Gleismeer oder Das Atmen der Welt im Herbst

Kurzbeschreibung:
Diese Geschichte ist ein mehr oder weniger surrealistisches Experiment. Interpretationen & Kritik sind herzlich willkommen.
Noch eine Bemerkung: Es käme mir vermessen vor, hier nicht anzugeben, wo einige Elemente dieser Geschichte herkommen, da muss ich ganz einfach das »Unter Tage«-Album der Ruhrpott AG nennen mit seiner gesamten Grundstimmung, insbesondere aber die Tracks »Kreuzwortfeuer«, »Kopf Stein Pflaster« und »Westwind«. Für immer meine »Stärke 12 auf der Dichterskala«. ♡

Am 6.11.2017 um 19:37 von Witness auf StoryHub veröffentlicht

Wenn der Sturm vorüber ist, atmet die Welt, sagt Sylwia.

Wir sitzen auf der Friedhofsmauer, vor uns eine flache Skyline aus kaltem Beton, und mit jeder Sonne, die der Horizont nach unten zieht, schmeckt die Luft dieser Stadt bitterer.

Der Sturm hat Pfützen in den rissigen Asphalt gegraben, hat sich an Bäumen festgebissen und ihre Äste in den Fluss gespuckt, hat trübe Schaufenster zerschlagen und scharfkantiges Glas auf verwischte Straßen gestreut. Es fühlt sich an, als hätte der Sturm auch mich verwischt und meine dritte Dimension mit sich gerissen, eine abgestumpfte Comicfigur aus mir gemacht. Aber das kann ich Sylwia nicht sagen, jetzt, wo der Fluss so viel Wasser mit sich trägt, dass er beinahe unsere Füße berührt, die von der Mauer baumeln.

Wenn du dich nach vorn beugst, sagt Sylwia, dann siehst du den Fernsehturm.

Wenn du dich nach vorn beugst, sage ich, fällst du in die Spree.

Das Rascheln der Blätter schmeckte bittersüß unter meinen Füßen.

Sylwia mochte den Friedhof, weil hier Tote lagen, für die sich niemand interessierte.

Es ist beruhigend, dass man vergessen wird, sagte sie.

Frühes Sonnenlicht fiel durch ein herbstgelbes Blätterdach auf ihre violetten Haare. Ich sah Sylwia gern an; ich mochte die Art, wie sie lachte und redete und sich eine einzelne Haarsträhne hinter das Ohr schob, aber von Zeit zu Zeit schimmerte etwas durch ihren Körper hindurch.

Über einem der Gräber thronte eine Engelsstatue, die eine Kerze in den Mooshänden hielt. Ihr betonleerer Blick bewachte den Friedhof.

Glaubst du an ein Leben nach dem Tod, fragte Sylwia.

Ich schüttelte den Kopf.

Schade, sagte Sylwia, dann sehen wir uns da gar nicht.

Eine Straßentaube landete vor meinen Füßen und sah mich aus graphitleeren Augen an. Ich berührte Sylwia an der Schulter.

Was ist, fragte Sylwia.

Ich wollte nur wissen, sagte ich, ob du ein Geist bist.

Wenn der Sturm vorüber ist, atmet die Welt, sagt Sylwia.

Wir sitzen auf der Friedhofsmauer und ein Schiff der Wasserschutzpolizei fährt an uns vorbei. Sylwia winkt. Niemand winkt zurück.

Mein Nachbar ist auch Polizist, sagt Sylwia. Aber er raucht heimlich Gras.

Gibt er dir wenigstens was ab, frage ich.

Sylwia lacht.

Wir lachen zu viel und zu falsch, wenn wir hier sind. Die Skyline ist zu niedrig und zu formlos, aber unsere Enttäuschung darüber ist schon lange angestaubt. Wir hatten unsere Seelen verkauft für ein paar Pixel Glas und Chrom, doch bekommen haben wir flache Betonblöcke, die an den Wolken kratzen; die Erklärung dafür ist einfach: Der graue Himmel hängt hier immer tief, berührt beinahe unsere Köpfe und lässt meine Gedanken kribbeln vor Taubheit.

Wenn du dich nach vorn beugst, sage ich, siehst du den Flughafen.

Wenn du dich nach vorn beugst, sagt Sylwia, fällst du in die Spree.

Das Laufen stach in meiner Lunge, aber ich rannte gegen den Wind. Er blies mir den Schorf von den verkrusteten Gedanken und legte rohe Nervenbahnen frei. Ich schob mich vor, bis zur Kieler Brücke, blieb stehen und atmete stillegetränkte Morgenluft. Schritt für Schritt setzte ich auf den Holzplanken, bis zur Mitte, meine Hände fanden kaltes Geländer. Die Sonne hinter dem Fernsehturm malte die Spree orange. Ich atmete Licht. Vögel zwitscherten in eine Leere hinein. Ein Zug wand sich über das Viadukt und färbte die Luft von Westen her laut.

Wollen Sie eine, fragte der Mann neben mir und hielt mir eine Zigarettenschachtel hin.

Nein, schwebte über meinem Kopf in einer Denkblase. Ich griff nach ihr und formte eine Sprechblase daraus.

Der Mann steckte die Packung weg und blies dem Fernsehturm leeren Atem entgegen.

Versuchen Sie es gar nicht erst, sagte der Mann, wenn Sie springen, fische ich Sie raus.

Ich habe nicht vor zu springen, sagte ich.

Der Mann runzelte die Stirn.

Das sagen sie doch alle, sagte er.

Wenn der Sturm vorüber ist, atmet die Welt, sagt Sylwia.

Wir sitzen auf der Friedhofsmauer in Ostberlin und blicken auf das Spreeufer in Westberlin, und der Flughafen zieht die Sonne vom Himmel hinunter.

Vor dreißig Jahren hätten wir hier nicht sitzen können, sage ich.

Können schon, sagt Sylwia, aber dann wären wir tot.

Der Fluss schwillt an, meine Füße werden nass. In Tegel startet ein Flugzeug und zieht einen Kondensstreifen über den glühenden Himmel.

Wünsch dir was, sagt Sylwia.

Ich kann mir nicht alle drei Minuten was wünschen, sage ich.

Sylwia streicht sich eine Haarsträhne hinter das Ohr.

Wenn man sich etwas still wünscht, sagt sie, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es passiert, genauso groß, als wenn man es sich nicht wünscht.

Wenn du dich nach vorn beugst, sage ich, siehst du den Hauptbahnhof.

Wenn du dich nach vorn beugst, sagt Sylwia, fällst du in die Spree.

Die Luft roch nach kaltem Asphalt, als Sylwia mir den Ort zeigte, an dem die Welt endete und die Unendlichkeit begann, der zerkratzte Rand der Realität, mitten in der Stadt.

Wir traten aus verbauten Tetrisquadraten hervor und ich atmete zum ersten Mal. Die Spree schnitt uns von der Brachfläche ab, hinter der das Industriegebiet mit bedrohlichen Schloten aufragte. In der Ferne rauschte dumpf der Verkehr, dazwischen schlängelte sich ein klappriger Güterzug über ein Viadukt.

Ich fühlte mich verschwommen, eingefroren, ein zweidimensionales Lebewesen aus wenigen kindlichen Filzstiftstrichen in einer dreidimensionalen Welt aus Millionen von Pixeln.

Und, fragte Sylwia.

Grauenvoll, sagte ich, aber danke fürs Zeigen, diese Nuance der Hässlichkeit kannte ich noch nicht.

Wenn der Sturm vorüber ist, atmet die Welt, sagt Sylwia.

Wir sitzen auf der Friedhofsmauer, vor uns eine flache Skyline aus kaltem Beton, und ein Güterzug schiebt sich auf dem Viadukt durch die Schattierungen dieses Elends.

Aber der nächste Sturm kommt irgendwann, sage ich, und dann hält sie wieder den Atem an.

Sylwia schweigt.

Wir sehen dem Nachtwächter zu, der auf den Brücken auf und ab geht. Sylwia winkt ihm zu. Der Nachtwächter winkt nicht zurück.

Lass das, sage ich.

Der Nachtwächter passt auf, dass niemand von den Brücken springt. Er bietet den Menschen Zigaretten an, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen, obwohl er selbst nicht raucht.

Warum, fragt Sylwia.

Ich mag ihn nicht, sage ich.

Warum nicht, fragt Sylwia.

Er tut so, als wäre er unser Beschützer, sage ich, aber ich brauche keinen Beschützer.

Aber vielleicht, sagt Sylwia, brauche ich einen.

Wenn du dich nach vorn beugst, sage ich, siehst du die Charité.

Wenn du dich nach vorn beugst, sagt Sylwia, fällst du in die Spree.

Das Rascheln der Blätter schmeckte bitter unter meinen Füßen. Die Gräberreihen waren kalt und matt, der Wind fuhr mir durch die Jacke und stach in mein Gesicht.

Von Westen her zieht ein Sturm auf, sagte der Polizist am Friedhofstor.

Ich zog mir die Kapuze tiefer ins Gesicht, stolperte über Kopfsteinpflasterufer und sah zu, wie der Wind das dunkle Flusswasser kräuselte. In Tegel gaben noch immer Flugzeuge dem Himmel tiefe Schnitte und ließen zu, dass ich mir alle drei Minuten etwas wünschte.

An der Kieler Brücke blieb ich stehen. Der Nachtwächter war nirgends zu sehen. Vielleicht war auch er vor dem Sturm geflohen.

Das Rauschen des Windes fror mich ein, meine Beine waren wie gemalt, und niemand setzte den nächsten Strich. Die Palette musste eingetrocknet sein vor lauter Bewegung.

Wollen Sie eine, fragte jemand.

Neben mir stand der Nachtwächter und hielt mir eine Zigarettenschachtel entgegen.

Wenn der Sturm vorüber ist, atmet die Welt, sagt Sylwia.

Wir sitzen auf der Friedhofsmauer und sehen den Straßentauben zu, die sich weiter flussaufwärts mit einigen Raben um einen Stein streiten.

Der Sturm ist noch nicht vorüber, sage ich.

Auf den Brücken läuft der Nachtwächter Patrouille. Neben einer Bank steht der Polizist und raucht Gras.

Der Sturm ist nie vorüber, sagt Sylwia.

Die Tauben hacken auf die Raben ein. Der Stein fällt in die Spree.

Der Polizist neben der Bank nimmt seine Dienstwaffe und hält sie sich an die Schläfen. Ich springe auf. Sylwia stellt die Wolken niedriger und lässt meinen Kopf kribbeln vor Taubheit. Ich friere ein. Das Rattern des Zuges auf dem Viadukt zerschneidet den Schuss. Stärke zehn auf der Richterskala für den Polizisten, an uns geht nur eine gekrümmte Dezibelwelle.

Warum tut der Nachtwächter nichts, frage ich.

Sylwia reibt an meinem Arm. Mein Arm wird taub.

Der Nachtwächter passt nur auf die Brücken auf, sagt Sylwia und reibt meinen Rücken, meine Beine, meinen Bauch. Die Straßentauben reißen den Polizisten in bunte Fetzen. Die Raben verstreuen sie in den Wind.

Ich kann mich nicht bewegen. Mein Körper unter Sylwias Fingern wird unsichtbar.

Was tust du, frage ich, aber die Worte bleiben in meiner Kehle hängen. Ich huste, sie stolpern von meiner Zunge und fallen in die Spree.

An einigen Orten bist du realer als an anderen, sagt Sylwia, und an dem hier bist du es überhaupt nicht.

Ein Güterzug färbt die Luft laut.

Der Polizist ist unter einem Haufen pulsierender Federn begraben. Ein Ostwindstoß weht eine davon über die Spree, zum Nachtwächter. Der Nachtwächter klettert über die Brüstung der Kieler Brücke.

Und wer passt auf den Nachtwächter auf, frage ich.

Die Worte fallen mit dem Nachtwächter bleischwer in den Fluss.

Sylwia macht meine letzten Zellen taub, Wolken kitzeln wie Pinsel letzte Gedanken aus meinem Kopf und färben den Himmel violett wie Sylwias Haare.

Über das Viadukt fährt ein klappriger Intercity laut ratternd zwischen feuchter Erde und bitterem Beton hindurch. Jemand hat einen neonfarbenen Schriftzug an die Seite gesprüht.

Der Sturm ist vorüber und die Welt atmet, sagt Sylwia.

Das Wasser reicht mir bis zu den Knien.

Sag es, sagt Sylwia.

Worte klemmen mir im Hals fest, ich muss würgen.

Sag es, sagt Sylwia.

Die Worte sind zittrig, aber sie schaffen es von meiner Zunge. Ich fange sie auf, bevor sie ins Wasser fallen.

Der Sturm ist vorüber und die Welt atmet, flüstere ich.

Sylwia nimmt meine letzte Kontur und steckt sie sich ins Haar.

Der Intercity auf dem Viadukt hält an. Die Stille hängt in den Seilen.

Der Sturm ist vorüber und die Welt atmet, sage ich.

Der Zug holte tief Luft. Seine Fenster sind leer, nur im zweiten Abteil bewegen sich zwei Schatten hinter Glas. Der Polizist und der Nachtwächter.

Das ist genau wie bei den Flugzeugen, sagt Sylwia, ein Himmelfahrtskommando.

Der Himmel ist marineblau. Ich atme Beton.

Der Sturm ist vorüber und die Welt atmet, rufe ich in die Leere hinein.

Der Zug atmet aus und wirft mir eine Schmiererei entgegen, zittrige Buchstaben aus Neonscherben:

DIE WELT ATMET DICH WEG

Eine Taube landet in mir und pickt einem Raben das Auge aus. Sylwia erdrosselt sie mit einer violetten Haarsträhne.

Wenn du dich nach vorn beugst, sagt Sylwia, dann siehst du ein Mädchen, das in die Spree fällt.

Autorennotiz:
Diese Geschichte ist ein mehr oder weniger surrealistisches Experiment. Interpretationen & Kritik sind herzlich willkommen.
Noch eine Bemerkung: Es käme mir vermessen vor, hier nicht anzugeben, wo einige Elemente dieser Geschichte herkommen, da muss ich ganz einfach das »Unter Tage«-Album der Ruhrpott AG nennen mit seiner gesamten Grundstimmung, insbesondere aber die Tracks »Kreuzwortfeuer«, »Kopf Stein Pflaster« und »Westwind«. Für immer meine »Stärke 12 auf der Dichterskala«. ♡