Die Grenzen der Moralität - Was darf Kunst?

Am 10.11.2019 um 19:11 von MichaelLutz auf StoryHub veröffentlicht

Die Frage, die diesem Essay zugrunde liegt, ist uralt. Über die Sinnhaftigkeit der Kunst ist seit Anbeginn ihrer Existenz immer wieder philosophiert und der Standpunkt stets aufs Neue einer kritischen Überprüfung ausgesetzt worden. Wann begann der Mensch überhaupt, sich künstlerisch zu betätigen? Sicherlich ist diese Frage nicht mit exakten Daten zu beantworten, allgemein lässt sich jedoch feststellen, dass der Mensch zu diesem Zeitpunkt offenbar so weit entwickelt sein musste, dass zumindest sein Überleben gesichert war und er nicht sein komplettes Dasein damit verbringen musste, selbiges durch Nahrungsaufnahme, Flucht und Fortpflanzung zu gewährleisten. Primitive Höhlenmalereien und Musikinstrument ähnliche Objekte, die gefunden werden konnten, geben einen ungefähren Aufschluss darüber, wo die Wurzeln der Kunst liegen. Mit dem reinen Überleben hatte dies natürlich nichts zu tun. Die künstlerische Betätigung war ein Luxus, da der Aktive seine Zeit mit der Ergründung seiner seelischen Abgründe verbringen konnte und nicht darauf angewiesen war, seine Selbsterhaltung durchzuführen.
Worüber sich unsere Ahnen vermutlich nicht den Kopf zerbrochen haben, waren die Konsequenzen ihrer künstlerischen Betätigung, dieser Ausdrucksform von Gefühlen. Mit den Folgen sollten sich spätere, zivilisiertere Gesellschaften dafür umso intensiver auseinandersetzen. Die Kunst wurde hinterfragt, ihr Sinn in Frage gestellt, überlegt, welchem Zweck sie überhaupt dienen konnte. Bis zum heutigen Tag hat sich nichts daran geändert. Die Bewertung von Kunst ist jedoch im Laufe der Zeit immer schwieriger geworden und hat im 20. und 21. Jahrhundert einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, was mit der Vielseitigkeit moderner Kunst zu erklären ist, die sich nicht auf einen Bereich wie Malerei oder Literatur beschränken lässt, sondern in den unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen, insbesondere aufgrund moderner Medien, Einzug in unser aller Alltagsleben erhält. Im Kreuzfeuer der Kritik stehen hierbei insbesondere Gewaltdarstellungen in der Kunst, denen man einen negativen Einfluss auf die Gesellschaft nachsagt. Als aktuelles Beispiel dient hierfür Todd Phillips enorm erfolgreicher Film "JOKER" mit Joaquin Phoenix in der Hauptrolle. Der Film, der auf fiktiven Figuren aus dem DC-Universum beruht, erzählt die Geschichte eines gescheiterten Komikers namens Arthur Fleck, einem psychisch kranken Mann, der der untersten sozialen Schicht angehört und durch physische Gewalt und zahlreiche Demütigungen, selbst dem Wahnsinn verfällt und seinem persönlichen Rachefeldzug nachgeht, womit er ungewollt eine ganze Massenbewegung ins Leben ruft.
Vor dem Hintergrund dieses Fimes ist die ursprüngliche Debatte erneut entfacht und wird nach wie vor leidenschaftlich diskutiert: Was darf Kunst? Darf sie alles? Muss sie einer Art moralischen Verantwortung gerecht werden und sollte daher beispielsweise auf sexuelle oder gewalttätige Exzesse verzichten oder ist sie in ihrer Darstellung völlig frei? Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass sich in dieser Frage ganz grundsätzliche Differenzen in Bezug auf die allgemeine Weltanschauung offenbaren. Der freiheitsliebende Liberalismus stößt auf den konservativen, womöglich christlich geprägten und gerechtfertigten Moralkodex. Diese Auseinandersetzung wird im Folgenden erläutert.
In der Antike war die Kunst höchst umstritten. Der griechische Philosoph Platon (427-347 v.Chr.) ließ beispielsweise keine Gelegenheit ungenutzt, die Kunst als eine einzige "Lüge" abzuwerten, die einen äußerst schlechten Einfluss auf die Jugend habe. Kunst war in dieser Epoche niemals frei. Wenn überhaupt hatte sie einem höheren Zweck zu dienen, welcher von Aristoteles (384-322 v.Chr.) herausgearbeitet wurde: Der moralischen Erziehung des Menschen. Der griechische Philosoph prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der "Katharsis", was mit "Reinigung" zu übersetzen ist. Die Kunst, wobei er sich vor allem auf das Theater bezog, hatte den Menschen von seinen Trieben und verborgenen Leidenschaften zu "reinigen", indem  klassische antike Dramen moralische Werte vermitteln sollte. Aus diesem Grund haben die großen Heldengeschichten mit eindeutigen Einteilungen in Gut und Böse, wobei letztgenanntes bestraft und erstgenanntes belohnt wird, ihren Ursprung in der Antike.
Das von Aristoteles begründete Kunstverständnis wurde lange Zeit kaum hinterfragt und überdauerte die Jahrhunderte. Selbst Friedrich Schiller (1759-1805) war noch der Auffassung, dass Kunst nicht für sich allein stehend zu betrachten , sondern der moralischen Verantwortung unterworfen sei. Kunst diente folglich nach wie vor einem höheren Zweck, nämlich der moralischen Bildung und Belehrung des Menschen, folglich der häufig zitierten "ästhetischen Erziehung" des Menschen.
Erst als den Themen Freiheit und Selbstbestimmung, vor allem im Anschluss an die französische Revolution, ein erheblich höherer Wert beigemessen und auch die christliche Moral im Laufe der Aufklärung einer kritischen Hinterfragung unterzogen wurde, begann man nun auch vermehrt, den Kunstbegriff neu zu definieren. Das vom aufkeimenden Liberalismus, eingeleitet von Vordenkern wie Rousseau, Kant oder Voltaire, geprägte 19. Jahrhundert stellte einen großen Wendepunkt diesbezüglich dar. Die Kunst verstand sich als frei, was in drastischen und ungeschönten Darstellungen resultierte. Die freiheitsliebende Romantik setze sich mit den Abgründen der menschlichen Seele auseinander und verkörperte somit keineswegs die klassischen Tugendideale (Hoffmanns "Die Elixiere des Teufels"), ebenso wenig wie der sich dem anschließende Realismus, der gesellschaftliche Missstände und die Vorliebe für tragische Einzelschicksale offenbarte (Büchners "Woyzeck").
Kunst sollte keinem höheren Zweck mehr dienen, sondern schlichtweg Selbstzweck sein. Kunst um der Kunst willen. Schöne Gemälde durften einfach nur bewundert werden, ohne in ihnen einen höheren moralischen Sinn ausfindig zu machen. Daher argumentierte der in dieser Zeit selbst wirkende amerikanische Schriftsteller, Edgar Allan Poe (1809-1849), dass jene die beste Kunst sei, die nur für sich selbst steht.
Folgt man dieser Auffassung, die sich bis in die heutige Zeit durchgesetzt  und die Tugendideale der alten Griechen etwas in den Hintergrund gerückt hat, so gelangt man zu der Schlussfolgerung, dass der Kunst keine Grenzen zu setzen sind. Wenn sie ausschließlich über einen Selbstzweck verfügt und keinen höheren Idealen dient, so darf sie alles. Zudem ist nicht zu vergessen, dass Kunstfreiheit in gewisser Weise in unserem Recht verankert ist und sich beispielsweise in dem Verbot von Zensur und der allgemeinen Meinungs-und Publikationsfreiheit widerspiegelt.
Kunst kann logischerweise, als Produkt des Menschen allein, selbst nur so gut oder schlecht sein, wie der Mensch als solcher. So lange der Mensch nicht perfekt ist und  Schattenseiten in seinem Dasein aufweist, so ist es auch unangebracht, von der Kunst Makellosigkeit und Eleganz zu fordern. Letztendlich handelt es sich bei dieser um nichts anderes als um das Spiegelbild der Gesellschaft.
In Anbetracht dieser sich elementar voneinander unterscheidenden Standpunkte gilt es, die eigentliche Bedeutung des Kunstbegriffes an sich, zu hinterfragen. Wofür ist Kunst wirklich da? Moralische Erziehung oder Selbstzweck?
Eines steht fest. Selbst wenn sie irrtümlicherweise oftmals in der Geschichte als solche verstanden wurde, so ist die Kunst mitnichten ein "Weltverbesserer". Gesellschaftliche Missstände können aufgezeigt und auf bestimmte Probleme aufmerksam gemacht werden. Eine Änderung führt dies jedoch nicht automatisch herbei, denn Kunst ist immer noch eine Parallelwelt und demgemäß nur theoretisch existent. Es sind die Wissenschaften, die unser Leben weiterentwickeln und uns den Alltag erleichtern, nicht die Kunst. Diese ist nur dafür da, uns das Leben von Zeit zu Zeit vergessen zu machen, wenn wir dessen bedarfen. Angesichts dieser Argumentation kann ich nur zu einer einzigen logischen Schlussfolgerung gelangen: Kunst ist nichts anderes als der Ausdruck der subjektiv empfundenen Wirklichkeit, ganz gleich ob dem die Absicht zur moralischen Erziehung zugrunde liegt oder nicht. Sie ist Ausdruck von Individualität und selbige kann unmöglich schlecht sein. Individuell ist schlichtweg ein wertneutraler Begriff und er ist so vielseitig wie die moderne Kunst. Sie kann politisch sein wie der berühmte Roman "1984" von George Orwell. Sie kann aber auch vollkommen unpolitisch sein und nur den menschlichen Drang nach vorübergehendem Eskapismus nachgehen, wie die Musik der britischen Rockband "QUEEN". Einfach nur "having a good time", wie Freddie Mercury singt und das völlig ohne Hintergedanken.
Die Auffassung von Kunst um der Kunst willen, halte ich demgemäß für weitaus sinnvoller, zumindest übertragen auf die heutige Zeit. Vielleicht hat sich der Mensch im Laufe der Jahrhunderte verändert. Vielleicht bedurfte er in der Antike tatsächlich der "Katharsis" und der moralischen Erziehung durch die Kunst. Genaustens zurückzuverfolgen ist diese Entwicklung aus heutiger Sicht natürlich nicht mehr, doch in Bezug auf die heutige Zeit ist die gute alte "Moral-Debatte" als völlig veraltet und unzeitgemäß einzustufen. Der gigantische Aufschrei, der durch viele Kritiker vor allem in Bezug auf den "JOKER" erfolgt, ist das Resultat aus dem Drang nach Gesellschaftsverträglichkeit, der in engem Kontakt mit der kirchlichen Ethik steht. Gewalt innerhalb der Kunst ist zudem zumeist Mittel zum Zweck, um eine höhere Aussage zu vermitteln. "JOKER" will sensibilisieren und auf psychische Erkrankungen, sowie die allgemeine Verrohung der Gesellschaft aufmerksam machen. Bret Easton Ellis "American Psycho" (1991) nutzt drastische Gewaltdarstellungen, um den Narzissmus einer oberflächlichen und vollkommen sinnentleerten Gesellschaft zu skizzieren und Werthers Selbstmord ist ebenfalls als Folge krankhafter Sucht nach Aufmerksamkeit und Anerkennung einzustufen.
Kunst hat unzweifelhaft Auswirkungen auf das Gemüt, insbesondere die Filmkunst, wirken doch vor allem Bilder von echten Menschen sehr eindringlich auf uns. Doch wenn man davon ausgeht, dass Kunst nur um ihrer selbst willen existiert, so ist sie auch von jedweder Verantwortung freizusprechen. Ja,  Goethes "Werther" hat Menschen Inspiration für den eigenen Suizid verliehen und auch Kubricks "A Clockwork Orange" (1971) hat Nachahmer gefunden. Die Schuld an Verbrechen und dergleichen bei der konsumierten Kunst zu suchen, wird dem gesamten Prozess jedoch nicht gerecht und ist schlichtweg unfair den Künstlern gegenüber, denen eine Verantwortung aufgebürdet wird, der sie nicht nachkommen können. Bei alledem dürfen wir nicht vergessen, dass Kunst an sich, sei sie noch so brutal, immer harmlos ist und niemandem einen Schaden zufügt. Vielmehr sind es fehlgeleitete Interpretationen des Einzelnen, die verheerende Konsequenzen nach sich ziehen können. Aus diesem Grund ist Aufklärung unbedingt vonnöten, ebenso wie ein verantwortungsbewusster Umgang seitens Erziehungsberechtigter oder der Händler. Maßnahmen werden bereits getroffen, beispielsweise die Altersfreigabe bei potentiell "gefährlichen" Filmen, wie dem "JOKER". Genau deswegen erachte ich auch das ebenfalls aktuell diskutierte Gerichtsurteil, wonach die Alben des Rappers Bushido aufgrund ihrer Inhalte nicht an Minderjährige zu verkaufen sind, als vollkommen gerechtfertigt. Kunst hat keine Verantwortung, wir jedoch schon im Umgang mit ihr. Anstatt die Kunst zu verteufeln sind Präventionsmaßnahmen einzuleiten, die sich in erster Linie mit dem Menschen an sich auseinandersetzen. Wer psychisch labil ist muss intensiver behandelt und beobachtet werden, als es aktuell der Fall ist. Der Konsum von eventuell gewaltverherrlichender Kunst ist schließlich niemals der alleinige Auslöser für reale Gewalttaten. Dies gilt es unbedingt zu beachten!
Ebenfalls in Betracht zu ziehen sind die positiven Effekte von Gewaltdarstellungen in der Kunst, die einer moralischen Erziehung zuwiderlaufen: Nur in der Kunst ist der Mensch wirklich frei. Sie bietet sowohl dem Konsumenten als auch dem Künstler selbst die Plattform, seine Triebe hemmungslos auszuleben, um somit selbst wieder gesellschaftsverträglich zu sein (also doch eine Art "Katharsis"?). Denn wir sind uns wohl alle einig, dass es deutlich besser ist, Gewalt auf künstlerische Art zu verarbeiten, als sie in der tatsächlichen Realität auszuleben! Die Kunst somit in all ihrer Freiheit zu belassen, ist somit von essenzieller Wichtigkeit für das allgemeine gesellschaftliche Zusammenleben.
Außerdem entscheidet auf dem kapitalistischen Markt das Prinzip von Angebot und Nachfrage. Da in der Gesellschaft brutale Krimis und dergleichen auf Gegenliebe stoßen, so ist es nicht verwunderlich, dass uns die Kunst immer roher und gewalttätiger erscheint. Welchem Künstler ist es schon zu verübeln, möglichst erfolgreich sein zu wollen, auch in finanzieller Hinsicht? Bei dem großen Angebot steht es einem überdies selbst zu, gemäß seinem Gemüt die Entscheidung zu fällen, welche Art von Kunst konsumiert wird.
Ironischerweise ist mir aufgefallen, dass über Gewalt in der Kunst viel mehr diskutiert wird, als über tatsächliche Gewalt. Kritische Journalisten scheinen nur darauf zu warten, dass "JOKER" endlich einen Amoklauf inspirieren wird, nur um sich selbst in ihrem veralteten Weltbild bestätigt zu sehen. Dieses Verhalten ist nicht nur als äußerst heuchlerisch und verwerflich zu bewerten, sondern lenkt auch von den eigentlichen Problemen ab, jene, auf die das Kunstwerk eigentlich aufmerksam machen will.
Nichtsdestotrotz ist andererseits kritisch anzumerken, dass sich heutzutage immer mehr Menschen hinter dem abstrakten Begriff "Kunst" verstecken. Aufgrund der enormen Dehnbarkeit dieser Bezeichnung wird alles als Kunst bezeichnet. Selbst ein terroristischer Akt kann, mit etwas Fingerspitzengefühl, als künstlerische Ausdrucksform gerechtfertigt werden. Gegen eine solche Form von Kunst ist selbstverständlich keinerlei Toleranz an den Tag zu legen! Nein, Kunst ist ihrem Wesen nach grenzenlos, allgemeingültig und von ewigem Bestand, doch scheinheilige "Pseudo-Kunst" zählt sicherlich nicht dazu und ist dementsprechend zu ahnden. Wie jedoch die Spreu vom Weizen getrennt werden kann, ist eine Frage, die kaum zu beantworten ist und einer intensiveren Auseinandersetzung bedarf. Dennoch ist es nicht vertretbar, dass sich diejenigen hinter der Meinungs-und Kunstfreiheit verstecken, die selbst eben jene demokratischen Werte aufs Äußerste missachten. Womöglich ist ein "Pseudo-Künstler" auf die Art ausfindig zu machen. Auf jeden Fall liegt jedoch hierbei ein Konflikt mit einem enormen Risikopotential vor. Was ist noch als Kunst einzustufen und demgemäß in Freiheit gelassen zu werden und wo beginnt der gesellschaftliche Schaden tatsächlich? Erforderlich ist hierbei eine Konkretisierung des Kunstbegriffes, ohne dabei jedoch die Kunst an sich in irgendeiner Form einzuschränken. Ein unglaublich schwieriges Unterfangen, um ehrlich zu sein, obliegt vieles doch einzig und allein der subjektiven Betrachtung.
Im "JOKER" eine Gefahr für die Gesellschaft zu sehen, ist folglich legitim, wenn auch nicht wirklich rational zu begründen. Vielmehr scheinen die Kritiker sich hierbei in ihrem engstirnigen Weltbild angegriffen zu fühlen und reagieren dementsprechend übertrieben emotional. Sich hinter "moralischen Werten", die die meisten vermutlich nicht einmal in Gänze erfassen, zu verstecken und wahre Kunst dabei zu attackieren, ist schließlich heutzutage genauso weit verbreitet, wie die Rechtfertigung von Gewalt in der Freiheit zu suchen. Eine Annäherung von beiden Seiten ist in diesem Zusammenhang folglich wünschenswert und wahrscheinlich auch notwendig, um diesen uralten Konflikt endlich zu überwinden.
Als Schlusswort bleibt mir nichts anderes übrig als eine letzte und alles entscheidende Feststellung zu tätigen: Wem steht es zu, gesellschaftliche Missstände aufzudecken und zu kritisieren, wenn nicht der Kunst. Womöglich ist dies letztendlich der Aspekt, auf den ein Werk untersucht werden muss, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Die Kunst ist frei in der Wahl ihrer Darstellungen und somit keinem höheren Zweck unterworfen. Die Kunst ist die beste Opposition!