Seelenschwester

Am 25.7.2022 um 13:33 von Kattze auf StoryHub veröffentlicht

Ich fand deine Adresse im Internet. Nach Jahren, mit dem richtigen berufsbezogenen Stichwort ergoogelt.

Vor etwa 10 Jahren glaubte ich, ein paar Monate lang, du seiest meine Seelenschwester. Irgendetwas zwischen uns kam mir so vertraut vor. Immer wieder trafen wir einander, saßen wir nebeneinander, suchten einander... jedenfalls schien es mir so.

Der Schauplatz: eine Selbsterfahrungsgruppe. Geleitetes Experimentierfeld zur Selbstbeobachtung: Wie mache ich Kontakt?

Ich unterschätzte die Brisanz dieser Experimente, die wir „Übungen“ nannten. Hatte ich mir doch mein bisheriges Erwachsenenleben lang eine Strategie antrainiert, die mich von der Qual tiefer menschlicher Beziehungen unabhängig ließ.

Und dann geschah es doch, dass ausgerechnet du mich rührtest, - auf-, oder an-, oder berührtest. Und indem du das spürte, reagiertest du heftig ablehnend.

Ich habe nie begriffen, welche Art Übertragung da vor sich ging, weshalb die Therapeutin ausgerechnet zwischen dir und mir Dialoge inszenierte, in denen ich vor dir beschimpft wurde.

Ich gab auf. Die Gruppe, die Therapie. Blieb der, der ich war, mit der hochgemauerten Sicherheitssperre um den inneren Bereich, in dessen Zentrum das Herz liegen soll. Aber es blieb auch die Ahnung einer schlimmen Einsamkeit innerhalb des Sperrbezirks.

Gute 10 Jahre später machte ich mich also auf, um in einer der Nachbarstädte dein Namensschild neben der Haustür zu lesen, einen Tag nachdem ich deine Adresse herausgefunden hatte. Ein sonniger bunter Herbstnachmittag, an dem ich durch die Straßen eines gepflegten Stadtteils mit atmosphärischen Häusern aus der Gründerzeit husche. Ein paar Schritte vom Bürgersteig zur Haustür. Unter deinem Namen auf dem Schildchen finde ich den deines Freundes.

Einen imaginären Kragen hochschlagend mache ich mich unauffällig davon. Ich blicke nicht einmal zurück zu den Fenstern, die sicher deine sind.