Mit dem Tod im Waggon

Am 20.8.2019 um 15:57 von Macby auf StoryHub veröffentlicht

Die Landschaft zog am Fenster vorbei, auf dem Wassertropfen ihren Weg die Scheibe entlang bahnten. Ich verfolgte sie mit meinen Augen, beobachtete, wie sich zwei ein Rennen lieferten. In meiner Kindheit hatte ich auf langen Autofahrten oft den Rennkommentator gespielt, hatte Wetten abgeschlossen, welcher Tropfen schneller am Fensterrand ankommen würde. Aber meine Kindheit war vorbei. Schon lange.

Einer der Tropfen fand schließlich sein Ende, der andere zuckte immer noch die Bahnen entlang. Ich versuchte, die nassen Streifen auszublenden und zu erkennen, was sich draußen abspielte. Aber ich konnte kaum etwas ausmachen, die Welt zog in grauen Schlieren vorbei. Hätte ich sagen müssen, wo wir uns gerade befanden, ich hätte es nicht gewusst. Der Zug schoss in einer solchen Geschwindigkeit die Gleise entlang, dass es mir schwer fiel, irgendetwas wahrzunehmen.

Meine Augen lösten sich vom Fenster. Der Waggon war fast leer, ein paar Sitze weiter saß eine alte Frau, die ihre Augen geschlossen hatte. Ein Mann im Anzug stand auf und griff nach seinem Koffer, zog sich eine Jacke über und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Die Tür zischte, öffnete sich und ließ den Lärm der Gleise in den Waggon dringen. Als sie sich wieder schloss fühlte sich die Stille noch tiefer an, als zuvor, unterbrochen nur vom am Fenster rüttelnden Wind.

Der Zug wurde langsamer, die Bremsen quietschten und eine unsichtbare Kraft zog mich im Sitz nach vorne. Die Schlieren am Fenster verwandelten sich in deutliche Bilder, ich erkannte Felder, Häuser und schon bald einen Bahnsteig. Ich schloss die Augen, als die Bremsen voll einsetzten und der Zug im Bahnhof stehen blieb. Es war ein gutes Gefühl, als ich endlich nach hinten in den Sitz fiel und die Anspannung des Bremsvorgangs mit einem Mal ein Ende fand.

Vor dem Fenster sah ich verschwommen Personen den Bahnsteig entlang hasten, den Kopf vom kalten Regen weg auf den Boden gerichtet. Ich wusste nicht, wer von ihnen aus dem Zug ausgestiegen war und wer noch schnell durch die Türen huschen wollte, bevor sie sich schlossen. Wir standen einige Minuten im Bahnhof, bevor die Stimme des Zugführers aus den Lautsprechern ertönte, die die Menschen darauf aufmerksam machte, dass wir nicht weiterfahren könnten, wenn sie nicht endlich von den Türen zurück traten. Ich verdrehte die Augen und betete, dass es nun gleich weiter gehen würde.

Kurz nachdem wir endlich wieder Fahrt aufgenommen hatten öffnete sich die Tür zu unserem Waggon. Herein trat ein Mann, der in einem schwarzen Umhang gekleidet war. Er streifte die Kapuze ab, die sein Gesicht bedeckt hatte und ich starrte in seine tiefschwarzen Augen. Als er in meine Richtung sah lächelte er und kam direkt auf mich zu. Ich schluckte und sah aus dem Fenster, wollte seinem Blick ausweichen. Er blieb neben mir stehen und deutete auf den Platz neben mir.

"Ist der noch frei?"

Ich überlegte kurz, nein zu sagen, nickte dann aber und nahm meinen Rucksack vom Sitz. Warum er nicht einfach einen der freien Plätze im Waggon gewählt hatte, fragte ich nicht, da irgendetwas in mir die Antwort darauf kannte.

Er nahm neben mir Platz und rückte sich auf dem Sitz zurecht. Ich sah seinen Umhang an und stellte verwirrt fest, dass er nicht nass geworden war. Draußen hatte es geschüttet wie in Strömen und trotzdem war der schwarze Stoff staubtrocken.

Ich betrachtete ihn genauer, versuchte mehr zu sehen, als seinen schwarzen Umhang und seine dunklen Augen. Aber irgendwie, ich konnte es mir nicht erklären, war da nicht mehr. Ich sah seine Nase, seinen Mund, seine grau melierten Haare, aber ich nahm sie nicht wirklich wahr. Sobald ich weg sah waren da nur noch der schwarze Umgang und die tiefen, wissenden Augen. Es war, als bestünde er nur aus diesen, als wäre alles andere nicht mehr als eine Spiegelung, eine Illusion der Schatten.

"Wo geht die Reise hin?" fragte er. Seine Stimme war kalt, aber irgendwie auch warm. Sie war tief, aber irgendwie auch hoch. Sie war vieles und ich konnte nicht erklären, was es war, dass mich schaudern ließ.

"Nach Hause." sagte ich. "Und bei Ihnen?" schob ich der Höflichkeit wegen nach.

"Auch." sagte er und lächelte. Ich sah weg, konnte seinen Anblick irgendwie nicht mehr ertragen. Mein Herz schlug schnell und ich zitterte am ganzen Körper.

"Kommen Sie von der Arbeit?" fragte er.

"Nein, ich war bei meinen Eltern zu Besuch."

"Das ist schön. Haben Sie eine gute Beziehung zu Ihren Eltern?"

"Geht so, bin eigentlich nur wegen meinem schlechten Gewissen hingegangen." Direkt als ich den Mund geschlossen hatte zuckte ich zusammen. Wieso hatte ich das gerade einem Fremden erzählt? Ich rieb mir über die Stirn, wischte mir den kalten Schweiß mit meinen Fingern weg, bevor er in die Augen laufen konnte.

"Das ist aber schade." sagte der Mann, weiterhin ein Lächeln auf den Lippen.

"Mögen Sie Ihre Eltern?" fragte ich, ohne ihn anzusehen. Von ihm kam ein Glucksen, dass sich bis in meine Knochen in meinen Körper einbrannte. Seine Füße scharrten über den Boden und ein kalter Schauer lief meinen Rücken hinunter. Ich schüttelte mich und der Fremde lachte auf.

"Eltern zu haben ist ein wertvolles Privileg. In den meisten Fällen zumindest."

Ich bemühte mich, ihn nicht anzusehen. Etwas in mir wollte einfach aufstehen, weggehen und einen neuen Platz suchen. In einem weit entfernten Waggon. Aber etwas anderes - ich kann nicht sagen was, hielt mich zurück. Es frohlockte in mir, heraus aus den tiefen Abgründen, aus denen es emporstieg. Dieses etwas machte mir noch mehr Angst, als es der Fremde mit seinen schwarzen Augen tat.

"Ich liebe es, Zug zu fahren." sagte der Fremde plötzlich. Ich sah ihn verdutzt an.

"Ja?" fragte ich.

"Oh ja. Die Geschwindigkeit. Die vielen Menschen. Und diese Gespräche. Nirgendwo anders sind Menschen so dicht aufeinandergedrängt, so sehr gezwungen, sich miteinander zu beschäftigen. In einem Zug läuft man nicht davon. Man sitzt, hört zu und macht sich seine Gedanken. Und das sind in den seltensten Fällen gute Gedanken."

"Und das finden Sie gut?"

"Ich finde es interessant. Die Menschen."

Der Fremde sah mir direkt in die Augen. Ich wollte nicht wissen, was er an Menschen so interessant fand. Genau genommen wollte ich gar nichts mehr von ihm wissen. Ich drehte meinen Kopf weg, um seinem Blick auszuweichen.

"Haben Sie Angst vor mir?"

Ich verschluckte mich an meiner eigenen Spucke und hustete laut auf.

"Wie bitte? Wieso sollte ich denn Angst vor Ihnen haben?"

"Ach, ich habe öfters diese Wirkung auf Menschen."

Meine Füße fühlten sich sehr heiß in meinen Schuhen an. Das Hemd schien am Hals immer enger zu werden und zu drücken. Schweiß lief über mein Gesicht.

"Aber - Sie sitzen doch nur da. Ich kenne Sie ja nicht Mal!"

Das Lächeln des Fremden wurde breiter, als er mir sein Gesicht zuwandte.

"Das denken viele. Aber ich bin bekannter, als Sie vielleicht denken."

Ich betrachtete sein Gesicht, überlegte, ob ich ihn irgendwo schonmal gesehen hatte. Aber da waren immer noch nur seine Augen. Sein Mund und seine Nase waren auch da, da war ich mir sicher, aber sie waren irgendwie - unwichtig. Sie waren Nebensache. Alles was wichtig war, waren seine dunklen, tiefschwarzen Augen.

"Woher könnte ich Sie denn kennen?"

"Ach, von jeder Ecke. Aus dem Fernsehen. Aus Geschichten. Aus Ihren Träumen."

Wenn es möglich war, dann erschauderte ich noch stärker. Meine Haut fühlte sich an, als wollte sie sich von meinem Körper lösen. Als wollte sie weg von diesem Fremden.

"Wer sind sie?" fragte ich, wollte aber eigentlich "Was sind sie?" fragen.

"Ich bin der Tod." sagte er mit einer Selbstverständlichkeit, die mich normalerweise zum Lachen gebracht hätte. Aber nicht bei diesem Mann.

"Sie sind ein Mörder?"

"Oh nein, das Morden ist die Aufgabe anderer. Ich bin der Tod."

Ich schluckte. Mein Hals war trocken und fühlte sich staubig an. Es schmerzte, als Spucke die raue Speiseröhre hinunter lief.

"Und was machen Sie hier im Zug? Sind Sie da um - jemanden zu holen?"

Der Tod lachte auf. Seine Augen glänzten im Licht. Oder glänzten Sie nicht viel eher in der Dunkelheit?

"Also haben Sie doch Angst?"

"Nunja, man sitzt nicht gerade jeden Tag neben dem Tod im Zug. Da fragt man sich schon, ob etwas nicht in Ordnung ist."

"Machen Sie sich keine Sorgen. Es gibt nichts, wovor Sie sich fürchten müssen."

"Also sterbe ich nicht?"

"Das habe ich so nicht gesagt."

Der Zug drosselte die Geschwindigkeit und am Fenster rauschten die Regentropfen wieder langsamer ihre Bahnen entlang. Ich beobachtete eine, die wohl nicht so richtig wusste, wo sie hin sollte. Sie wechselte die Bahnen immer wieder, verlor sich im Wirrwar des Wassers und verschwand schließlich aus meinem Sichtfeld.

"Wo kommt man denn hin? Also ich meine, wenn man stirbt?" fragte ich.

"Was denken Sie denn?"

"Keine Ahnung. Mir wurde immer nur von Himmel und Hölle erzählt. Aber da glaube ich nicht dran."

Der Tod grinste und tappte mit seinen langen Fingern auf der Lehne. Das Geräusch drang tief bis in mein Inneres, ich schüttelte mich und der Tod gluckste.

"An was glauben Sie dann?"

"An nichts, wirklich."

"Nichts. Ein ganz schön starkes Wort, dieses Nichts. Aber es ist auch egal, was Sie glauben. Glauben ist schließlich nicht mehr, als das, was in eurem Kopf vorgeht. Aber die Wahrheit, die findet nicht in eurem Kopf statt. Am Ende ist nur eines sicher."

Ich wartete, bis er mir sagte, was sicher war. Aber er schwieg.

"Und was ist sicher?" fragte ich schließlich, als ich die Stille nicht mehr aushielt.

"Dass ihr alle irgendwann sterbt."

Ich nickte und blickte aus dem Fenster. Es wurde langsam dunkel draußen und ich sah auf meine Uhr. So spät konnte es eigentlich noch nicht sein. Meine Uhr konnte es wohl auch nicht glauben, ihre Zeiger drehten sich wild über das Ziffernblatt, als könnten sie sich nicht entscheiden, wo sie stehen bleiben sollten.

"Meine Uhr - " sagte ich , verschluckte meine Worte aber, als der Tod meine Schulter berührte.

"Die Zeit ist gekommen. Das ist alles, was für dich wichtig ist."

"Aber - ich dachte, Sie sind nicht wegen mir hier?"

"Bin ich auch nicht. Ich wollte dich nur Mal kennenlernen. Heute ist nicht der Tag, an dem du den Tod über die letzte Schwelle begleiten darfst. Dein Tag ist noch nicht gekommen. Freue dich nicht zu sehr, denn du bist mich nicht für immer los. Aber heute darfst du nach Hause gehen, wenn du denn willst."

Der Tod stand auf und blickte auf mich hinunter.

"Es war spannend. Ich kann es kaum erwarten, dich wieder zu sehen. Dann werden wir noch viel mehr Zeit für ein Gespräch haben."

Er ging los, aber ich war noch nicht ganz fertig.

"Warte!" schrie ich. Er blieb stehen und drehte sich um.

"Wann? Wann sehen wir uns wieder?"

"Am Ende." sagte er. "Wenn du verstehst, dass deine Uhr nicht mehr ist, als eine mechanische Konstruktion, die euch Menschen vorgaukelt, die Zeit einsperren zu können. Aber mach dir keine Sorgen. Deine Zeit wird kommen, so wie die Zeit eines jeden irgendwann kommt. Und ich bin mir sicher, dass du mich mit offenen Armen empfangen wirst."

Ich sah noch einmal in seine dunklen Augen und nickte im zu. Er nickte zurück und drehte sich um. Seine große Gestalt machte sich auf den Weg den Gang entlang und blieb erst bei der alten Frau stehen, die weiter vorne geschlafen hatte. Er tippte sie an und sie öffnete ihre Augen. Sie blickte in sein Gesicht, lächelte und stand auf. Was sie zu ihm sagte konnte ich nicht verstehen. Ihre Augen aber strahlten Dankbarkeit aus. Er nahm ihren Arm und lächelte zurück.

Der Zug hielt an und ich löste meinen Blick von dem Tod und der alten Frau. Draußen war es stockdunkel. Ich verstand nicht, wie die Sonne so schnell untergegangen sein sollte. Ich presste mein Gesicht an die Scheibe, konnte aber in der tiefen Dunkelheit nichts erkennen. Als ich mich von der Scheibe abwandte sah ich gerade noch, wie der Tod die alte Frau durch die Tür führte. Sie stiegen gemeinsam aus dem Zug aus, er stützte sie und half ihr die Stufen hinunter auf den dunklen Bahnsteig. Die Tür schloss sich und ich verlor sie aus den Augen.

Als der Zug anfuhr, war mir schlecht. Die Dunkelheit ließ nach und auch der Regen schien aufgehört zu haben. Ich dachte viel nach, als der Zug Fahrt aufnahm und meinem Ziel immer näher kam. Die Landschaft draußen kam mir wieder bekannt vor und ich spürte, dass ich bald am Ziel war. Der Zug bremste und die Landschaft zog langsamer an mir vorbei. Ich sah Häuser, die sich immer dichter aneinander drängten. Der Zug fand seinen Weg durch die Häuserschluchten, die sich wie eine große Mauer neben ihm aufbäumten.

Als er anhielt, nahm ich meinen Rucksack und stand auf. Auf dem Bahnsteig blickte ich zum Himmel, wo die Sonne hinter den Wolken hervorkam. Die Türen schlossen sich hinter mir und der Zug nahm langsam Fahrt auf. Ich war noch nicht am Ende meiner Reise angekommen. Aber wenn das Ziel in Sicht war, da war ich mir sicher, dann würde mich der Tod nicht mehr überraschen können. Dann war ich bereit.