******************** »Steig auf!« von Gmork ******************** -------------------- 1. Kapitel: Intro: »Nein.« -------------------- Wenn frei zu sein bedeutete die Arme zu heben und sein Verlangen offen zu zeigen, dann hatte er soeben die Freiheit gefunden.Da war dieses Gefühl in seiner Brust, schon so lang. Von Anfang an, seit sich ihre Blicke zum ersten Mal gekreuzt hatten. Etwas, das mit jeder Begegnung und jeder zufälligen Berührung bittersüß über sein Herz rieb. Schwitzige Hände beim Telefonieren. Herzstolpern, wenn eine Nachricht kam. Wut bei Funkstille. Und dieses klaffende Loch in seiner Brust bei jedem Gedanken an ihn. Dieses verdammte Gefühl, das er vorher nie spüren musste. Und wie sehr hatte es ihn getroffen, bei der Erkenntnis, dass es Vermissen war. Vermissen, Sehnsucht, Trauer. Die erste Erfahrung etwas haben zu wollen, was man nicht bekam. Ein völlig neues Empfinden, auferstanden aus dem Unbekanntem.  Verdrängung war gescheitert. Entfernung hatte nichts geändert, Zeit nichts gerichtet, Training nicht davon abgelenkt. Es war immer nur stärker geworden.  Doch jetzt war er hier, ein Jahr nachdem er bei seinem Senioren-Debüt die Goldmedaille geholt hatte. Das zweite Wiedersehen in Fleisch und Blut. Seine erste und letzte Chance das auszudrücken, was ihn nun schon so lange quälte.Und es fiel ihm so unerwartet leicht. Jeder Toeloop verlieh ihm Flügel, jeder Axel riss ihn ein Stück mehr aus seiner Angst. Fahrtwind peitschte durch sein Haar und versetzte ihn zurück in die Vergangenheit: Nach Barcelona, zu seiner ersten Fahrt auf einem Motorrad, mit dem Geruch seiner Lederjacke in der Nase und das Rauschen der Straße unter ihnen.Jeder, der ihn länger als fünf Minuten kannte, wusste um sein loses Mundwerk und der Talentlosigkeit, freundliche Gespräche zu führen. Manche Spitznamen hafteten ihm nicht umsonst nach und eben dieser fläzige Ruf eilte ihm sehr oft voraus. Sanfte Worte fielen ihm schwer. Er war ein Mensch der Taten. Auch sein bester Freund konnte ein Lied davon singen. Immer wieder glitt sein Blick zurück zu ihm. Sah er zu? Er musste einfach. Er tat das für ihn. Er öffnete sich ihm, auch wenn er wusste, dass es Wahnsinn war. Doch er hatte keine Wahl, er musste diesen Wahnsinn willkommen heißen.»Ich habe immer gedacht, dass wir uns ähnlich sind.«Dieses erste Gespräch zwischen ihnen war unvergessen. Schon damals hatte sein Herz wie wild geschlagen und er hatte es ignoriert. Wenn er es nur schon damals richtig gedeutet hätte …Ruckartig drehte er sich in seine Richtung, suchte ihn, erfasste ihn. Noch während der Fahrt riss er sich die Sonnenbrille herunter und entblößte tiefschwarze Smokey-Eyes. Er wollte ihn ansehen und von ihm angesehen werden, so sehr, dass es ihn von innen verbrannte und seine Organe schmolz. Er gab sich dem hin, streckte im Rausch der Musik seine Hand nach ihm aus -  und wie sehr überraschte es ihn, als sein Gegenüber diese tatsächlich ergriff. Plötzlich war dort überall Gänsehaut, als er in diesen sonst so ruhigen Augen etwas aufblitzen sah. In fließender Eleganz ließ er sich den Handschuh abstreifen und zögerte auch nicht mit seiner stummen Aufforderung, es bei der anderen Hand gleichzutun. Und dann spürte er plötzlich Lippen und Zähne an seinen Fingern, die Blitze nicht nur in seine Brust, sondern auch in seine Lenden jagten. Gott sei Dank übertönte die Musik sein erregtes Keuchen, als auch der zweite Handschuh vergessen zu Boden fiel.Jetzt war es sicher. Deutlicher konnten keine Worte der Welt sagen, dass die Botschaft angekommen war. Und er tanzte weiter, denn sein Auftritt war noch nicht beendet. Seine gesamte letzte Kraft legte er in seine Choreographie, denn von nun an tat er das nicht mehr für sich allein, sondern auch für ihn. Von der anderen Seite der Eisfläche glitt er auf ihn zu und ging dabei in die Knie, ließ geschmeidig seinen Oberkörper nach hinten gleiten und zog die ausgestreckten Arme hinter sich her zu einer sinnlichen Pose. Wie durch Zufall rutschte dabei sein schwarzes Tanktop bis über seine Brust und entblößte nackte Stellen, die er bis zu diesem Tag niemandem erlaubt hatte so zu sehen.»Willst du mein Freund sein, oder nicht?«Er richtete sich auf und verlor sich in Pirouetten, wirbelte herum und fasste mit unsichtbaren Händen immer wieder in seine Richtung. Seine direkte Art war schon damals erschütternd gewesen. Und schon letztes Jahr in Barcelona hatte er die richtige Antwort gekannt, jedoch zum ersten Mal erfahren was es hieß den Mut zu verlieren.Nein. Nein, ich will keine Freundschaft mit dir. -------------------- 2. Kapitel: Teil eins: »Freunde?« -------------------- Wenn man nach Freundschaft suchte, war Yuri Plisetsky mit Sicherheit keine gute Anlaufstelle. Seine schroffe Art war in der gesamten Szene fast bekannter, als sein herausragendes Talent im Eiskunstlauf und stand im skurrilen Kontrast zu seinen sinnlichen Darbietungen vor dem Publikum. Dieser schlanke Körper, das hellblonde Haar und die grazilen Bewegungen – all das ließ nicht darauf schließen, dass sich sein Hauptvokabular bevorzugt aus Schimpfworten und Großkotzigkeit zusammensetzte. Nur seine Augen verrieten es – wenn man tatsächlich wagte seinen Blick länger als zwei Sekunden zu erwidern. »Hä? Was soll das werden, Alter?« Otabeks Mundwinkel zuckte, doch ein Lächeln blieb aus. Es war nicht leicht diesem stechenden Grün standzuhalten. Er wandte sich ab und verließ die Lobby.   - - -   Er liebte sein Motorrad. Wenn er nicht gerade auf dem Eis war oder in angesagten Clubs in Kasachstan Platten auflegte, gab es nur ihn und den Fahrtwind in seinem Gesicht. Immer wenn der Grand Prix in greifbare Nähe rückte, brauchte er seine Maschine mehr, denn je. Sie half ihm zu innerer Ruhe und reinigte seine Gedanken. Außerdem schützte sie ihn vor Gesprächen, die er nicht führen wollte. Dieser erzwungene Smalltalk, nur um den Schein zu wahren. Er war hier, um zu gewinnen und nicht um Freundschaften zu schließen. Das redete er sich ein. Und bei dem Großteil seiner Konkurrenz stimmte das auch.   »Steig auf, Yuri.« Er erwiderte aus ruhigen Augen den perplexen Blick, halb verdeckt von hellblondem Haar. War es vorbestimmtes Schicksal oder frappierender Zufall, dass er ihn jetzt traf? Er tat es als Zufall ab. An Schicksal hatte er noch nie geglaubt. »Hä? Was?« Vom anderen Ende der Gasse konnten sie das erregte Kreischen der Yuris-Angels hören, wahrscheinlich der lästigste und penetranteste Fanclub, den man sich wünschen konnte. Es waren viele. Und sie waren schon bedrohlich nah. Wenn sie sich nicht beeilten, würden sie es hier nicht mehr heil herausschaffen. Ein wenig unwirsch warf er ihm seinen Ersatzhelm entgegen. »Kommst du mit, oder nicht?« Das stechende Grün begann zu leuchten. Zum ersten Mal schienen Yuri Plisetsky die Worte ausgegangen zu sein. Otabek Altin glaubte nicht an Schicksal. Dennoch konnte er den Gedanken nicht ablegen, dass ihre Freundschaft vorbestimmt war. Zum ersten Mal erlebte er einen Yuri, dessen Mund keine Vulgarität abfeuerte. Sie standen nebeneinander, blickten in die Ferne der Sonne und die kalte Dezemberluft schien sie nicht im Geringsten zu stören. Wie von selbst zog sich ein roter Faden durch ihr Gespräch. Und wie sanft konnte Yuris Stimme sein, wenn er nicht gerade keifend seinem Ärger Luft machte. »Otabek. Warum hast du mich angesprochen?« Dieser zarte Ton erwischte ihm auf dem falschen Fuß. Sein Blick zeigte weiterhin zur Sonne, doch aus dem Augenwinkel sah er, dass Yuri sich ihm zugewandt hatte. War da Unsicherheit in seiner Stimme? Konnte er so etwas überhaupt empfinden? »Ich bin doch dein Gegner.« Direkte Worte hatten die beiden schon immer gefunden. »Ich habe immer gedacht, dass wir uns ähnlich sind. Das ist alles.« Erst jetzt sah er zu ihm und tatsächlich: Misstrauen spiegelte sich in Yuris Augen. Misstrauen und Angst vor Verletzung. Otabek fühlte sich seltsam bei dem Gedanken, dass er einer von nur Wenigen sein könnte, dem Yuri diese Seite offenbarte. Er fasste sich ein Herz und ging noch einen Schritt weiter. »Willst du mein Freund sein oder nicht?«   - - -   Mit dem Ende des Grand Prix zogen sich Hektik und Aufbruchsstimmung durch das riesige Hotel, in denen die Kontrahenten untergebracht waren. Die Lobby quoll über vor Gepäck und Menschen, die auf ihre georderten Taxis warteten. Viele seiner Konkurrenten hatten sich schon verabschiedet und trotzdem vergingen gefühlt Stunden, bis sich der Eingangsbereich langsam lichtete. Otabek war müde. Die überschwänglichen Verabschiedungen entlockten ihm lediglich ein knappes Nicken mit dem Kopf, während sein Blick wachsam umherirrte. Einen kurzen Moment glaubte er, ihn verpasst zu haben. Doch dann hörte er eine ihm wohlbekannte Stimme. »Könnt ihr nicht ein einziges Mal eure Grabbelflossen voneinander lassen? Das ist eklig hoch zehn! Ich kotz gleich mein Frühstück wieder aus!« Ein paar Leute drehten sich entrüstet zu der Person um und Otabek wunderte sich ehrlich darüber, dass manche noch immer geschockt auf dieses Verhalten reagierten. Kannte man ihn denn anders? Nun, er schon. Gemächlich trat er an ihn heran und versuchte bei dem Gedanken, sich doch noch vernünftig verabschieden zu können, nicht allzu erleichtert auszusehen. Yuri bemerkte ihn nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt der Eislauflegende Victor Nikiforov, der einen Arm um seinen Schützling Yuuri Katsuki gelegt hatte, seine unverfrorene Meinung zu geigen. Victor nahm es mit besonnener Gelassenheit hin, während Yuuri unter seinen schwarzen Haaren feuerrot angelaufen war. Jeder, der Augen im Kopf hatte, sah, dass die beiden mehr verband, als nur das Training. »Schon schlimm genug, dass ich mir euer Gesülze jetzt auch noch in Russland antun muss, dann lass wenigstens jetzt die Finger vom Katsudon, Baka! Mir krempelt sich gerade alles um!« »Yurio, entspann dich und sieh nach hinten. Du hast Besuch.« Fröhlich hob Victor seine freie Hand und winkte Otabek zu. »Hör auf vom Thema abzulenken, Opa! Wer würde mich schon freiwillig-« »Hey.« Zufrieden registrierte Otabek, dass Yuri beim Klang seiner Stimme augenblicklich erstarrte. Langsam drehte er sich in seine Richtung und offenbarte unter seiner Kapuze rote Wangen und einen trotzigen Blick. Victor und Katsuki kicherten und auch an Otabeks Mundwinkel zupfte ein schadenfrohes Grinsen. »Hey. Ich … Moment! Warte mal kurz.« Sein Blick ruckte wieder zu den anderen. »Verzieht euch. Geht draußen mit Giftmüll spielen, oder so!« Begleitet von einem hastigen Nicken packte Yuuri Victors Arm und begann ihn mitsamt ihren Koffern aus dem Tanzbereich zu ziehen. »Bis nachher, Yurio! Wir warten beim Taxi!« Ein letzter Wink in Otabeks Richtung und sie hatten den Eingangsbereich verlassen. Yurio atmete hörbar aus. »Die sind echt zum Kotzen.« Seine Stimme trug noch immer einen Hauch Wut in sich, aber Otabek glaubte auch etwas anderes herausgehört zu haben: Neid. Neid, über das Glück der beiden. Er wollte etwas erwidern, doch plötzlich griff Schweigen nach ihnen. Es wog schwer, denn sie wussten beide, dass es ein vorläufiger Abschied war. Zwischen Kasachstan und Russland lagen zwar keine Welten, allerdings war die meiste Zeit dem Training und in Yuris Fall auch der Schule gewidmet. Sich Illusionen zu machen erleichterte diese Situation nicht. Mit gesenktem Kopf stand er vor ihm, umklammerte seine Kapuze und wagte keinen Blick in seine Augen. »Ich dachte echt du bist schon weg.« Seine Stimme ließ Otabek aufhorchen. Neid war der abermaligen Unsicherheit gewichen. »Ohne auf Wiedersehen zu sagen? Was für ein Freund wäre ich denn dann?« Yuri blickte auf und sofort sprühten seine Augen wieder Angriffslust. »Ein ziemlich beschissener!« Otabek hob eine Augenbraue. »Und genau das will ich nicht sein.« Es sollte das zweite Mal sein, dass er Yuri Plisetsky sprachlos machte. »Hmpf.« Mit aufgeblähten Wangen kramte er in seinen Jackentaschen herum, fand das Gesuchte und hielt es ihm vor die Nase. Sein Handy. Er hatte es entriegelt und ein leeres Kontaktfeld leuchtete Otabek entgegen. Etwas verwirrt sah er ihn an und erntete dafür grüne Augen, die sich genervt verdrehten. »Nun tipp schon deine scheiß Nummer ein!« Wie charmant. Lächelnd nahm er ihm das Smartphone aus der Hand. Ihre Finger streiften sich. Nach nur wenigen Sekunden war seine Arbeit getan und als Yuri sich das Smartphone zurückholte, ertappte Otabek sich dabei, wie er auf eben diese Finger starrte. Er tippte kurz auf dem Display herum und nur eine Sekunde später vibrierte es in Otabeks Hosentasche. »Nur zur Sicherheit. Nicht, dass du mir die falsche andrehst.« »So feige bin ich nicht.« Er zog sein eigenes Smartphone hervor und speicherte die Nummer ab. »Tu mir einen Gefallen.« Yuris Blick wanderte inzwischen immer wieder nach draußen. Die Uhr tickte und sie konnten es förmlich hören. »Hmpf, was denn?« Da Otabek nichts mit seinen Händen anzustellen wusste, vergrub er sie in den Hosentaschen. »Schreib mir, dass du sicher gelandet bist.« Wenn Yuris Wangen vorhin schon rot waren, so glichen sie jetzt verdächtig den Flammen seines Outfits, welches er bei Allegro Appasionato getragen hatte. »Bist du komplett bescheuert?« Und dann war dort plötzlich Nähe, die sein Herz aussetzen ließ. Yuri hatte ihn in eine unbeholfene und ziemlich schmerzhafte Umarmung gezogen, die Otabek nicht einmal erwidern konnte, da es ihn die Arme an den Seiten zusammenquetschte. Er hatte das Gefühl, dass sein Puls erst wiedereinsetzte, als Yuri schnell und offensichtlich von sich selbst überrumpelt von ihm abließ. »Ich bin doch keine zwölf mehr!«  Er krallte beide Hände in seine Kapuze und zog sie sich tief ins Gesicht. »Und wenn ich hier nicht vergammeln will, weil ich den Flieger verpasse, muss ich jetzt los.« Damit griff er nach seinem Koffer und machte sich auf in Richtung Ausgang. Während Otabek ihm nachsah, hob er ein letztes Mal die Stimme. »Versprich es mir.« Stöhnend drehte Yuri sich im Lauf um. »Ja, ist ja gut, man!« Das reichte ihm.  Er streckte den Daumen in die Luft und Yuri tat es ihm gleich, bevor er sich mit lauten Flüchen einen Weg durch die Menschen bahnte. »Glückwunsch zur Goldmedaille.« Dieser letzte Satz verging, ohne von jemandem gehört zu werden. Otabek sah ihm nach, bevor auch er sein Gepäck nahm und zusammen mit seinem Trainer in das nächste Taxi stieg. Der Grand Prix war zu Ende und obwohl er nicht auf dem Siegerpodest gestanden hatte, fühlte er sich nicht wie ein Verlierer. -------------------- 3. Kapitel: Teil zwei: »Kontakt« -------------------- Otabek Altin zählte, wenn es nach Yuri ging, eher zu den unauffälligeren Kandidaten, die sich aufs Eis schwangen, um Gold für ihr Land zu holen – wenn man sich nicht näher mit ihm beschäftigte. Als stille Konkurrenten standen sie zwar im gegenseitigem Respekt, aber für mehr war nie Platz gewesen, oder gar die Chance auf Platz. Das war jetzt anders. »Schreib mir, dass du sicher gelandet bist.« War das sein scheiß Ernst? Sie kannten sich erst – so halbwegs – seit diesem Grand Prix und trotzdem hatte er ihm unterschwellig mitgeteilt, dass ihm sein Wohlergehen wichtig war. Wer hatte das zuletzt getan, außer vielleicht Victor und Katsudon? Yakov und Lilia schloss er bewusst aus, immerhin waren die beiden seine Trainer und deswegen schon aus Prinzip nicht mit freundschaftlichen Gefühlen gleichzusetzen. Und die anderen beiden … Ja, die waren halt immer da. Er würde lügen, wenn er sagte, dass da keine Form von Zuneigung war, aber diese Freundschaft gab ihm manchmal ein Gefühl von Zwang. Klar mochten sie sich. Aber mussten sie das nicht auch? Das Training verheiratete sie quasi miteinander. Manchmal beschlich Yuri der Gedanke, dass sie, würden sie nicht die gleiche Leidenschaft teilen, niemals ein Gespräch mit ihm gesucht hätten. Und an dunklen Tagen stach dieser Gedanke mit heißen Nadeln in seiner Brust. All das traf nicht auf ihn zu: Otabek. Der Gedanke an seinen neuen Freund ließ Yuri irgendwo zwischen peinlicher Freude und Angst pendeln. Peinliche Freude über offenkundiges Interesse an seiner Person, statt seines Talentes und Angst davor, etwas falsch zu machen. Was hatte Otabek in ihm gesehen? Die Antwort rann ihm wie Wasser durch die Hände und blieb aus. Freundschaften waren für ihn wie ein Hindernisparkour und bereits jetzt stellte sich ihm die erste Hürde hämisch in den Weg. Schon seit zehn Minuten verharrten seine Finger über dem Touchscreen seines Smartphones. Er war gerade dabei kläglich an einem einfachen Satz á la „Bin gut gelandet“ zu scheitern und verfluchte sich innerlich aufs Übelste dafür. Sinnlos. Murrend verschwand das Smartphone in seiner Jackentasche. In nicht einmal einer halben Stunde würde er sich in seinem Zimmer verschanzen können. Vielleicht dann. Frustriert schnaubte er, während sein Blick aus dem Taxifenster glitt. Zähne gruben sich in seine Unterlippe. Seit wann war er so ein Feigling?   »Willst du etwas essen?« »Nein, man!« Das Scheppern der Tür setzte einen fetten Strich unter seine Antwort. Mit leidenschaftlicher Frustration kickte er sich seine Chucks von den Füßen, bevor er sich aufs Bett warf und das Gesicht in eines der vielen Kissen vergrub. Yuri war schlechter drauf, als er sich eingestehen wollte. Und das obwohl er bei seinem Debüt alle Erwartungen übertroffen hatte. Er hatte Gold geholt und damit nicht nur dieses verdammte Katsudon, sondern auch Victor Nikiforov geschlagen. Er hatte Yakov mit Stolz erfüllt und Tränen in Lilias Augen getrieben. Spätestens jetzt würde sich absolut jeder im Wettkampf vor ihm in Acht nehmen. Eigentlich sollte er sich fühlen wie der verdammte Terminator! Aber er tat es nicht. Viel eher fühlte er sich schlecht, seinen Trainer grundlos angepampt zu haben. Und weil er ein feiger Idiot war, der auf dem Eis zum lodernden Phönix aufstieg und dann zu Asche zerfiel, wenn es darum ging einem Freund eine SMS zu schreiben. Peinlicher konnte es kaum noch werden! Für eine Weile badete er in seinen Problemen der ersten Welt, bis sein Gedankenwirrwarr durch ein leises Schnurren aufgelöst wurde. Er hob den Kopf und augenblicklich begannen seine Augen zu strahlen. Seinen Kater hatte er bis eben komplett ignoriert, doch der nahm es ihm wohl nicht übel, sondern kam mit tapsigen Schritten zu ihm und rollte sich vor seinem Gesicht zusammen. Yuri vergrub seine Nase im weichem Fell und atmete tief ein, die Augen geschlossen. Mit dem vertrauten Schnurren kam ihm eine Idee. Er zückte sein Smartphone, öffnete die Kamera und schoss möglichst beiläufig ein Foto von sich und seinem größten Schatz. Als er den noch leeren Chatverlauf mit Otabek öffnete, versuchte er die Nervosität wegzuwischen. Wieder vergingen einige Minuten, doch dieses Mal würde er das Smartphone nicht wieder in seiner Jackentasche verschwinden lassen. Und als er schließlich die Nachricht abschickte, hörte er zwischen seinen Augen das wilde Klopfen seines Herzens wie Paukenschläge.   Yuri – 15.12 22:51 »Das ist Potya. Wir chillen hier so rum.«   Im Anhang das Foto: Potya nahm fast das gesamte Bild ein, nur hinter seinem Rücken lugten Yuris grüne Augen hervor, halb verdeckt durch seine Haare - und trotzdem konnte man ein schwaches Lächeln erahnen. Fluchend pfefferte er das Handy von sich und schlug die Hände vors Gesicht. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Abgeschickt war abgeschickt. Er konnte nur hoffen, dass Otabek verstand, was er eigentlich sagen wollte: Bin sicher gelandet. »Verdammter Idiot! Der wird mich für den absoluten Creep halten.« Kurz kraulte er Potya hinter den Ohren, bevor er sich vom Bett schwang, die Tür seines Zimmers aufriss und ins Badezimmer trampelte. Er ging jetzt eigentlich nur duschen, um sich Ablenkung zu verschaffen. Mit wütenden Bewegungen shampoonierte er sich die Haare und seifte dann nicht gerade zimperlich seinen restlichen Körper ein. Leider spülte das Wasser zwar den Schaum, aber keinen seiner Gedanken fort. Vor dem Spiegel kämmte er sich so ruppig, dass er einige feine blonde Haare in der Bürste fand. Gott sei Dank ahnte Lilia davon nichts. Er würde den Anschiss seines Lebens bekommen, wenn sie spitzbekam, wie er seinen „wunderschönen Körper“ behandelte. Auf Zehenspitzen schlich er zurück in sein Zimmer und strafte sein Smartphone – oder eher sich selbst – mit verbissener Ignoranz. Aufregung hin oder her, niemals würde er soweit sinken und alle paar Minuten seine Nachrichten checken. Lieber tat er zur Ausnahme einmal etwas Vernünftiges: Er packte freiwillig seinen Koffer aus, beförderte die Schmutzwäsche in den passenden Korb und sortierte ungetragene Klamotten fein säuberlich in seinen Kleiderschrank zurück. Zwischendurch glaubte er, eine Vibration aus der Richtung seines Bettes zu vernehmen, aber anstatt nachzusehen widmete er sich seinem Schreibtisch und begann seine Schulsachen vorzubereiten. Zwar hatte er noch bis übermorgen Schonfrist, aber so sparte er sich wenigstens einmal den Stress, das Zeug erst zehn Minuten vor dem Stundenbeginn zu packen. Als auch das erledigt war, schlüpfte er in seinen schwarzen Suit und ging zu dem riesigen Spiegel, der gegenüber vom Bett die gesamte Wand einnahm. Das Zimmer war sehr geräumig und gab ihm genug Freiraum, um seine Ballettübungen zu verfeinern. Sein Körper protestierte und der Muskelkater flehte nach nur wenigen Minuten um Gnade. Eine knappe Stunde hielt er immerhin durch, bevor er wie ein Stein ins Bett fiel, aber dafür mit klarem Kopf. Lilia genoss seine Dankbarkeit, ihn wieder zum Ballett gebracht zu haben, mehr als sie ahnte. Anfangs hatte er es gehasst. Doch jetzt war es sein Fels in der Brandung, wenn gar nichts mehr ging. Es reinigte seine Gedanken und führte ihn zurück zur inneren Ruhe. Ob es Otabek mit seinem Motorrad ähnlich ging? Otabek. Entschlossen fischte er nach seinem Smartphone und die Benachrichtigung über seine Antwort jagte Stromstöße in seine Lungen.  Er zwang sich zur Ruhe, trotzdem vertippte er sich zwei Mal, als er den Entsperrcode eingab.   Otabek Altin – 15.12 23:15 »Ich kenne ihn von Instagram. Ein hübscher Kater.«   Otabek Altin – 15.12 23:16 »Hatte eure Maschine Verspätung?«   »Hmpf.« Ob die Maschine Verspätung hatte? Nein, er hatte nur stundenlang Mut für eine Nachricht zusammenkratzen müssen. Ob er wohl wirklich den ganzen Tag darauf gewartet hatte? Seine Wangen glühten, als er eine Antwort eingab.   Yuri – 16.12 00:014 »Nee. Ich hab nur trainiert und nich auf die Uhr geguckt :‘D«   Bevor er seiner Unsicherheit eine Chance ließ, drückte er auf senden. Otabeks Status rutschte keine Sekunde später auf online. Wie hypnotisiert sah er zu, wie er irgendwo in Kasachstan noch unsichtbare Worte tippte.   Otabek Altin – 16.12 00:16 »Um diese Zeit noch? Ist das nicht ein bisschen spät?«   Yuri – 16.12 00:16 »Mir egal! Ich brauchte das gerade >. ******************** Am 8.5.2018 um 16:36 von Gmork auf StoryHub veröffentlicht (http://sthu.de/s=q%5Bz%5E5) ********************