Mandelblüten im Schnee

Kurzbeschreibung:
Die Ganze Nummer hier ist noch ziemlich roh. Für die Schwankungen im Stil und eventuelle Inconsitencies entschuldige ich mich schonmal. Darf gern angemerkt werden, aber für's erste möchte ich das Ding schreiben. Überarbeitet wird später.

Am 21.5.2017 um 17:44 von LauraAStern auf StoryHub veröffentlicht

1. Kapitel: 1. Eintrag - Freitag, 28. April 1848

Vater und ich haben uns schon wieder gestritten. Es ist immer wieder das selbe, alte Lied: Ich soll mich endlich verloben.
Ich hatte gehofft, nun, da Dolly ihren Dean heiraten wird, wäre Vaters Bedürfnis nach Hochzeiten vorerst etwas gestillt, aber da habe ich mich wohl verrechnet. Er scheint bestrebter denn je, mich mit meinem zukünftigen Ehemann zusammen zu bringen.
Das Schlimmste ist, dass es mittlerweile völlig gleichgültig ist, mit wem ich den "heiligen Bund" schlussendlich eingehe, Hauptsache, ich komme unter die Haube.
Liebe, oder auch nur Freundschaft, ist nebensächlich.
Selbst für Mutter kommt eine Liebesheirat nicht mehr in Frage. Nachdem sie sich so lange für mich eingesetzt hat und bei Vater ein ums andere Mal Verständnis heischte um mir Zeit zu verschaffen, "den Richtigen" zu finden, hat sie nun wohl aufgegeben.
Ich kann es ihr kaum verübeln, schließlich habe ich selbst die Hoffnung, den richtigen Mann für mich zu finden, schon lange aufgegeben.
Mutter sagt zwar, es gäbe für jeden Topf einen passenden Deckel, aber ich glaube, mein Deckel ist ein anderer Topf...
Ich kann mir gar nicht vorstellen, einmal einen Mann auf die liebevoll-sehnsüchtige Art anzusehen, auf die Dolly ihren Dean ansieht.
Vor einigen Tagen saß ich aber am Fenster in der Küche und sah hinaus, als Dolly mich neckend fragte, ob ich von einem geheimen Liebhaber träume, weil ich wohl so sehnsüchtig und wehmütig ausgesehen habe.
Nicht einmal ihr konnte ich anvertrauen, dass es in Tat und Wahrheit der Nacken der Vikarstochter Gabrielle war, der mich völlig verzauberte.

Wenigstens bleibt mir die Kunst. Ich konnte das Still­leben mit Schädel und Apfelblüten fertigstellen.
Dolly gefällt es nicht, aber das ist in Ordnung. Ihr gefallen meine Bilder ja nie. Sie sagt, sie sind ihr zu düster und dass ich stattdessen doch lieber etwas Freundlicheres malen soll. Blumen oder Vögel zum Beispiel.
Aber das ist mir zu langweilig.
Morgen nehme ich mein Skizzenbuch mit nach draußen. Auf dem alten Friedhof gibt es eine schöne Engelsstatue unter einer Magnolie, die derzeit in voller Blüte steht. Es ist ein wunderschönes Bild, das ich nur zu gerne festhalten möchte. Vielleicht male ich es als Mondscheinszene.

2. Kapitel: 2. Eintrag - Sonntag, 30. April 1848

Vater war ungewöhnlich gut gelaunt, als er heute nach Hause kam. In letzter Zeit zieht er immer ein verdriessliches Gesicht, wenn er in den Pub geht und ein noch verdriesslicheres, wenn er wieder zurückkommt, doch nicht heute.
Heute hörte ich ihn von weitem pfeifen und er winkte Dolly und mir fröhlich zu, als er an der Küche vorbei ging.
Mir war, als läge sein Blick ungewöhnlich lange auf mir, doch ich kam nicht dazu, ihn zu fragen, was ihn so fröhlich gestimmt hatte. Er verschwand zu schnell in seinem Studierzimmer, nachdem er Mutter auf die Wange geküsst hatte.
Der Rest des Abends verlief friedlich, doch ich traute diesem Frieden nicht und ich sollte Recht behalten.
Beim Abendessen hatten wir endlich Gelegenheit, Vater zu fragen, wo seine gute Laune denn herrühre. Ich will versuchen, das Gespräch so genau wie möglich wiederzugeben.
"Das kann ich euch sagen, meine Lieben", sagte er und schnitt sich ein grosses Stück Sonntagsbraten ab. "Ich habe heute im Pub Bill Gladstone getroffen und dabei sehr gute Neuigkeiten erfahren."
"Was denn für Neuigkeiten, Vater?", fragte Dolly nach, ganz wie Vater es von ihr erwartete.
"Nun, Bills Jüngster - Eugene heisst der Bursche - hat offenbar seine Probleme mit den lieben Damen. Ist wohl schüchtern oder sowas. Also hab ich ein bisschen nachgehakt und - siehe da! - Eugene ist nur ein paar Jahre älter als unsere Amanda."
Bei diesen Worten schwante mir bereits Übles und ich wäre am liebsten unter den Tisch gesunken.
"Also habe ich vorgeschlagen, dass Eugene doch einmal hier bei uns vorstellig wird und Amanda kennen lernt! Ich will nicht mehr William J. Hale heissen, wenn sie ihn nicht davon überzeugen kann, dass sie die Richtige für ihn ist."
Er wandte sich an mich.
"Er wird hin und weg von dir sein, Liebes. Wirst sehen, er macht dir in null Komma gar nichts einen Antrag. Den musst du dann nur noch annehmen."
Seine Augen funkelten vor Begeisterung. Ich hingegen habe das Gefühl, kalkweiss gewesen zu sein.
"Ich möchte das aber nicht!", wollte ich sagen, aber Vater unterbrach mich.
"Amanda", sagte er scharf. "Wir haben nun wirklich oft genug darüber geredet. Du wirst dich von deiner besten Seite zeigen und dafür sorgen, dass Eugene Gladstone dir einen Antrag macht, den du annehmen wirst. Das ist weder eine Bitte noch ein Vorschlag. Anderenfalls kannst du gleich deine Koffer packen und sehen, wo du bleibst!"
Sein Ton war so endgültig, dass ich glaube, das Herz bliebe mir stehen.
Der Appetit war mir gänzlich vergangen und ich bat darum, den Tisch verlassen zu dürfen. Wenigstens diesen Wunsch respektierte Vater.
Ich zog mich in mein Zimmer zurück und konnte nicht anders, als zu weinen. Es war wie ein Krampf, der mich schlotternd auf dem Bett zusammenbrechen liess.
Kurz darauf kam Mutter herein und nahm mich tröstend in den Arm.
"Ich weiss, dass es schwierig für dich ist, Amy", sagte sie leise, während sie mein Haar streichelte. "Aber du darfst deinem Vater nicht grollen. Er will doch nur, dass du gut versorgt bist. Eugene Gladstone ist eine gute Partie, er würde sicher gut für dich sorgen und Vater müsste sich keine Sorgen darum machen, was aus dir wird, wenn er einmal nicht mehr ist."
"Aber ich liebe ihn nicht. Und ich werde ihn auch niemals lieben."
"Aber das weisst du doch noch gar nicht, Amy. Lern ihn doch erst einmal kennen. Ich bin sicher, er ist ein wundervoller, junger Gentleman."
"Dann soll er einer wundervollen, jungen Dame mit Interesse den Hof machen, aber nicht mir. Ich will das nicht, Mutter. Ich will nicht einfach nur irgendjemanden heiraten, nur um eine Ehefrau zu sein. Ich will Liebe, keine Ehe nur um der Ehe willen."
Es stimmte nicht ganz, was ich Mutter sagte. Natürlich will ich Liebe, welches junge Mädchen wünscht sich nicht, zu lieben und geliebt zu werden, aber noch mehr will ich Freiheit.
Ich will nicht meine ganze Zeit mit dem organisieren des Haushalts verbringen, so wie Mutter und der Gedanke, ein Kind aus meinem angeschwollenen Leib ins Leben zu pressen, erscheint mir fürchterlich. Schlimmer ist eigentlich nur der Gedanke daran, wie dieses Kind in meinen Leib kommen wird.
Nein!
Ich will barfuss durch Wiesen laufen und durch Wälder streifen und malen und gehen, wohin es mir gefällt. Ich will lieben dürfen, wen ich liebe, aber all das könnte ich Mutter doch nicht sagen.
"Ach, Amy", seufzte sie als Antwort. "Kind, das weiss ich doch. Aber Liebe ist nicht das wichtigste auf der Welt. Du musst auch an deine Zukunft denken. Dein Vater würde keine Ruhe finden, stündest du nach seinem Tod auf der Strasse. Du brauchst und verdienst die Sicherheit, die Eugene Gladstone dir bieten könnte. Noch mehr, als du Liebe verdienst und brauchst.
Versprich mir, dass du den jungen Mann wenigstens kennenlernen wirst. Wenn du dann einen guten Grund hast, ihn abzuweisen, wird dein Vater sicher damit einverstanden sein. Aber du kannst einfach nicht erwarten, dass die Welt sich nach deinen Wünschen richtet, besonders, wenn du die Sache mit so vielen Vorurteilen angehst."
Mit diesen Worten stand sie auf und liess mich allein.
Nun gut. Ihr zu liebe werde ich Eugene Gladstone kennenlernen. Wir werden ja sehen, was daraus wird.

3. Kapitel: 3. Eintrag - Samstag, 6. Mai 1848

Heute war es also so weit: Der «grosse Tag», an dem ich meinen zukünftigen Ehemann treffe.
Es hätte schlimmer sein können.
Eugene Gladstone machte den Eindruck eines getretenen Welpen. Ganz offensichtlich war auch er vorrangig auf Wunsch seines Vaters hier.
Seine Stimme war leise und seine Worte wohl überlegt, aber häufig von Denkpausen und seine Unsicherheit verratendem Räuspern unterbrochen, was ihn nicht gerade über die Massen eloquent erscheinen liess.
Zweifellos ist dies der Grund dafür, dass er bei den Damen der Gesellschaft nicht besonders populär ist, denn wenn er auch mit fünfundzwanzig Jahren noch mehr Knabe als Mann ist, so ist er immerhin ein hübscher Knabe.
Rotbraune Locken fallen ihm in die Stirn und im Abendlicht, das durch die Fenster des Esszimmers hereinfiel, erglänzten sie in einem phänomenalen Kupferton.
Sein Kinn sieht aus, als hätte er versucht, die markanten, strengen Züge und den schmallippigen Mund seines Vaters zu erben, was ihm jedoch nicht gelang. Dies ist ganz bestimmt Mrs. Gladstones äusserst freundlichem Gesicht mit den weichen, runden Formen und den schönen, vollen Lippen geschuldet.
Das Kinn des jungen Mr. Gladstone kommt dem seines Vaters in der Form also nahe, ist jedoch ungleich weicher und seine Unterlippe ist um ein ganzes Stück voller als die Oberlippe, was ihm ein wenig den Ausdruck permanentem Schmollens verleiht. Es ist nicht unansehnlich, aber eben auch nicht besonders männlich.
Sehr angetan bin ich von seinen Augen. Sie sind gross, doch keine albernen Glubsch- oder Kulleraugen und sehr klar. Ihre Farbe ist wirklich ganz aussergewöhnlich. Sie erinnert mich an Sturmwolken an einem Herbsttag.

Während des Abendessens pries Vater mich an, wie ein Stück Vieh auf dem Markt.
Und als wäre das noch nicht schlimm genug, pflichteten Dolly und Mutter ihm auch noch eifrig bei.
«Sie müssen Amandas Klavierspiel hören.» - «Oh ja, sie spielt so wohltemperiert. Selbst Bach könnte es kaum besser.»
Was hätte ich darum gegeben, etwas nach Dolly werfen zu können um meiner Verdrossenheit Ausdruck zu verleihen. Aber das wäre natürlich ganz und gar gegen die guten Sitten gewesen.
Und so blieb mir nichts anderes übrig, als peinlich berührt in meiner Suppe zu rühren, während die anderen über den albernen Wortwitz lachen.
Vater verkaufte mein hartnäckiges Schweigen als schüchterne Bescheidenheit – erfolgreich, wie ich befürchte.
Die Malerei sprach niemand an. Vielleicht fürchteten sie, die Gladstones mit meinen düsteren, «morbiden» Geisterbildern zu verschrecken.
Ich begreife das nicht. Wäre es einfach nur ein Gemälde eines Zimmers oder einer Landschaft, fände niemand etwas Besonderes daran. Aber sobald in diesem Zimmer oder dieser Landschaft eine transzendente Gestalt steht, etwas was dort nicht mehr hingehört und dennoch da ist, ist es auf einmal «morbiden». Ja, fast schon anrüchig.
Es ist, als fürchteten sie die Vergangenheit. Doch die Geister vergangener Zeiten, flüchtige Schatten der Erinnerung, sind überall um uns herum. Und ich werde sie malen, egal wem es gefällt oder nicht gefällt. Denn ich fürchte, dass sie nur allzu schnell in Vergessenheit geraten, wenn ich nicht an sie erinnere. Und nur die wenigsten von uns verdienen es, vergessen zu werden.

Dolly empfahl sich nach dem Abendessen; Dean führte sie noch zum Tanzen aus.
Unsere Väter zogen sich zu einem Brandy und einer Zigarre ins Studierzimmer zurück und liessen Mr. Gladstone und mich in der Obhut unserer Mütter. Zweifellos um «dem jungen Paar» genügend Privatsphäre zu gönnen, damit es sich kennen lernen kann, aber nicht genug um für einen Skandal zu sorgen.
Ich gebe zu, ich war nicht besonders erpicht darauf, mich mit Eugene Gladstone zu unterhalten, aber was blieb mir anderes übrig?
Obwohl er nach wie vor keinen besonders redegewandten Eindruck machte, erwies er sich nicht als der Unangenehmste Gesprächspartner, den ich jemals hatte.
Er sprach eine gewisse Bewunderung für Handarbeiten, insbesondere Stickerei, aus, erzählte mir von den Stickereien seiner Schwester Catherine. Als er unvorsichtigerweise bemerkte, dass er wünschte, sie stickte etwas aufregenderes als Rosen und Bibelsprüche, erntete er einen tadelnden Blick von seiner Mutter, von mir jedoch ein verhaltenes Lachen.
Er merkte an auch, viel zu lesen und obwohl er eigentlich keinen belesenen Eindruck macht, glaube ich ihm. Aus seinen wolkengrauen Augen spricht eine geradezu kindliche Ehrlichkeit.
Alles in allem erscheint mir Eugene Gladstone ein feinsinniger und sensibler Mensch zu sein.
Mutter war es indes sehr wichtig, Dinge über die berufliche Situation ihres zukünftigen Schwiegersohnes zu erfahren. Als er ihr sagte, dass er einen Buchhalterposten in einer Weberei inne habe, sah sie mich auffordernd an, als wollte sie sagen «Siehst du, Kind, ich sagte dir doch, dass er gut für dich sorgen wird.»

Das Treffen hätte wahrlich weitaus schlimmer sein können und doch hinterlässt mich dieser Abend insgesamt heiratsunwilliger denn je. Denn es ist auch Mr. Gladstone gegenüber ungerecht, dass man diese Heirat erzwingen will. Er hätte eine Frau an seiner Seite verdient, die ihn aufrichtig liebt. Ich hingegen fühle mich nicht einmal in der Lage, ihm zärtliche Gefühle vorzugaukeln, wenngleich ich ihn gewiss gern zum Freund hätte. Wären bloss die Umstände andere.

Aber wenigstens haben die Unterleibskrämpfe der letzten Tage wieder nachgelassen, so dass mein Unwohlsein heute Abend hauptsächlich geistigen Ursprungs war. Die Blutungen haben noch nicht wieder aufgehört, aber auch sie haben – Gott sei Dank – nachgelassen.
Es gibt nichts Widerlicheres, als das Gefühl von Blut, das einem den Oberschenkel hinabrinnt.
Was haben wir Frauen der Welt getan, dass wir derlei durchmachen müssen?
Wenn ich die ekelhaften, rostfarbenen Flecken auf meinen Unterrücken sehe, wundert es mich nicht, dass viele Kulturen menstruierende Frauen für unrein halten. Es ist unrein, wenn auch nicht im spirituellen Sinne...
Ich frage mich, ob solch reine Geschöpfe, wie Gabrielle eines zu sein scheint, diese Tortur ebenfalls über sich ergehen lassen müssen oder ob ihre spirituelle Reinheit sie vor körperlicher Unreinheit schützen kann.
Ich bezweifle es, aber es ist dennoch eine hübsche Vorstellung...

4. Kapitel: 4. Eintrag - Freitag, 9. Juni 1848

Mr. Gladstone führte mich heute zu einem Picknick aus.
Dolly muss ihm gesagt haben, wie sehr ich Pferde und das Reiten liebe, denn er holte mich zu Pferd ab und brachte mir eine prächtige Lichtfuchsstute deren Mähne und Schweif nahezu weiss waren, mit.
Sie hörte auf den schönen Namen White Widow.
Ich bereue es sehr, dass ich mein Skizzenbuch nicht dabei hatte, denn als wir nach Ravensden ritten, machte ich mir einige Gedanken um den schönen, aber ungewöhnlichen Namen meines Pferdes.
Ich versuchte, mir eine Witwe vorzustellen, mit Kleid und Haube und Trauerschleier, doch ganz in weiss. Da wurde mir klar, dass diese kleine, scheinbar unbedeutende Änderung der Farbe aus der Witwe eine Braut machte. Ich konnte nicht anders, als laut aufzulachen. Was Mr. Gladstone natürlich einigermassen verwirrte.
Auf seine Nachfrage hin kamen wir endlich ins Gespräch über die Malerei. Kaum zu glauben, dass es so lange gedauert hat, bis wir dazu kamen.
Mr. Gladstone hat eine gewisse Vorliebe für Rubens‘ Massenszenen wie den Kindermord in Bethlehem, obwohl er eigentlich nicht besonders religiös eingestellt ist. Er hatte bei einer Reise nach München Gelegenheit, einige Werke von Rubens in Natura zu sehen, worum ich ihn sehr beneide.
Er besitzt wohl auch eine kleine Sammlung kolorierter Kupferstich-Kopien von grossen Meistern, die er mir bei der nächsten Gelegenheit zeigen will. Ich kann es kaum erwarten! Ich hoffe, sie sind hochwertig.
Vater hat sich natürlich gefreut, dass die Unterhaltungen zwischen Mr. Gladstone und mir immer angeregter werden. Er scheint täglich darauf zu hoffen, dass Mr. Gladstone um seinen Segen bittet um mir einen Antrag machen zu können oder mich gleich bittet, ihn zu heiraten. Aber obwohl dieser - wie ich glaube - nicht abgeneigt ist, lässt er sich Zeit damit.
Ich selbst habe damit natürlich keine Probleme, aber ich merke, dass Vater zunehmend nervöser wird. Fast, als fürchtete er, innerhalb der nächsten zwei Monate das Zeitliche zu segnen und mich und Mutter mittellos zu hinterlassen. Dabei ist er bei ausnehmend guter Gesundheit. Und Dolly und Dean wurden sich gewiss um Mutter kümmern, wenn sie erst verheiratet sind.
Dennoch besass Vater die Kühnheit, mir zu «mehr Offenheit» zu raten, als ich heute Abend nach Hause kam und schliesslich erzählte, dass Mr. Gladstone mir auch heute keinen Antrag gemacht hat und auch nichts derartiges hat verlauten lassen. Es müsse doch möglich sein, dass mein Kleid beim Reiten ein bisschen hochrutsche und den Blick auf meine Wade freigebe oder die obersten Knöpfe meiner Bluse «zufällig aufgingen».
Ich war so fassungslos, dass ich nicht einmal etwas erwidern konnte. Solche Dinge sagt er zu seiner Tochter, seinem eigenen Fleisch und Blut! Bin ich denn eine Hure, die sich jedem gleich für ein paar Pence an den Hals werfen muss?
Ich kann nicht glauben, dass er so etwas zu mir sagt und dann einfach weiter in seiner Zeitung liest, als wäre nichts gewesen.
Wie gut, dass Mutter das nicht gehört hat...
Vielleicht sollte ich mit Mr. Gladstone über die ganze Sache sprechen. Bestimmt wir er meine Situation verstehen, wenn ich sie ihm darlege.
Und Mutter sagte ja auch schon als ich und Dolly noch klein waren: «Ehrlich währt am längsten.»

Natürlich hat Vater mir auch nahegelegt, Mr. Gladstone als meine Begleitung zu Dollys Hochzeit einzuladen. Ich werde ihn also schon bald wiedersehen. Dann kann ich mein Vorhaben in die Tat umsetzen. Ich muss nur sicher gehen, dass Vater nichts davon erfährt. Das wäre ihm wohl etwas zu viel «Offenheit»...
Vielleicht sollte ich Mr. Gladstone einfach unter der Woche an seinem Arbeitsplatz besuchen. Wir könnten zusammen zu Mittag essen. Alleine, ohne Mutter als Anstandsdame.
Sicher, es ist etwas forsch, aber das wird sicher zu verkraften sein. Schliesslich hat Vater mir doch selber dazu geraten und es dient es ja einem «guten Zweck»...

Leider hatte ich erst nach dem Abendessen Zeit, mich weiter mit der weissen Witwe zu beschäftigen.
Die Skizze gefällt mir noch nicht recht. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, welchen Gesichtsausdruck ich ihr geben will.
Natürlich, eine Witwe sollte nicht fröhlich aussehen, aber durch das weisse Kleid sieht sie ja aus wie eine Braut und Bräute sollten nicht traurig sein, auch wenn es wohl einige sind.
Wenn ich sie weinend male, werde ich erklären müssen, warum die Braut denn so traurig ist, male ich sie lachend...
Wem mache ich etwas vor? Egal wie ich es mache, das Bild wird nie für sich selber sprechen können.
Ich werde immer erklären müssen, dass es eben keine Braut, sondern eine Witwe ist, egal ob sie lächelt oder weint.
Vielleicht sollte ich das Bild nicht als Portrait auslegen, sondern als Szene. Die liegen mir ohnehin besser.
Ich könnte sie am Grab ihres verstorbenen Ehemannes trauern lassen und ihr zugleich den leibhaftigen Tod als neuen Bräutigam gegenüberstellen.
So könnte sie beides zugleich sein und ich müsste nichts mehr erklären.
Ich sollte das gleich skizzieren!

Autorennotiz:
Die Ganze Nummer hier ist noch ziemlich roh. Für die Schwankungen im Stil und eventuelle Inconsitencies entschuldige ich mich schonmal. Darf gern angemerkt werden, aber für's erste möchte ich das Ding schreiben. Überarbeitet wird später.