Vom Wunsch, die Katze zu sein

Kurzbeschreibung:

Am 19.1.2017 um 9:28 von Sephigruen auf StoryHub veröffentlicht

Caro stand unschlüssig vor Sophies Tür. Eigentlich wollte sie ihre Freundin nicht warten lassen, die sie doch an diesem Tag brauchte. Doch genau darum war sie sich so unsicher, wie sie ihr gegenübertreten sollte. Trost spenden, das gehörte nicht gerade zu den Dingen, die sie gut konnte.
Mit gequältem Ausdruck drehte sie sich zu Hannes um, der sie begleitet hatte und gegen sein Moped gelehnt auf dem Bürgersteig stand. Er machte ein ernstes Gesicht, was selten genug vorkam, und schaute hinauf zu Sophies Zimmerfenster.
»Du gehst vor«, bat sie und faltete die Hände.
Er schüttelte den Kopf und einige Haare blieben in seinem Gesicht hängen. Er machte keine Anstalten, sie wegzuwischen. »Nach dir hat sie gefragt«, sagte er. »Nicht nach uns. Ist wohl auch besser so, eine große Hilfe wäre ich sicher nicht.« Er lächelte freudlos. »Ich bleib in der Nähe, ruf mich an, wenn ich dich wieder abholen soll.«

Caro sah ihm nach, wie er davon fuhr, und wartete, bis das Motorengeräusch seines Mopeds verklungen war, bevor sie klingelte. Sie hoffte, dass Sophie selbst zur Tür kommen würde, denn wie sie sich gegenüber ihrer Mutter verhalten sollte, wusste sie nicht. Auch bei Sophie wusste sie das nicht so genau, aber die würde ihr das nicht übel nehmen.
Aber nein, natürlich trat der schlimmstmögliche Fall ein und es war Sophies Schwester Susanne, die nun im Rahmen stand und sie anschaute. Selbstverständlich war sie nachhause gekommen, aber musste sie sich denn benehmen, als würde sie hier wohnen, nachdem sie vier Jahre überhaupt nichts von sich hatte hören lassen?
»Caroline?«, fragte sie ungläubig und Caro hätte sich bei der Erwähnung ihres Namens beinah geschüttelt. Niemand benutzte ihn, nicht einmal Herr Artmann oder Herr Graf.
»Ich möchte zu Sophie«, sagte Caro nur und bemühte sich doch, nicht ganz so abweisend zu klingen.
»Oh, natürlich.« Susanne trat zur Seite und ließ sie in den Flur. »Sie ist in ihrem Zimmer und hat die Tür abgeschlossen. Seit dem Mittagessen war sie nicht mehr draußen.«
Dazu sagte Caro nicht, dass sie sich gut vorstellen konnte, dass Sophie sich lieber in ihrem Zimmer einschloss als ihre Schwester zu sehen. Sie wusste nicht, was vorgefallen war, dass Susanne einfach so verschwunden war, es ging sie auch nichts an. Sie wusste nur, dass Sophie in dieser Sache auf der Seite ihrer Eltern gestanden hatte und tief verletzt gewesen war.
An Sophies Zimmertür zu klopfen, fiel Caro überhaupt nicht schwer. »Ich bin’s«, sagte sie, als eine Weile lang keine Reaktion kam. Dann konnte sie Schritte auf dem Teppich hören.
»Bist du allein?«, hörte sie Sophie fragen.
Caro schaute sich über die Schulter. Susanne ging gerade durch die Küchentür und schloss sie hinter sich. »Ja, ich steh hier allein.«
Das Schloss klickte und Sophie öffnete die Tür ein kleines Stück, blieb allerdings nicht stehen, als Caro ins Zimmer kam. »Schließ bitte wieder zu«, sagte sie und ließ sich aufs Bett fallen, auf dem ein dickes, altes Bilderalbum, ein Stoffpinguin und die Katze lagen. Dazwischen saß nun wieder Sophie, die Beine herangezogen und die Augen auf die Knie gedrückt. Ihr Pony war nass und strähnig, sie trug ein großes, schwarzes T-Shirt, das ihr unmöglich gehören konnte, und sie hatte Bissspuren von sich selbst an den Unterarmen. Sie sah so elend aus, wie es ihr offenbar ging.
Caro kam sich unendlich hilflos vor, blieb mitten im Raum stehen, als sie abgeschlossen hatte. Was konnte sie tun konnte, was nicht unpassend oder falsch sein würde? Am liebsten wäre sie in diesem Moment die Katze gewesen, die dort einfach neben ihrem Frauchen liegen konnte und durch ihre bloße Anwesenheit und leises Schnurren Trost spendete.
Langsam ging sie zum Bett und setzte sich auf die Kante, legte Sophie vorsichtig eine Hand auf die Schulter. Und weil sie nichts wusste, das sie hätte sagen können, saßen sie da einfach schweigend, die Stille nur durchbrochen vom Schnurren der Katze, die sich zwischen ihnen der Länge lang hingefläzt hatte, und Sophies schweren Atemzügen.
Sie wollte Sophie den Anfang lassen, sie nicht hetzen und sie zu nichts drängen, sondern einfach warten, bis sie bereit war. Zu was auch immer. Caro wusste einfach nicht, was man in solch einer Situation tat, zum Glück war sie niemals in einer vergleichbaren gewesen.
Eine halbe Stunde verging und Caros Rücken begann, zu schmerzen, aber sie rührte sich nicht.

Sophies krümmte sich zusammen wie in einem Krampf, und als sie sich wieder entspannte, schaute sie auf und in Caros Gesicht. Ihre Augen waren gerötet und sie sah so erschöpft aus. »Caro, er …«, begann sie, aber schon brach ihre Stimme und sie quietschte lang gezogen und kläglich. Sie biss sich in den Daumen und Caro nahm ihr die Hand vom Mund weg, bevor sie noch anfing, zu bluten.
Sophie starrte sie einen Moment an, dann setzte sie die Katze ans Fußende und zog Caro neben sich, rutschte auf ihren Schoß und schlang die Arme um ihren Hals. »Wir«, schluchzte sie und fing an, zu weinen, wie sie es an diesem Tag wohl schon unzählige Male getan hatte.
Caro hielt sie fest, streichelte ihr durch die Haare, während sie von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. So lang das alles blieb, was von ihr erwartet wurde, konnte sie das. Erst hatte sie es für einen ganz dämlichen Scherz gehalten, als ihre Mutter sie am Morgen geweckt und gemeint hatte, Sophies Vater wäre gestorben. Aber dann hatte sie Sophie nicht erreichen können, bis die selbst angerufen und sie hergebeten hatte.
»Er war doch erst mit uns auf dem Konzert. Vor zwei Wochen erst!« Sophie drückte sich an sie und wurde immer wieder von eigenen Schluchzern unterbrochen. »Gestern ging es ihm noch ausgezeichnet, wie kann er da jetzt …« Wieder brach ihre Stimme.
»Nicht«, flüsterte Caro, als sie merkte, dass ihre Freundin kurz vor dem Zusammenbruch stand, und hielt sie fester. Es war armselig, aber mehr konnte sie nicht tun. Ihr war es auch völlig unverständlich, wie das hatte passieren können. Sophies Vater war ihr vollkommen gesund vorgekommen, er war ja auch erst dreiundvierzig gewesen, agil, immer gut drauf. Caro hatte ihn fast so sehr gemocht wie ihren eigenen Vater, hatte ebenso viel Zeit hier verbracht wie bei sich daheim. Auch wenn sie nicht der Typ war, der in Tränen ausbrach, war sie doch genauso fassungslos wie Sophie. Der ganze Tag war ihr unwirklich vorgekommen, und sie hoffte immer noch, dass es sich am Ende als Albtraum herausstellte und sie endlich aufwachen würde.
»Nie wieder, niemals wieder«, stammelte Sophie und schnappte nach Luft, hielt sich mit einer Hand die Stirn. »Er kommt nicht zurück und es tut so weh und …« Sie biss die Zähne fest zusammen und schluchzte erstickt.
»Ich weiß, es ist schwer, aber versuch, dich zu beruhigen.« Caro küsste sie auf die Stirn.
»Wie soll ich mich denn nicht aufregen?«, fragte Sophie heftig und Wut spielte in ihrer Stimme mit. Keine Wut auf Caro, dann würde sie nicht mehr auf ihr sitzen. »Entschuldige … Aber weißt du, es war ja klar, dass sie jetzt ankommt und so tut, als täte es ihr leid. Vier Jahre lang war sie weg, hat sich einen Dreck um uns alle geschert und nun steht sie plötzlich wieder auf der Matte! Macht einen auf mitfühlende große Schwester, ich könnte kotzen.« Sie war so laut geworden, dass die Katze angstvoll aufschaute, und währenddessen war ihre Stimme immer angestrengter geworden.
»Nicht doch …« Caro nahm Sophies Gesicht in die Hände. »Ignorier sie einfach, sie ist es nicht wert, dass du dich wegen ihr so aufregst.«

Sophies Kinn zitterte und sie drückte die Augen zu, unter ihren Lidern quollen zwei dicke Tränen hervor, liefen an Caros Daumen entlang. »Aber diese blöde Kuh kommt einfach her und löchert Mama mit Fragen, anstatt sie einfach mal in Ruhe zu lassen. Hat beim Mittagessen wissen wollen, was sie mit seinen Sachen vorhat. Na, hör mal, da ist er noch nicht mal kalt und sie will schon alles verscherbeln, oder was?« Es klang ausgesprochen schmerzhaft, als sie ausatmete.
»Sophie. Sophie, nicht. Weißt du, vielleicht kommt sie selbst auch nicht damit zurecht und versucht, sich auf die praktischen Dinge zu konzentrieren, um nicht an die anderen denken zu müssen.« Das hielt Caro zumindest für wahrscheinlich, allerdings wusste sie nicht, ob das zu Susanne passte. Dass die nur auf Geld aus war, konnte sie sich nicht vorstellen, das hatte sie schon damals nicht gewollt, so weit Caro wusste.
»Aber dann soll sie doch Mama nicht damit belästigen! Du hättest sie in dem Moment sehen sollen! Auf jeden Fall komm ich nicht mehr hier raus, bis sie weg ist«, erklärte sie trotzig und leckte sich Tränen von der Wange.
»Dann lässt du deine Mutter mit ihr allein«, stellte Caro fest.
Sophie wandte sich ab, tat einige zitternde Atemzüge. »Leider kann ich sie ja nicht einschließen oder aussperren. Wäre Mama heute früh nicht zur Tür gegangen, ich hätte sie nicht rein gelassen.«
Caro seufzte. Die Wut auf ihre Schwester lenkte sie zwar für einen Moment von der Trauer ab, war jedoch auch nicht viel besser. »Jetzt vergiss doch einfach Susanne. Sie ist doch bestimmt nur hier, bis …« Sie wollte es nicht aussprechen, aus irgendeinem Grund wehrte sich etwas in ihr mit aller Macht dagegen.
»Ja, nach der Beerdigung haut sie wieder ab, aber bis dahin ist es noch eine Woche.« Sie hielt sich mit beiden Händen den Kopf und schaute über Caro hinweg an die Wand, atmete tief durch. »Caro, ich brauch deine Hilfe«, flüsterte sie heiser.
»Alles, was du möchtest«, sagte Caro sofort, froh darüber, dass sie offenbar etwas tun konnte.

Für einen kurzen Augenblick lächelte Sophie, als sie aufstand und Caro an den Händen auf die Beine zog. Die Katze schaute ihnen nach, als sie zur Tür gingen, aufschlossen und Sophie über den Flur huschte.
Ganz leise schob sie die Wohnzimmertür auf und ging mit gesenktem Blick hinein. Caro folgte ihr, hielt ja noch immer ihre Hand, und fand Sophies Mutter auf dem Sofa vor, den Blick aus dem Fenster gerichtet und eine Tasse Tee vor sich auf dem Tisch.
»Hallo«, sagte Caro leise und nickte kurz.
»Hallo, Caro«, erwiderte Sophies Mutter und ihre Mundwinkel zuckten kurz in einem missglückten Lächeln. »Nett von dir, dass du vorbei kommst. Bleibst du bis zum Abendessen?«
»Ja«, antwortete Sophie für sie und blieb stehen, ließ sie los.
»Bist du in Ordnung?«, fragte ihre Mutter.
»Nein«, antwortete Sophie und es klang nur traurig. Jede andere Antwort hätte man leicht als Lüge erkennen können. Und was hätte es auch für einen Sinn, die Tatsache zu bestreiten, dass sie ganz und gar nicht in Ordnung war? Das wäre zudem sehr merkwürdig, wenn man bedachte, wie sehr Sophie an ihrem Vater gehangen hatte.
»Was hast du vor?«, wollte Susanne wissen, die in einem Sessel saß und ein Buch anstarrte, das in ihrem Schoß lag. Caro konnte erkennen, dass sie nicht las. Sie war sich sicher, dass auch Susanne trauerte, aber der Nachgeschmack ihrer jahrelangen Abwesenheit ließ sich nicht einfach loswerden. Am wenigsten für Sophie.
»Geht dich nichts an«, antwortete sie bissig und wandte sich nicht einmal zu ihr um. »Caro, bitte.«
Erst jetzt bemerkte Caro, wovor sie hier stehen geblieben waren. Es war das Musikregal von Sophies Vater, um das sie sich immer im Scherz gestritten hatten. Wenn ich mal nicht mehr da bin, kannst du es haben, hatte er immer gesagt und Sophie hatte dann immer erwidert, dass das bitte noch sehr lang zu dauern hatte. Wer hatte damit rechnen können, dass dem nicht so sein würde?
Beinah hätte sie gefragt, ob das Sophies Ernst sein sollte, aber es wäre wohl ein sehr unpassender Moment für einen Scherz. Also ging sie einfach in die Knie und schob die Finger in den Spalt zwischen Regalboden und Teppich. Sophie tat es ihr auf der anderen Seite gleich und dabei zitterten ihre Finger so sehr, dass Caro das am liebsten allein gemacht hätte. Aber dafür war es leider zu schwer. In diesem Moment wäre Hannes doch ganz hilfreich gewesen.
»Was machst du da?«, fragte Susanne argwöhnisch.
»Sei einfach still«, zischte Sophie ernsthaft gereizt und schaute über die Schulter ihre Mutter an, die ihr nur knapp zunickte. Caro wusste, dass keine einzige der CDs in diesem Regal ihre gehörte, sie war nicht so verrückt nach Musik wie ihr Mann es gewesen war, der das auch nur an die jüngste Tochter weitergegeben hatte.

Der Weg über den Flur war nicht lang, doch er konnte einem lang vorkommen, wenn man so ein schweres Regal im Arm hatte und auch noch aufpassen musste, dass nichts heraus fiel. Immerhin waren das drei Reihen für CDs und eine für Schallplatten, auf die sie immer ganz stolz gewesen waren.
In Sophies Zimmer setzten sie es neben der HiFi-Anlage ab, die Sophie zum Geburtstag bekommen hatte und an der sich neben Kassettendeck und CD-Spieler auch ein Plattenspieler befand. Nun bemerkte Caro, dass daneben schon die Ledertaschen mit den Kassetten befanden, die normalerweise in einer Schublade der Schrankwand lagerten. Ganze Nächte hatten Caro und Sophie zusammen mit ihrem Vater damit verbracht, bestimmte Lieder zu suchen, von denen er sich sicher gewesen war, dass er sie noch irgendwo hatte, und die Etiketten zu beschriften. Allerdings immer nur mit dem entsprechenden Lied, wodurch die Suche beim nächsten, das ihnen einfiel, von Neuem losging. Es hatte immer sehr viel Spaß gemacht.
Caro würde ihn furchtbar vermissen.
»Wir wollten es ordnen«, sagte Sophie und fuhr mit der Hand an der ersten CD oben links entlang. Led Zeppelin. Celebration Day. »Alphabetisch nach Bands und innerhalb nach Erscheinungsjahr. Klar, das haben wir uns schon oft vorgenommen, aber … Morgen. Und jetzt …«
Caro nahm sie in den Arm, als sie wieder anfing, zu weinen. Offenbar hatte Sophie nicht die Absicht, sich zu setzen. Auch nicht, als ihre Beine einknickten und Caro sie auf den Beinen halten musste.
»Es hört einfach nicht auf«, schluchzte Sophie und es klang gedämpft durch Caros Pullover. »Manchmal geht es für eine Weile, aber dann denke ich …« Sie hielt inne und grub die Finger in Caros Schulterblätter.
»Das ist in Ordnung«, versicherte Caro ihr. »Und vollkommen normal. Lass es alles raus.« Sie fühlte sich nicht gut dabei, diese Standardsprüche loszuwerden, aber etwas Besseres fiel ihr nicht ein und falls Sophie ein Problem damit hatte, zeigte sie es nicht.
»Aber es tut so weh.« Sie drückte die Stirn gegen Caros Hals und ihre Tränen liefen in den Kragen des Pullovers. Sie bekam Gänsehaut, ließ sich aber nichts anmerken. »Womit fangen wir an?«, nuschelte sie.
Caro hatte keinen blassen Schimmer, wovon Sophie jetzt sprach. Wahrscheinlich hatte sie ein Dutzend von Sophies Gedankensprüngen verpasst, dass geschah sehr häufig.
Als keine Antwort kam, löste Sophie sich von ihr und sah ihr in die Augen. »Na, denkst du, ich lass dich das schwere Ding für nichts reinholen? Mit welcher fangen wir an?« Sie legte einen Arm um Caros Schultern und stellte sich neben sie, sodass sie jetzt beide das Regal anschauten.
»Hinten«, sagte Caro nach einem Moment. »Was ist die neueste?«
Sophie löste sich von ihr und ging in die Knie. »Helloween«, sagte sie und ihr Finger glitt suchend an den Rücken der Hüllen entlang. »Straight out of Hell. Wir wussten beide gar nicht, dass die kommt, und eines Tages kam er von der Arbeit und hatte sie dabei …« Sie stand auf, die CD in der Hand, und legte sie in die Anlage. Drehte so laut, dass die Katze den Kopf hob und sie ängstlich anschaute. »Entschuldige«, murmelte Sophie und drehte wieder etwas leiser.

Sie setzten sich wieder aufs Bett und Sophie zog das Fotoalbum zu sich heran. Sophie, war in goldenen Lettern in den Umschlag gestanzt. Caro kannte es, immer mal wieder packte die Nostalgie ihre Freundin, jedes Jahr zu ihrem Geburtstag blätterten sie es durch und klebten ausgewählte Bilder aus dem vergangenen Jahr herein. Noch immer war Platz, bis zu ihrem achtzehnten würde es auf jeden Fall ausreichen.
Heute schien Sophie es auf ein paar bestimmte Bilder abgesehen zu haben, blätterte vorbei an einem Ultraschallbild zu dem ersten Foto von ihr und ihrem Vater, das die Unterschrift der stolze Papa trug. Damals war er noch ganz jung gewesen, gerade fünfundzwanzig und mit Haaren bis zum Kinn, die einzigen Falten in seinem Gesicht kamen von dem breiten Grinsen.
»Ich war sein kleines Nesthäkchen«, flüsterte Sophie und lehnte sich an Caro, fuhr mit dem Finger am Rand der Seite entlang. „Er hat mich immer lieber gehabt als Susanne, immer. Auch wenn er versucht hat, sie das nicht so merken zu lassen. Ich meine, er hat sie ja auch lieb gehabt, sehr, zumindest bis …« Sie brach ab und schluckte die Tränen hinunter.
Caro schwieg dazu. Sie hatte das mitbekommen, wann immer sie hier gewesen war, diese Kleinigkeiten. Ein bisschen hatte sie das für sich auch darauf geschoben, dass Sophie einfach mehr das Papakind gewesen war, während Susanne eher nach der Mutter gekommen war. Allein darum glaubte sie, aber das würde sie niemals laut aussprechen, dass es für Sophie viel schlimmer war als für ihre Schwester.
»Mama hatte kaum was von mir. Später, als das nicht mehr nur ihre Sache war, hat er mich füttern wollen, und wickeln, und wenn ich nachts geweint hab, ist er immer freiwillig gekommen.«
Sophie blätterte vorbei an Fotos mit allen möglichen anderen Verwandten, Tanten, Onkels, Großeltern, mit den Freunden der Familie, darunter auch Caros Eltern, hin zu einem Bild, auf dem sie zusammen mit Susanne auf dem Schoß ihres Vaters saß. Sie hatte einen Strampelanzug mit einem Frosch an und der dünne Haarschopf war zu einem Kamm aufgestellt.
»Den fand er furchtbar«, sagte sie und ihre Mundwinkel zuckten. »Letztens haben wir uns im EMP Babyklamotten angeschaut, ich weiß auch gar nicht warum, da hat er sich geärgert, dass es damals noch keine Baby Ramone-Strampler gab. Ich hab ihm versprochen, dass seine Enkel später mal welche bekommen, aber …« Sie presste die Lippen zusammen.
Caro drückte sie an sich.
»Nein, natürlich haben wir das alles nicht ernst gemeint, ich meine, es ist noch viel zu früh und so schnell wird das eh nichts, aber über so was haben wir nie wirklich gesprochen und ich glaube, ich hätte …«
»Atmen«, sagte Caro leise.
Sophie schnappte nach Luft, es klang schmerzhaft. »Es kann doch nicht sein, dass er einfach weg ist.« Hastig wischte sie eine Träne weg, die auf das Foto gefallen war, und schob das Album weg, als sie wieder heftiger weinte.

Mehrere Lieder lang saßen sie da nur schweigend und Caro streichelte mit einer Hand Sophie und mit der anderen die Katze, die beruhigend schnurrte. Wenn sie doch nur etwas Ähnliches für ihre Freundin tun könnte.
Gerade war sie etwas ruhiger geworden, als es an der Tür klopfte. »Sophie?«, hörten sie Susanne rufen. Ihr Ton verriet, dass es um etwas Unangenehmes ging. Auch wenn für Sophie in diesem Moment sicher alles, was ihre Schwester tat oder sagte, unangenehm sein würde.
»Was?«, fragte sie gereizt und ihre Stimme übertönte kaum die Musik.
»Könntest du bitte dieses Gejaule leiser machen!« Susanne betätigte die Klinke mehr als einmal, obwohl sie eigentlich schon beim ersten Mal hätte erkennen können, dass abgeschlossen war.
Sophie schnaubte, löste sich von Caro und rutschte vom Bett. Wie aus Trotz ging sie weit an der Anlage vorbei, schloss die Tür mit einer heftigen Bewegung auf und öffnete sie nur einen Spalt breit. Caro sah nur ihren Rücken und ihre Hand, mit der sie die Türklinke umklammert hielt. »Nein«, zischte Sophie und Caro verstand sie kaum. »Schon gar nicht, wenn du es Gejaule nennst, das ist es nämlich nicht!«
Von dem, was Susanne sagte, verstand sie kein einziges Wort.
»Stört es Mama?«, wollte Sophie wissen. »Siehst du, also ist es mir scheißegal. Immer noch besser als das Geheule, das du dir den ganzen Tag anhörst. Also lass uns gefälligst in Ruhe.«
Caro lächelte ganz leicht, als Sophie uns sagte, wirklich nur ein bisschen, sodass sie es nicht einmal bemerkt hätte, hätten sie sich in diesem Moment angesehen.
Sophie schloss die Tür heftiger, als sie gemusst hätte, und drehte den Schlüssel sofort wieder herum. »Sie hat sich immer schon beschwert! Immer! War das eine Ruhe, so lang sie nicht da war!« Mit verschränkten Armen ließ sie sich wieder neben Caro aufs Bett fallen. Etwas unsanft nahm sie die Katze auf den Schoß und streichelte sie so lang, bis sie sich ergab und hinlegte.
Caro schwieg dazu, und auch Sophie schien vorerst nicht reden zu wollen. Sie musste sich erst wieder beruhigen und Caro wünschte sich ein weiteres Mal, Susanne wäre nicht gekommen. Sie bedeutete nur zusätzlichen Stress für Sophie.

Die CD war vorbei, als Sophie wieder sprach und Caro darum bat, eine andere einzulegen. Volbeat.Outlaw Gentlemen and Shady Ladies. Ihr Vater hatte ihnen beiden die Sonderversion mit T-Shirt gekauft. Sommer wie Winter trugen sie beide es, zur Not eben mit einem dünnen Pullover darunter oder einer Jacke darüber. Und oft sprachen sie sich ab, dass sie es am selben Tag tragen wollten.
Sophie hatte schon weitergeblättert und als Caro sich neben sie setzte, strich sie gerade mit den Fingern über den Rand eines Faschingsfotos aus Kindergartentagen. Darauf waren sie beide zu sehen, in aufeinander abgestimmten Sailor-Kriegerinnen-Kostümen. Normalerweise wäre es Caro furchtbar peinlich gewesen, aber heute und hier ging das in Ordnung. Dahinter Sophies Vater im Anzug, den er sicher nicht getragen hatte, um Tuxedo Mask zu sein, aber für sie war er das gewesen. Er war immer für jeden Spaß zu haben gewesen, während Sophie Mutter lieb, aber ernst war.
»Cosplay, ohne es zu wissen«, murmelte Sophie und lächelte schwach.
»Ja, nur mit den Haaren hatten wir es nicht so ganz.« Sie hatten keine Perücken gehabt, aber damals waren Caros Haare auch länger und Sophies kürzer gewesen, sodass es ungefähr gepasst hatte.
Sophie nickte langsam. »Papa im Anzug«, sagte sie langsam. »Ich hab keine bewusste Erinnerung von ihm im Anzug. Bei Opas Beerdigung in Dresden muss er einen angehabt haben, aber da war ich ja nicht mit. Erst wieder auf deiner Hochzeit, hat er gesagt, als er wiedergekommen ist, Und das ist auch die einzige Gelegenheit, zu der ich jemals tanzen werde. Dann hab ich gemeint, dass ich nicht heiraten will, damit ich das nicht erleben muss.« Sie schniefte, fing aber nicht an, zu weinen. »Ich bereu jetzt so viele Sachen, die ich gesagt hab …«
»Nein …«, flüsterte Caro und strich Sophie die Haare aus dem Gesicht, die an ihren Wangen klebten. »Es ist doch in Ordnung, ihr habt euch doch nicht gestritten oder so.« Anders als Susanne, und aus irgendeinem Grund fragte Caro sich gerade, ob die sich ähnliche Gedanken machte. Aber sie war schon manchmal mit Sophie überfordert, da wusste sie erst recht nicht, was alles in deren Schwester vorging.
»Nein, ganz im Gegenteil. Gestern war der erste Tag nach der Spätschicht und er hat mich ins Bett gebracht. Wir haben total rumgealbert, es ging ihm gut, darum versteh ich ja auch gar nicht, wie das sein kann.« Sie drückte die Stirn an Caros Wange und legte die Arme um sie. Dadurch saßen sie beide unbequem, weil Sophie noch die Katze auf den Schenkeln hatte und nur den Oberkörper drehte.

Sie blätterten vorbei an Sophies Schuleinführung und diversen Urlaubsbildern, auf denen nur hin und wieder Sophies Mutter zu sehen war. Die Fotos, an denen ihre Schwester zu sehen war, mied sie tunlichst, blieb nur kurz an dem einen oder anderen Bild hängen.
Dann fehlte Susanne auf sämtlichen Bildern und Sophie wurde langsamer. »Hier waren wir alle zusammen auf Teneriffa«, erinnerte sie Caro und tippte auf eine Seite, auf die drei Fotos geklebt waren.
»Ja, und da waren wir auch alle noch trocken.« Sie erinnerte sich noch gut daran, das war eine ihrer liebsten Reisen gewesen. An einem windigen Tag hatten sie ein kleines Fischerdorf besucht und die Wellen hatten sich an der Mauer gebrochen, vor der sie hier standen. Wir werden bestimmt nicht nass, hatte Sophie ihnen versichert und war dann als Einzige trocken geblieben.
Sie bemerkte ein Bild auf der anderen Seite, auf dem Sophies Hand lag und einen Teil verdeckte. »Dein Vater hatte mal kurze Haare?«
»Müsstest du eigentlich noch wissen.« Sophie hob die Hand. Das Bild stammte aus der sechsten Klasse, als sie zum Tag der offenen Tür Kuchen verkauft hatten. Sophies Vater biss demonstrativ in ein Stück Streuselkuchen und hob den Daumen. Hätte sie das Bild einzeln vorgelegt bekommen, hätte sie ihn wahrscheinlich gar nicht erkannt, so sehr veränderte dieser Kurzhaarschnitt ihn. »Aber ich versteh dich.« Sophie biss sich auf die Lippe. »Ich hab das auch völlig verdrängt und zum Glück hat er das nicht wiederholt … Hatte er auch nicht vor.« Sie schloss das Album, behielt allerdings einen Finger dazwischen und lehnte sich zurück. Ihre Augen wirkten wieder so glasig und mehr Tränen rannen über ihre Wangen.
Die Katze regte sich, streckte das linke Vorderbein von sich und krallte sich in Caros Hose fest. Vorsichtig löste sie die Kralle und streichelte mit dem Daumen über das kleine Pfötchen.
»Ich hab Angst, Caro.« Sophies Stimme klang wieder belegt und sie starrte an die Wand über der Tür. »Es wird leichter mit der Zeit, hat Mama gesagt, aber heißt das nicht, dass es blasser wird? Ichwill nicht, dass es blasser wird. Ich will seine Stimme nicht vergessen.«
In diesem Moment war selbst Caro den Tränen nahe. Sie schob es mehr auf Sophies Ton als auf das, was sie sagte, und verbot sich, hier und jetzt zu weinen. Blind langte sie auf den Nachttisch und zog ein Taschentuch aus dem Päcken, das dort angebrochen lag. »Ihr habt Videos«, sagte sie. »Das Hochzeitsvideo deiner Eltern und eins von Teneriffa. Wie viele, fünf? von Weihnachten.«
»Das ist nicht dasselbe«, sagte Sophie und hatte damit natürlich vollkommen recht. Vor allem auf älteren Aufnahmen klangen Stimmen völlig anders als man sie normalerweise kannte, nicht nur die eigene. Und der Dialekt klang viel mehr heraus, man hörte sich nach Sachsen an, obwohl man das im Alltag kaum bemerkte.
»Das Hochzeitsvideo haben wir uns letzte Woche erst angesehen.« Sophie blinzelte die Tränen weg. »Einfach, weil Mama wollte. Dazu sind wir ja hier, hat Papa gesagt, als der Standesbeamte sie zum Kuss aufgefordert hat. Dazu sind wir ja hier. Und dabei dieses Grinsen im Gesicht, das er immer hatte …« Sie schluckte schwer.
»Es hätte schlimmer kommen können«, bemerkte Caro. »Er hätte sagen können Muss das sein oder was in der Art.«
Sophies Mundwinkel hoben sich in einem freudlosen Lächeln. »Nein, so war er nicht. Er war nie einer von denen, die auf Lebensende mit drei Buchstaben Ehe antworten. Aber das ist jetzt alles egal, weil er weg ist.«
»Sag das nicht.« Caro nahm Sophie vorsichtig das Album aus der Hand und blätterte ein paar Seiten weiter. »Wenn du dir all die schönen Erinnerungen bewahrst, ist er niemals weg.« Sie hielt es auf einer Seite offen, auf der ein Konzertticket eingeklebt war. Darunter ein Foto von Sophie und ihrem Vater vor der Messehalle, in der das erste Konzert stattgefunden hatte, auf das sie gegangen waren. Iron Maiden. Caro war auch dabei gewesen und hatte dieses Foto gemacht. Daheim hatte sie eins, auf dem sie mit Sophie zusammen war. Sie waren vierzehn gewesen und um weitere Fragen zu vermeiden, hatte Caro sich einfach als Sophies Schwester ausgegeben.
Sophies Lippen bebten. »Vielleicht. Aber das ist nicht dasselbe. Weißt du, er fehlt einfach im Haus. Mir fehlt der Gedanke, dass er hier ist, dass ich jetzt einfach nach ihm rufen und mit ihm reden könnte. Oder dass er irgendwo ist, wo ich ihn erreichen kann. Das klingt bescheuert, ich weiß …«
»Tut es nicht«, versicherte Caro ihr. Ihr ging es genauso, nur hätte sie wohl nicht die Worte gefunden, die es richtig beschreiben würden. Diese Lücke, die einfach da war, die ganz plötzlich in dieses Haus, in die Familie und in Sophies Leben gerissen worden war. In ihr Leben genauso. Schon bei ihr daheim war die Stimmung nach jenem Anruf gedrückt gewesen und Caro war sich sicher, dass ihre Eltern nicht nur eine Karte schreiben, sondern persönlich vorbei kommen würden. Auf jeden Fall zum Begräbnis.
»Danke«, flüsterte Sophie heiser. Sie legte das Album zur Seite und griff vorsichtig die Katze, setzte sie auf den Boden neben das Bett. Allerdings schien das nicht recht zu sein, denn sie sprang sofort wieder nach oben, legte sich jetzt ans Fußende.
Mit dem Buch und dem Stoffpinguin in der Hand stand Sophie auf, legte beides auf den Schreibtisch und ging zur Anlage. Gerade war auch diese CD vorüber. Zielsicher nahm sie eine andere aus dem Regal. »Für die haben wir noch Zeit. Back in Black. Die hatte er am liebsten.«
»Danke, dass du hier bist.« Sophie legte sich neben sie, den Kopf auf Caros Arm und legte ihren Arm um sie.
»Natürlich.« Caro streichelte ihr über die Schulter. »Immer.«