******************** MEINEID von Sigi ******************** Siegfried Hehn MEINEID Kriminalgeschichte   „Und nun, meine verehrten Damen und Herren“, verkündete die Conférencière, „empfangen Sie mit einem begeisterten Applaus unsere von Ihnen mit Spannung erwartete wunderbare… Gloria!“     Gloria galt mit Recht als der gefeierte Star der in gewissen, oft etwas undurchsichtigen Kreisen sehr beliebten Femina – Bar. Glorias bürgerlicher Name war schlicht Lisbeth Müller – den ‘Künstler‘- Name ‘Gloria‘ hatte sie sich selbst zugelegt. Sie war 26 Jahre alt und wenn man ihre schlanke, wohlgeformte Gestalt betrachtete, mochte man nicht glauben, dass sie Mutter einer zweijährigen Tochter war.     Schon als junges Mädchen war Tanzen ihre große Leidenschaft, doch das endete abrupt, als sie vor einem Jahr ihren Mann durch einen tragischen Unfall verlor. Dies ist allerdings die Version, die Gloria verbreitet hat, in Wirklichkeit kam er bei einem nächtlichen Schusswechsel unter rivalisierenden Schutzgelderpressern ums Leben; wie die späteren Untersuchungen ergaben, war er der Kopf einer dieser Banden gewesen, wovon Gloria aber nichts gewusst haben wollte, wie sie vor Gericht beteuerte. Da man ihr nicht das Gegenteil beweisen konnte, blieb sie straffrei.     Aber sie verlor damals nicht nur ihren Mann, sie verlor auch ihre Wohnung, und sie hätte mit ihrem Kleinkind buchstäblich auf der Straße gestanden, wenn ihre Eltern nicht bereit gewesen wären, sie bei sich aufzunehmen. Ihre Eltern besaßen ein sehr geräumiges Einfamilienhaus, und sie überließen ihrer Tochter zwei Zimmer, die sie nach ihren Vorstellungen und ihrem Geschmack einrichten konnte… es verlieh ihr damals sogar ein gewisses Gefühl der Eigenständigkeit. Dazu gehörte aber auch, dass sie ihr eigenes Geld verdiente. Sie hatte vorher nie einen Beruf ausgeübt… sie hatte es nicht nötig gehabt, was sich jetzt bitter rächte. --  Wenn sie in der Zeitung die Stellenangebote studierte, fühlte sie sich hoffnungslos überfordert – sie fühlte, dass sie den gestellten Anforderungen nicht gewachsen war… und dann las sie eines Tages die Annonce einer Femina – Bar, die ihr zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt war. Sie suchte eine gutaussehende und begabte junge Tänzerin für Abendvorstellungen an fünf Tagen in der Woche. Das war etwas, was sie sich zutraute! Sie spürte mit einem Mal, wie ihre Liebe zum Tanzen, die so lange in ihr geschlummert hatte, zu neuem Leben erweckt wurde… sie würde sich bewerben. Von Seiten ihrer Eltern gab es keine Schwierigkeiten, --  sie würden den Wünschen ihrer Tochter nicht im Wege stehen, da sie doch ihre angeborene Leidenschaft zum Tanzen kannten, war doch Glorias Mutter selbst engagierte Turniertänzerin gewesen mit der Ambition, einmal die Europameisterschaft zu gewinnen, bis ihre Knieschmerzen diesem Traum vor einigen Jahren zu ihrem größten Leidwesen ein Ende setzten.       Und so kam – damals noch – Lisbeth Müller in die Femina – Bar, doch bald schon galt sie unter ihrem Künstlernamen  Gloria als  d i e  Attraktion… ihr Wunsch hatte sich erfüllt. –     Doch kehren wir zurück zu der Ankündigung Glorias durch die Conférencière. Wie immer um 24 Uhr würde sie auch heute ihren mit Ungeduld erwarteten Tanz präsentieren… es war kein gewöhnlicher Tanz - es war ein von ihr in künstlerische Form erhobener… Stripteasetanz.     Und dann endlich erlosch das Licht in der Bar. Voller Erwartung waren nun alle Augen auf den geschlossenen, dunkelroten Samtvorhan gerichtet, der sich nun langsam öffnete. Im hellen Schein eines Strahlers, vor dunklem Hintergrund, stand die aufrechte Gestalt Glorias, von zarten Schleiern umhüllt…     Leise erklang nun die Melodie einer Rumba. In sanften, fließenden Bewegungen glitt die junge Frau hinein… ließ sich tragen von dem Rhythmus dieses erotischen Tanzes. Im seitlichen Luftzug schmiegten sich die Schleier verführerisch um ihre Gestalt, ließen die Geschmeidigkeit ihrer Glieder, den aufreizenden Schwung ihrer Hüften erkennen. Doch dann, wie von Geisterhand ergriffen, lösten sich die Schleier - entschwebten, vom Luftstrom davon getragen… enthüllten ihren zarten, schlanken Körper – und so tanzte Gloria, nun vom  begeisterten Applaus der Gäste umhüllt, ihren Tanz zu Ende…   In dieser Nacht wurde Gloria ermordet. -     Gefunden wurde sie von Lilo Gerstner, einer Bardame. Als sie um 2 Uhr zu ihrem Wagen ging, um nach einer wiedermal turbulenten und anstrengenden Nacht nach Hause zu fahren, bemerkte sie in der Nähe Glorias Golf. Das überraschte sie, da Gloria gewöhnlich gleich nach ihrem Auftritt gegen viertel vor eins die Bar verließ. Es war wohl mehr eine Art 7. Sinn, der Lilo noch einmal zurück in die Bar gehen ließ um nachzuschauen, ob alles in Ordnung ist – und da fand sie Gloria… sie lag tot in ihrer Garderobe auf dem Boden.     Nach ihrem ersten Schock informierte Lilo sofort Jan Kopinsky, den Inhaber der Bar, den sie zum Glück noch in seinem Büro antraf. Er begab sich unverzüglich in Glorias Garderobe. Vorsorglich überprüfte er ihren Pulsschlag, doch da waren keine Lebenszeichen mehr zu spüren… Gloria wurde mit mehreren Messerstichen in die Brust getötet. Sie musste den Täter entweder gekannt haben, oder sie wurde überrascht – es gab keine sichtbaren Kampfspuren. Kopinsky verständigte die Polizei.   Bereits acht Minuten nach dem Anruf trafen Kriminalhauptkommissar Konradi und sein Kollege Kriminaloberkommissar Landgraf ein. Wenige Minuten später erschienen fast gleichzeitig auch das Team der Spurensicherung und der Gerichtsmediziner.     Nachdem sich die beiden Kommissare einen Eindruck über den Zustand der Leiche verschafft und von dem Gerichtsmediziner erfahren hatten, dass Gloria mit vier Messerstichen in den Brustbereich getötet wurde – weitere Angaben gingen ihnen in ein oder zwei Tage in einem medizinischen Bericht zu  -, begaben sie sich mit Kopinsky in dessen Büro – Lilo Gerstner war ihnen auf Wunsch der Kommissare gefolgt.     Doch hier stellte sich bald heraus, dass weder Kopinsky noch Lilo Gerstner zweckdienliche Hinweise über Glorias nähere Lebensumstände liefern konnten. Kommissar Konradi sagte, dass sie auch noch die übrigen Angestellten der Bar im Laufe des Tages befragen würden, doch Kopinsky versicherte, dass da wenig Aussicht bestehe, da Gloria so gut wie keinen Kontakt zu ihnen unterhalten habe – sie habe sich von allem immer… ja fast distanziert verhalten.     „War dieses Verhalten von ihr nicht ungewöhnlich“, meinte Kommissar Landgraf, „dass sie sich offensichtlich von allem so ausgeschlossen hat?“     „Ja -- sicher, vielleicht hing es mit dem Tod ihres Mannes zusammen… ich weiß es nicht. Es kursieren da mehrere Gerüchte über die Umstände seines Todes – es ist alles etwas nebulös, jedenfalls hat sie nie darüber gesprochen. Ich kann Ihnen nur sagen:  für uns… für die Bar ist ihr Tod ein großer Verlust – sie war bei unseren Gästen sehrt beliebt.“ Er verschwieg, dass er lediglich einen finanziellen Verlust gemeint hat.     Die einzige relevante Information, welche die beiden Kommissare in dieser Nacht erhielten, war die Angabe Gerstners über die genaue Uhrzeit ihres Auffindens der Leiche. Damit war zumindest der Zeitpunkt ihrer Ermordung eng eingegrenzt.     Die dringend benötigten Hinweise über die näheren Lebensumstände der Ermordeten würden sie erst von ihren Eltern erfahren können, wenn sie ihnen die traurige Nachricht vom Tod ihrer Tochter übermitteln mussten – eine besonders schmerzliche Pflicht, die den beiden Kommissaren noch bevorstand. --   Und dann – am frühen Vormittag – erfuhren sie im Laufe des Gesprächs mit der Mutter – sie war allein zu Hause --, nach einigem Zögern, Überraschendes:   Werner Müller – Glorias (wir wollen bei diesem Namen bleiben) ‘verstorbener‘ Ehemann war nicht nur – wie bekannt – das Haupt einer der bereits erwähnten Erpresserbanden, er war auch im Rauschgiftgeschäft aktiv gewesen und hatte sogar Gloria  gelegentlich als ‘Kurier‘ eingesetzt, zu dem sie wider ihren Willen von ihm gezwungen worden war. Sein Rauschgifthandel wurde vor einem Jahr im Erpresserprozess nicht verhandelt, da dem Gericht zu diesem Zeitpunkt keine Hinweise vorlagen.     „Seit einiger Zeit bekamen wir anonyme Anrufe“, sagte Glorias Mutter, Gudrun Schönborn, „das unterschlagene Erpressergeld in Höhe von 146.000 Euro herauszurücken. Vor etwa acht Tagen drohte man sogar mit unerfreulichen Konsequenzen, wenn wir dieses Mal nicht auf ihre Forderungen eingingen.“     „Wer könnte der Erpresser… der Anrufer gewesen sein,-- haben Sie eine Vorstellung?“, fragte Konradi.     „Nein. Aber nicht nur dieses, auch von dem angeblich unterschlagenen Geld haben wir keine Ahnung, was wir dem Anrufer immer wieder versichert haben. Sollte es solches wirklich geben, so hat uns Werner – unser Schwiegersohn – nie darüber informiert… wir wussten überhaupt nichts von seinen kriminellen Machenschaften, erst nach seinem Tod erfuhren wir durch unsere Tochter davon, auch von seinem Rauschgifthandel und dass er sie sogar gegen ihren Willen dabei benutzt hat. Sie hat uns das bewusst verheimlicht, wie sie uns später gestand, um uns nicht unnötig zu beunruhigen.“    „War es immer die gleiche Stimme des Anrufers?“, interessiert sich Landgraf.    „Ja, es war immer die gleiche fremde Stimme.“     „Wie sollte die Übergabe des Geldes erfolgen“, fragte Konradi. „Hat man Ihnen da Anweisungen erteilt?“     „Ja. Wir sollten uns in unserem Wagen auf dem Parkdeck des Parkhauses Wilhelm-Straße bereit halten, dort erhielten wir über Handy weitere Anweisungen. Man würde dort beobachten können, ob wir die Polizei eingeschaltet hätten,-- man hatte uns beim letzten Anruf gewarnt, diese zu benachrichtigen.“    „Und Sie waren nicht da?“, meinte Landgraf.     „Nein… wir haben das Geld ja nicht!“, rief sie verzweifelt und brach wieder in Tränen aus. „Und deshalb musste unsere Tochter sterben…“   Es war bis heute noch immer nicht gelungen, den Mord an Werner Müller restlos aufzuklären. Zu Beginn richtete sich der Verdacht auf das Umfeld der rivalisierenden Bande, doch dann stellte sich heraus, dass es auch innerhalb Werner Müllers Reihen erbittertes Machtgerangel gegeben hatte – der Täter hätte sich durchaus auch in seinem Umkreis befinden können. Es ließen sich jedoch keine eindeutigen Beweise erbringen, die zu einer Überführung gereicht hätten. In der Folge wurden beide Gruppen observiert und in dem Zusammenhang eine Reihe von Täterprofilen in der elektronischen Datenbank erfasst, auf die  nun bei der Ermittlung des Erpresseranrufers und des Mörders zurückgegriffen werden konnte.    Die beiden Kommissare warteten einen Augenblick, bis sich Frau Schönborn wieder etwas beruhigt hatte, dann sagte Konradi:     „Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist der Anrufer im Umfeld einer der beiden damaligen aktiven Erpresserbanden zu suchen. Wenn das zutrifft, werden die während der Zerschlagung der Banden erfassten Namen in der Datei vorhanden sein. Dieses wird unser erster Ansatzpunkt bei unseren Ermittlungen sein, und ich habe große Hoffnung, dass uns diese Untersuchungen zur Feststellung des Täters verhelfen werden -- die Vermutung liegt nahe, dass der Anrufer auch für den Tod Ihrer Tochter verantwortlich ist.    Konradi erhob sich. „Wir werden auf jeden Fall alles unternehmen – das verspreche ich Ihnen“, sagte er und reichte Frau Schönborn zum Abschied die Hand, „dass wir alles daran setzen werden, den Schuldigen so rasch wie möglich zu überführen.“     Auch Landgraf verabschiedete sich, dann verließen die beiden Kommissare Glorias Mutter.   Kurz nach 15 Uhr des selben Tages waren die beiden Kommissare bereits wieder in der Bar erschienen -- sie ist von 15 Uhr bis 2 Uhr geöffnet –, um ihre Vernehmungen der Angestellten durchzuführen. Kopinsky hatte ihnen auf Wunsch Konradis seinen Büroraum zur Verfügung gestellt, um jeden separat befragen zu können.     Zunächst verliefen die Befragungen für die beiden Beamten enttäuschend, doch das änderte sich schlagartig nach den Angaben Fritz Steinbachs, einer der Barkeeper. Nach seinen Schilderungen befand er sich gegen halb eins in der Nähe des hinteren Eingangs der Bar, um eine Zigarette zu rauchen. Er hatte sich im Carport untergestellt, da es geregnet hatte, als eine Gestalt herauskam, sich nach kurzem Zögern zum Müllcontainer begab, dort etwas hineinwarf und sich dann eilig entfernte. In dem Moment, als sie kurz unter der Außenbeleuchtung vorbeiging – er selbst stand im Schatten und konnte nicht gesehen werden – konnte er ihr Gesicht erkennen… es war ein Gast der Bar. Kurz darauf hörte er in der Nähe einen Motor anspringen und einen Wagen sich entfernen.      Konradi fragte gespannt:                                                     „Kennen Sie zufällig seinen  Namen?“     „Ja, es war Jens Fahrenschild.“     „Woher kennen Sie seinen  Namen?“, wollte Landgraf wissen.     „Wenn er zu viel getrunken hat, dann neigt er leicht dazu, sich in unangenehmer, überheblicher Weise den übrigen Gästen gegenüber aufzuführen – es haben sich schon etliche über ihn beschwert. Er musste wiederholt durch unseren Türsteher aus der Bar entfernt werden – vielleicht habe ich bei der Gelegenheit mal seinen Namen gehört… ich weiß es nicht so genau.“     „Warum haben Sie uns gestern Abend nicht schon von Ihrer Beobachtung berichtet?“, fragte Konradi.     „Da war ich nicht mehr hier – ich habe erst vorhin von… von dem Mord erfahren.“   Gleich nach Steinbachs Schilderungen forderte Konradi noch einmal die Spurensicherung an und ließ sie den Container durchsuchen. Und tatsächlich fanden sie ein Messer mit einer etwa 1o cm langen Klinge, an der eindeutig getrocknete Blutspuren zu erkennen waren – es war offensichtlich das Tatwerkzeug, mit der Gloria ermordet worden war; den endgültigen Beweis würde die Laboruntersuchung ergeben.     Nachdem sich Steinbachs Beobachtung bestätigt hatte und dass Messer gefunden worden war, ließ sich Konradi von der Zentrale die Adresse von Fahrenschild durchsagen – sie begaben sich daraufhin unverzüglich zu dessen Wohnung.     Erst nach mehrmaligem Schellen und ihrer Aufforderung: „Hier ist die Polizei – bitte öffnen Sie!“, öffnete ihnen eine dunkelhaarige, etwas magersüchtige Frau Mitte Dreißig in einem scheußlichen, grell geblümten Morgenrock – sie machte keinen sonderlich gepflegten Eindruck…  es roch penetrant nach potentem Kater.     Sie blieb in der Tür stehen. „Was wolle‘ Sie?“, fragte sie aggressiv mit rauer, belegter Stimme und machte Anstalten, die Tür wieder zuzuschlagen.     Landgraf stellte seinen Fuß davor.     „Wohnt hier Jens Fahrenschild?“, fragte er.     „Ja, er schläft.“     „Bittre wecken Sie ihn, wir würden gerne einige Fragen an ihn richten“, dabei drückte er die Tür ganz auf und die beiden Beamten betraten die Wohnung… oder besser: das Chaos einer Wohnung – es herrschte ein unglaubliches Durcheinander, es gab kaum eine freie Stelle auf dem Boden, auf der nicht irgendwas herumlag. ‘Unglaublich, wie manche Menschen leben können‘, dachte Landgraf angewidert.     „Mache‘ Sie die Tür zu, dass der Nero nich‘ rausläuft“, herrschte sie Landgraf an – offensichtlich war damit der Kater gemeint. „Was soll ich meinem Alten sagen, was Sie wisse‘ wolle‘?“     „Wecken Sie ihn, das werden wir ihm selbst sagen“, erwiderte Konradi in aufforderndem Ton, der keine weitere Widerrede gelten ließ und schloss die Tür.     Widerwillig wandte sie sich ab – sie war wohl Fahrenschilds Frau – und begab sich offensichtlich ins Schlafzimmer. Die Wohnung lag in der zweiten Etage – die Kommissare brauchten also nicht zu befürchten, dass Fahrenschild durch ein Fenster fliehen könnte.     „Er kommt gleich, er zieht sich nur was an“, erklärte sie, als sie nach einem kurzen Moment wieder erschien.    Während die Kommissare in der engen Diele warteten, vernahmen sie ein leises, zartes Stimmchen… und da erschien auch schon ein kleiner, schwarzer Kater. Langsam kam er näher und rieb sich laut schnurrend an Landgrafs Hosenbein. Er bückte sich, um Nero zu streicheln – er liebte Katzen… und sah mit Schrecken sein laufendes Näschen und die bereits leicht verklebten Augen: Der Kater hatte offensichtlich den gefürchteten Katzenschnupfen.     Er machte Frau Fahrenschild darauf aufmerksam und fragte:     „Haben Sie ihn nicht impfen lassen?“     „Nein, der wird nich‘ geimpft, das is‘ alles Gift“, wehrte sie ab, „und außerdem, er kommt ja nich‘ raus, da kann er sich auch nich‘ bei anderen Katzen anstecke‘. Das bissche‘ Schnupfen wird schon wieder vorübergehn.“     Landgraf musste sich beherrschen angesichts dieser Gleichgültigkeit und dieser Unkenntnis der Gefährlichkeit dieser Viren.     „Das ist nicht nur ein leichter Schnupfen…  Frau Fahrenschild, nicht wahr?“     Sie nickte.     „Das ist eine ansteckende Erkrankung nicht nur der Atemwege, auch der Schleimhäute, und zwar im Kopf. An der Zunge können sich schlimme Geschwüre bilden, die Nasenmuscheln können durch Gewebezerfall geschädigt werden. Und das Schlimmste ist: Folgeschäden können durch Verwachsungen im Lidbereich zur Erblindung führen . . .“     „Höre‘ Sie auf…, höre‘ Sie auf, das is‘ ja entsetzlich, was Sie da sagen“, rief Frau Fahrenschild geschockt. „Sie mache‘ mir Angst!“     „Das sollte es auch. Mit Katzenschnupfen ist wirklich nicht zu spaßen. Nur eins noch: Er muss nicht unbedingt von anderen Katzen übertragen werden, das kann auch indirekt durch uns Menschen oder durch Futtermittel geschehen, und dagegen hilft wirksam nur die Schutzimpfung. Wir haben zwei Katzen zu Hause, die eine ist fünfzehn Jahre alt, die andere fast neunzehn Jahre, und sie haben nie Katzenschnupfen gehabt Dank der regelmäßigen Schutzimpfungen. Sie dürfen sicher sein, diese Impfstoffe sind von serologischen Instituten streng kontrollierte und überwachte Prophylaxe – also zur Vorbeugung bestimmt. Wie alt ist der Kleine?“     „Ich weiß nich‘, vielleicht ein Jahr. Ich hab‘ ihn gefunden, da war er noch ganz klein… das war schlimm.“ Sie blickte bei diesen Worten etwas versonnen auf den Kater hinunter.     „Wieso war es schlimm?“, fragte Landgraf.     „Ich war bei Rewe. Als ich nach Haus‘ gehen wollt‘, da hört‘ ich in der Näh ein Kätzchen schreien. Ich hab‘ gesucht, aber ich konnt‘ keins sehn. Und da waren die Mülltonnen – da hab‘ ich reingeguckt… und da war es drin.“     „Oh Gott!“, riefen Landgraf und Konradi fast gleichzeitig erschüttert.     „Ja, oh Gott!, – der hat nix gemacht. Hätt‘ ich das Würmche nich‘ gefunden, dann wär‘ es wahrscheinlich in dem ganzen Dreck in der Müllabfuhr zerquetscht worden – könne‘ Sie sich das vorstelle‘?“     „Vielleicht aber hat Gott das Kätzchen gerade durch Sie gerettet – haben Sie einmal daran gedacht?“, hielt Konradi ihr entgegen.     Sie sah den Kommissar etwas ungläubig an. „Wenn Sie meinen?“, sagte sie – es klang nicht sehr überzeugend.   Fahrenschild hatte sich zum Ende ihres Gesprächs hin zu ihnen gestellt, ohne sich einzuschalten, doch jetzt unterbrach er das Gespräch, das ihn offensichtlich nicht interessierte. Er fragte die Beamten in einem mürrischen Ton:     „Sie wollten mich sprechen – was gibt’s?“     „Wir müssen Sie bitten uns aufs Revier zu begleiten“, sagte Konradi in einem bewusst zugänglichen Ton -- noch.     „Und was soll ich da?“     „Sie sollen uns einige Fragen beantworten.“     „Was für Fragen – die kann ich doch auch hier beantworten.“ Seine Stimme klang zunehmend gereizter.     „Wir haben Order, Sie aufs Revier zu bringen, das ist alles.“ Konradis Tonfall wurde jetzt bestimmter.     „Und wenn ich mich weigere – was dann?“     „Dann werden wir Sie in Handschellen abführen – wollen Sie das?“     „Ihr verdammten Bullen, ihr könnt mich mal“, fauchte er die Beamten an und wollte sich in Richtung Schlafzimmer entfernen.     Mit einem Polizeigriff hielt Konradi ihn fest. „Mit dem Gesicht zur Wand, Hände auf den Rücken!“, herrschte er ihn an – im nächsten Moment schlossen sich die Handschellen um Fahrenschilds Handgelenke. „Das hätten Sie sich ersparen können“, sagte Konradi. „Abmarsch!“, damit schob er ihn in Richtung Ausgangstür.     „Was mache‘ Sie denn da, Sie könne‘ doch mein‘ Alten nich‘ einfach wegführen… is‘ er jetzt verhaft‘? Er hat doch kein‘ Mensch nich‘ was gemacht.“ Am liebsten hätte sich seine Frau den beiden Beamten in den Weg gestellt um sie daran zu hindern, ihren Mann abzuführen. „Wann kommt er dann widder – könne‘ Sie mir das sagen?“ In ihrer Aufregung war ihr Deutsch noch katastrophaler als vorher.     „Wann er zurückkommt liegt allein an seinem Verhalten“, sagte Landgraf und zeigte auf seine Handschellen – er wollte ihr nicht sagen, dass ihr Mann unter Mordverdacht steht, das würde sie noch früh genug erfahren. Statt dessen sagte er:     „Denken Sie daran, was ich Ihnen über den Katzenschnupfen gesagt habe. Gehen Sie mit Nero zum Tierarzt, bevor es noch schlimmer wird.“     „Ja, ich werd‘ gleich morge‘ früh mit ihm hingehn – versproche‘ “     Ohne es eigentlich zu wollen – es war aus einem Impuls heraus – reichte er dieser grässlichen Person die Hand. „Alles Gute für Sie“, sagte er und wandte sich ab.     „Sie sin‘ ein guter Mensch, Herr Kommissar!“, rief sie ihm nach. –   Es sei hier erwähnt, dass Jens Fahrenschild am nächsten Tag auf Anordnung des Haftrichters wegen des Verdachts einer begangenen schweren Straftat und wegen möglicher Fluchtgefahr trotz seiner vehementen Unschuldsbeteuerung in Untersuchungshaft genommen wurde.   Sechs Wochen später fand die Hauptverhandlung statt.     Zu Beginn der Verhandlung, nachdem man den Angeklagten hereingeführt und ihm die Handfesseln abgenommen hatte, forderte der Vorsitzende Richter ihn auf, sich zu erheben.     „Angeklagter“, richtete der Vorsitzende das Wort an ihn, „ich verlese Ihnen die in der mir vorliegenden Anklageschrift gegen Sie erhobenen Anschuldigungen, danach steht es Ihnen frei, sich dazu zu äußern. Die Anschuldigungen lauten:                         Versuchte räuberische Erpressung sowie des Mordes, begangen an                            Lisbeth Müller, bekannt unter ihrem Künstlernamen ‘Gloria‘.   Wollen Sie sich dazu äußern – jetzt?“     „Was soll das ganze Theater hier“, stieß Fahrenschild unbeherrscht hervor. „Ich weiß nichts von einer Erpressung und den Mord habe ich nicht begangen, verdammt noch mal. Da will mir jemand was in die Schuhe schieben.“     „Angeklagter“, forderte der Vorsitzende ihn auf, „mäßigen Sie Ihren Ton – Sie sind hier nicht auf dem Fußballplatz.“     „Ich lasse mir nichts anhängen, was ich nicht gemacht habe, verdammt.“ Seine aufkommende Wut vermochte er kaum zu zügeln.     Zu dieser Hauptverhandlung waren neben einigen Angestellten der Femina – Bar auch einige Gäste als Zeugen geladen, die in der Mordnacht die Bar besucht hatten und die man  glücklicherweise hatte eruieren können. Außerdem hatte man auf Wunsch des Vorsitzenden -- mit Rücksicht auf ihre besondere Situation – die Mutter der Ermordeten gefragt, ob sie  bereit sei, zum Prozess zu erscheinen, um eventuell die Stimme des Erpressers zu identifizieren  -- sie hatte sich bereit erklärt und war ebenfalls als Zeugin erschienen.     Und sie fragte jetzt der Vorsitzende:     „Frau Schönborn, haben Sie die Stimme wiedererkannt – könnte es die Stimme des Erpressers gewesen sein?“     „Nein, es war nicht die Stimme des Anrufers.“     „Sind Sie ganz sicher?“     „Ja, absolut, Herr Vorsitzender.“     „Gut, dann werden wir den Vorwurf der versuchten räuberischen Erpressung aus der Anklageschrift herausnehmen – er wird in diesem Prozess nicht weiter verhandelt. Ich danke Ihnen für Ihr Erscheinen, Frau Schönborn. Wenn Sie möchten, können Sie sich jetzt zurückziehen.“     Frau Schönborn nickte, dann verließ sie den Gerichtssaal… eine schicksalhafte Entscheidung: Wäre sie geblieben, dann hätte sie im Laufe der Zeugenvernehmungen die Stimme des Erpressers wiedererkannt. --    Als erste Zeugin wurde anschließend Lilo Gerstner aufgerufen. Sie schilderte dem Gericht, dass sie in der fraglichen Nacht gegen zwei Uhr nach Hause fahren wollte und in der Nähe überraschend noch Glorias Golf bemerkt hatte. Das war insofern ungewöhnlich, da Gloria in der Regel gleich nach ihrem Auftritt gegen viertel vor eins die Bar verließ. Mehr einer inneren Eingebung folgend sei sie noch einmal zurückgegangen um nachzuschauen, ob alles in Ordnung sei – und da habe sie Gloria tot in ihrer Garderobe vorgefunden.     Auf die Frage des Vorsitzeden Richters, was sie daraufhin gemacht habe, erwiderte sie:     „Ich habe mich sofort zu Jan Kopinsky begeben, dem Inhaber der Bar, den ich zum Glück noch in seinem Büro antraf, um ihn zu informieren. Ich bin dann mit ihm noch einmal zurück zur Garderobe gegangen. Nachdem Kopinsky Glorias Tod einwandfrei festgestellt hatte – er hatte sicherheitshalber ihren Puls gefühlt --, verständigte er umgehend die Polizei.“      „Wünschen Staatsanwaltschaft und Verteidigung noch Fragen an die Zeugin zu richten?“, fragte der Vorsitzende.     Beide verneinten.     „Dann ist die Zeugin hiermit entlassen“, erklärte der Vorsitzende.            Im weiteren Verlauf der Verhandlung wurden nun die vorgeladenen Angestellten sowie die Gäste der Femina--Bar einzeln befragt. Dabei stellte sich heraus, dass Fahrenschild in der fraglichen Mordnacht zwar gesehen – was er auch zu keinem Zeitpunkt bestritten hatte – und von einigen Gästen beobachtet worden war, als er kurz nach Glorias Auftritt die Bar verlassen hatte; aber bei allen fehlte der entscheidende Faktor: niemand hatte beobachtet oder darauf geachtet, ob Fahrenschild wirklich das Gelände anschließend verlassen hatte um – wie er behauptet hatte – nach Hause zu fahren.     Das Fazit dieser Zeugenaussagen war – wie zu erwarten – wenig ergiebig: es hatte dem Gericht keinerlei neue Erkenntnisse gebracht. Das änderte sich, als Staatsanwalt Fürste Fritz Steinbach – den Barkeeper der Femina-Bar -, in den Zeugenstand rief.     „Schildern Sie dem Gericht, was Sie in der Nacht des 12. September in der Femina-Bar beobachtet haben“, forderte Fürste ihn auf, „doch vorher schwören Sie, dass Sie die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit sagen.“     Nachdem Steinbach den Eid abgelegt hatte, berichtete er:     „Ich habe mich in dieser Nacht gegen halb eins etwa nach draußen begeben, um eine Zigarette zu rauchen. Es hatte geregnet, deshalb hatte ich mich zum Schutz in dem Carport hinter der Bar untergestellt. Von dort beobachtete ich, wie kurz nach mir eine Person – ich konnte da noch nicht feststellen, ob es ein Mann oder eine Frau war – aus dem hinteren Barausgang kam, sich zu dem seitlichen Abfallcontainer begab, dort offensichtlich etwas hineinwarf und sich dann eilig entfernte. In dem Moment, als die Person kurz unter der Außenbeleuchtung vorbeiging, konnte ich ihr Gesicht erkennen – es war einer unserer häufigen Gäste. Ich selbst stand im Schatten, deshalb konnte ich von ihm nicht gesehen werden. Kurz danach hörte ich einen Motor anspringen und einen Wagen sich entfernen.“     „Können Sie uns den Namen des Gastes nennen?“, fragte der Staatsanwalt.“     „Ja, es war Jens Fahren…“     „Er lügt…“, noch bevor Steinbach seinen Namen ganz ausgesprochen hatte, war Fahrenschild aufgesprungen, „… dieses verdammte Schwein lügt!“, schrie er außer sich vor Wut. „Ich habe Gloria nicht ermordet und ich war nie in ihrer Garderobe, wie oft soll ich das noch wiederholen?“     „Angeklagter, zum letzten Mal, beherrschen Sie sich, sonst lasse ich Sie aus dem Gerichtssaal entfernen und die weitere Verhandlung findet ohne Sie statt“, mahnte ihn der Vorsitzende.     Doch Fahrenschild war nicht zu beruhigen. „Ich lasse mir nicht verbieten, mich hier gegen diese infame Anschuldigung zu wehren“, schrie er weiter. „Dieser verdammte Zeuge lügt – ihn sollte man wegen schwerwiegender Verleumdung anklagen.“     Die Geduld des Vorsitzenden war jetzt erschöpft. „Wachtmeister“, rief er, „führen Sie den Angeklagten wegen wiederholter Missachtung des Gerichts zurück in seine Zelle .“     Fahrenschild ließ sich nicht beruhigen. Erst mit Hilfe eines zweiten Beamten gelang es den weiterhin wüste Beschuldigungen ausstoßenden und den sich wehrenden Angeklagten aus dem Gerichtssaal zu führen.     Nachdem die Ruhe wieder hergestellt war, fragte der Vorsitzende:     „Gedenken Staatsanwaltschaft und Verteidigung noch weitere Zeugen aufzurufen?“     Beide verneinten.     „Wie lange benötigen Sie um Ihre Schlussplädoyers vorzubereiten?“     Man einigte sich auf den kommenden Montag 9.15 Uhr.   Nachdem der Vorsitzende Richter am Montagmorgen die Verhandlung eröffnet hatte, forderte er als ersten Staatsanwalt Fürste auf, mit seinem Schlussplädoyer zu beginnen.   „Hohes Gericht, von der Zeugin Gerstner haben wir glaubhaft erfahren, dass sie gegen 2 Uhr die Tänzerin Gloria tot in ihrer Garderobe vorgefunden hat. Von einigen anderen Zeugen wurde übereinstimmend angeführt, dass Jens Fahrenschild in der fraglichen Nacht beobachtet wurde, als er etwa eine viertel Stunde nach Glorias Auftritt die Bar verlassen hat.  Ob er sich anschließend zu seinem Wagen begeben hat um nach Hause zu fahren, wie er behauptet hat, dafür gibt es keine Zeugen. Interessant jedoch ist die Tatsache, dass Fahrenschild  von dem Zeugen Steinbach beobachtet wurde, als er gegen halb eins die Bar durch die hintere Ausgangstür verließ. Diese Beobachtung passt genau in den Zeitrahmen, den Fahrenschild benötigt hat, um – sagen wir gegen 0.20 Uhr, etwa eine viertel Stunde nach Glorias Auftritt, die Bar wie beobachtet zu verlassen, von außen um das von drei Seiten freistehende Eckhaus herumzugehen, durch den hinteren Eingang die Bar erneut zu betreten, die Tat zu begehen und wurde dann von Steinbach beobachtet, als er gegen halb eins die Bar wieder verließ --- kurz danach hörte Steinbach dann auch einen Wagen sich entfernen… das nur nebenbei. Ich möchte aber noch einen nach Meinung der Staatsanwaltschaft bedeutsamen Punkt erwähnen: Bei dem Messer, mit dem die Tat ausgeführt wurde, wurden bei der Laboruntersuchung keine Fingerabdrücke festgestellt. Das bedeutet, dass der Täter Handschuhe getragen hat, die er zwangsläufig bei sich gehabt haben muss, und das wiederum bedeutet, dass man es hier nicht mit einer Affekthandlung zu tun hat, sondern dass es sich um einen geplanten Mord handelt.     Die Staatsanwaltschaft beantragt daher für Jens Fahrenschild wegen vorsätzlich begangenen Mordes an Lisbeth Müller, genannt Gloria, eine lebenslange Haftstrafe.“                   Im Anschluss an die Ausführungen des Staatsanwaltes erteilte der Vorsitzende Richter das Wort an die Verteidigerin Klingenscheidt.    Hohes Gericht, für die Verteidigung gibt es keine eindeutigen Beweise, dass mein Mandant den ihm zur Last gelegten Mord an der Tänzerin Gloria begangen hat. Trotz der eidesstattlichen Erklärung des Zeugen Steinbach steht nicht fest, dass er meinen Mandanten in der fraglichen Nacht in dem kurzen Moment im Schein der Lampe an der hinteren Außenfront der Bar zweifelsfrei erkannt hat. Laut Aussage des Zeugen hat es in der Nacht geregnet und er hat sich zum Schutz vor dem Regen im Carport untergestellt. Die Entfernung vom Carport bis zur Lampe beträgt 12 Meter – ich war selbst dort und habe es ausgemessen. In Anbetracht des Umstandes, dass der Zeuge in der Nacht aus 12 Meter Entfernung und bei Regen, was die Sicht mit Sicherheit zusätzlich beeinträchtigt haben dürfte, in dem kurzen Moment, der nur Sekunden gedauert haben kann, meinen Mandanten erkannt haben will, ist doch sehr zweifelhaft, und deshalb gilt: in dubio pro reo, (im Zweifel für den Angeklagten), und daher sollten die Ausführungen des Zeugen Steinbach nicht zu einer Verurteilung verwendet werden.     Das Urteil, Hohes Gericht, kann daher nach Ansicht der Verteidigung nur Freispruch für Jens Fahrenschild lauten.“   Nach Abschluss der beiden Plädoyers verkündete der Vorsitzende Richter eine Unterbrechung der Verhandlung bis zur Urteilsverkündung um 14 Uhr.   Als das Gericht um 14 Uhr erschien, waren die Zuhörerplätze fast völlig besetzt. Für viele, die bereits morgens zu den Plädoyers anwesend waren, lagen die Vorstellungen über das zu erwartende Urteil fast gleichmäßig zu 50 % auseinander. Beide Argumente, sowohl des Staatsanwaltes als auch der Verteidigerin, waren überzeugend. Wie konnte man hier über ein gerechtes und verantwortungsvolles Urteil entscheiden -- war das in diesem Fall überhaupt möglich? – Alle Augen waren jetzt voll Spannung auf den Vorsitzenden Richter  gerichtet, der sich als erstes an die Zuhörer wandte:     „Entgegen der üblichen Regel wird das Gericht das Urteil über Jens Fahrenschild ohne dessen Anwesenheit verkünden, da nach der vorausgegangen Erfahrung mit erheblichen Störungen seinerseits zu rechnen ist.“     Allen im Gerichtssaal Anwesenden wird in diesem Moment klar gewesen sein, wie das Urteil lauten würde.     „Nach einstimmigem Beschluss des Gerichts“, fuhr der Vorsitzende fort, „wird Jens Fahrenschild für schuldig befunden des Mordes an Lisbeth Müller, bekannt unter ihrem Künstlernamen Gloria. Das Urteil lautet: Lebenslängliche Haftstrafe.     Zur Begründung des Urteils:  Alle Zeugen stimmen in ihren Aussagen darin überein, dass der Angeklagte Jens Fahrenschild die Femina-Bar in der fraglichen Nacht kurz nach dem Auftritt der Tänzerin Gloria verlassen hat. Niemand jedoch konnte bestätigen, dass er sich anschließend mit seinem Wagen entfernt hat, um – wie er behauptete – nach Hause zu fahren. Dagegen spricht die unter Eid vorgetragene Beobachtung  des Zeugen Steinbach, die uns durch Staatsanwalt Fürste noch einmal in sehr anschaulicher und schlüssiger Weise erläutert wurde. Das Gericht folgt in allen Punkten seinen daraus gewonnenen Schlussfolgerungen, dass Jens Fahrenschild die Tat begangen hat, und sie konnte nur zu einem Urteil führen: schuldig!        Die Schilderung des Zeugen Steinbach vor Gericht über seine Beobachtungen in jener Nacht – das sei hier erwähnt -- hat somit im Wesentlichen zu einem rechtskräftigen Urteil beigetragen – das Gericht dankt ihm an dieser Stelle. Die Verhandlung ist beendet.“   Wie Julia Klingenscheidt den auf dem Gang vor dem Gerichtssaal wartenden Reportern erklärte, wird sie gegen das Urteil Berufung einlegen.     Wir wollen uns hier die Reaktion und das Drama ersparen, als Jens Fahrenschild das Urteil ‘lebenslange Haftstrafe‘ erfuhr. Er musste zwangsweise und in Handfesseln aus seiner Untersuchungshaft in seine neue Haftzelle überführt werden. Ihn erwartete eine Zwei—Mann—Zelle mit zwei Stockbetten. Die Zelle war bereits von einem Häftling belegt, der wegen schweren Einbruchs zu fünf Jahren verurteilt worden war und der in früherer Zeit schon eine mehrjährige Haftstrafe wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung abgesessen hatte. Er war 46 Jahre alt und hatte den größten Teil seiner Haft bereits abgebüßt – er sah seiner Entlassung in drei Monaten entgegen.      Es würde zu einem unerwarteten, schicksalhaften Ereignis für Jens Fahrenschild werden…  und nicht nur für Jens Fahrenschild! --     Es war für Fahrenschild eine harte Zäsur nach einem bisher Dank seiner – sagen wir: recht dubiosen Geldquellen aus ebenso dubiosen Geschäften und von seinem häufig unbeherrschten Charakter beherrschten Lebensstil sich plötzlich einem verhassten und starren Gefängnisreglement unterzuordnen. Doch das Schlimmste für ihn war die völlig fehlende Privatsphäre, unter der er am meisten zu leiden hatte. Das änderte sich nach einigen Wochen ein wenig, nachdem sein Zellengenosse Reinhold Münzing endlich bereit war, seinen unaufhörlichen Unschuldsbeteuerungen Glauben zu schenken und sich die beiden sogar einander anfreundeten.     Sie konnten sich zwar Bücher in der Gefängnisbibliothek leihen, sie hatten einen kleinen Fernseher, um sich informieren zu können was außerhalb ihrer tristen, knapp zwölf Quadratmeter großen Zelle in der Welt draußen geschah, trotzdem verlief ihr Leben in zäher, zermürbender Eintönigkeit…  und Münzings Tag der Entlassung rückte immer näher – damit würde Fahrenschild auch die neu gewonnene Freundschaft wieder verlieren. Vor diesem Tag fürchtete er sich – wen würde man dann zu ihm in dieses Loch sperren? –   Es war zwei Tage vor seiner Entlassung. Es war schon spät – sie lagen auf ihren schmalen, harten Betten -- beide konnten nicht schlafen, als Münzing fragte:     „Sag‘ mal, wie heißt eigentlich das Schwein, dem du diese Komfortpension auf Staatskosten hier verdankst?“     „Steinbach --, Fritz Steinbach.“     „Er war der Barkeeper in der Femina-Bar, richtig?“     „Ja, warum fragst du?“     „Ach, vielleicht werde ich ihm mal einen Besuch abstatten – mal sehen, wie er auf einen Gruß von dir reagiert.“     „Und was versprichst du dir davon…  er wird kaum bereit sein, seine Lüge einzugestehen.“     „Das kommt ganz auf den Nachdruck an, mit dem ich ihm deine Grüße präsentiere – ich habe da so eine Idee…  lass mich mal machen.“--  Mehr war von ihm nicht zu erfahren.     Am Tag seiner Entlassung, als Münzing um 9 Uhr von einem Wärter abgeholt wurde, umarmten sich die beiden Freunde zum Abschied herzlich.     „Halte durch, Jens“, sagte Münzing, „ich habe das starke Gefühl, dass wir uns irgendwann einmal wiedersehen werden… draußen!,“ dann wurde er von dem Wärter weggeführt…  in seine Freiheit.   Wenige Tage nach seiner Entlassung rief Münzing in der Femina-Bar an und ließ sich mit Steinbach verbinden, der sich kurz danach am Apparat meldete.    „So also klingt die Stimme eines Menschen, der durch seinen  Meineid einen Unschuldigen hinter Gitter gebracht hat.“     „Was, zum Teufel, redest du da für einen Scheiß, Mann?“     „Ich rede davon, dass nicht Jens Fahrenschild die Tänzerin ermordet hat.“     „Und wer soll sie deiner Meinung nach umgebracht haben, du Klugscheißer?“     „Du --, du hast sie ermordet.“     „Ach ja?-- Und das fällt dir – lass mal überlegen, nach einem viertel Jahr erst ein?“     „Das hat eine ganz einfache Erklärung: Ich bin am 13.9., also ein Tag nach dem Mord – du siehst, mir ist das Datum noch sehr präsent - beruflich für einen längeren Zeitraum nach Südafrika geflogen. An diesem Tag hatte ich noch nichts über den Mord mitbekommen, erst vorgestern erfuhr ich durch Zufall davon.“     „Und wie kommst du auf die absurde Idee, ich soll sie ermordet haben?“     „Es gibt eindeutige Beweise.“     „Und was sollen das für angebliche Beweise sein?“     „Es soll dir genügen, dass ich über zweifelsfreie Beweise verfüge, deshalb schlage ich dir einen Deal vor: du zahlst mir entweder 20.000 Euro, und du erhältst dafür die Beweise von mir ausgehändigt, oder ich übergebe die Beweise der Polizei – wie dann das Strafmaß für Mord und wegen Meineides ausfällt, brauche ich dir ja nicht zu schildern.“     „Du bluffst doch nur. Du bist ein ganz schräger Hund -- ich glaube dir kein Wort.“     Für Münzing war in dem Moment klar, dass Steinbach auf seinen Vorschlag bereits angebissen hatte, sonst hätte er das Gespräch schon längst abgebrochen.     „Du kannst es ja drauf ankommen lassen, wenn du das Risiko eingehen willst.“     „Wenn ich das Geld hätte, würde ich auf den Handel eingehen, du Mistkerl, aber nicht, weil ich schuldig bin – weil ich sonst wahrscheinlich weiter von dir belästigt würde und ich vor dir doch keine Ruhe bekäme, aber ich habe das Geld ganz einfach nicht.“     „Hör zu, ich bin nur an dem Geld interessiert, nicht an deiner Verurteilung. Ich gebe dir acht Tage Zeit, das Geld zu besorgen, dann melde ich mich wieder, und ich rate dir, das Geld dann bereit zu halten.“     Damit beendete Münzing das Gespräch, ohne eine weitere Reaktion Steinbachs abzuwarten.   Zu Münzings Plan gehörte, Steinbach unbedingt vor der ‘Übergabe‘ kennenzulernen, ohne dass dieser erfuhr, wer er – Münzing – war und nach Möglichkeit auch unbemerkt ein Foto von ihm zu bekommen – gewissermaßen mit versteckter Kamera.     Dazu benötigte er die Hilfe seines Freundes Kämpner, sein alter Kumpel aus früherer, gemeinsamer Zeit – nur: Kämpner wurde nie erwischt.     Sie hatten vereinbart, dass Münzing als erster die Bar betrat und sich am Tresen ein Bier bestellt. Sein Freund würde draußen einen Moment warten und dann mit seinem Handy über die gespeicherte Nummer die Bar anrufen und Steinbach verlangen. Sobald dieser sich meldete, würde Kämpner die Verbindung einfach abbrechen – für Münzing war nur wichtig zu beobachten, wer den Hörer abnahm um dadurch Steinbach zu identifizieren.     Einige Minuten später war Kämpner in die Bar gefolgt und traf dort ‘zufällig‘ seinen alten Freund Münzing. Nach einer vorgetäuschten herzlichen Begrüßung zogen sie sich an einen etwas verdeckt stehenden Tisch zurück – von dort waren Münzing mit seinem Handy unbeobachtet dann auch einige brauchbare Fotos von Steinbach gelungen.     Der Tag X konnte kommen! –  Doch vorher stand ihm noch ein wichtiges Treffen bevor…   Nachdem die acht Tage vorüber waren, rief Münzing – gleich nachdem die Bar um 15 Uhr geöffnet hatte – dort an und ließ sich mit Steinbach verbinden. Als dieser sich meldete, fragte er nur:     „Hast du das Geld?“     „Ja, verdammt, ich will…“     Münzing ließ ihn nicht ausreden.     „Morgen 15 Uhr Heilig-Geist-Kirche, letzte Bank, rechte Seite – sei pünktlich!“, dann unterbrach er das Gespräch ohne eine Antwort abzuwarten.     Gleich anschließend rief Münzing das zuständige Polizeikommissariat an und verlangte einen schnellstmöglichen Termin bei seinem Revierleiter.     „Um was handelt es sich?“, wollte der Wachtmeister am Telefon wissen. „Könnern Sie das nicht mit mir besprechen?“     „Um Ihre erste Frage zu beantworten: Es geht um einen Mord, der ein viertel Jahr zurückliegt. Es geht in diesem Zusammenhang um ein persönliches Gespräch mit Ihrem Chef, es ist sehr wichtig.“     „Passt Ihnen heute um 19,3o Uhr?“     „Ja, vielen Dank. Es könnte ein längeres Gespräch werden – ich werde pünktlich sein.“   Münzing beabsichtigte, bei dem bevorstehenden Gespräch mit dem Revierleiter von vorn herein mit offenen Karten zu spielen; er würde nichts verheimlichen und nichts beschönigen. Deshalb schilderte er auch Hauptkommissar Kronstett – zu dem er kurz nach dem vereinbarten Termin bereits vorgelassen wurde – als erstes, dass er in der vergangenen Woche nach fünfjähriger Haft wegen schweren Einbruchs entlassen worden sei, und dann schilderte er, dass er die letzten drei Monate zusammen mit einem wegen Mordes verurteilten Täter verbracht hatte. „Und er ist der Grund, Herr Hauptkommissar, weshalb ich Sie um dieses Gespräch gebeten habe – der Mann ist nach meiner Überzeugung unschuldig. Er hat…“     „Wie kommen Sie zu der Behauptung, der Mann sei unschuldig?“, fiel ihm der Kommissar  deutlich unwillig ins Wort. „Er ist von einem ordentlichen Gericht rechtskräftig verurteilt worden – wollen Sie das anzweifeln?“     Münzing spürte, dass es nicht leicht sein wird, den Kommissar für seinen Plan zu gewinnen, doch unbeirrt fuhr er fort:     „Ich war ein viertel Jahr mit ihm in einer Zelle eingesperrt.“ Er vermied  zunächst seinen  Namen zu nennen. „Als er eingeliefert wurde, und noch viele Wochen danach, war er zutiefst verzweifelt, und diese Verzweiflung, Herr Hauptkommissar, war echt – eine solche Verzweiflung kann man nicht spielen… kann man nicht vortäuschen. Er hat mir den Verlauf des Prozesses immer wieder geschildert. Er ist aufgrund einer Aussage eines einzigen Zeugen verurteilt worden. Dieser Zeuge will meinen Zellengenossen zur Tatzeit unter sehr zweifelhaften Voraussetzungen erkannt haben: Es war nachts, es hatte geregnet, und er will ihn aus nachgewiesenen zwölf Meter Entfernung in den Sekunden, als mein Zellengenosse den schwachen Schein einer Außenlampe passierte, identifiziert haben. Die Verteidigung hatte aufgrund dieser Voraussetzungen im Zweifel für den Angeklagten und daher auf Freispruch plädiert. Das Gericht aber hat dem Zeugen Glauben geschenkt.     Ich verfüge ja mittlerweile auch über etwas Prozesserfahrung“, fügte Münzing grinsend hinzu. „In meinen Augen lagen aufgrund der Schilderungen meines Zellengenossen in dem Prozess keine konkreten Beweise gegen ihn vor, lediglich aufgrund dieser einen Zeugenaussage wurde das Urteil gefällt – es war nichts anderes als ein reiner Indizienprozess.“     Der Kommissar schwieg einen Moment, dann sagte er:     „Kein Richter wird leichtfertig ein Urteil aussprechen, wenn nicht genügend glaubhafte Beweise vorliegen, erst recht nicht bei einer so schwerwiegenden Bedeutung wie in dem von Ihnen geschilderten Fall. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass noch andere Gründe vorgelegen haben müssen, die mitentscheidend waren für das Urteil, die Ihr Zellengenosse Ihnen gegenüber nicht erwähnt hat. Apropos: wie heißt Ihr ehemaliger Zellengenosse eigentlich?“     „Jens Fahrenschild.“     „Fahrenschild – ja, natürlich. Ich erinnere mich, es ging um die Ermordung dieser Tänzerin. Ich habe den Prozess damals mit Interesse verfolgt – aber das Urteil war rechtsgültig. Die Verteidigung hatte zwar Berufung eingelegt, konnte aber keine neuen Entlastungsbeweise vorbringen.“     „Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, den Beweis zu erbringen, dass Fahrenschild unschuldig ist…  mit Ihrer Hilfe, Herr Hauptkommissar.“     „Kronstett – nicht Hauptkommissar, wir haben es hier nicht so mit Titeln, aber lassen Sie hören.“     Münzing schilderte dem Kommissar sein Telefongespräch vor acht Tagen mit Steinbach -- dem Zeugen, der Fahrenschild belastet hatte, von seinem – Münzings – angeblichen Beweis, dass Steinbach gelogen hatte, dass er ihn sogar des Meineides bezichtigt hatte, aufgrund dessen Fahrenschild unschuldig verurteilt worden sei. Er schilderte dem Kommissar von seinem Angebot, wenn Steinbach ihm 20.000 Euro bezahle, dass er ihm dafür im Gegenzug den angeblichen Beweis aushändige. Er hatte Steinbach acht Tage Zeit eingeräumt, das Geld zu besorgen.     „Heute habe ich ihn wieder angerufen: er hat das Geld. Ich habe ihn für morgen 15 Uhr in die Heilig-Geist-Kirche bestellt zur Übergabe. Für mich steht eindeutig fest, dass er unbedingt in den Besitz des Beweises kommen will – dass es diesen Beweis in Wirklichkeit nicht gibt, ahnt er natürlich nicht. Ich weiß, das ist rechtlich nicht korrekt, aber es geht mir ausschließlich darum, Fahrenschild zu rehabilitieren, und daher, denke ich, heiligt der Zweck in diesem Fall die Mittel – ich sehe darin kein Unrecht.“     „Ich gebe zu, Ihre Schlussfolgerungen sind nicht von der Hand zu weisen und geben zumindest Anlass, noch einmal über den Prozessverlauf nachzudenken. Aber sagen Sie, warum haben Sie Steinbach ausgerechnet in eine Kirche bestellt, haben Sie dafür einen besonderen Grund?“     „Ich denke, es ist ein Ort, der uns Sicherheit bietet vor eventuellen unliebsamen Überraschungen – für ihn, aber auch für mich. Ich muss davon ausgehen, dass Steinbach der wirkliche Mörder ist, der unbedingt in den Besitz des ihn belastenden Beweises kommen will – man weiß nie, wie Menschen unter diesem psychischen Druck reagieren.“     Kronstett stand auf, er begab sich ans Fenster und blickte einen Moment schweigend hinaus, dann wandte er sich wieder um und schaute zu Münzing hinüber.     „Ihre Argumente haben mich – bei allen eventuell noch bestehenden Zweifeln – so weit überzeugt, dass ich einen Polizeieinsatz für gerechtfertigt halte. Nur gibt es da ein kleines Problem: uns fehlt bis jetzt ein eindeutiger Hinweis, woran wir Steinbach erkennen können.“     Münzing holte sein Handy hervor und zeigte Kronstett die Aufnahmen von Steinbach und schilderte ihm, wie sie zustande gekommen waren.     „Sie scheinen ja an alles gedacht zu haben“, sagte der Kommissar anerkennend. „Ist es Ihnen recht, wenn ich sie auf unseren PC übertrage, dann kann ich Ausdrucke für unsere Beamten morgen anfertigen lassen.“      Natürlich war Münzing damit einverstanden; er hatte sie ja zu diesem Zweck aufgenommen in der Hoffnung, bei der Polizei für seinen Plan Unterstützung zu finden.     Der Kommissar und Münzing besprachen dann noch die genauen Einzelheiten ihres Vorgehens am nächsten Tag; da um 15 Uhr keine Messe stattfand, würde es da auch zu keiner Störung kommen und so brauchten sie in dieser Richtung keine Rücksicht zu nehmen.     Es war weit nach 22 Uhr, als Münzing -- glücklich über das Ergebnis seiner Besprechung und auch in etwas banger Erwartung des nächsten Tages – das Kommissariat verließ.   Als Münzing am nächsten Tag eine viertel Stunde vor der vereinbarten Zeit -- er wollte unbedingt vor Steinbach am Treffpunkt sein – vor der Kirche ankam, beobachtete er einen Moment unauffällig die Umgebung -- er konnte aber nichts Verdächtiges ausmachen. Auch von Polizeibeamten war nichts zu sehen, aber er war sicher, dass sie vorhanden waren, dass sie aus dem Verborgenen heraus den Eingang nicht aus den Augen ließen.     Beim Betreten der Kirche warf er einige Münzen in den noch leeren Hut des Pennbruders, der einsam auf den Stufen vor dem Eingang saß. Die Kirche war, bis auf einige Betenden in den vorderen Reihen, leer. Münzing setzte sich – wie vereinbart – in die hintere, rechte Bankreihe, in der Nähe des Mittelganges. Ob sich in der Kirche auch ein Beamter aufhielt, der ihn und damit auch Steinbach unbemerkt beobachtete? Fast wünschte er es sich jetzt. Warum hatte er mit einem Mal dieses unerklärliche, beunruhigende Gefühl? --  Dachte er an seine Worte gestern bei Kommissar Kronstett: ‘… man weiß nie, wie Menschen unter diesem psychischen Druck reagieren‘? Doch er hatte ja bewusst den Treffpunkt in der Kirche gewählt, weil diese heilige Stätte ihm das Gefühl der annähernden Sicherheit verlieh.     Plötzlich schrak er zusammen: Steinbach stand neben ihm – er hatte ihn nicht kommen hören. Ohne ein Wort hielt Steinbach ihm die linke Hand hin. Münzing zog einen Umschlag aus seiner Jacke hervor und reichte ihn hinüber. Steinbach riss ihm den Umschlag aus der Hand, gleichzeitig stieß er ihm das Messer tief in die Brust und eilte zurück zum Ausgang, doch da stürzten zwei Beamte hinter den Säulen hervor, hinter denen sie sich verborgen gehalten hatten, drückten ihn zu Boden, rissen ihm die Hände auf den Rücken und legten ihm Handschellen an, dann zwangen sie ihn wieder aufzustehen. Während einer der Beamten Steinbach hinausführte und ihn seinen Kollegen übergab, die von dem vermeintlichen ‘Pennbruder‘ über sein Mikrofon vom Betreten der Kirche Steinbachs informiert worden waren und zur Sicherheit zu beiden Seiten des Portals ihre Positionen bezogen hatten, bemühte sich der zweite Beamte um Münzing, der blutüberströmt in der Sitzreihe lag – das Messer steckte noch in seiner  Brust. Als erstes kontrollierte er Münzings Puls – er war noch schwach zu spüren, darauf bestellt er dringend den RTW. Das Messer ließ er unberührt stecken, um nicht zusätzlich das Risiko einer verstärkten inneren Blutung einzugehen, das musste im Krankenhaus operativ entfernt werden.     Wenige Minuten nach dem Anruf traf bereits der Rettungswagen ein. Vorsichtig wurde Münzing hinausgetragen – sein Leben hing buchstäblich an einem seidenen Faden.    Bei der noch vor Ort vorgenommenen Durchsuchung Steinbachs fand man den Umschlag – er enthielt lediglich ein Blatt Zeitungspapier, aber man fand kein Geld. Er hatte also von vornherein geplant, Münzing zu beseitigen und war dabei auch vor einem Mord in der Kirche nicht zurückgeschreckt.            10 Tage vor Prozessbeginn gegen Fritz Steinbach wegen schwerer Körperverletzung und versuchten Mordes hatte sich das Gericht unter seinem Vorsitzenden Gert Braunschweiger zu einem ungewöhnlichen Schritt entschlossen. Da es für den Prozessverlauf von wesentlicher Bedeutung war, nähere Auskunft über den Anlass und den Verlauf des Überfalls in der Heilig-Geist-Kirche zu erfahren und Münzing noch zu geschwächt war um vor Gericht erscheinen zu können – er hatte den Anschlag nur knapp überlebt --, verlegte das Gericht seine Tagung ins Marien-Krankenhaus. Die Krankenhausverwaltung hatte zu diesem Zweck den Konferenzsaal zur Verfügung gestellt, in den Münzing mit seinem Bett hineingefahren wurde.    Münzing schilderte, wie bereits bei Polizeihauptkommissar Kronstett, noch einmal, wie er Jens Fahrenschild bei seiner Einlieferung in ihre gemeinsame Zelle erlebt hatte.     „Er war verzweifelt. Über viele Wochen schilderte er mir immer wieder den Verlauf des Prozesses, dass er nur aufgrund der Aussage eines einzigen Zeugen, ohne dass wirkliche, konkrete Beweise gegen ihn vorlagen, dass er nur anhand von Indizien verurteilt worden sei. Ich spürte über viele Wochen seine Verzweiflung, Hohes Gericht. Seine Verzweiflung war echt, sie kam aus seinem tiefen, gequälten Herzen und schon in der Zelle, vor meiner Entlassung, stand mein Plan fest: sobald ich in Freiheit war, alles zu versuchen, Fahrenschild zu einer Rehabilitation zu verhelfen. Meine Zielperson war natürlich Steinbach, dem er seine Verurteilung zu verdanken hatte, von dem ich nicht nur vermutete, dass er einen Meineid geschworen hatte, sondern dass er auch der Mörder gewesen sein könnte. Ich musste ihn auf irgendeine Weise provozieren, und so kam ich auf die Idee mit dem fingierten Beweis. Ich denke, dass  e r  mit seinem Mordversuch an mir nun den Beweis geliefert hat, auf den das Gericht sein gerechtes Urteil aufbauen kann…  und vor allem aber: dass Fahrenschild endlich rehabilitiert wird.“     Als Münzing seine Schilderungen, die ihn sichtlich erschöpft hatten, beendet hatte, richtete der Vorsitzende noch einige persönliche Worte an ihn:     „Ich habe die Akte zu dem damaligen Prozess gelesen – es stimmt, dass das Urteil nur aufgrund der Aussage dieses einen Zeugen gefällt  wurde. Zu Beginn des Prozesses ging es  außerdem auch um anonyme Anrufe an die Mutter der Ermordeten, die aber nicht weiter verhandelt wurden. Der Verdacht liegt nahe, dass Steinbach auch für diese Anrufe verantwortlich ist – das wird noch zu prüfen sein.     Dank Ihrer Initiative, bei der Sie sogar Ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, wird es dem Gericht nun möglich sein, den gesamten Prozess noch einmal neu aufzurollen. Ich wünsche Ihnen weiterhin eine baldige Genesung.“   Und dann war endlich der Tag gekommen, an dem das Urteil gegen Fritz Steinbach verkündet werden sollte.     Im Laufe des Prozesses hatte sich der Verdacht des Vorsitzenden Braunschweiger bestätigt, dass Steinbach auch der anonyme Anrufer gewesen war. Die Mutter ‘Glorias‘, Gudrun Schönborn, war noch einmal als Zeugin geladen worden und hatte die Stimme eindeutig wiedererkannt. Auf die Frage des Vorsitzenden, was ihn zu der anonymen Geldforderung veranlasst habe, stellte sich überraschend heraus, dass er der Erpresserbande Werner Müllers, dem Ehemann ‘Glorias‘, angehört hatte.     „Die ‘Einnahmen‘ “, schilderte Steinbach, „wurden nach einem  festgelegten Schlüssel an die Mitglieder verteilt. Wie viel Müller jedes Mal vorher für sich abgezweigt hat, weiß ich nicht, doch nach dessen Tod vermutete ich, dass noch ein sehr hoher Betrag vorhanden sein musste – an den wollte ich heran.“     „Und warum haben Sie dann Lisbeth Müller, beziehungsweise ‘Gloria‘, ermordet?“, schoss jetzt Staatsanwalt Bergström seine Frage ab.     „Das war ich doch nicht“, wies Steinbach die Frage empört zurück. „Das war Jens Fahrenschild, er ist doch auch dafür bereits verurteilt worden.“     „Dass er verurteilt worden ist, das wissen wir“, hielt der Staatsanwalt ihm entgegen. „Da Sie ja offensichtlich unschuldig sind, frage ich mich, warum Sie Reinhold Münzing in der Kirche ermorden wollten – sagen Sie mir das!“, herrschte er Steinbach an.     „Er hat mir angedroht, irgendwelche angebliche Beweise der Polizei übergeben zu wollen, wenn ich ihm nicht 20.000 Euro dafür bezahlen würde. Er wollte mir die Beweise aber nicht herausrücken, als ich ihm das Geld gegeben hatte, da habe ich ihn…  es war wohl aus Wut im Affekt umgebracht.“     „Es ist nur merkwürdig, dass kein Geld bei Münzing gefunden wurde – finden Sie nicht?“     „Dann hat er es irgendwo versteckt, was weiß ich.“     „Das war kaum möglich bei der Verfassung, in der er von den Beamten vorgefunden wurde. Ich will Ihnen sagen, wie es war: Sie hatten gar nicht vor, Münzing das Geld auszuhändigen – Sie hatten nämlich gar keins dabei. Sie hatten von vornherein geplant, ihn mit Ihrem Messer, das Sie zu diesem Zweck bereits bei sich trugen, umzubringen, nachdem er Ihnen den Umschlag, von dem Sie ausgingen, dass er die belastenden Beweise enthielt, ausgehändigt hatte, der Ihnen ja vor der Kirche von den Beamten abgenommen wurde.“ Dass er nur ein Blatt Zeitungspapier enthielt, verschwieg er, um Steinbach weiter in dem Glauben zu belassen, dass dieser Beweis wirklich vorliege.     Dann holte Staatsanwalt Bergström zu seinem großen Schlag aus – es war ein Bluff, mit dem er Steinbach endlich zu einem Geständnis verleiten wollte:     „Es liegen mittlerweile Erkenntnisse aufgrund neuer DNA-Untersuchungen vor, die eindeutig beweisen, dass Sie die Tänzerin ‘Gloria‘ ermordet haben, dass Sie willentlich Jens Fahrenschild falsch beschuldigt haben. Es Ist jetzt der Augenblick gekommen, Angeklagter, Ihre Aussage gegen Fahrenschild zu widerrufen und ein umfassendes Schuldgeständnis abzulegen. Die gegen Sie vorliegende Beweiskraft bietet Ihnen keinen möglichen Ausweg mehr, auf den Sie hoffen können.“     Gebannt warteten das Gericht und die Zuhörer auf die Antwort Steinbachs. Würde er sich schuldig bekennen… würde damit der Justizirrtum des früheren Gerichts an den Tag kommen… würde Jens Fahrenschild nach fast neun Monaten Haft seine Freiheit wiedererlangen? --           Steinbach zögerte. Er schien nach einem Weg zu suchen, sich aus der sich abzeichnenden, drohenden Schuldzuweisung herauszuwinden. Er sträubte sich gegen die Erkenntnis, dass das Spiel für ihn zu Ende war…  dass er verloren hatte. Er suchte verzweifelt nach einem Ausweg, doch er fand keinen…  es gab keinen Ausweg mehr für ihn…  er gab auf.     Müde, resigniert kamen die Worte über seine Lippen: „Ja, ich habe Gloria ermordet.“     Darauf richtete Staatsanwalt Bergström seine Forderung an Steinbach, dem Gericht zu erklären, warum er Lisbeth Müller, alias Gloria, ermordet hat.     Zögernd, unwillig antwortete er:     „Gloria hatte irgendwie erfahren, oder vielleicht war es auch nur eine Vermutung, ich weiß es nicht, jedenfalls sagte sie, ich solle mit meinen Anrufen aufhören, sonst würde sie mich anzeigen. Nach ihrem Auftritt bin ich zu ihr in die Garderobe gegangen und habe ihr Konsequenzen angedroht, falls sie mich anzeigen würde, doch sie ließ sich nicht umstimmen. Wir haben uns gestritten, und dann habe ich plötzlich die Beherrschung verloren – ich wollte sie eigentlich nicht töten.“     Sein letzter Satz klang nicht nach Bedauern, er klang eher nach einer sachlichen Feststellung.     „Hohes Gericht, die Staatsanwaltschaft hat keine weiteren Fragen an den Angeklagten.“     Von Seiten der Verteidigung, die sich während des ganzen Prozesse merklich zurückgehalten hatte, gab es keine Wortmeldung.     Der Vorsitzende Richter sah auf seine Uhr. „Es ist jetzt zwanzig Minuten vor zwölf. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück und wird um 14.3o Uhr das Urteil verkünden. Die Sitzung ist bis dahin unterbrochen.“     Pünktlich um 14.3o Uhr, nachdem der Vorsitzende Richter alle Anwesenden aufgefordert hatte, sich zu erheben, verkündete er das Urteil:     „Der Angeklagte Fritz Steinbach wird nach einstimmigem Beschluss des Gerichts für schuldig befunden des Mordes an Lisbeth Müller, des versuchten Mordes an Reinhold Münzing, des Meineides und der räuberischen Erpressung.     Das Urteil lautet: Lebenslängliche Freiheitsstrafe für den Angeklagten Fritz Steinbach mit anschließender Sicherungsverwahrung.     Das Urteil gegen Jens Fahrenschild wird hiermit aufgehoben und ist unverzüglich aus der Haft zu entlassen.     Die Sitzung ist beendet.“   Als Jens Fahrenschild am nächsten Tag aus seiner Haft entlassen wurde, erwartete ihn vor dem Tor Reinhold Münzing, der mittlerweile von seiner schweren Verletzung wieder weitestgehend genesen war, um seinen alten, neuen Freund in der nun vor 10 Monaten versprochenen Freiheit zu begrüßen. ******************** Am 23.12.2017 um 22:53 von Sigi auf StoryHub veröffentlicht (http://sthu.de/s=EH%C3%84%7D%40) ********************