erzählen“, vermutete er und sie nickte eifrig. Das sah ihr ähnlich, und sicher würde sie es noch jedem mitteilen, mit dem sie heute noch telefonierte oder sich schrieb. „Das war richtig von dir. Hast es dir erst recht verdient, das Wechselgeld zu behalten.“

  Mariam zog ihr Portmonee aus der Manteltasche, bevor sie ihn an den Haken hängte. „Bist du sicher? Hab keine fünf Euro ausgegeben, also…“

  „Kusch.“ Er schob sie zur Treppe. „Jedes normale Mädchen in deinem Alter hätte mir erzählt, dass gar kein Wechselgeld mehr übrig ist, und noch mehr Geld verlangt. Was haben wir falsch gemacht?“

  „Vielleicht haben ja alle anderen was falsch gemacht.“ Sie setzte sich auf die dritte Stufe und sah zu ihm hoch. „Willst du mir vielleicht ein bisschen mehr erzählen?“

  „Nein, Mari, das will ich nicht. Wir reden nachher drüber, ja? Ich werd dich rufen, wenn wir so weit sind.“

  Sie schaute ihn ernst an, beinahe tadelnd. „Na schön, aber ich darf dir dann bei den Buletten helfen.“

  Er nickte. Wenn es nur das war. „Musst mir nur versprechen, nicht alles schon roh zu essen.“

  „Ach, ich doch nicht.“ Sie ging nach oben und ließ ihn im Flur stehen.

 

  In der Küche saß noch immer Tina auf dem Tisch, knetete die Hände auf ihrem Schoß und starrte auf das Muster des Fußbodens. Wenigstens weinte sie nicht mehr. „Was hat er gesagt?“, wollte sie wissen, als Arno wieder vor ihr stand, die Hände auf ihren Schultern.

  „Nicht viel. Natürlich ist er sauer, weil du einfach gegangen bist, ohne bescheid zu sagen. Weil du ausgerechnet hierher gekommen bist. Sch.“ Er legte ihr einen Finger auf die Lippen, als sie etwas erwidern wollte. „Schon gut. Besser, du bist hier als allein in irgendeinem Hotel. Er hat gemeint, dass er mit dir reden will. Sch.“ Wieder brachte er sie zum Schweigen. „Er hat damit vollkommen recht. Aber ich habe ihm gesagt, dass du Zeit brauchst. Und genau das wirst du tun. Du bleibst eine Weile hier, bis du dir darüber im Klaren bist, was du willst. Dann rufst du ihn an oder lässt ihn herkommen oder gehst nach hause. Wie auch immer, du sprichst dich mit ihm aus. Du kannst dich nicht die ganze Zeit verstecken.“

  Von unten her sah sie ihn an, verletzt, ein bisschen beleidigt vielleicht. Aber sie sagte nichts darauf, wahrscheinlich aus Trotz und weil sie doch erkannte, dass er recht hatte.

  „Wie stellst du dir denn sonst vor, wie die Sache weitergehen soll?“ Er stützte die Hände links und rechts von ihr auf der Tischplatte ab, beugte sich zu ihr hinunter.

  Tina wich seinem Blick aus. „Ich weiß doch auch nicht… Am liebsten würde ich… Im Moment weiß ich nur, dass ich nirgendwo lieber sein würde als hier bei dir.“ Sie schaute ihm jetzt ins Gesicht, legte ihm die Arme auf die Schultern und vergrub die Finger in seinen Haaren. „Was ist mit dir? Was willst du?“

  Er war sich überhaupt nicht sicher, was er darauf antworten sollte. Es gab eine ehrliche Antwort und eine vernünftige. Zwei Jahre zuvor hätte er ohne zu zögern ehrlich geantwortet, aber nun? „Ich? Ich spiele hier die kleinste Rolle. Über mich kannst du dir Gedanken machen, wenn du alles mit deinem Mann geklärt hast.“

  Sie schüttelte den Kopf, schaute ihn mit großen Augen an. „Sag doch so was nicht. Wenn du mir nicht so wichtig wärst, wie du nun einmal bist, wäre ich doch nicht in diesem Schlamassel.“ Sie küsste ihn auf die Wange, ganz zart, vorsichtig, als wüsste sie nicht, wie weit sie gehen konnte. Beinah war sie damit schon zu weit gegangen. Zu weit in eine Richtung, in die er ihr gar nicht mehr hatte erlauben wollen, zu gehen, aber an diesem Tag hatte er es schon einmal zugelassen.

  „Tina, hör mal.“ Er seufzte. In diesem Moment hätte er die Vernunft gern hinten angestellt, aber er konnte es nicht. Aber belügen konnte er sie genauso wenig. „Du weißt, dass ich immer für dich da bin, auf jede Weise, die du dir wünschst. Ich weiß, was ich will und du genauso. Aber mit dir selbst bist du dir nicht im Reinen. Versuch es gar nicht erst, ich weiß, dass es so ist. Was sagt dir, dass du es nicht schon bald bereuen wirst? Es ist falsch, das wissen wir beide.“

  Sie presste die Lippen zusammen, ihr Kinn zitterte. Er hoffte, dass sie nicht schon wieder anfangen würde, zu weinen. Dadurch würde es nur unnötig schwerer. „Fühlt es sich für die falsch an?“, fragte sie. „Vielleicht ist es auch das Richtige unter den falschen Umständen. Ich habe es dir damals gesagt und seit damals hat sich nichts geändert. Überhaupt nichts.“

  Er richtete sich auf, nahm ihr Gesicht in die Hände. Sie log ihn nicht an, das konnte er sehen. In diesem Moment wussten sie beide, dass sie ihn hatte. Nur für einen letzten Versuch reichte es noch. „Willst du wirklich, dass das alles von vorn anfängt? Willst du das alles noch einmal durchmachen?“ Es hatte sie schon einmal kaputt gemacht, und er wollte sie nicht wieder so sehen müssen. Das, was unter ihrer immer fröhlichen Fassade gelauert hatte und sie langsam zerfressen hatte, bis alles zusammengebrochen war.

  Tina lächelte. Sie lächelte eines dieser Lächeln, die nichts weiter als ehrlich waren, die von Herzen kamen, und die einen vollkommen einnahmen, die keinen Raum für Zweifel ließen. „Ja, ich will, dass es von vorn anfängt“, sagte sie mit fester Stimme. „Aber diesmal mit anderem Ende.“