Springen - oder doch nicht?

Kurzbeschreibung:

Am 11.7.2021 um 20:49 von TJ-Omar auf StoryHub veröffentlicht

»Spring schon!«, forderte ihn das Teufelchen auf seiner linken Schulter auf. »Dein Leben ist eh am Arsch.«

Kevin stand auf der Brüstung der Brücke. Unter ihm rasten die Fahrzeuge auf der Autobahn vorbei. Nur ein Schritt, und das ganze Leid wäre von einem Moment in den nächsten vorbei. Nur ein Schritt, und die zahllosen Probleme wären hinter ihm.

»Tu es nicht«, redete das Engelchen auf seiner rechten Schulter auf ihn ein. »Damit würdest du Menschen, die dich lieben, ins Unglück stürzen.«

Kevin dachte an Lisa, wegen der er den ganzen Raubzug durchgezogen hatte. Mit ihr hatte so manche glückliche Momente erlebt. Er wollte sie nicht verlieren. Nicht auf dieser Weise. Aber wie sollte er das Blatt noch wenden?

»Was soll ich bloß tun?«, murmelte Kevin vor sich hin, ohne den Schmerz aus seiner Stimme verbannen zu können.

»Das was wohl, du Sackgesicht? Du sollst endlich springen! Die Hure ist es nicht wert, am Leben zu bleiben. Vertrau mir, sie vögelt jeden dahergelaufenen Hund, der ihr über den Weg läuft, während du auf der Arbeit eine Überstunde nach der andern ansammelst.«

»Du es nicht. Wenn du deine Freundin so sehr liebst, wie es glaube, dann sollst du ihr Herz erobern. Wieder und immer wieder. Führ sie zum Essen aus, kauf ihr was schönes. Hör ihr zu, wenn sie was zu sagen hat. Tröste sie sie, wenn es ihr schlecht geht.«

Eine Träne kullerte ihm die Wange herunter bei dem Gedanken, dass er weder das nötige Geld, noch genügend Zeit für all das hatte. War das nicht der Grund für alles? Ihr ständiges Fremdgehen? Wenn das Arschloch von einem Boss, dieser ekelhafter Halsabschneider, ihm doch nur die Gehaltserhöhung geben würde, die ihm zustand. Mit Sicherheit wäre Kevin nicht in dieser beschissener Situation gelandet.

Über ihm wurde das Rotorengeräusch lauter. Ein Blick auf das Logo auf dem Helikopter genügte, um die ›Action News‹ zu erkennen.

»Was zur Hölle wollen die Arschlöcher hier?« fragte Kevin fluchend.

»Woohoo«, stieß das Teufelchen voller Freude von sich und vollführte auf Kevins Schulter einen Freudentanz auf. »Dein Sprung wird Landesweit übertragen. Das wird ein Spaß sein. Du kannst stolz auf dich sein, Kev. Alle werden deinen Suizid sehen. Jeder wird dich kennen. Mit deinem letzten Atemzug wirst du ein Megastar sein. He, siehst du den Laster näher kommen? Lass die Leute ein richtiges Spektakel sehen. Bring es mit einem Knall zu Ende. Los!«

»Das ist nichts, worauf man stolz sein sollte«, erwiderte das Engelchen. »Du solltest dir im klaren sein, wer dir wichtig ist. Die Menschen die dich lieben, oder die Menschen die dich angaffen.«

Hin und her gerissen von den beiden Gestalten auf seinen Schultern, die nur in seinem kranken Verstand existieren konnten, wusste Kevin nicht, was er machen sollte. Einerseits wollte er Lisa nicht verlieren und ihr die quellenden Schmerz ersparen. Aber anderseits war er den ewigen Kampf um sie allmählich müde. Und im Job lief es auch schon lange nichts mehr rund. Er hätte schon längst befördert werden sollen und eine kräftige Gehaltserhöhung bekommen. Wenn sein dämlicher Boss endlich erkennen würde, welche Leistung Kevin erbrachte. Mehr als seine Kollegen, die immer früher gingen, als sie vertraglich verpflichtet waren. Während diese Arschlöcher von früh bis spät Kaffeepause machten, erledigte Kevin neben seinen eigenen Aufgabe obendrein noch deren. Wieso erkannte sein Boss das nicht? Überstunden, Überstunden und eine Freundin, die ihm am laufenden Band betrog war das, was sein Leben war. Und dennoch hatte er die Hoffnung nie aufgegeben. Zumindest bis jetzt.

»Sei ein Star. Lass alles hinter dich, und genieße den Augenblick deiner Freiheit«, heizte das Teufelchen ihn an.

»Diese Freiheit, wie das Teufelchen es so schön umschreibt, wirst du nur solange spüren, bis du den Asphalt küsst und die Reifen über dich rollen. Ist es das, was du fühlen willst? Oder willst du doch geliebt werden?«

»Hör nicht auf diesen verweichlichten Typen im Kleidchen. Sei endlich ein ganzer Kerl, und spring endlich.«

»Es gehört mehr zu einem ganzen Kerl, als zu beweisen wie hart man ist.«

»Zum Beispiel dem Boss eine knallen, weil dieser Idiot nicht sieht, was du für ihn leistest. Oder die Kerle, für die deine geliebte Lisa die Beine breit mach, blutig zu hauen.«

»Ja. Ich meine, natürlich nein. Du musst das Herz deine Dame gewinnen.«

»Und zwar mit dem geklauten Geld in der Sporttasche«, sachte das Teufelchen und lachte dabei voller Schadenfreude. »Mensch, war das eine Aktion. Der Kassierer hat doch wirklich blöd aus der Wäsche geschaut, als du ihm die Knarre ins Gesicht gedrückt hast. Für einen Waschlappen hast du es echt drauf. Und schnell wegrennen kannst du auch. Das hätte ich dir echt nicht zugetraut.

Kevin fragte sich, ob das alles überhaupt einen Wert hatte. Entweder würde er springen, und somit sein Leben beenden. Oder er würde sich freiwillig der Polizei stellen, und jeder Mensch, der ihm je etwas bedeutet hatte, würde sich ihm den Rücken kehren. Und das Geld wäre auch weg.

»Wofür das alles?«, fragte sich Kevin laut. »Was wollte ich damit beweisen? Das ich es kann?«

»Andere zu beklauen und sie um ihr Leben bangen lassen gehört sich nicht. Das bist nicht du, Kevin. Du weißt es genau.«

»Ja, und? Unser lieber Kevin hat sein Leben lang das gemacht, was von ihm verlangt wurde. Und war der Dank dafür? Eine Freundin, die ihm bei jeder Möglichkeit fremd bumst. Ein Job, wo er tagtäglich erniedrigt wird. Was will Lisa eigentlich noch von dir? Weder befriedigst du sie im Bett, noch finanziell.

Und Engelchen, diese Aktion war der einzige Spaß denn er sich im Leben geleistet hat. Endlich hat er gespürt, dass er lebt. Und du, Kevin, spring endlich.«

»Kevin kann sich eine neue Arbeit suchen, und sich nach einer neuen Partnerin Ausschau halten.«

Engelchen hatte vollkommen recht. Wenn er sich der Polizei stellte und kooperiert, würde das bestimmt in seinem Verfahren Pluspunkte einbringen. Vielleicht würde er mit einer geringeren Haftstrafe belohnt. Lisa konnte er nun vollkommen vergessen, egal was kommen sollte. Und sein Boss konnte ihn jetzt erst recht am Arsch lecken. Zu wenig hat Kevin für seine Aufopferung bekommen.

Mit einem Lächeln fasste er den Entschluss sein Leben in neue Bahnen zu lenken, die ihn in eine positive Zukunft führte. Er sprang von der Brüstung. Aber nicht vor die Autos unter ihm. Dabei fiel ihm auf, dass er die Schusswaffe immer noch in der einen Hand hielt, und die Sporttasche in der anderen. Wenn er ins nächste Polizeipräsidium ankam, würde er die Beute und die Tatwaffe ausliefern, und ein Geständnis abgeben. Nach der Haftstrafe konnte er sein neues Leben, sein besseres Leben anfangen.

Als er sich umdrehte, sah er in den Lauf der Polizeiwaffe. Die hatte er auch vergessen.

»Verflucht«, konnte er noch herausbringen, bevor die Polizeiwaffe einen lauten Knall von sich gab.