Die letzte Hoffnung

Kurzbeschreibung:

Am 3.1.2022 um 14:42 von BuchTraumFaenger auf StoryHub veröffentlicht

1. Kapitel: Unersetzlich

1. Unersetzlich


Vor 23 Jahren, in den Wäldern von Gongmen

Wie ein Geist rannten die kleine weiße Gestalt durch die Nacht. Die Stadt Gongmen lag bereits weit hinter ihr. Ab und zu drehte sie sich um, aber niemand folgte ihr, dennoch beschleunigte sie ihre Schritte. Blätter und Äste schlugen ihr ins Gesicht. Auf einer Lichtung offenbarte der Mond kurzfristig die fliehende Gestalt eines kleinen weißen Pfaus. Keuchend lehnte sich der Junge gegen einen Baum. Seine Lunge schmerzte. Tränen tropften über seine Wangen ins Gras. Sein Kopf war wie leergefegt. Nur ein einziger Gedanke plagte sein junges Gewissen, der ihn innerlich erdrückte. Der weiße Pfauenjunge schluchzte laut auf.
Mama war tot! Und er war schuld!
Die Fingerfedern des Jungen krallten sich in das Holz.
Alles nur wegen `ihm´! Sie hatte nur `ihn´ geliebt! Nicht ihn!
Der weiße Pfauenjunge blinzelte, als das Mondlicht in einer Wasserpfütze reflektiert wurde. Zittrig löste er sich von dem Baumstamm und trat näher an das spiegelnde Wasser heran. Seine weiße Gestalt hob sich deutlich von der Nacht ab und wurde vom Licht des Mondes verstärkt.
Er sah aus wie `er´. `Er´, den sie so sehr geliebt hatte. Aber sein Aussehen hatte ihr nie gereicht. Denn er war nicht `er´. Für sie hatte er nie existiert. Denn alles in ihrem Leben hatte sich nur um `ihn´ gedreht.
Mehrere Minuten lang verharrte der weiße Junge in dieser Stellung, wobei er sein Spiegelbild nicht aus den Augen ließ. Schließlich riss er sich den royalen weißen Mantel von seinem weißen befiederten Körper und warf ihn voller Verachtung auf die Erde.
Eine Weile starrte er schwer atmend auf das Gewand, welches ihm sein Vater geschenkt und seine Mutter nie sehen wollte. Sie hatte ihn nie ansehen wollen damit. Immer gab es nur eine einzige Person in ihrem Leben.
Er wischte sich über das von Tränen nasse Gesicht. Dann rannte er mit einem Aufschrei davon. „ICH HASSE DICH, SHEN! ICH HASSE DICH!“
 
 

2. Kapitel: Die Familienehre

2. Die Familienehre


Gegenwart – Irgendwo in China

„Ich kann es noch gar nicht fassen, dass ich hier stehe.“
Aufgeregt schaute der Panda Po sich um. Er befand sich zusammen mit seinem Lehrer, Meister Shifu, auf dem obersten Stockwerk einer Arena. Von dort aus hatten sie einen guten Überblick. Das Publikum hatte schon teilweise Platz genommen und wartete darauf, dass das Programm losging.
Meister Shifu legte seelenruhig die Handflächen zusammen. „Ja, Po. An diesem Ort hatte Meister Oogway die ersten Kämpfer herausgefordert. Seitdem ist es Tradition geworden, in dieser später erbauten Arena, die Kung-Fu-Wettkämpfe auszutragen. Sowohl die der besten Teams, als auch des besten Einzelkämpfers. Und heute wird der beste Kung-Fu-Kämpfer zum Sieger gekürt. Auch Oogway hatte diesen Kampf immerzu gewonnen.“
„Wirklich?“ Po war tief beeindruckt und schaute ehrfürchtig unter sich. „Wow! Dann stehen wir ja gewissermaßen auf heiligem Kung-Fu-Boden.“
„Po! Konzentriere dich besser auf den Kampf“, fügte Shifu schnell hinzu, aus Sorge, der Drachenkrieger könnte noch den Boden küssen.
„Oh, ja, klar.“ Schnell erhob der Panda sich wieder und rieb aufgeregt die Handflächen aneinander. „Ich kann es nur einfach nicht glauben, dass ich hier bin! Ich hab schon immer davon geträumt einmal an den Wettkämpfen teilzunehmen.“
Shifu holte tief Luft. „Du vertrittst unser Dorf, Po. Von dir hängt alles ab. Vor allem, als der Drachenkrieger, hegt man eine hohe Erwartung an dich.“
Po zog die Augenbrauen zusammen. „Alles klar!“ und knallte seine Fäuste zusammen. „Dann zeige ich denen mal in der Arena wie ein richtiger Kung-Fu-Kampf aussieht.“
„Fein, fein“, meinte Shifu anerkennend. „Es wäre gut, wenn er es nicht vermasseln würde“, murmelte er leise.
Aber Po war ohnehin viel zu aufgewühlt, um auf murmelnde Nebengeräusche zu achten und versuchte sich einzig und allein nur auf den vorliegenden Kampf zu konzentrieren. Langsam und besonnen ließ er seinen Blick über der Arena schweifen. Sie war nicht gerade das pompöseste, aber dennoch groß und beeindruckend genug. Sie bestand aus überdachten Zuschauertribünen. Dort konnte man sowohl sitzen als auch stehen. Irgendwie erinnerte es ihn an Zuhause im Hof des Jade-Palastes. In der Mitte der Arena lag der freie Himmel und unten das freie Feld für die Kämpfer.
Po rutschte für einen kurzen Moment das Herz in die Hose. Ob er die erste Runde gut packen würde? Aber er war doch der Drachenkrieger. Von daher konnte das kein Problem sein.
Schließlich holte er tief Luft und stemmte die Brust raus. „Dafür wurde ich geboren, dafür wurde ich ausgesandt, dafür wurde ich trainiert, dafür wurde ich… äh… jedenfalls ist es mein… ist es mir eine große Ehre hier stehen zu dürfen.“
„Oh, Po!“
Verwundert schaute Po zur Seite, wo nicht nur sein Pflegevater, Mr. Ping, mit einem Wägelchen anrollte, sondern auch mit einem Schwein, dass ebenfalls einen Karren mit sich herzog.
„Ich hab hier ein Souvenir für dich!“, rief Mr. Ping fröhlich und drückte Po etwas in die Tatzen. Stirnrunzelnd betrachtete der Panda das schwarz-weiße Püppchen.
„Was soll das sein?“, fragte er, obwohl er schon ahnte was es war.
„Eine Drachenkrieger-Sieger-Plüschfigur“, erläuterte der Gänserich.
„Ich dachte, du wolltest hier nur Nudeln verkaufen.“
„Oh, Mr. Han und ich haben ein Doppelgeschäft abgeschlossen. Ich verkaufe Nudeln und er Drachenkrieger-Souvenirs. Jeder, der bei mir ein Nudelgericht kauft, bekommt eine Plüschfigur dazu.“ Der Gänserich legte seine Flügel auf Pos Bauch. „Ach, ich bin ja so stolz auf dich, Po. Wer hätte je gedacht, dass du mal hier stehen würdest. Mein kleiner Po.“
Po lächelte verlegen und legte seine Tatzen auf die Schultern des Gänserichs ab. „Schon okay, Dad.“
Doch im nächsten Moment löste sich Mr. Ping wieder von ihm. „Und wenn du gewinnst, dann gehen die Plüschies weg wie warme Tofu-Gerichte.“
Über Pos Mund drang ein gequältes Lächeln. „Ja, schon klar, Dad. Das heißt natürlich falls ich gewinnen sollte… Ich meine, ich bin doch hier nicht der einzige Kung-Fu-Profi. Also, das heißt…“
„Aber natürlich gewinnst du!“, fiel der Gänserich ihm ins Wort. „Denn du bist doch der Drachenkrieger!“
„Äh… ja, ja, das ist… stimmt schon… nur… Ich meine, vielleicht hab ich ja auch ein Black-Out, oder einen Krampfanfall…“
„Oh, wir müssen los!“, rief Mr. Ping beim Blick auf die Zuschauer, die sich immer mehr in die Zuschauerränge drängten. „Wir wollen noch was verkaufen, bevor es anfängt. Wir sehen uns auf dem Siegerpodest, Po!“
Mit offenem Mund starrte der Panda-Krieger den davonlaufenden Verkäuferwägen hinterher. Für einen Moment war Po völlig außerstande ein Wort zu sagen, weil alles Mögliche durch seinen Kopf ratterte. Würde er wirklich gewinnen? Hilfesuchend schaute er neben sich. „Äh, Meister, ich…?“ Doch zu seiner Verwunderung musste er feststellen, dass Shifu nicht mehr neben ihm stand. Suchend sah der Panda sich um. „Äh, Meister? Meister Shifu?! Äh, ich denke, ich brauche doch nochmal moralische Unterstützung!“
Völlig aufgewühlt verließ der Panda seinen Aussichtsplatz und rannte hinter die Zuschauerränge. Wo konnte der kleine Meister sein? Po konnte nur vermuten, dass er sich schon in die Umkleidekabinen begeben hatte, wo sich alle Teilnehmer versammelten. Po beschleunigte seine Schritte. Kaum hatte er die vielen Treppen hinter sich, raste er in die Richtung eines Hauses, von wo es auch direkt in den Hof der Arena ging. Doch kaum war Po um die Ecke des Hauses gerannt, prallte jemand mit voller Wucht gegen seinen Bauch. Der Panda riss die Augen auf und starrte auf die Person am Boden, die so hart gegen seinen felsenfesten Körper geprallt war. „Sheng?“
„Drachenkrieger?“
Schnell erhob sich der blaugrün-weiß gescheckte Pfau und verneigte sich respektvoll. Doch Po war so überwältigt von diesem unerwarteten Wiedersehen, dass er seine Arme um den Pfau schlang. „Sheng, alter Kumpel! Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?“
„Zwei Jahre, denke ich mal“, japste Sheng mühsam in Pos Griff.
„Zwei Jahre? Meine Güte, wie schnell die Zeit vergeht. Mir kommt es vor, als wäre es erst gestern gewesen, wo wir von Mendong wieder nach Gongmen kamen und uns verabschiedeten…“ Er ließ Sheng los. „Oh! Wie geht es der Familie? Sind sie auch hier?!“
Aufgeregt schaute Po sich um.
„Nun, ehrlich gesagt“, begann der Pfau mit leiser Stimme, „bin ich alleine hierhergekommen.“
Po sah ihn überrascht an. „Oh, willst du dir auch die Kämpfe ansehen?“
Nervös rieb Sheng seine Flügel aneinander. „Na ja, ich hab… ich hab mich auch angemeldet.“
Dem Panda fiel die Kinnlade runter. „WAS?! Echt jetzt?! Ist ja irre! Wir kämpfen in derselben Arena? Cool! Sind deine Flügel schon regiestierte Waffen? Es wundert mich aber wirklich, dass dein Vater nicht mitgekommen ist. Er müsste doch sehen wollen, was du alles draufhast. Obwohl, er ist ja kein Fan von Kung-Fu.“
Sheng beugte sich zögernd zu dem Panda vor und raunte ihm so leise etwas zu, als ob er Angst habe, man würde ihn hören. „Mein Vater weiß nicht, dass ich hier bin.“
Das schleuderte den Panda erneut in ein tiefes Loch und starrte den gescheckten Pfau entsetzt an. „WAS?! Aber was wird er sagen, wenn er erfährt, dass du hier…?“
„Ich weiß es bereits.“
Beide fuhren erschrocken herum. Panda und Pfau erbleichten beim Anblick des weißen Herrschers vor ihnen, der sie düster ansah.
Po versuchte es auf die heitere Tour. „Oh, Shen! Hi! Wie geht’s? Lange nicht mehr gesehen. Meine Güte, wie lange ist das jetzt her? Ein Jahr, zwei Jahre?“
Der weiße Pfau stand da mit verschränkten Flügeln und sah alles andere als entspannt aus, sodass Po Mühe hatte sein Lächeln auf den Mund zu behalten, versuchte aber dennoch einen erneuten Anlauf.
„Hey, hast du dein Aussehen verändert?“ Prüfend musterte der Panda das Gewand seines ehemaligen Rivalen. Er trug wie immer seine silberne Robe, nur waren die Ärmelränder nicht grau, sondern feuerrot und in Form von kleinen Flammen und der Verschluss seines Robengewandes war durchgehend rot. Auch auf seinen Rücken befand sich nicht das übliche silberne Zeichen, sondern trug diesmal die Form eines roten Pfaus.
„Sieh schön aus“, meinte Po anerkennend und hob den Daumen. „Passt auch zu seinen roten Tupfen.“
Shen verengte die Augen zu gefährlichen Schlitzen und Po musste den Versuch der Erheiterung aufgeben. Etwas kleinlaut legte er die Zeigefinger zusammen. „Ich meine ja nur.“
Doch Shens Augenmerk galt nicht dem Panda, sondern seinem Sohn. „Sheng! Ich hab dir doch untersagt…!“
„Tut mir leid“, fiel der gescheckte Pfau ihm ins Wort. „aber ich konnte nicht anders. Ich musste kommen. Ich möchte doch so gerne mal in der Arena stehen.“
Der weiße Pfau verengte seine Augen nur noch mehr. „Du weißt genau, dass wie ich dazu stehe…“
„Wozu trainiere ich denn?!“, rief Sheng aufgebracht.
Shen stieß ein wütendes Schnauben aus. „Damit du dich verteidigen kannst, nicht um dich zum Gespött des ganzen Landes zu machen!“
Po sah ihn stirnrunzelnd an. „Zum Gespött des Landes? Also jetzt halt mal, der Wettkampf ist die höchste Ehre, die man hier als Kung-Fu-Krieger einholen kann.“
„Genau das ist das Problem.“
„Wie jetzt?“
Sheng seufzte und beugte sich zum Panda vor. „Er will nicht, dass ich verliere“, raunte er ihm zu, was bei Po eher auf Unverständnis stieß.
„Hier geht es doch nicht unbedingt um das Gewinnen“, betonte der Panda. „Sondern darum, dass man das Privileg hatte an diesen Kämpfen teilgenommen zu haben.“
Shen sah ihn mit stechendem Blick an. „Und wie würdest du dastehen, wenn du verlieren würdest?“, fragte er giftig.
Wieder sank Po der Mut. Jeder erwartete, dass er gewann, aber was ist, wenn nicht? Einen Moment stand Po völlig geschockt in der Schwebe und stelle sich schon vor, wie man ihn mit den Drachenkrieger-Siegespuppen bewerfen würde. Doch noch bevor er zu der Vorstellung kam, dass Shifu ihn noch aus dem Jade-Palast werfen könnte, wurde sein Gedankengang von einer fröhlichen Mädchenstimme unterbrochen.
„Panda Po, Panda, Panda!“
Erneut fiel dem Panda die Kinnlade runter, als er eine kleine weiße Figur auf sich zu rennen sah. „Shenmi?“
Im nächsten Moment warf sich das weiße Pfauenmädchen dem Panda entgegen. Po hob sie hoch und betrachtete sie eingehend. „Wow, hey! Bilde ich es mir nur ein, oder bist du ein bisschen gewachsen?“
Pos Begeisterung wurde abgelenkt, als noch ein paar weitere Pfauenvögel auf ihn zukamen. Verwundert hob er das Mädchen auf den Arm und schaute die anderen mit großen Augen an. „Yin-Yu, Xia, Zedong, Fantao, Jian? Ihr seid alle mitgekommen? Wow, wollt ihr euch auch die Wettkämpfe ansehen? – Autsch!“ Po rieb sich den Bauch, in den der Pfauenjunge Zedong ihn so spaßhalber reingeboxt hatte. „Lass mich raten, du hast wohl auch trainiert, oder?“
Zedong hob stolz den Kopf und stemmte die Flügel in die Hüften. „Ich bin fast schon genauso gut wie Sheng.“ Er verzog beleidigt den Schnabel. „Doch Kinder dürfen ja nicht mitmachen.“
„Also beim Malwettbewerb würde ich jederzeit gewinnen“, meinte Fantao beschwichtig und wedelte mit seinem Pinsel vor Zedongs Gesicht herum. Seinem Bruder gefiel das gar nicht und stieß ihn weg.
„Na, na, na“, mischte sich Yin-Yu ein und schob die beiden auseinander, bevor sie sich dem Panda zuwandte. „Sei gegrüßt, Drachenkrieger“, begrüßte die ältere Pfauenhenne ihn und verneigte sich kurz, bevor sie den Grund für ihr Erscheinen erläuterte. „Ich hätte es zuhause sonst gar nicht ausgehalten vor Sorge.“
Po hob die Augenbrauen. „Wegen Sheng?“
„Nein, wegen…“ Sie deutete mit einem Kopfnicken zu Shen. Allmählich verstand Po, dass sie befürchtete, dass das Ganze noch in einen harten Vater-Sohn-Streit enden könnte. Und es sah wirklich so aus, als könnte Shen die Beherrschung verlieren.
Xia teilte ihre Sorge, nachdem auch sie sich vor dem Drachenkrieger verneigt hatte, wenn auch auf eine mehr kameradschaftliche Art. „Hallo, Po. Vater ist im Moment wirklich nicht gut zu sprechen.“
Besorgt schaute Po wieder zu Shen und Sheng. Shen hatte seinen Sohn inzwischen am Flügel gepackt und sah ihn dabei drohend an. „Du gehst jetzt da rein, meldest dich ab und kommst wieder zu mir!“
Doch Sheng riss sich los. „Nein, Vater! Ich möchte auch mal was machen, was ich möchte.“
„Wer will sich hier abmelden?“
Alle schauten auf. Vor ihnen standen die zwei bekannten Figuren eines Ochsen und eines Krokodils, dicht gefolgt von einem kleinen roten Panda.
„Oh! Meister Ochse! Meister Kroko!“, rief Po teils begeistert, teils zerknirscht. „Und Meister Shifu! Genau nach Euch habe ich die ganze Zeit gesucht.“
Shenmi winkte dem Ochsen fröhlich zu. Meister Ochse erwiderte die Begrüßung des Mädchens mit einer heiteren Mimik. Doch sobald sein Blick auf Shen fiel, vereiste sein Lächeln sofort wieder. „Du hast wirklich Nerven dich hier blicken zu lassen.“
Der weiße Pfau stieß ein genervtes Knurren aus. „Es war nie mein Wunsch gewesen hierherzukommen. Aber da du schon mal hier bist, kannst du einen Namen von der Teilnehmerliste streichen, und wir werden wieder gehen.“
Zedong sprang auf. „Och! Ich wollte mir aber auch die Kämpfe ansehen!“
„Du bist ruhig!“, befahl Shen und zog seinen Sohn am Ärmel weg, ziemlich sicher, dass Sheng seiner Aufforderung nachkommen würde, sowie der Rest der Familie. Doch kaum hatte der weiße Herrscher ein paar Schritte getan, verschränkte Meister Ochse schnaubend die Arme. „Hast du so große Angst davor, dass er verliert?“
Shen blieb wie vom Donner gerührt stehen. Dann drehte er sich langsam zum Ochsen um und sah ihn wütend an. „Du weißt ganz genau, was ich von eurem Kampf-Theater halte. Es ist äußerst kindisch seine Kräfte für sowas zu verschwenden.“
Po fand diese Beleidigung jetzt gar nicht nett, hielt aber eisern den Mund geschlossen, um jetzt nicht noch mehr Öls ins Feuer zu gießen, doch Meister Ochse schien es darauf anzulegen, seinen Erzrivalen und ehemaligen zukünftigen Unterweiser aus der Fassung zu bringen. „Tz, gegen den Drachenkrieger hat er doch eh gar keine Chance.“
Yin-Yus Gesicht nahm einen besorgen Ausdruck an, als sie merkte, wie Shens Flügel sich verkrampften. „Habe ich das gesagt?!“, fauchte Shen.
In diesem Moment trat Sheng wieder vor. „Also, eigentlich wollte ich nur mitmachen…“
„Siehst du“, meinte der Ochse schadenfroh, sichtlich zufrieden, dass jemand anderes außer ihm dem weißen Pfau die Stirn bot. „Es sei denn, du zwingst ihn dazu sich feige zurückzuziehen.“
Po sah den Meister schockiert an. Mit diesem Grundsatz hatte er nicht vorgehabt in den Ring zu steigen. „Also, ich hab gedacht, Dabeisein wäre alles…“
Doch der Ochse ignorierte seinen Kommentar. „Willst du jetzt immer noch den Rückzieher machen?“
Shen schwang seine Robe. „Vom Zurückziehen habe ich nie etwas gesagt!“
Po warf Shifu einen hilfesuchenden Blick zu. „Meister, jetzt sagt doch auch mal was.“
„Also, dann wird er mitmachen?“, hackte Meister Ochse ungehindert nach.
„Nein!“, lehnte Shen ab.
„Hey!“, schrie Sheng empört. „Fragt jemand auch mal mich, was ich will?! Ich will doch einfach nur einmal dabei sein!“
Der gescheckte Pfau zog etwas den Kopf ein, als sein Vater ihn so bedrohlich ansah. Nur Zedong hatte keine Hemmungen im Hintergrund seine Meinung zu äußern. „Also ich finde es cool, dass er da reingeht.“
„Du hältst dich da raus!“, wies sein Vater ihn zurecht.
Sheng versuchte noch einmal die Ruhe zu bewahren und holte tief Luft. „Vater, lass mich das ausprobieren. Es spielt doch keine Rolle, ob ich gewinne…“
„Du wirst nicht bei diesem Zirkus mitmachen!“, befahl Shen entschieden. „Dein „Dabeisein“ wird nicht nur dich, sondern auch die ganze Familie betreffen!“
Sheng verengte die Augen. „Nur auf die Familie oder deinen Stolz?“
Das brachte den weißen Pfau kurzfristig zum Verstummen, doch er fühlte sich äußerst gekränkt.
Sheng seufzte verbittert. „Du kannst doch nicht von mir erwarten, dass ich mich für den Rest meines Lebens danach ausrichte, wie es dir passt. Ich mach doch hier nichts Ungesetzliches.“
Meister Ochse rümpfte die Nase. „Das hätte mich als nächstes weniger gewundert…“
Shen fuhr herum. „DU…!“
„Shen, bitte, beruhige dich!“ Wie aus dem Nichts erschien auf einmal die Wahrsagerin und stoppte den aufgebrachten Pfau mit ihrem Gehstock.
Po sah sie verwundert an. „Du auch hier? Wer denn noch?“
„Siehst du es denn nicht?“, versuchte die alte Ziege Shen zu besänftigen. „Er lässt sich nicht umstimmen. Und das wird er auch nicht tun.“
Shens Pfauenkamm begann zu zittern. „Woher willst du das wissen?“
„Ich brauche nur dich anzusehen und ich weiß es.“
Po musste kichern. „Du willst wohl damit sagen, dass beide denselben Dickschädel haben, nicht wahr?“ Als ihn Shens böser Blick traf, zog er den Kopf ein. „Das sollte ein Kompliment sein.“
„Und was euch angeht“, wandte sich die alte Ziege an die Meister, „solltet ihr euch besser auf eure Arbeit konzentrieren und nicht den anderen die Freude verderben. Immerhin leitet ihr doch die Jury, oder etwa nicht?“
Meister Ochse grinste. „Natürlich leiten wir die Jury, so wie immer.“ Er rieb sich die Hufe. Es würde ihn nur eine Freude bereiten, dass Shen sich über seinen Sohn ärgern würde. Doch ein mahnender Blick der Ziege veranlasste ihn diesen Gedanken nicht auszusprechen.
In diesem Moment strich der grünschillernde Pfauenjunge Jian über sein Musikinstrument, einer kleinen chinesischen Pipa, und summte etwas vor sich hin. „Warum die Köpfe einschlagen?“, murmelte er ruhig. „Dafür ist doch das Kampffeld da.“
Alle sahen ihn fragend an.
Zedong gab dem Panda einen Stoß in die Seite. „Manchmal redet er irgendein Zeug, dass er Poesie nennt. Ich glaube, die Musik macht ihn noch ganz wirr.“
„Was Jian wohl damit sagen will ist“, mischte Xia sich ein, „dass in der Arena schon genug gekämpft wird. Im Privaten müssen wir das jetzt nicht auch noch tun.“ Ihr Blick wanderte zu ihrem Vater. „Vor allem nicht in der Familie.“
Shen verschränkte die Flügel. „Ihr seid also alle gegen mich!“
„Sieht ganz so aus…“ Schnell hielt Po sich den Mund zu.
„Meister Ochse! Meister Kroko! Meister Shifu!“, rief auf einmal ein Gänserich zu ihnen rüber, der wahrscheinlich zum Betreuer der Arena gehörte. „Es ist schon ziemlich spät! Wir müssen langsam anfangen!“
„Wir kommen schon!“, rief Meister Ochse zurück und wandte sich nochmal an Sheng. „Also, mach mit, oder lass es.“
Damit verschwand er im Haus für die Teilnehmer. Auch Meister Shifu winkte Po zu sich heran. „Po, du kommst jetzt besser auch mit.“
Ausnahmsweise war der Panda dankbar für dies Aufforderung und trat den Rückwärtsgang an, weil Shen ihn immer noch so böse anschaute.
„Ich… äh… ich werde dann mal schnell mich in die Umkleideräume begeben. Ich meine, ich hab zwar nichts, was ich umziehen muss, oder anziehen muss… aber ich möchte mich noch vorbreiten… seelisch… psychisch und physisch… im Körper und Geist… vielleicht auch noch etwas essen… also bis dann!“
Schnell verschwand der Panda durch die Tür ins Haus. Sheng blieb noch eine Weile stehen und sah seinen Vater mit bockig, bittendem Gesicht an. Die anderen schauten besorgt von einem zum anderen. Schließlich riss Shen seinen Umhang herum und kehrte seinem Sohn den Rücken zu. „Mach doch was du willst! Mein Einfluss auf dich ist anscheinend nicht mehr stark genug!“
Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging wütend davon. Sheng sah ihn etwas betrübt nach, doch dann spürte er die Flügel seiner Mutter, die sich auf seiner Schulter niederließen. „Sheng, wie immer es auch ausfallen wird“, meinte sie warm. „Ich werde immer stolz auf dich sein.“
Der gescheckte Pfau lächelte seiner Mutter zu. „Danke, Mutter.“
„Jetzt geh schon“, sagte Yin-Yu und schob ihn zum Haus. „Du kommst noch zu spät.“
Schnell rannte der Pfau davon. Zedong rief ihm noch „Schlag sie alle!“ zu, bevor er noch von der alten Ziege wieder zurückgenommen wurde.
„Zedong, mein Junge“, sagte die Wahrsagerin. „Gewinnen ist nicht alles.“
„Aber das macht doch mehr Spaß“, beharrte der kleine gescheckte Pfau.
Die Ziege streichelte ihn über das Köpfchen. „Du wirst noch lernen, was es heißt, dass es mehr gibt, als nur zu gewinnen.“
Sie fing Yin-Yus besorgten Blick auf und wiege wehmütig den Kopf. „Die beiden sind sich wirklich ähnlich. Keiner will sich was einreden lassen.“
Die ältere Pfauenhenne nickte bekümmert. „Genau das macht mir für die Zukunft manchmal Sorge.“
Po, der noch in einer versteckten Ecke gelauscht hatte, zog sich bedrückt zurück. Eigentlich hatte er sich wahnsinnig auf den Wettkampf gefreut und jetzt musste ausgerechnet sowas passieren. Mit hängenden Schultern begab er sich ins Haus zu den Umkleideräumen. Und außer seinem teilweise leeren Magen wusste er nur, dass er sich jetzt schlechter fühlte als vorher.

3. Kapitel: Erwartungen und Befürchtungen

3. Erwartungen und Befürchtungen


Trällernd spazierten Mr. Ping und Mr. Han mit Souvenir- und Nudelwagen durch die Sitzreihen. „Drachenkrieger-Souvenirs!“, rief der Gänserich. „Jeder, der einen Nudelbecher kauft, bekommt einen Plüsch-Panda dazu!“
„Hier rüber!“
Sofort zerrte Mr. Ping alles mit sich in die Ecke, aus der die Stimme gekommen war. Es war eine vermummte Gestalt in der entlegensten Ecke der Tribüne in den oberen Rängen.
Mr. Ping beäugte die Person ein wenig misstrauisch, die für Sommer-Verhältnisse ungewöhnlich dick eingepackt war. Doch ein Käufer war ein Käufer, weshalb auch er ihm was anbot.
„Guten Tag, der Herr. Was darf es denn sein?“
Die große eingehüllte Gestalt räusperte sich. „Wie viele Pandas bekommt man, wenn man zwanzig Nudelschüsseln kauft?“
„Zwanzig?“ Mr. Ping machte große Augen und tauschte kurz einen Blick mit Mr. Han aus. „Oh, ich weiß nicht, ob wir so viel auf einmal geben können…“
„Ich bezahl auch mehr.“
Die Gestalt griff in einen Beutel, der an ihrem Mantel befestigt war. Dabei rutschte ihr die Kapuze etwas runter.
Mr. Ping blieb für einen Moment der Schnabel offen, als er das Gesicht darunter erkannte. „König Wang? Sie auch hier?!“
„Psst! Ich bin inkognito hier!“, raunte der Hunnenkönig ihm zu. „Niemand darf wissen, dass ich hier bin, aber ich wollte nichts von diesem Wettkampf verpassen.“
Mr. Ping brauchte einen Moment, um sich von der Überraschung zu erholen. „Oh… oh… das freut mich sehr zu hören… ich meine… es ist nur schon so lange her, dass wir das letzte Mal… wie lange ist das jetzt her? Über 4 Jahren bestimmt…“
Mr. Ping legte die Stirn in Falten und begann im Geiste nochmal durchzurechnen, während der Hunnenkönig ihn erwartungsvoll ansah. „Also, was ist jetzt mit den Pandas?“
„Oh, oh, ja… wie viele wollten Sie nochmal?“

Ein paar Sitzreihen weiter weg, hatte Shen sich mit seiner Familie niedergelassen. Shenmi hüpfte aufgeregt auf einem Stuhl hoch und runter, während Xia und Yin-Yu damit beschäftigt waren Zedong, Fantao und Jian darüber einig werden zu lassen, wer neben wem sitzen durfte.
Shen bekam von all dem Trubel nichts mit und starrte nur grimmig in die Kampfarena, wo auch ein langer Tisch am Rand aufgestellt worden war, wo die Jury die Plätze einnehmen würde.
Die alte Ziege betrachtete ihn mit besorgtem Blick und strich sich über ihren Bart. „Shen, du kannst ihn nicht ewig unter deine Fittiche halten. Irgendwann kommst für jeden die Zeit, wo man sich von seinen Eltern loslöst.“
Der weiße Pfau hob aufmüpfig den Schnabel. „Seine Taten kommen dann wieder auf mich zurück. Ich will nur vermeiden, dass er Schande über uns bringt.“
Die Augen der Ziege verfinsterten sich und sie klopfte einmal mit dem Gehstock auf den Holzboden. „Also, ich denke, das was er hier tut, ist bei weitem nicht dasselbe, wie damals du…“
Shens schneidender Seitenblick brachte sie kurzfristig erschrocken zum Schweigen, weshalb sie sich schnell wieder korrigierte. „Was ich damit sagen möchte ist, dass er irgendwann seinen eigenen Weg gehen wird. Shen, er ist doch schon 24 Jahre alt. In seinem Alter warst du schon längst auf dich alleine gestellt gewesen…“
Shen verdrehte genervt die Augen. „Ja, ja, ja. Da hatte ich keine Eltern mehr, die mir etwas vorschrieben. Aber war es, aus deiner Sicht, recht gewesen?“
Die Ziege senkte ergeben den Blick. War das wirklich recht gewesen?
„Na so was! Sir? Sie auch hier?“
Shen drehte sich verwundert um. Diese Stimme kannte er doch.
Im nächsten Moment kam ihnen ein aufgeregter Gänserich entgegen. „Na was für eine Überraschung!“, rief Mr. Ping. „Heute trifft man hier wirklich alles und jeden an.“ Sein Blick fiel auf die Kinder. „Und Sie haben Ihre ganze Familie mitgebracht. Wie schön! Dann lerne ich sie auch endlich mal kennen. Po hat mir ja so viel von ihnen erzählt.“
Shen wusste zuerst nicht, was er sagen sollte, weshalb er hastig eine Verbeugung vollführte, obwohl er es vielleicht nicht vorgehabt hätte. Innerlich hegte er gegen Pos Freundeskreis immer noch eine Abneigung, was er aber seiner Frau zuliebe jetzt nicht zeigen wollte. Umso mehr willkommener hießen ihn die anderen. Yin-Yu und Xia, die Mr. Ping noch von früher kannten, nickten ihm freundlich zu.
„Hallo“, grüßte Xia höflich, während sie den zappelnden Zedong in den Flügeln hielt.
Auch Yin-Yu lächelte ihm zu. „Ich hab gar nicht erwartet Sie hier zu sehen.“
„Na hören Sie mal!“, protestierte Mr. Ping mit gespielter Empörung. „Ich muss ja wohl bei dem Kampf meines Sohnes dabei sein. Ich bin ja so stolz auf ihn.“
Die Ziege bekam es mit der Angst zu tun, als sie merkte, wie Shen sich wieder verkrampfte. Schnell legte sie einen Huf auf seinen Flügel und ging auf Mr. Ping zu. „Äh, vielleicht möchten die Kinder gerne etwas essen.“
„Oh, ja, ich will Nudeln!“, rief Fantao und sprang vom Stuhl.
„Ich auch, ich auch!“, stimmte Zedong mit ein und befreite sich aus den Griffen seiner großen Schwester.
„Du bist wahrscheinlich Zedong“, meinte Mr. Ping nach kurzem Überlegen. „dann musst du Shenmi sein. Die Farbe von ihrem Vater und die Augen der Mutter. Wie schön.“
„Krieg ich auch einen Panda?“, fragte Fantao, als er noch einen Plüsch-Panda auf dem Souvenirwagen sah.
„Da müssen wir noch welche holen“, sagte der Gänserich. „Einer hat uns schon alles abgekauft.“
Shens Unmut wuchs erneut. Nicht weil die Kinder jetzt auch noch Panda-Puppen wollten, sondern sein Blick wieder auf die Arena fiel.

Nachdenklich trottete Po durch die Gänge an den Umkleidekabinen vorbei. Sämtliche Kung-Fu-Kämpfer aus vielen Ländern waren anwesend. Hier und da winkte Po in eine Ecke und wünschte den Teilnehmern alles Gute.
„Viel Glück, Kumpel. - Siehst gut aus.“
Kurz vor dem Ausgang in die Arena hielt er inne, als er seine fünf Freunde auf sich zukommen sah. „Hey, Leute! Wenigstens bei euch ist alles beim Alten.“
„Ist alles in Ordnung bei dir, Po?“, erkundigte sich Monkey. „Shifu sagte, ihr hattet am Eingang eine Diskussion gehabt.“
Der Panda rieb sich über den Nacken. „Ja, schon. Es war nur…“
In diesem Moment ging Sheng an ihnen vorbei. „Seid gegrüßt“, sagte er und verneigte sich.
Crane klappte kurz die Kinnlade runter. „Er ist auch hier?“
Po kam nicht mehr dazu die Frage zu beantworten. Als er Meister Tosender Ochse und Meister Kroko erblickte, ging er schnurstracks auf den Ochsen zu.
„Wart ihr es eigentlich gewesen, die Sheng in die Teilnehmerliste aufgenommen habt?“
„Natürlich“, meinte Meister Ochse belanglos, als ob ihn das gar nicht interessieren würde.
„Aber wieso habt ihr ihn einfach so gelassen?“, wollte Po wissen.
„Warum nicht? Er ist doch volljährig, oder etwa nicht?“
„Sag mir bitte nicht, dass du es nur tust, um Shen zu kränken.“
„Wir müssen los“, war Meister Ochses einzige Antwort und wandte sich ab.
Irritiert schaute Po den zwei großen Meistern hinterher. „Hey! Es ist doch noch gar nicht mal sicher, dass ich gewinne…“
Er lief den zwei Meistern bis zum Tor nach. Dort hielt er an, während die zwei Meister von einer jubelnden Menge begrüßt wurden. Vorsichtig lugte der Panda nach draußen und beobachtete wie sich Ochse und Krokodil an den Tisch setzten.
Nachdenklich runzelte Po die Stirn. Hatte Meister Ochse es vielleicht darauf angelegt, dass er Shen damit eine Niederlage bereiten könnte, falls sein Sohn verlor?
Pos Blick wanderte über die Zuschauerränge. Die weiße Gestalt von Shen erkannte er sofort. Er meinte, dass sich ihre Blicke treffen würden, was wiederum Po das Fell sträuben ließ. Was ist, wenn er sogar gegen Sheng antreten musste? Würde er sich dazu überwinden können, Sheng gegenüber zu treten und gegen ihn zu kämpfen?
In diesem Moment ging Shifu an ihm vorbei. „Also, dann viel Glück, Po-„
„Meister Shifu!“, rief Po und packte den Meister am Hemd. „Ich glaube, ich bin krank!“
„Po, du hast Lampenfieber.“
„Nein, das ist es nicht! Es ist nur… ich kann nicht antreten! Ich muss für heute aussetzen!“
Meister Shifu schob ihn von sich. „Po, wegen der Sache von vorhin solltest du dich nicht irritieren lassen.“
„Das hat doch nichts mit Irritation zu tun. Es ist nur, dass…“ Sein Blick wanderte wieder nach draußen zu den Meistern, und in Po wuchs der schreckliche Gedanke, dass Meister Ochse sogar wollte, dass er gegen Sheng antrat. Allerdings wollte er dies nicht vor seinem Lehrer aussprechen und suchte nach einer anderen Ausrede.
„Da sind so viele Leute da draußen!“, plapperte er weiter. „Und die erwarten alle von mir, dass ich gewinne. Was ist, wenn ich einen Fehler mache? Was ist, wenn ich versage? Oh nein, jetzt hab ich das Wort schon gesagt! Jetzt versage ich wirklich! – Tut mir leid, ich kann heute nicht antreten.“
Doch Meister Shifu verengte nur die Augen und ging an dem verzweifelten Panda vorbei. „Jetzt entschuldige mich, Po. Ich muss an den Jury-Tisch.“
„Meister! Ihr könnt mich doch jetzt nicht hier zurücklassen!“
Doch Shifu schien ihm gar nicht mehr zuzuhören und begab sich zu Meiser Ochse und Meister Kroko an den Jury-Tisch neben das Kampffeld.
„Po, warum denn so aufgeregt?“
Verwundert schaute Po nach oben, wo Mantis auf seinem Kopf Platz genommen hatte.
Seufzend ließ der Panda die Schultern hängen. „Ach, ich weiß auch nicht, was ich machen soll“, antwortete er ratlos.
„Ist es wegen Sheng?“
Verwundert drehte Po sich zu Tigress um, aber von Sheng war nichts mehr zu sehen.
„Wo ist er denn hin?“
„Er hat dir viel Glück gewünscht“, sagte Viper und rollte sich neben ihrer Freundin zusammen.
Po hob die Augenbrauen. „Hat er das?“
„Po, es wäre doch möglich, dass er schon in den Vorrunden ausscheidet“, meinte Monkey, der Pos Befürchtungen bereits erraten hatte.
„Stimmt. Dann musst du nicht mehr gegen ihn antreten“, fügte Crane hinzu.
Mantis vibrierte mit seinen Antennen. „Es wäre schon gut, wenn du gegen den da gewinnen würdest.“ Er deutete auf einen großen Kragenbären, der grimmig knurrend sich die Fäuste massierte.
Po sah den stämmigen Bären verwundert an. „Oh, wo kommt der denn her?“
„Soweit ich weiß aus Japan“, antwortete Mantis.
„Oh, also ein direkter Nachbar.“
„Und ein naher Verwandter“, ergänzte Viper.
„Po“, begann Tigress von neuem. „Ganz egal wie das Ergebnis auffallen wird, ich bin sicher, dass dir keiner was übel nehmen wird.“
Po schluckte schwer. Es stellte sich nur die Frage, ob ihm die Teilnehmer oder die Zuschauer ihm was übelnehmen würden.
„Po, ihr müsst raus!“, meldete Viper. „Es fängt an!“
Po sprang auf. „Oh, oh, oh, oh… okay…“ Er schaute zerknirscht in die Runde. „Und ihr seid nicht sauer, weil ich der Einzige von uns bin der daran teilnimmt?“
„Jetzt geh schon!“, drängte ihn Crane und schob den Panda nach vorne. „Du musst als Erster raus.“
„Muss ich das wirk…?“
Doch seine Freunde ließen ihn nicht ausreden und schoben ihn an die vorderste Schlange, wo sich schon alle Teilnehmer am Eingang aufgestellt hatten. Po blieb also nichts anderes übrig als allen voran in die Arena zu gehen, wenn die restlichen Kämpfer eintreten wollten.
Po bekam weiche Knie, als er sich in Bewegung setzte. Gerade kündigte ein Ansager die ankommenden Teilnehmer an. „Und hier sehen Sie einzig und leibhaftig den Drachenkrieger!“
Kaum war Po ins Sonnenlicht getreten rief die Menge auch sogleich im Chor: „Drachenkrieger! Drachenkrieger!“
Mr. Ping jubelte seinem Sohn am lautesten zu und auch in einer anderen Ecke erklangen von einer vermummten Gestalt jubelnde Pfiffe.
Für einen Moment war Po so überwältigt von dieser Begrüßung, dass er alles um sich herum vergaß. „Wow, das ist… das ist wirklich cool.“
Der Panda schielte hinter sich, wo ihm in einer Reihe die anderen Teilnehmer folgten. Irgendwie kam Po sich ein bisschen lächerlich vor. Er war zwar der Drachenkrieger, aber noch lange nicht der Weltmeister… Oder galt man als Drachenkrieger automatisch als Champion? Wieder kroch in ihm der starke Leistungsdruck hoch.
Draußen in der Arena stellten sie sich in einer Reihe auf. Dann erhob sich Meister Ochse und las die Teilnehmerliste vor, wobei jeder vortrat und sich vor der Jury verneigte. Knapp fünf Leute weiter erkannte der Panda den blaugrün-weiß gescheckten Pfau. Po wurde es erneut mulmig zumute und sein Blick wanderte kurzfristig zu Shen hoch. Die stechenden Augen des weißen ehemaligen Kriegsherrn ließ dem Panda jetzt auch noch die Angst hochsteigen. Seine Gedanken purzelten ihm durch den Kopf wie Ping-Pong-Bälle. Er bekam nicht mal mit, wie die Meister nochmal die Regeln vorlasen. Erst als wieder sein Name fiel, kam er wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
„Der Drachenkrieger eröffnet die Wettkampfspiele und tritt als erster an“, verkündete Meister Shifu und deutete auf Po.
Der Panda wurde bleich um die Nasenspitze. „Na toll.“

4. Kapitel: Auf in den Kampf!

4. Auf in den Kampf!


Po war halbwegs froh darüber nicht die ganze Zeit am Feldrand stehen zu müssen, sodass ihm noch ein paar Minuten Zeit blieb sich auf den Kampf vorzubereiten. Er begab sich wieder zu seinen Freunden und stellte sich entschlossen auf die Beine.
„Okay, weiß einer von euch schon gegen wen ich als erstes antreten muss?“
„Gegen einen gewissen Bagula aus Südamerika“, klärte Viper ihn auf.
„Wow, da hat er aber eine weite Reise hinter sich gebracht.“
„Ich glaube, bei ihm hat es 10x länger gedauert.“
„Wieso?“
„Na ja, er ist ein…“ Viper deutete mit dem Kopf auf den Kampfplatz, wo Pos Gegner sich schon im Schneidersitz aufgestellt hatte.
Po klappte die Kinnlade runter. „Ein Faultier? Ist das ein Scherz?“
„Unterschätz ihn nicht, Po“, raunte Monkey ihm zu. „Manche nennen ihn auch den `Schlafenden Blitz´.“
„So sieht er auch aus.“
In diesem Moment trat der Ansager, ein kleiner Affe, wieder nach vorne und kündigte den ersten Kampf an. „Es treten an: Der Drachenkrieger Po gegen Bagula aus Brasilien.“
Po atmete tief durch. „Puh, okay, wünscht mir Glück.“
Tapfer trat er nach vorne auf die freie Fläche. Dort angekommen drehte er sich zu den Meistern um und verneigte sich. Sein Blick wanderte zu seinem ersten Gegner, der gerade die Hände zusammengelegt und eine sehr, sehr langsame Verbeugung vollführte.
Po runzelte die Stirn und hoffte nur, dass man ihn nicht mit irgendeinem Lacher hereinlegen wollte, als Einstiegsfrequenz. Der Panda trat in die Mitte des Feldes. Das Faultier benötige allerdings noch ein Weilchen bis es vor dem Panda stand. Po verzog den Mund. Wenn das den ganzen Kampf so weiter ging, würde er schneller die erste Runde gewinnen als er gedacht hatte.
Ein Hase, der den Schiedsrichter spielte, gesellte sich neben sie. Es hob die Pfoten und beide Gegner stellten sich in Position. Po war sofort bereit, allerdings musste er noch knapp eine halbe Minute warten bis auch Bagula endlich die Kampfhaltung eingenommen hatte.
„Wird ja ein leichter Kampf werden“, dachte Po etwas enttäuscht.

„Gegen den soll er antreten?“, fragte Zedong und seine Schnabelwinkel sanken nach unten. „Den schafft er doch locker.“
Er sah zu seinem Vater hoch, doch dieser hatte die Flügel verschränkt und schaute nur grimmig nach unten.
„Ist vielleicht nur ein Joke für den Anfang“, meinte Fantao, während er aus seiner Nudelschüssel aß.
Shen schnaubte. „Merk dir eins, mein Junge. Kung-Fu-Meister machen nie Scherze.“
„Keine Scherze? Nicht mal einen kleinen Witz?“
Jian beugte sich neugierig vor. „Heißt das, sie lachen noch nicht einmal?“
„Nur wenn du auf den Schnabel fällst“, knurrte Shen leise.
Fantao sah ihn verständnislos an. „Hä?“
„Iss deine Suppe“, zischte sein Vater ihn an.

Po war sich zwar sicher, dass er die erste Runde sofort gewinnen könnte, doch seine Freunde hatten so ihre Zweifel.
„Wieso nennt man ihn eigentlich den `Schlafenden Blitz´?“, wollte Mantis wissen.
Viper beugte sich zu ihm rüber. „Es heißt, dass er erst wach wird, wenn es zehn Uhr ist.“
„Und wie spät ist es jetzt?“
Crane schaute zur Sonne hoch. „Zehn Uhr.“
Der Hase gab das Zeichen und der Kampf war eröffnet. Po ging sofort auf Angriff, allerdings so, dass er nicht zu hart zuschlug. Seine Pfoten zielten genau auf das Faultier, doch noch ehe er es berühren konnte, wich ihm das Faultier aus und stand mit einem Mal hinter dem Panda. Verwundert schaute Po sich um. Auch seine Freunde standen weiter entfernt da mit öffnen Mündern.
„Wie hat er das nur gemacht?“, fragte sich Mantis.
Das Faultier stand auf seinen Beinen, erweckte aber nicht den Eindruck als habe es sich großartig angestrengt. Po startete einen erneuten Angriff. Doch als er mit dem Fuß nach ihm treten wollte, schlug das Faultier Pos Fuß zur Seite. Po verlor das Gleichgewicht und wirbelte um die eigene Achse. Er konnte gerade noch rechtzeitig abbremsen, noch bevor er aus dem Kampffeld flog.

„Wow, hast du das gesehen?“, fragte Zedong überrascht.
Fantao hatte sich fast an seiner Suppe verschluckt. „Abgefahren“, murmelte er.
Shen bekam von den ganzen Kommentaren seiner Kinder gar nichts mit. Seine Augen waren nur auf den Kampf gerichtet. Der Panda hatte inzwischen wieder die Balance gefunden und versuchte erneut seinen Gegner mit Angriffen zu schwächen, doch dieser wehrte sie immer mit einer Umdrehung des Pandas ab.
Shens Augen verengten sich. Wenn er den Panda so von der Ferne kämpfen sah, erinnerte ihn das an früher. Damals war er noch gegen ihn angetreten. Wie sehr hatte er sich doch bemüht und ausgerechnet gegen einen fetten Panda musste er verlieren. Wie wäre es wohl aus gegangen, wenn er ihn damals besiegt hätte?
„Shen?“, erkundigte sich die Ziege besorgt, als sie seinen hasserfüllten Blick bemerkte. „Möchtest du vielleicht kurz rausgehen?“
„Mach dich doch nicht lächerlich!“, schimpfte der weiße Pfau. „Und lass gefälligst mein Gewand los!“
Eigentlich wollte die Ziege ihn nur damit ablenken, doch diese Wirkung hielt nicht lange.

Allmählich wurde Po das ganze Herumgeschupse und Herumgewirbelt werden langsam zu viel und ging jetzt noch heftiger in die Offensive. Doch das Faultier schien ihn im Zeitlupentempo zu beobachten. Immer wieder lenkte es die Angriffe um. Po wurde schwindelig und begann zu taumeln. Die Freunde befürchteten schon das Schlimmste. Doch als der Panda für einen Moment außer Stande war anzugreifen, griff Bagula ihn nun selber an.
„Po! Pass auf!“, riefen die Fünf im Chor.
Po hob die Arme und schützte seinen Oberkörper. Bagulas Faust rutschte an ihm ab und landete in seinem Bauch. Das Faultier prallte an seinem Körper ab und kullerte über den Boden. Als es endlich zum Stillstand kam, hielten die Freunde den Atem an. Der Staub verzog sich. Die Menge jubelte auf. Bagula war außerhalb des Ringes. Das Faultier saß zunächst völlig irritiert da, dann legte es sich müde hin.
Der Schiedsrichter rannte zu ihm rüber, dann deutete er auf Po. Das Toben der Zuschauer wurde lauter. Die erste Runde ging an den Drachenkrieger.
Verwundert rieb Po sich über seinen Bauch. „Und wieder mal hat mich mein Bauch gerettet.“
Er lächelte. Vielleicht würde es doch noch Spaß machen.

Zedong war von seinem Platz aufgesprungen. „Das war super gewesen, oder Dad?“
Doch Shen hob nur aufmüpfig den Schnabel. „Mmpf, alles nur unnötige dumme Spielereien.“
Etwas weiter weg stand Mr. Ping und hatte vor Aufregung seine Flügelspitzen abgeknabbert. Als der Kampf zugunsten seines Sohnes ausging, sprang er jubelnd auf und schüttelte Mr. Han am Kragen. „Ich hab doch gewusst, dass er gewinnen würde! Ich hab es doch gewusst!“

„Po, deine erste Runde war super!“, gratulierte Viper, als Po sich wieder zu ihnen begab.
Mantis neigte nur den Kopf. „Na ja, wenn auch halb elegant.“
Der Panda winkte ab. „Ach, der hat mich nur glücklicherweise an der falschen Stelle erwischt.“
Erschöpft ließ er sich auf einer Bank nieder, während Monkey ihm eine Flasche mit Wasser reichte. Dankbar nahm der Panda sie entgegen.
„Aber werde jetzt nur nicht übermütig“, mahnte ihn Tigress ernst. „Die anderen Gegner werden nicht so leicht zu schlagen sein.“
Crane runzelte die Stirn. „Das sah am Anfang aber auch nicht gerade leicht aus.“
„Hey, Sheng kommt als nächstes dran!“, rief Viper aufgeregt.
Po sprang auf. „Oh, das muss ich sehen!“
Der gescheckte Pfau hatte sich inzwischen schon mit seinem Gegner in den Ring begeben. Der Affe las den Zettel vor. „Als nächstes treten an Sheng aus China gegen Yamato aus Japan.“
Po sah den großen Kragenbären ehrfürchtig an. „Wow, da hat er aber einen starken Gegner gefunden.“
Der Panda legte die Stirn in Falten. Vielleicht hatte er Meister Ochse falsch eingeschätzt und der Ochse wollte, dass Sheng schon in der ersten Runde verlor.
„Und ich hatte gehofft, mein entfernter Verwandter würde mein erster Gegner werden.“
„Vielleicht kommt das ja noch“, meinte Viper. „Jeder, der in der ersten Runde verliert, hat noch die Möglichkeit in der zweiten Runde zu gewinnen.“

Xia reckte den Hals. Es war für sie recht ungewöhnlich ihren großen Bruder in der Arena stehen zu sehen. Yin-Yu hatte etwas Sorge, dass er sich verletzen könnte, obwohl sie wusste, dass ihr Mann mit ihm gut trainiert hatte. Seit Shen regelmäßig seine Medikamente einnahm war er wieder so kampfgewandt wie früher.
Zedong stand auf seinem Stuhl und rief seinem Bruder laut zu: „Mach ihn fertig!“
„Zedong, bitte, nicht so laut“, mahnte ihn die alte Ziege und bat ihn sich wieder brav hinzusetzen. Ihr Blick wanderte wieder zu Shen. Doch dieser schien nicht sonderlich besorgt zu sein. Die Ziege schluckte schwer und fragte sich, wie lange diese scheinbar friedliche Atmosphäre noch andauern würde.
In diesem Moment gab der Schiedsrichter das Signal und der Kampf zwischen Pfau und Bär begann. Der Kragenbär schlug sofort auf den Pfau ein. Doch Sheng wich den Angriffen geschickt aus und wehrte sie sogar gekonnt ab. Seine Bewegungen waren geschmeidig und schnell, dennoch sah es so aus, als würde Yamato die Oberhand gewinnen.
Mantis vibrierte mit seinen Antennen. „Also wenn ihr mich fragt, wird es bestimmt nicht so schlimm sein, wenn er die erste Runde nicht packt.“
In diesem Moment ging ein Raunen durch die Menge. Die Freunde schauten nach vorne. Yamato lag am Boden und konnte nicht mehr aufstehen.
Der Schiedsrichter eilte sofort zu dem besiegten Japaner, dann deutete er auf Sheng. Der Kampf war entschieden.
Den sechs Freunden blieben die Münder offen. So schnell hatten sie einen Kampf noch nicht beendet gesehen.
Po wusste darauf nur eins zu antworten. „Wow, er hat wirklich gut trainiert.“
Gerade verließ der blaugrün-weiße Pfau den Platz. Der Panda konnte es sich nehmen um ihm zu gratulieren. „Hey, super Moves!“, rief er ihm zu und hob den Daumen. Als Antwort verneigte sich Sheng respektvoll und lächelte sogar.

„Sheng hat gewonnen! Sheng hat gewonnen!“, rief Zedong begeistert. „Das war so cool!“
Xia hatte keine Möglichkeit den aufgeregten Jungen zu halten, weil sie ihre Mutter beruhigend in die Flügel nehmen musste.
Auch die anderen Kinder waren begeistert. Sogar Shenmi sprang von ihrem Stuhl auf und zupfte aufgeregt an dem Gewand von ihrem Vater. „Papa, hast du das gesehen?!“
Doch Shen reagierte nicht. Ihm war die heitere Geste zwischen seinem Sohn und diesem Panda nicht entgangen und seine Augen verengten sich voller Verachtung.

Die Kämpfe verliefen reibungslos. Zumindest für Po. Allein schon gegen einen Teilnehmer aus Afrika, einen gewandten Löwen, hatte er leichtes Spiel. Doch auch Sheng schlug sich nicht schlecht. Sehr zur großen Erleichterung seiner Mutter, die jedes Mal hörbar aufatmete als er unbeschadet den Kampfring wieder verließ.
„Po!“, rief Viper während einer kleinen Pause. „Du hast Glück. Yamato ist noch bis in die Halb-Runde gekommen. Das heißt, dass du gegen ihn antreten kannst.“
„Wirklich?“ Innerlich machte Po einen Luftsprung. „Pandastark! Da muss ich sofort hin!“
Po konnte es gar nicht abwarten in den Ring zurückzukehren, wo er schon vom Kragenbären erwartet wurde.
„Hi, Kumpel“, grüßte Po. „Was geht?“
Der große Kragenbär grummelte irgendetwas, dass sich aber mehr wie ein übelgelauntes Knurren abhörte. Mit verschränkten Armen stand er vor dem Panda und schien keine Lust auf einen Small-Talk zu haben.
Po zuckte die Achseln. „Nicht gerade sehr gesprächig, was? Aber okay, wir könnten ja später noch etwas plaudern, jetzt erst mal das Vergnügen und dann die Arbeit… ne, das war doch zuerst die Arbeit und dann das Schwatzen… Oder war es doch umgekehrt?“
Der Hase neben ihnen klatschte in die Hände, und deutete an sich vorher noch zu verneigen, bevor sie ihre Positionen einnahmen. Po wiebelte aufgeregt auf seinen Zehenspitzen hin und her. Er konnte es kaum erwarteten loszulegen.
Monkey hielt sich die Augen zu. „Ich kann gar nicht hinsehen.“
Der Affe zuckte zusammen, als der Hase dazu aufrief, anzufangen. Es folgten Kampfschreie, Schläge und Tritte. Monkey zog den Kopf ein, als die Menge kurz aufschrie.
„Hat es ihn erwischt? Hat es ihn erwischt?“, fragte Monkey ängstlich.
„Mach doch mal die Augen auf“, forderte Viper ihn auf.
Zögernd nahm der Affe die Hände runter. Ihm blieb der Mund offen. Der Kragenbär lag am Boden und Po stand jubelnd daneben. Auch die Menge tobte.
Gut gelaunt ging Po wieder zu seinen Freunden rüber, die ihn verblüfft ansahen.
„Wie hast du das so schnell gemacht?“, fragte Monkey völlig irritiert.
Po lächelte verlegen. „Na ja, ich hab mir ein paar Knigge von Sheng abgeschaut. Habt ihr denn nicht bemerkt, dass Yamato an einer bestimmten Stelle besonders angreifbar ist? Sheng hat voll was drauf.“
Monkey kratzte sich am Kopf. „Also wenn du jetzt diese Runde gewonnen hast, dann bist du jetzt im Finale.“
„Echt?“ Po sah sich überrascht um. „Sind wir schon so schnell durch? Schade. Na ja. Das war jedenfalls super! Sowas sollten wir jede Woche machen.“
„Lass das nur nicht Shifu hören“, mahnte Viper mit einem Lächeln. „Der würde dir sagen: Die Kräfte sollte man sammeln und nicht nur für Wettkämpfe ausgeben.“
Po lachte und trank aus seiner Wasserflasche. In diesem Moment kam Mantis angesprungen, der schnell einen Blick auf die Tabelle geworfen hatte. „Po, dein Gegner für die Endrunde steht fest!“
Po legte die Flasche beiseite und presste die Pfoten zusammen. „Alles klar. Wer ist es?“
„Sheng.“

5. Kapitel: Dabeisein ist alles

5. Dabeisein ist alles


„Findest du nicht, wir hätten ihn doch auf nächstes Jahr vertrösten sollen?“, fragte Meister Kroko mit einem besorgten Blick auf die Endrunde.
„Machst du Witze?“ Meister Ochse verschränkte die Arme. „Darauf habe ich nur gewartet.“
Meister Krokos Blick wanderte zu Meister Shifu. Doch dieser wollte sich in diese Sache nicht einmischen. Man konnte nur abwarten was passieren würde, weshalb er so seelenruhig wie möglich am Jury-Tisch verharrte. Im Gegensatz zu Po, der nervös hinter den Kulissen auf und ab ging. Seine Freunde beobachten ihn nachdenklich. Schließlich drang sich Mantis dazu durch, was zu sagen. „Willst du jetzt die ganze Zeit so herumlaufen?“
Po hielt abrupt an. „Wenn es mich beruhigt, dann ja.“
„Es bringt doch gar nichts sich so verrückt zu machen“, meinte Viper.
„Sie hat recht“, stimmte Monkey ihr zu und das fand auch bei Crane Zuspruch. „Geh einfach raus und lass es auf dich zukommen.“
Pos Blick wanderte zu Tigress. Die Tigerin verschränkte die Arme und schaute ihn neutral an. „Du kannst eh nichts daran ändern, Po. Du musst so oder so jetzt gegen ihn antreten.“
Der Panda schluckte. „Ich hab ja nicht unbedingt Sorge, dass ich gegen ihn verlieren könnte“, verteidigte sich Po. „Es ist viel mehr, dass…“
Viper sah ihn entsetzt an. „Du überlegst doch nicht etwa ihn absichtlich gewinnen zu lassen, oder?“
Die anderen starrten Po an. Der Panda stand da und sah aus, als würde er das bejahen, doch dann schüttelte er heftig den Kopf. „Nein, nein, nein, nein… Wie kommst du denn darauf? Das wäre ja… das wäre doch…“ Doch dann schien er erneut zu überlegen. „Oder doch?“
Tigress spitzte die Ohren, als der Ansager den letzten Kampf ansagte. „Po, es ist so weit.“
Po merkte, wie er wieder weiche Knie bekam. „Oh, okay, also dann, dann muss ich wohl jetzt da raus, oder?“
„Äh, ja“, bestätigte Viper und lächelte ihn an. „Du musst jetzt da raus.“
„Okay.“ Langsam machte Po ein paar Schritte Richtung Arena, dann hielt er wieder inne und sah seine Freunde unsicher an. „Und ihr seid wirklich sicher, dass das das Finale ist? Ich meine, gibt es nicht auch ein Zwischenfinale? Oder ein Vorfinale? Autsch!“
Mantis hatte dem Panda einen kräftigen Tritt in den Hintern verpasst. Po stolperte nach vorne und wäre fast hingefallen. Draußen empfingen ihn auch schon die lauten Rufe der Zuschauer. Ein wenig ängstlich zog Po den Kopf ein und knetete nervös seine Finger. Dann marschierte er mit fast mechanischen Schritten auf das für ihn schon vertraute Kampffeld zu. Sheng war noch nicht anwesend, sodass Po sich solo auf den Platz begeben musste. Dort angekommen, sah er sich suchend um. Hatte Sheng vielleicht abgesagt? Doch Po konnte sich nicht vorstellen, dass er seinem Vater sowas antun würde.
Pos Blick wanderte zu seinem Lehrer am Jury-Tisch, doch Shifu verzog keine einzige Miene. Der Panda holte tief Luft und sah zu den Zuschauerrängen hoch. Er zuckte beinahe zusammen, als ihn Shens Augen trafen, die wie Messer auf ihn einschlugen. Yin-Yu hingegen hatte den Flügel auf den Flügel ihrer Tochter gelegt und sah ziemlich besorgt aus.
Po war kurz davor an den Jury-Tisch zu rennen und die ganze Sache abzublasen, als plötzlich die Rufe der Menge lauter wurden. Pos Blick wanderte nach vorne und da kam Sheng wirklich auf ihn zu. Der blaugrün-weiß gescheckte Pfau hatte die Flügel unter seinem Hemd zusammengelegt und schritt so würdevoll wie möglich über den Platz. In Po stieg ein mulmiges Gefühl hoch, als der Pfau endlich knapp einen Meter vor ihm zum Stillstand kam. Eigentlich hatte der Panda sich auf dieses Debüt gefreut, doch jetzt, wo er Shens Sohn gegenüberstand, wandelte sich die Vorfreude in tiefe Besorgnis um. Er hätte vielleicht sogar gerne noch mit ihm einen kleinen Plausch abgehalten bevor sie anfingen, stattdessen gingen ihm jetzt sämtliche Theorien und Fragen durch den Kopf. Was wenn Shen damals gestorben wäre? Shengs Mutter hatte ihm erst nach seiner Niederlage in Gongmen von der Herkunft seines richtigen Vaters unterrichtet. Hätte Sheng Nachforschungen angestellt und wäre irgendwann als Rächer vor ihm aufgetaucht? Po schüttelte innerlich den Kopf. Aber Shen war ja nicht tot und Sheng stand nur hier, um gegen ihn anzutreten – unter den Augen von seinem Vater.
Po sah Sheng prüfend an. Aber auch auf dem Gesicht des Pfaus spielte sich ein Hauch von Unsicherheit ab. Hatte er auch die ganze Zeit über ihren bevorstehenden Kampf gegrübelt?
Schließlich drehten sich beide schweigend zu den drei Meistern um. Meister Ochse erweckte einen gelassenen Eindruck, Meister Shifu saß in einer strammen Haltung und Meister Kroko knabberte seine Fingernägel runter.
Pfau und Panda legten Pfoten und Flügel zusammen und verbeugten sich vor der Jury. Anschließend wandten sie sich einander zu und vollführten erneut nochmal eine Verbeugung voreinander. Dann nahmen sie Haltung ein.

„Es geht los, es geht los!“, rief Zedong aufgeregt und sprang auf seinem Stuhl auf und ab.
„Zedong, Junge, bitte“, mahnte ihn die alte Ziege und hatte Mühe den Jungen zu beruhigen, wobei sie am liebsten Shen beruhigen würde, wenn er sie lassen würde. Der weiße Pfau stand jetzt schon die ganzen Kämpfe durch statt sich mal hinzusetzen. Doch ihr war nicht verborgen geblieben, dass sich Shens Fingerfedern im buchstäblichen Sinne jetzt in das Geländer bohrten. Im Gegensatz zu Yin-Yu. Irgendwie hatte sie Angst. Es gefiel ihr nicht wie die beiden sich gegenüberstanden. Po und Sheng erweckten einen ziemlich unsicheren Eindruck, als hätten sie Sorge, dass der eine nicht mit Schlägen und Tritten, sondern mit Kanonen attackieren würde. Endlich trat der Schiedsrichter neben sie. Er klatschte in die Pfoten und der Kampf war eröffnet. Die Furiosen Fünf standen so dicht wie möglich am Kampfgeschehen und sahen gespannt zu. Doch dann…
Statt wie erwartet, dass Panda und Pfau aufeinander lossprangen, gingen sie nur im Kreis, mit erhobenen Armen und Flügeln. Irgendwie schien keiner von beiden so recht sich zu trauen anzugreifen. Auch machte jeder von ihnen einen verkrampften Eindruck. Po kämpfte regelrecht gegen sich selber.
„Komm schon, du schaffst das, du schaffst das“, redete er sich immer wieder ein. „Schlag doch einfach zu. Dann wird er schon reagieren…“
Doch dann fiel ihm wieder ein, dass Shen ihn beobachtete. Was wenn er sogar noch in die Kampfarena sprang und ihn angriff? Po kam dieser Gedanke zwar lächerlich vor, doch was ist, wenn bei Shen doch wieder der Wahnsinn ausbrach? Bilder von damals kamen ihm wieder in den Sinn. Diese Zerstörungswut, dieser Hass, diese Erbarmungslosigkeit…
„Hey!“, rief Sheng und schlug zu. Offensichtlich hatte sich der gescheckte Pfau endlich dazu durchgerungen als Erster vorzustoßen. Aber vielleicht auch nur, um damit seinem Vater nicht lächerlich zu machen. Po wehrte seine Flügelschläge gekonnt mit seinen Pfoten ab und wagte es sogar vorzupreschen. Doch Sheng schwang sich über den Panda und landete hinter ihm. Plötzlich ging es Po wie ein Lichtblitz durch den Kopf. Er kannte diese Moves noch von früher. Shen musste mit seinem Sohn diese Bewegungen geübt haben. Po konnte in etwa vorhersehen, womit Sheng als nächstes gegen ihn kontern würde. Die Angriffe waren zwar agil und schnell, aber nicht so stark ohne Waffen. Der Panda ließ Sheng eine Weile seine Angriffe über sich ergehen. Dann zielte er mit aller Kraft seiner Tatzen in die nächste Bewegung und Sheng wurde mit voller Wucht nach hinten gestoßen. Die Menge sprang von ihren Sitzen. Wenn er aus dem Kreis flog, wäre er disqualifiziert. Aber der Pfau hielt sich aufrecht und konnte seinen Fall gerade noch rechtzeitig abbremsen.
Auf den Zuschauerrängen bahnte sich eine Spannung an. Shenmi war so aufgeregt, dass sie aus ihrer Servierte irgendetwas falten musste. Jian zupfte immer wieder an seinem Instrument und wurde immer genervt von Xia unterbrochen. Zedong hingegen rief seinem Bruder immer wieder etwas zu. Und Yin-Yu war in diesem Augenblick mehr besorgt um Shen als um ihren älteren Sohn. Doch Shen verharrte in seiner Haltung wie eine Statue. Keiner konnte sagen, was in ihm gerade vorging.
Inzwischen hatte Sheng sich wieder in die Mitte des Rings begeben. Po sah ihn besorgt an. War er jetzt sauer auf ihn? Zu seiner Erleichterung nahm der Pfau wieder die Kampfhaltung ein, und lächelte sogar. „Na komm“, forderte der Pfau ihn auf. „Lass uns Spaß haben.“
Zuerst war Po irritiert. Doch dann lachte er auf. „Alles klar!“
Erneut nahmen beide Kampfhaltung ein. Dann attackierte Po den Pfau mit Schlägen und Tritten. Dann wieder Sheng. Anschließend wieder Po. Dann wieder Sheng, sodass der eine den anderen immer wieder vor oder zurückdrängte, was wie ein Hin- und Her aussah.
Meister Ochse und Meister Kroko tauschten irritierte Blicke aus.
„Was zum Hornochse machen die da?“, fragte sich Meister Ochse empört.

Mantis legte den Kopf schief. „Ich will mich ja nicht einmischen, aber das sieht so aus als würden sie wie Erstklässler Kung-Fu-Ping-Pong spielen.“
Tigress bedeckte ihr Gesicht mit der Pfote. Peinlicher konnte ein Kung-Fu-Kampf auf einem Champion-Wettbewerb nicht aussehen. Noch dazu lachten die beiden immer wieder, wenn der eine den anderen Mal zu hart anstieß.

Auch die Pfauenkinder Zedong und Fantao konnten dieses merkwürdige Kung-Fu-Spiel nicht verstehen. Fragend sah Zedong die alte Ziege an. „Machen Kung-Fu-Kämpfer sowas immer in einem Finale?“
Die Ziege zwang sich zu einem gequälten Lächeln. „Es gibt immer ein erstes Mal, Junge“, sagte sie und streichelte ihn über den Kopf, wobei es ihr selber gar nicht leicht fiel die Ruhe zu bewahren. Wenn schon die Kinder das merkten, was würde erst…
„Hört jetzt endlich auf damit!“, brüllte Shen.
Die Ziege konnte gar nicht glauben, was sie da sah. Shen war aufgesprungen und stand jetzt auf der Brüstung. Die Leute im Stadion waren zwar laut, doch Shens Gebrüll konnten Po und Sheng deutlich vernehmen. Beide gefroren kurzfristig in ihren Bewegungen und sahen zu Shen hoch.
„Po!“, rief jetzt auch Shifu. Der kleine Meister war von seinem Sitz aufgesprungen und stand auf dem Tisch. „Denk an die Ehre unseres Dorfes!“
Die Konkurrenten sahen einander an. Sie mussten einsehen, dass sie nicht ewig hin- und her spielen konnten. Sie mussten wohl oder übel jetzt ihre ganzen Kräfte für den Kampf gegeben.
Po war hin und her gerissen. Wenn er gewann befürchtete er, Shen damit zu demütigen. Doch würde er absichtlich verlieren, würde er seine Freunde und seinen Meister enttäuschen und vielleicht auch Sheng.
Traurig sah er den gescheckten Pfau an. „Tut mir leid.“
Jetzt führe Po seine Schläge stärker aus. Sheng reagierte schneller und wich ihm aus. Kurzfristig nutzte er sein Pfauenrad als Schutzschild, doch dadurch ließ sich Po diesmal nicht wie bei Shen irritieren. Er durchbrach die langen Schwanzfedern und traf Sheng volle Elle in den Brustkorb, sodass es den Pfau beinahe umhaute, wenn er nicht so eine gute Balance gehabt hätte.
„Ups.“ Zerknirscht biss sich Po auf die Unterlippe. So heftig hatte er eigentlich nicht zuschlagen wollen.
„Po!“, schrie Shifu ihn an. „Reiß dich jetzt bitte zusammen!“
„Mach ihn alle!“, brüllte jetzt Meister Ochse, sehr zur großen Verwunderung von Meister Kroko, denn eigentlich war es der Jury nicht erlaubt Partei zu ergreifen. Wenigstens ging das Gebrüll in den ganzen Angefeuere der Menge beinahe unter. Sogar Shens Fluchen verhallte fast, doch da Sheng als Pfau ein erstklassiges Gehör besaß, konnte er, wenn auch leider, jedes einzelne Wort verstehen, was sein Vater ihn zubrüllte.
„Po, du bist der Drachenkrieger!“, versuchte Shifu es auf die diplomatischere Art und Weise.
Po hob die Augenbrauen. „Ach ja, stimmt, ich bin der Drachenkrieger. Hab ich fast schon wieder vergessen.“
Po sprang vor und wollte Sheng mit einem Kick aus dem Ring katapultieren, doch Sheng wich erneut aus, sprang hinter den Panda und schlug ihm in den Rücken.
„Autsch!“ Knötrig rieb sich Po über den Rücken. „Na schön. Dann jetzt auf alles! Drachenpower!“
Po sprang hoch und wollte Sheng von oben attackieren. Angestachelt sprang Sheng ebenfalls hoch. Oben prallten sie in der Luft mit den Füßen gegeneinander. Anschließend fielen sie wieder runter und beide purzelten kurzfristig über den Boden, sprangen aber sofort wieder auf. Dann attackierten sie sich erneut mit Tritten, Schlägen und Ausweichen, wobei Po der harte Zuschläger und Sheng mehr der geschmeidige Ausweicher war.
Meister Ochse wurde immer ungehaltener. Da konnten ihm auch nicht Meister Krokos Worte besänftigen. Auch Shen rief seinem Sohn immer wieder zu, dass er sich nicht blamieren sollte.
Schließlich wurden dem Panda und dem kämpfenden Pfau das ständige angebrüllt werden langsam zu viel. Mit einem lauten Aufschrei rannte beide aufeinander los. Kaum trafen sie aufeinander, flog der Staub und hüllte die beiden in eine Staubwolke ein.
Für einen kurzen Moment wurde es still. Keiner der Zuschauer konnte etwas sehen. Endlich verzog sich der Staub. Der harte Zusammenprall der beiden Kämpfer hatte Sheng fast an den Rand des Rings weggestoßen. Doch er stand immer noch, wenn auch in einer etwas gebeugten Haltung. Den fünf Freunden klappten die Münder runter. Das war unmöglich. Nach so einen Hieb von Po war bis jetzt noch kein Gegner aufrecht stehengeblieben. Der Pfau stand auf wackeligen Beinen und richtete sich keuchend auf. Auch Po sah man an, dass er aus der Puste war, hielt sich aber noch deutlich stabiler als der Pfau.
Die Furiosen Fünf reckten die Hälse. Würde Sheng weiterkämpfen?
Sheng erhob sich. Po verengte die Augen und war bereit für einen nächsten Angriff. Doch dann presste Sheng seine Flügel zusammen und neigte den Kopf. Die Menge stieß ein lautes Raunen aus. Sheng gab freiwillig auf. Der Kampf war zu Ende. Der Schiedsrichter zeigte auf Po. Die Zuschauer brachen in lautes Jubeln aus.
„Das ist mein Sohn!“, rief Mr. Ping begeistert in die Runde.
„Drachenkrieger! Drachenkrieger! Drachenkrieger!“, riefen alle.
Po sah sich irritiert um. „Heißt das, ich hab gewonnen?“
„Du hast es geschafft, Po!“, rief Monkey und in kürze sah sich Po von seinen Freunden umringt.
„Du bist der Kung-Fu-Champion!“, gratulierte ihn Viper.
„Ich, ein Champion?“ Zuerst stand Po völlig teilnahmslos da. Dann drang es endlich zu ihm hindurch. „Yeah! Ich bin der Champion! Ich bin der Champion!“
Er riss die Arme in die Luft und hüpfte jubelnd auf und ab. Doch im nächsten Moment wurde er von Meister Ochse gepackt und fast nach oben gehoben.
„Das war eine Spitzenleistung, Drachenkrieger!“, lobte der Ochse ihn übertrieben. „Dem hast du es gezeigt!“
„Gezeigt? Oh.“ Ernüchtert ließ Po die Arme sinken und sein Blick suchte nach seinem ehemaligen Gegner.
„Hey, war ein guter Kampf gewesen“, hörte er Sheng sagen. Sofort drehte sich Po zu dem Pfau um, der ihm noch etwas erschöpft seinen Flügel reichte. Zögernd ergriff Po den Flügel mit seiner Tatze.
„Aber das nächste Mal bin ich besser“, meinte Sheng und lächelte schwach. „Vielleicht gewinne ich sogar.“
Po hob die Mundwinkel und schüttelte seinen Flügel. „Ich freue mich schon darauf.“
Der Panda konnte nicht anders und gab Sheng einen ordentlichen Panda-Drücker, was Sheng nur halbbegeistert über sich ergehen ließ. Dabei wanderte sein Blick nach oben zu den Zuschauerrängen, doch sein Vater hatte die Tribüne verlassen.

6. Kapitel: Falsche Anschuldigungen

6. Falsche Anschuldigungen


Die Siegerehrung fand sofort im Anschluss auf dem Arena-Platz statt. Doch noch ehe die Teilnehmer ihre Preise und Urkunden entgegennehmen konnten, wurde Po von seinem Vater zuerst in Beschlag genommen.
„Po! Das war großartig gewesen!“, rief er und schlang seine Flügel um den dicken Pandabauch.
Dem Panda war das ein bisschen peinlich und schob seinen Dad sachte beiseite. „Ist schon okay, Dad. Das war doch nur ein Wettbewerb…“
„Das war großartig gewesen, Drachenkrieger!“, gratulierte ihn auf einmal eine laute Stimme von der Seite. Po fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er in das Gesicht einer anderen bekannten Person starrte. „König Wang? Sie auch hier?“
„Ich konnte doch nicht den ersten großen Kampf von meinem Lieblingskrieger verpassen“, meinte der Hunnenkönig lachend und boxte dem Panda in die Seite.
Po errötete etwas vor Verlegenheit. „Oh, das ist sehr nett.“
In diesem Moment sah Sheng seine Familie, oder zumindest den Großteil der Familie, auf sich zukommen.
Seine Mutter empfing ihn mit offenen Flügeln. „Ach, Junge, ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist.“
Sie umarmte ihn herzlich. Umso erleichterter war der Pfau, als er von seiner Schwester abgelöst wurde, die ihn nur ganz kurz einen Drücker gab. „Wenigstens bist du bis in die zweite Runde gekommen“, meinte sie mit einem Lächeln.
Dicht hinter ihr kam Zedong angetrottet, der weniger begeistert dreinschaute. „Jetzt schau doch nicht so enttäuscht“, meinte Xia. „Dafür ist er jetzt Kung-Fu-Vizemeister.“
Zedong verzog den Schnabel. „Trotzdem wäre es mir lieber gewesen, wenn Sheng gewonnen hätte.“
Sheng lächelte und tätschelte ihm über den Kopf. „Vielleicht beim nächsten Mal. Wer weiß, vielleicht wirst du ja mal Sieger.“
Zedong hob den Schnabel. „Ich werde irgendwann sowieso mal besser als du.“
Er hob die Flügel zu einer Kampfposition. Sheng lachte und machte es ihm gleich. „Dann musst du aber noch sehr viel üben.“ Er sah sich um. „Wo ist eigentlich Vater?“
„Dad ist nach deinem Patzer abgehauen“, antwortete Zedong.
„Junge!“, rief die alte Ziege entrüstet und nahm den Jungen beiseite. „Was hast du heute für Ausdrücke?“
Doch Sheng ließ sich davon nicht stören und beugte sich zu seinem kleinen Bruder runter. „Und wo ist er hin?“
Zedong reckte den Hals und flüsterte seinem großen Bruder etwas zu. Kaum war er fertig, wollte Sheng auch schon los, doch die alte Ziege hielt ihn am Ärmel fest.
„Warte, du musst noch zur Siegerehrung!“, sagte sie. „Und lass ihn besser noch Zeit“, bläute sie ihm ein. „Er muss ich erst einmal beruhigen.“

Sheng ließ ein paar Stunden verstreichen, bevor er sich in das Gebiet begab, in die Zedong seinen Vater hat hingehen sehen. Es handelte sich um den entlegensten Teil des Kung-Fu-Arena-Geländes. Zwischen den vielen Bäumen waren in einigen Abständen immer eine Stein-Statue aufgestellt, die die Sieger der Kung-Fu-Wettkämpfe darstellten. Die Größte war eine Schildkröte, die den großen Meister Oogway darstellte, wo es Shen aber nicht hingezogen hatte. Stattdessen fand Sheng seinen Vater nach einigem Suchen vor dem Standbild des ehemaligen Meisters Meister Donnerndes Nashorn wieder. Der weiße Pfau kniete davor in geduckter Haltung, seine Flügel feste auf den Boden gepresst und sein Blick gesenkt.
Zögernd trat Sheng näher an ihn heran. Er wusste nicht, weshalb sein Vater sich ausgerechnet diese Statue für seinen Aufenthaltsort ausgesucht hatte, doch im Moment beschäftigte ihn etwas anderes.
„Vater“, begann er zögernd, „die anderen feiern schon. Möchtest du nicht mitkommen? Immerhin bin ich jetzt Vizemeister. Das ist doch auch schon etwas.“
Schweigen war alles, was er als Antwort erhielt. Sogar an der Haltung des weißen Pfaus hatte sich nichts geändert.
Sheng stieß ein beleidigtes Schnauben aus. „Redest du etwa jetzt nie wieder mit mir?“
Wieder blieb eine Reaktion aus. Schließlich wandte sich Sheng ab. „Falls du es dir doch noch überlegen solltest, wir sind im Hauptquartier vom Arena-Areal.“
Er hatte gerade einen Schritt gemacht, da erhob der weiße Pfau seine frustrierte Stimme. „Wie erträgst du es nur nach dieser Niederlage über so etwas zu reden?“
Sheng sah seinen Vater verwundert an. „Du redest ja glatt so als ginge es hier um die Welt. Es war doch nur ein Wettbewerb.“
„Nur ein Wettbewerb?“ Jetzt endlich erhob sich der weiße Pfau und drehte sich mit düsterem Blick zu seinem Sohn um. „Es ging um die Ehre der Familie! Und heute hast du sie enttäuscht.“
Sheng holte tief Luft, bevor er darauf antwortete. „Okay, ich hab zwar nicht gewonnen. Aber es hat mir Spaß gemacht.“
Shen schüttelte ungläubig den Kopf. „So, es macht dir also Spaß zu verlieren?“
Sheng verengte die Augen. „Ich bin Zweiter geworden. Für jemanden, der noch nie zuvor es mit Profis aufgenommen hatte, war das schon eine Meisterleistung. Vielleicht bist du es nur nicht gewohnt zu verlieren, denn du willst ja nie verlieren.“
Shens Augen verengten sich zu gefährlichen Schlitzen. Dann drehte er seinem Sohn einfach den Rücken zu.
„Vater, ich will nicht respektlos sein“, versuchte Sheng sich so gut wie möglich zu benehmen. „Eine große Niederlage hatte dir damals gereicht, aber ich muss auch meine eigenen Niederlagen durchmachen und sie akzeptieren.“
Shen stieß ein verächtliches Schnauben aus. „Mmpf, was für ein niederträchtiges Gedankengut.“
„Vater, es ist ja nicht so, dass ich nicht wüsste, wie sehr dir ein Sieg bedeutet“, versuchte Sheng es erneut. „Aber wenn ich nie rausgehe, wie soll ich dann meine Grenzen austesten? Es gibt ja nicht nur diesen Wettkampf. Da gibt es noch viele andere. Ich kann mich immer noch verbessern.“
Es folgte eine Schweigeminute, bevor Shen sich zu einem Satz durchrang, und dieser Satz klang äußerst verärgerst. „Ich hab dich nie unter Druck gesetzt in einer Kampfsportart gut zu sein, und jetzt setzt du dich selber unter Druck.“
„Was heißt hier Druck?“, fragte sein Sohn überrascht. „Es bereitet mir Freude meine Kräfte mit anderen zu messen. Woher soll ich sonst wissen, wo ich mich noch verbessern kann?“
Shen umarmte sich selber und zog den Kopf ein, wobei sich seine Schultern extrem verspannten. „Sobald du nicht gut genug bist, lassen sie dich fallen!“
Sheng rieb sich über die Stirn, behielt aber so gut wie möglich die Fassung. „Selbst wenn ich nicht der Meister werde, so sind sie immer noch meine Freunde.“
Shen drehte den Kopf nach hinten zu seinem Sohn, wobei er ihn hasserfüllt ansah. „Sie werden dich verachten! Genauso wie sie mich.“
Sheng erschrak fast bei Shens grausigen Augen, als würde er im Geiste schon planen jeden zu martern, weshalb Sheng es mit milden Worten versuchte. „Vielleicht liegt es auch daran, dass du nie Freunde gehabt hattest. Du solltest mal lernen, die Welt nicht so düster zu sehen, es gibt auch Lichtblicke im Leben. Da ist man nicht allein…“
„Komm du mir runter mit deiner farbenfrohen-heilen-Welt!“, schnitt der weiße Pfau ihm das Wort ab und drehte sich harsch zu ihm um. „Ich hab mehr als genug gesehen, um zu kapieren, dass man niemanden über den Weg trauen kann, außer einem selber!“
Sheng verengte die Augen „Und außer Mutter, oder?“
Der weiße Pfau senkte den Blick. „Sie ist klug genug, um das zu sehen.“ Seine Augen wanderten wieder zu ihm. „Und dasselbe solltest du auch tun.“
Shengs Haltung verkrampfte sich. „Du verlangst also allen Ernstes von mir, dass ich das Kung-Fu vollständig aufgebe, nicht wahr?“
Shen schwieg zuerst, bevor er anderweitig antwortete. „Das wird dich zumindest vor Enttäuschungen bewahren.“
So langsam wurde Sheng wütend. „Du kannst ja meinetwegen für den Rest deines Lebens in Yin Yan bleiben“, knurrte der jüngere Pfau, „aber ich möchte mein Leben ausleben und was leisten. Auf diese Art und Weise kann ich auch an einen Ruf arbeiten.“
Shen stieß ein bösartiges Fauchen aus. „Es scheint dir wohl egal zu sein, was ich durch dich an einem Ruf zu verlieren habe! Das kannst du nicht durch Niederlagen aufbauen!“
Sheng zog scharf die Luft ein. „Was hast du schon an guten Ruf zu verlieren? Du hattest dir damals keinen eingehandelt-“
Der junge Pfau brach abrupt ab. Shen stürzte sich auf ihn, doch Sheng wehrte ihn gekonnt mit seinen Flügeln ab. Es folgten harte Hiebe und Schläge von jeden, bis ihre Flügel aufeinanderprallten und sie in dieser Haltung zum Stillstand kamen. Keuchend starrten sich Vater und Sohn in die Augen. Eine Weile drückte ein jeder den anderen noch von sich, dann lockerten sich ihre Körperspannungen, bis sie ihre Flügel endlich senkten. Eine Weile standen beide schweigend da, dann machte Sheng einen Schritt nach hinten, wobei er seinen Vater nicht aus den Augen ließ.
„Sei mal ehrlich Vater“, sagte er ernst. „Wann hattest du das letzte Mal in deinem Leben wirklich Freude verspürt?“
Als eine Antwort ausblieb, wandte Sheng sich ab und ging frustriert davon. Shen sah seinem Sohn noch eine Weile nach, bis er sich wieder zu der Statue von Meister Donnerndes Nashorn umdrehte und in dieser Position stehen blieb. Er war so sehr in seinem Groll vertieft, dass er die weiße Gestalt im Gebüsch, die der kleinen Shenmi gehörte, nicht bemerkte.

Wütend schwang Sheng eine Nebentür zum großen Gebäude für die Kung-Fu-Kämpfer auf und schlug sie sofort mit einem lauten Knall wieder zu. Dann lehnte er sich dagegen und starrte verbittert auf den Boden. So hatte sein Vater schon lange nicht mehr mit ihm geredet und es ärgerte ihn maßlos, dass er irgendwie nie die richtigen Worte fand, um endlich mal Zugang zu ihm zu finden. Seine Seele war immer noch so von seiner schwarzen Vergangenheit zerfressen, dass sie vor lauter Löchern nicht mehr geflickt werden konnte. Egal wie lange Jahre er schon mit seinem Vater zusammen lebte, den er bis zu seinem 17. Lebensjahr nicht gekannt hatte, so konnte er sich nicht daran erinnern, wann er ihn das letzte Mal wirklich glücklich oder ausgelassen gesehen hatte. Selbst mit den kleinen Kindern machte er immer einen zurückhaltenden Eindruck. Selten war sein Lächeln warm, eher gequält und vorsichtig, als würde er mit Herzensfreude seiner Gesundheit schaden.
Sheng hob den Kopf, als Po ihm im Gang entgegenkam. Der Panda war etwas besorgt gewesen und hatte die Feierrunde für einen Moment verlassen. Erwartungsvoll sah er den Piebald-Pfau an. „Und? Wie ist es gelaufen?“
Sheng sah den Panda mit düsterer Miene an. „Kannst du es dir nicht denken?“
Zerknirscht legte Po seine Finger aneinander. „Na ja, vielleicht ein bisschen vorstellen könnte ich es mir. – Aber vielleicht beruhigt er sich ja wieder.“
Sheng senkte den Blick. „Dazu wäre ein Wunder nötig.“
Bekümmert sah Po ihn von der Seite an. „Ist er denn wirklich so enttäuscht?“
Der Pfau seufzte und sah den Panda ernst an. „Wie enttäuscht war er bei dir gewesen, als er gegen dich verloren hatte?“
Po schrak kurz zusammen bei dem Gedanken an ihren Endkampf in Gongmen. Shen hatte die Niederlage bedeutend weh getan und der anschließende Wutausbruch auf dem Schiffswrack von ihm…
„Oookaaay“, meinte Po nach einer Weile ernüchternden Nachdenkens. „Ich denke, wir bräuchten in den Fall schon ein sehr, sehr kleines Wunder.“ Er legte den Daumen und den Zeigefinger zusammen. „Vielleicht so ein ganz klitzekleines wenigstens.“
Sheng wandte den Blick von ihm ab und ging an ihm vorbei. Doch dann hielt er noch einmal inne. „Ach übrigens, danke.“
Po hob verwundert die Augenbrauen. „Wofür?“
„Dafür, dass du ehrlich gekämpft hast und mich nicht absichtlich hast gewinnen lassen.“
Po blieb kurz der Mund offen, bevor er die Achseln zuckte. „Kein Problem, Kumpel.“
Sie nickten sich gegenseitig zu, dann ging Sheng wieder seines Weges, während Po ihm nachsah.
„Netter Kerl“, meinte er nach einer Minute des Schweigens und sein Blick wanderte zur Tür, die nach draußen führte. Vielleicht sollte er doch mal bei Shen für ihn ein gutes Wort einlegen.

Shenmi hockte immer noch im Strauch und hoffte, dass ihr Vater Sheng nachlaufen würde. Doch das Mädchen wartete vergeblich. Shen blieb unbeweglich dastehen und erweckte den Eindruck für den Rest seines Lebens als Deko in der Landschaft stehen zu wollen. Während das Pfauen-Mädchen fieberhaft darüber nachgrübelte, ob es ihren Vater umarmen sollte, hörte sie ihn etwas murmeln.
„Selbst nach deinem Tod musst du mich demütigen“, hörte sie ihn leise fluchen. Shen sah zu der Statue von Meister Donnerndes Nashorn hoch. „Es hat mir so eine Genugtuung bereitet dich sterben zu sehen, aber selbst jetzt noch willst du mich mit deinem Kung-Fu in die Tiefe stürzen. Und dafür musst du ausrechnet meinen Sohn nehmen? Dir genügt es wirklich nicht, dass du mich vor meinem Vater blamiert hast!“
In diesem Moment hob Shenmi ruckartig den Kopf, als sie ein Knacken im Unterholz wahrnahm. Auch Shen hatte das Geräusch vernommen und hob seinen Pfauenkamm. Rechnete er damit, dass sein Sohn zurückkam?
Shenmi versuchte die Quelle der knisternden Schritte ausfindig zu machen und erkannte auch schon einen großen Schatten zwischen den Bäumen. Gerade als Shenmi sich erheben wollte und auf den Schatten, wie sie vermutete ihren Bruder, zuzugehen, kam dieser plötzlich in Bewegung. Shenmi erkannte zu spät, dass es nicht Sheng war und ihr blieb der Schrei im Halse stecken, als der große Schatten sich auf Shen stürzte. Shen reagierte sofort und wehrte den großen Schatten ab. Mit einem lauten Rumps landete der große Kragenbär Yamato auf der Erde. Doch noch ehe der weiße Pfau den Grund für dieses rüpelhafte Eindringen erfragen konnte, richtete sich der Bär mit einem lauten Gebrüll auf und griff Shen erneut an. Shen wehrte ihn mit Schlägen und Tritten ab, was den Kung-Fu-Kämpfer aber nur halbwegs stoppte.
Shenmi, völlig erschrocken, rannte schnell davon. Sie wollte unbedingt Hilfe holen. Unterdessen hatte Shen seine Federmesser gezückt. Doch der große Kragenbär raste auf ihn zu wie eine Dampfwalze und schleuderte den Pfau gegen die nächste Steinstatue. Für einen Moment war der weiße Pfau wie betäubt. So einen harten Kampf hatte er schon ewig nicht mehr geführt. Doch noch ehe er zum Gegenangriff übergehen konnte, traf den Bären plötzlich ein Hieb von der Seite und er knallte ohnmächtig zu Boden.
Verwundert hob der Pfau den Kopf. Sein Gesicht verfinsterte sich schlagartig als hinter dem gefallenen Kung-Fu-Kämpfer der Panda auftauchte.
Mühsam erhob sich Shen und strich sich seine zerzausten Federn glatt. „Mit dem wäre ich auch alleine fertig geworden!“
Po zog eine Schnute. „Ja klar. War ja deutlich zu sehen.“
Harsch drehte Shen sich zu ihm um. „Ich bin nicht so leicht zu besiegen wie mein Sohn!“
„Ah ja, genau, deswegen bin ich eigentlich gekommen, und wollte darüber reden.“
„Da gibt es nichts mehr zu bereden!“, keifte Shen ihn an und riss seine Robe herum.
„Hey, hey, hey!“, mahnte Po mit erhobener Tatze. „Jetzt atme mal tief durch und komm mal wieder runter…“
„Lass mich endlich in Ruhe!“, schrie Shen ihn an. „Scherr dich doch mit deinem Pack wieder dorthin, wo du hergekommen bist und lass mich allein!“
Der weiße Pfau rang mit einem Mal nach Luft und lehnte seine Oberkörper mit seinen Flügeln an der Statue von Meister Donnerndes Nashorn. Po hob die Augenbrauen als er merkte, wie Shen seine Fingerfedern in das Gestein reinbohrte.
Eine Weile wusste der Panda nichts zu sagen und tippte die Finger aneinander. Dann wanderte sein Blick wieder auf den am Boden liegenden erlegten Gegner und fragte sich wieso der Japaner so ausgerastet war.

Im Hauptquartier hatte Sheng sich wieder in den Festsaal begeben. Seine Mutter hob den Kopf, als sie ihn hereinkommen sah und merkte sofort, dass ihr älterer Sohn nicht gerade fröhlich aussah.
Es handelte sich bei dem Raum um einen größeren Saal, wo nicht nur die Teilnehmer, sondern auch ihre Familien und Freunde mit rein durften. Jeder hatte an den Tischen so seine eigene Runde. Die Fünf, die Meister, Shens Familie und auch die Wahrsagerin und König Wang belegten einen Teil des Raumes für sich, wobei Mr. Ping hier und da noch die restlichen Nudeln verteilte.
Jian bemerkte den besorgten Gesichtsausdruck seiner Mutter und sah unsicher zu ihr hoch. „Mama, darf Sheng jetzt nicht mehr nach Hause?“
Verwundert sah Yin-Yu ihn an. „Aber Junge, wie kommst du denn darauf? Natürlich darf er wieder mit uns nach Hause. Vater ist im Moment nur etwas…“ Sie suchte nach dem passenden Ausdruck, doch die alte Ziege kam ihr zur Hilfe.
„Mach dir keine Sorgen, mein Junge“, meinte sie und rieb dem Jungen über den Rücken. „Dein Vater ist auch mal auf jemanden wütend. Das kann jeden Mal passieren…“
„Mama! Mama!“ Im nächsten Moment kam die kleine Shenmi hereingerannt und warf sich gegen ihre Mutter. „Da greift ein großer Bär Papa an!“
Yin-Yu verstand zuerst überhaupt nichts. „Du meinst Po?“
„Po?“ Die fünf Freunde sahen verwundert auf.
Doch Shenmi schüttelte heftig den Kopf. „Nein, ein großer Bär, er will ihn umbringen!“
Xia konnte nicht glauben, was sie da hörte und tauschte mit ihrem Bruder Sheng einen verwirrten Blick aus. Doch dieser konnte nur ratlos die Achseln zucken. So sehr er auch auf seinen Vater sauer war, so würde er nie so was einfädeln wollen.
„Das ist doch lächerlich“, meinte ihre Mutter schließlich, um das aufgeregte Mädchen zu beruhigen. Doch Shenmi ließ sie nicht weiterreden und zerrte ihre Mutter am Kleid hinter sich her. Die Fünf und auch die Meister, die nun ebenfalls auf Shenmis Angst aufmerksam geworden waren, erhoben sich schnell von ihren Plätzen und folgten ihr nach draußen.

Prüfend beugte sich der Panda über den k.o. geschlagenen Kragenbären. „Wow, mein Kung-Fu-Hacken hat richtig gesessen.“ Sein fragender Blick wanderte zu Shen. „Was wollte er eigentlich von dir?“
Er erschrak förmlich bei Shens düsterem Blick. „Hab ich was Falsches gesagt?“
Der Panda wich zwei Schritte zurück, als sich Shens Flügel zu Fäusten ballten. „Ihr Kung-Fu-Fanatiker seid alles Narren! Muss ihr immer jeden niedermachen, der euch im Weg steht!“
Po kratzte sich ratlos am Kopf. „Könntest du das vielleicht etwas erläutern, damit auch ich das verstehe?“
In diesem Moment sprang eine kleine blaugrün-weiße Gestalt aus dem Dickicht. „Wo ist der Feind?!“, rief Zedong und sah sich suchend nach allen Seiten um.
„PAPA! PAPA! PAPA!“ Sofort kam Shenmi auf Shen zu gerannt. „Bist du verletzt? Bist du verletzt?!“
„Nein, nein. Keine Sorge, keine Sorge. Es geht mir ja gut. Es ist alles in Ordnung.“ Tröstend nahm der weiße Pfau Shenmi in die Flügel.
Jetzt sah er nicht nur seine Familie und die Wahrsagerin, sondern auch die Meister, die Fünf und sogar König Wang, zusammen mit einem aufgeregten Mr. Ping, auf sich zu rennen. Die Blicke von Sheng und Shen trafen sich nur kurz und wichen sich auch sogleich wieder aus. Zum einem war Sheng froh, dass seinem Vater nichts passiert, aber den Streit von vorhin hatten beide immer noch nicht vergessen.
„Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?“, polterte Meister Ochse sogleich los und sein Blick fiel auf den am Boden liegenden Japaner. „Hast du schon wieder deinen Frust an jemanden ausgelassen?!“
Empört erhob sich der weiße Pfau. „Was sollen die Beschuldigungen? Er hat mich angegriffen.“
Meister Ochses Blick fiel auf Po. „Ist das wahr?“
Po bewegte zögernd die Lippen. „Äh… ja, ja! Diesmal war es nicht seine Schuld gewesen. Er hat angefangen. Das kann ich nur bestätigen…“
„Panda!“, fiel Shen ihm lautstark ins Wort. „Hör auf damit! Du warst erst später hier gewesen. Verteidige mich nicht in Sachen, über das du nicht in der Lage bist eine Aussage zu machen!“
Po setzte eine beleidigte Miene auf. „Entschuldige mal, ich wollte dir nur helf…“
„Po!“, rief Mr. Ping. „Was war denn los?“
Auch seine Freunde wollten endlich den Grund für den ganzen Tumult wissen. Doch alles was der Panda dazu sagen konnte war ein Achselzucken. „Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.“
Für Meister Ochse hingegen schien der Fall völlig klar zu sein. „Haust du jetzt jedem eine rein, der gegen deinen Sohn angetreten ist, nur damit du dich besser fühlst?!“, schrie er Shen an, was den weißen Pfau sofort die unbändige Zornglut hochtrieb.
„Willst du mir etwa unterstellen…??!!“
„Oohohoo, keinen Streit!“ Schnell zwänge sich der Panda zwischen Ochse und Pfau und hob die Tatzen. „Und außerdem, wenn es nur um den Wettkampf gehen würde“, er deutete auf den erlegten Gegner, „dann müsste er auch auf mich sauer sein. Immerhin ist er durch mich in der Halb-Runde durchgefallen.“
In diesem Moment mischte sich Xia in das Gespräch ein. „Vielleicht sollten wir erst mal das „Opfer“ fragen, wenn es wieder aufgewacht ist.“
„Das ist eine gute Idee“, stimmte Po ihr zu.
Wie aufs Stichwort vernahmen auf einmal alle ein Stöhnen. Der große Kragenbär kam wieder zu sich. Po hielt es für das beste von Verwandter-zu-Verwandter als erster ein Gespräch anzufangen und wedelte über dessen Gesicht. „Hey, Kumpel. Tut mir leid, dass ich dir eine verpassen musste, aber könntest du uns verraten, weshalb du hier so einen Krawall gemacht hattest?“
Der Bär richtete sich auf. Als er den weißen Pfau sah, sprang er mit einem gewaltigen Satz wieder auf die Beine. Alle wichen erschrocken zurück. Auch Shen hob die Flügel, nur für den Fall, falls er wieder angegriffen wurde. Doch stattdessen setzte der Bär zu einem Gebrüll an.
„Du verfluchte Kreatur!“, donnerte er. „Deiner Strafe wirst du jetzt nicht entgegen!“
Shen sah den Bären immer noch wütend aber auch verständnislos an. „Wovon redest du da?“
„Tu nicht so schuldlos!“, knurrte Yamato weiter. „In Japan konntest du dich verbergen, aber hier nicht mehr!“
Das machte den Pfau noch ratloser. Schließlich legte er die Flügel zusammen und nahm eine würdevolle Haltung ein. In der Gegenwart von so vielen Leuten würde er ihn wohl kaum nochmal anfallen wie ein Verrückter. „Würdest du deine unkontrollierte Denunziation bitte erläutern?“, fragte er mit säuerlichem Unterton.
„Du warst dabei gewesen, als das Dorf Kimura in Japan vor ein paar Tagen zerstört wurde!“
Nach dieser Aussage wurde es still auf der Lichtung. Alle Augen wanderten zu Shen, der nicht wusste, was er sagen sollte. Er schien sogar für einen Moment regelrecht verwirrt zu sein, bis seine Gesichtszüge sich wieder schlagartig verhärten. „Was soll ich getan haben?!“
„Was muss ich da hören?!“ Diesmal war es Meister Ochse der diesen Vorwurf mitanprangerte und wutschnaubend auf den weißen Pfau stierte. „Ich wusste doch die ganze Zeit, dass er wieder etwas im Schilde führt!“
Er hob die Hufe und wollte den weißen Pfau packen, doch dieser wich schnell von ihm weg und fauchte den Kragenbären zornig an. „Was erlaubst du dir, sowas zu behaupten?! Das ist eine verleumderische Unterstellung!“
„Du warst dort eindeutig gesehen worden!“, schmetterte Yamato seine Verteidigung ab. „Zusammen mit dieser ruchlosen Ninja-Bande!“
„Ninjas?“ Fantao und Zedong tauschten verstohlene Blicke aus. „Cool!“
„Weißt heißt hier „Cool“?!“, beschwerte sich der Japaner lautstark. „Er hat die ganzen Wertsachen geplündert und zudem noch mehrere Häuser zerstört!“
Alle starrten den Kragenbären sprachlos an. Endlich meldete sich Po zu Wort. „Äh, ich glaube du verwechselst da was, Kumpel. Er hat mein Dorf überfallen… das war aber schon lange her.“
Der Kragenbär stemmte die Tatzen in die Hüften. „Willst du etwa damit sagen, ich lüge??!!“
„Äh, nein, nein, nein…“, wehrte Po ab. „Nicht unbedingt… ich meine, das könnte doch alles ein Missverständnis sein.“
„Also ich glaube schon was er sagt!“, rackelte Meister Ochse über den Platz und wollte sich erneut auf Shen stürzen. „Dafür kommst du vors oberste Gericht!“
„Bitte, bitte hören Sie auf!“, mischte Yin-Yu sich jetzt ein und stellte sich schützend neben Shen. „Er war nicht in Japan, das kann ich nur bezeugen!“
Sie schaute flehend in die Runde und ihr Blick blieb auf Shifu hängen, der selber nicht wusste, was er von dieser ganzen Situation halten sollte.
Mantis hingegen legte den Kopf schief, als er in die ratlosen Gesichter seiner Freunde schaute. „Also ich verstehe nur: Pfau da, Dorf weg.“
Der Ochse packte den Pfau am Kragen. „So?! Gibt es da etwa etwas, was wir wissen sollten?! Antworte gefälligst!“
„Nimm deine dreckigen Hufe von mir weg!“, schrie Shen in an und drohte mit seinen Federmessern.
Po fing Yin-Yus verzweifelten Blick auf und hielt es nun für seine Pflicht jetzt Stellung zu beziehen. Mutig bäumte er sich auf. „Wen er sagt, er war nicht in Japan gewesen, dann glaube ich ihm auch! Für ihn lege ich meine beiden Kung-Fu-Tatzen ins Feuer. Vielleicht auch meine Füße.“
Jian schaute verwundert auf Pos Füße und verzog angeekelt den Schnabel.
„Panda, ich brauche deine Bürgschaft nicht!“, wies Shen die Bemühungen des Pandas ab und setzte, nach einigem Male Luft holen, eine gelassene Miene auf, wobei er Yamato einen hochnäsigen Blick zuwarf. „Tz, das ist völlig lächerlich. Ich war noch nie in Japan gewesen. Warum sollte mich für so ein Land interessieren? Mich interessiert nur China.“ Damit erweckte er sofort Meister Ochses Argwohn, was Shen aber sofort wieder berichtigte. „Das war eine rein sachliche Begründung.“
In Yamato staute sich eine erneute Wut auf, die sich wieder zu entladen drohte. „Wenn ich es sage: Es war ein weißer Pfau! Wollt ihr einen Verbrecher so davonkommen lassen?!“
Meister Ochse stieß ein lautes bedrohliches Schnauben aus. „Ich kann ihn sofort festnehmen lassen!“
„Wow, wow, wow, jetzt halt mal die Backen, Kumpel“, mahnte ihn Po und beugte sich flüsternd zu Shen rüber. „Bist du sicher, dass du nicht geschlafwandelt bist?“
Shen verzog beleidigt den Schnabel, wodurch sich der Panda aber nicht beirren ließ. „Kann doch möglich sein“, murmelte der Drachenkrieger kleinlaut. „Ich hab mal Geschlafwandelt, da hab ich…“
„Halt den Mund, Panda!“ Wütend stieß Shen den Panda zur Seite. „Ich weiß nicht was hier vorgeht!“, zeterte er und schaute voller Verachtung auf den japanischen Kragenbären. „Aber eins kann ich dir sagen, du hättest es verdient jetzt bei lebendigem Leib massakriert zu werden für deine Lügen!“
„Aber es war ein weißer Pfau gewesen!“, beharrte der Bär auf seine Aussage.
„Vielleicht hast du ihn mit einem weißen Kranich verwechselt“, versuchte Po die Situation zu erklären.
„Unmöglich! Er sah ganz genauso aus wie er!“, beteuerte Yamato. „Weiße Federn, rote schwarze Flecken und lange Schwanzfedern. Und schreit wie ein Pfau. Das kann keine Verwechslung gewesen sein.“
In diesem Moment brach die alte Ziege zusammen. Yin-Yu bemerkte es zuerst. „Was ist mit dir?!!“ Schnell eilte sie zu ihr.
Die anderen sahen erschrocken auf die Ziege. „Was hat sie denn?“
Sogleich war die Wahrsagerin von allen Anwesenden umringt. Die alte Ziege machte einen äußerst geschwächten Eindruck. Yin-Yu musste ihr helfen wenigstens aufrecht zu sitzen.
„Na großartig!“, beschimpfte der weiße Pfau den Ochsen. „Du bringst es fertig und bescherst älteren Damen einen Herzinfarkt!“
„Shen? Shen?“, rief die alte Ziege mit schwacher Stimme.
Sogleich eilte der Pfau zu ihr. Zu seiner Überraschung griff die Ziege sofort nach seinem Flügel und hielt ihn ganz fest. Shen befürchtete schon das Schlimmste und beugte sich besorgt zu ihr vor.
„Shen, Shen“, murmelte die alte Ziege weiter.
„Ich bin ja hier. Was ist denn?“
„Oh, Shen, es… es… es könnte sein, dass du… dass du…“ Die alte Ziege scheute sich davor den Satz zu Ende zu sprechen, doch irgendwie überwand sie sich dann doch dazu. Sie sah den weißen Pfau mit bestürzter Miene an. „Es könnte sein, dass du… dass du… dass du einen… Bruder hast.“

7. Kapitel: Der verschollene Bruder

7. Der verschollene Bruder


Für einen Moment wurde es still auf der Lichtung. Sogar die Kinder brachten kein Wort heraus. Nur Jian blieb gelassen und strich über eine Saite seines Musikinstrumentes. „Ich wusste nicht, dass du einen Bruder hast, Dad.“
Xia hielt ihm schnell den Schnabel zu. Shen schien es doch selber nicht gewusst zu haben… oder doch? Der weiße Pfau stand da wie vom Blitz erschlagen, dennoch schaffte er es sich auf den Beinen zu halten. Aber da Jian schon seinen Gedanken ausgesprochen hatte, wollte Xia selber sofort eine Antwort hören, um zu wissen, wie sie sich verhalten sollte.
„Vater, hast du das gewusst?“
Endlich löste sich der weiße Pfau aus seiner Erstarrung. Die Aussage der alten Ziege hatte ihn geistig völlig aus der Bahn geworfen. Normalerweise war er sonderbare Zitate von ihr gewohnt, aber nicht sowas. Und statt auf die Frage seiner älteren Tochter zu antworten, schlug sein Verhalten in Aggressivität um. „Was meinst du damit „es könnte sein“?“, fauchte er. „Habe ich oder habe ich nicht??!!“ Seine Stimme war laut. Die Ziege senkte ihren Blick in tiefster Trauer, aber das machte Shen nur noch wütender. „Was ist?!! Hat es dir die Sprache verschlagen, oder was?!“
Mit einem Mal richtete sich die Ziege, zu Überraschung aller, auf ihren Gehstock auf. „Deine Eltern wollten nicht, dass du es erfährst“, antwortete sie mit fester Stimme. „Sie hielten es für das Beste, und alle anderen auch, dass er vergessen werden sollte.“
Po, der ebenfalls noch etwas benommen war von dieser neuen Erkenntnis, verstand überhaupt nichts mehr. „Äh, wieso das denn jetzt?“ Er sah sich um, traf aber nur auf verwirrte Gesichter.
Einzig Meister Ochse und Meister Kroko bildeten von dem Überraschtsein die Ausnahme, nur mit dem Unterschied, dass Meister Kroko zutiefst bestürzt dreinschaute, während Meister Ochse nur ein abfälliges Schnauben ausstieß. „Den, den du meinst, ist aber schon lange tot.“
Shen drehte sich ruckartig zu ihnen um und sah die zwei Meister fassungslos an. „Ihr wusstet davon?“
Der Ochse hob die Nase höher. „Ich wüsste nicht, was es dich angehen sollte. Du hast schon das Familienerbe nicht gewürdigt und mit Füßen getreten. Hast sogar dein eigenes Haus niedergerissen…“
Shen sprang auf. „Wird mir das jetzt noch bis an mein Lebensende vorgehalten?!“
Ochse und Pfau stierten sich an. „Wenn es mir Spaß macht, dann ja“, konterte der Ochse.
„Bitte!“, mischte Yin-Yu sich ein und zog Shen etwas von Meister Ochse weg. „Streitet euch doch nicht schon wieder.“
Wenigstens lenkte das Shens Aufmerksamkeit wieder auf die Ziege, die ihm immer noch eine Erklärung schuldig war.
„Wieso weiß ich nichts davon?!“, fuhr er sie an. „Oder ist er vor mir geboren?! Wie alt ist er?!“
Die Ziege schluckte schwer, wobei sie Schwierigkeiten hatte bei Shens Wortschwall ausführlich zu antworten. „Er ist jünger…“
„Du hast mir doch gesagt, dass meine Eltern nach mir keine Kinder mehr haben wollten?!“, schrie er sie an. „Was soll das???!!!“
Die Ziege hob ruhig den Huf. „Shen, ja, ja es stimmt, sie konnten es wirklich nicht über sich bringen, neuen Kinder zu haben. Sie wären niemals auf den Gedanken gekommen, dich zu ersetzen. Du warst ihr ein und alles gewesen…“
„WIE KANN ICH DANN EINEN BRUDER HABEN?!“
„Vielleicht lässt du sie erst einmal zu Wort kommen“, meinte Meister Ochse mit seinem gehässigen Grinsen, dem es irgendwie Freude bereitete den weißen Pfau so verwirrt zu sehen.
„Shen, wenn du dich beruhigst, dann sage ich es dir“, beteuerte die alte Dame.
Shen verengte bösartig die Augen. „Wehe du verheimlichst mir erneut etwas!“
„Ich sage dir alles“, versicherte sie. „Nur bitte tu mir den Gefallen und rede dich nicht in Rage.“
Shen wollte gerade wieder zu einem harten Argument ansetzen, als Yin-Yu ihn beruhigend aber bestimmt an seinen Schultern fasste und ihn bittend ansah.
„Deine Mutter war schwanger, während du verbannt wurdest“, klärte die Ziege auf. „Von daher konnte sie es dir nie sagen. Sie wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal, dass sie schwanger gewesen war. Und er wurde einen Monat später geboren, nachdem du die Stadt verlassen hattest.“ Sie bedeckte ihre Augen und schüttelte bekümmert den Kopf. „Es hat deiner Mutter das Herz gebrochen, als er geboren wurde. Er sah aus wie du. Seine Federn weiß wie Schnee… sogar die Augen waren dieselben…“ Sie seufzte schwer. „Nachdem er geschlüpft war, brach sie weinend zusammen. Er hatte sie so sehr an dich erinnert, dass es ein Schock für sie gewesen war.“
Shen verengte die Augen. „Wieso? Sie konnte doch froh sein, etwas zu haben, das wie ich aussah.“
„Sie wollte niemand anderen“, versicherte sie ihm, „sie wollte nur dich. Obwohl er so aussah wie du… Er wurde geboren wie du… Aber deine Mutter konnte ihn nie lieben. Sie konnte es nicht… vom ersten Tag an…“

Vor 28 Jahren in Gongmen

Der Arzt, eine alte Echse, schloss die Tasche und warf nochmal einen sorgenvollen Blick auf das weiße Küken im Bett, das in Decken eingewickelt war. Der kleine Brustkorb hob und senkte sich leicht. Es atmete noch etwas schwer durch den Schnabel, aber es war nicht mehr so schlimm wie in den Abendstunden nachdem es geschlüpft war. Sein Vater stand neben dem Bett und beobachtete es besorgt.
Die Echse flackerte mit ihrer gespaltenen Zunge. Er war eine Mischung aus Waran und Basilisk. Er war nicht sonderlich groß. Seine Zunge war die eines Warans, aber die Statur einer Basilisken-Echse und sogar die merkwürdig geformten Füße und beschuppten Schilde auf den Rücken, wenn auch nicht so stark ausgeprägt, weshalb ihn einige einen Artbastart nannten. Aber das machte ihm wenig was aus. Er war üble Nachreden gewohnt. Dennoch waren seine Dienste am Hofe des königlichen Palastes Gongmen stets willkommen. Besonders da er der einzige Arzt war, der bis jetzt ein Mittel erfunden hatte, was das Überleben der royalen Kinder stets gerettet hatte. Die Echse nahm eine kleine Flasche zur Hand und strich nachdenklich über ein selbstgeschriebenes Etikett. Dann gesellte er sich neben den Lord. Von der Statur her reichte die Echse dem Herrscher gerade knapp unter die Schultern.
„Er ist wie er“, murmelte er leise und reichte dem Lord die Flasche. „Morgens, mittags und abends eine Dosis. Das wird seine Lebenskraft wieder neu beleben.“
Lord Liang, ein blauer Pfau, nahm das Gebräu dankbar entgegen. „Du warst schon bei meinem ersten Sohn eine große Hilfe gewesen. Wir sind dir dafür zu großem Dank verpflichtet.“
Die Mischlingsechse winkte ab. „Das ist mein Job. Die Gesundheit Ihrer Kinder sind schon eine große Besonderheit.“ Er versuchte seinen Satz so zu formulieren, dass es nicht herabwürdigend klang. „Vielleicht könnte es sogar noch anderen Kindern helfen, wenn die Symptome rechtzeitig erkannt werden.“
Lord Liang senkte den Blick. „Es ist sonderbar“, sagte er leise. „Egal ob bei Shen oder bei ihm“, seine Augen wanderten wieder zu seinem kleinen Sohn. „jeder von ihnen hat kurz nach der Geburt mit Atemnot und Kreislaufproblemen zu tun. Es scheint irgendwie in der Familie zu liegen. Dabei lag der letzte ähnliche Fall zwei Generationen zurück.“
Der Arzt nickte bedächtig. „Soweit ich weiß, kam für dieses Kind dann jede Hilfe zu spät. Mein Beileid.“
Der Lord nickte ihm dankbar zu. „Hauptsache es geht ihm gut.“
Sein Blick wanderte zum Fenster. Die Sonne ging langsam auf und hüllte die Stadt Gongmen in ein rotes Morgenlicht. Am Balkon stand die Mutter, Lady Ai, und starrte schon seit Stunden nach draußen. Kurzentschlossen ging Lord Liang auf die lila-pinkfarbene Pfauenhenne zu. „Ai, es geht ihm schon besser.“ Doch eine Antwort von seiner Frau blieb aus. Unbeweglich starrte sie aus dem Fenster. „Willst du deinen Sohn nicht ansehen?“
„Meinen Sohn?“ Langsam wanderte ihr Blick zu ihrem Mann, dann wandte sie ihn sogleich wieder von ihm ab. „Ich habe schon einen Sohn, und der ist da draußen.“
Lord Liang seufzte schwer. „Ich weiß, Ai. Er sieht genauso aus wie er, aber er braucht uns auch.“
„Sein Überleben ist vorerst gesichert, meine Lady“, meldete sich der Echsen-Arzt zu Wort. „Das Mittel hat schon bei Ihrem ersten Sohn gut angeschlagen. Es sieht so aus, als würde es auch ihm in diesem Fall helfen.“ Mit diesen Worten holte er einen Block aus der Tasche. „Ich müsste dann noch meinen Arztbericht schreiben. Wie soll der Junge denn heißen?“
Seine Augen wanderten zwischen dem Lord und der Lady, doch Lady Ai schien seine Frage nicht gehört zu haben, weshalb Liang nochmal nachfragte. „Ai, wir müssen ihm noch einen Namen geben. Vielleicht Sheng… oder Zheng…“
„Nein!“, fiel sie ihm plötzlich ins Wort und wandte sich vom Fenster ab. „Nein, er wird ihn nie ersetzen!“
Der Arzt sah ihr verwundert nach. „Und wie soll er dann heißen?“
„Ist mir egal! Nur nicht seinen Namen, oder aus der Familie, auch keinen ähnlich klingenden Namen!“
„Aber Ai“, schaltete sich ihr Mann erneut ein. „Einen Namen müssen wir ihm geben. Fällt dir denn keiner ein?“
„Nimm irgendeinen Namen!“, wehrte Lady Ai ab. „Nimm… nimm seinen!“
Sie deutete auf den Antilopen-Wächter, der neben der Tür stand. Dann rannte sie aus dem Zimmer.
Schweigend sahen die Echse und der Pfau ihr nach.
„Es ist noch zu früh für sie“, entschuldigte der Lord sich beim Arzt. „Sie ist noch nicht über Shens Verurteilung hinweggekommen.“
Die Augen der Echse sahen den Lord prüfend an. „Euch scheint es aber auch nicht spurlos an Ihnen vorbeigegangen zu sein. Hab ich nicht recht, mein Lord?“
Für einen Moment sah es so aus als würde Lord Liang ebenfalls in Verzweiflung ausbrechen, doch dann beherrschte sich der Pfau wieder und hob den Kopf höher. „Er hat viele Unschuldige umgebracht“, sagte er mit Bitterkeit in der Stimme. „Es war nur berechtigt, dass er für seine Tat bestraft wurde.“
Die Echse legte die Stirn in Falten. So sehr er auch selber geschockt gewesen war, als er von dem Massaker im Panda-Dorf erfahren hatte, so hätte er es dem Lord von Gongmen auch nicht übelgenommen, ein tiefes Bedauern zu empfinden. Immerhin war auch er bei Shens Geburt anwesend gewesen und hatte ebenfalls immer noch das hilflose weiße Baby vor Augen, das er mit seiner experimentellen Medizin noch am Leben erhalten konnte.
Eine Weile standen beide noch schweigend im Raum, bis sie vom Bett her ein leises Quicken vernahmen. Sie drehten sich um. Das weiße Küken war aufgewacht und reckte sich in den Decken. Sogleich eilte der Lord zu ihm ans Bett. Das Baby hatte die Augen offen, was in dem Lord wieder die tiefste Wehmut aufsteigen ließ. Sie waren wirklich genau gleich wie die von seinem Bruder. Lord Liang stellte sich vor, wie sehr Shen sich über die Geburt von einem gleichaussehenden Bruder gefreut hätte. Sonst gab es nie jemanden, der seine Federfarbe hatte, weshalb er nicht sonderlich beliebt gewesen war. Egal ob als Kind oder Jugendlicher. Jemanden zu haben, mit dem er sein Aussehen und Anderssein teilen konnte, hatte ihm so gefehlt. Und jetzt war es da – aber er selber nicht mehr.
Seufzend strich der Lord über den kleinen Körper. Das Küken sah den blauen Pfau mit großen roten-schwarzen Augen an. Dann strampelte es mit den kleinen Füßen und streckte seine Flügel nach seinem Vater aus.
Wieder wurde der Lord sehr traurig. Bei Shen hatte er sich mit Zuneigung zurückgehalten. Anfangs standen seine Überlebenschancen sehr schlecht. Der Lord hatte sich davor gefürchtet an der Trauer des Verlustes zusammenzubrechen, und beschloss Shen schon ab diesem Zeitpunkt gefühlsmäßig nicht an sich heranzulassen. Er hatte gedacht, dann würde er seinen Tod besser verkraften können. Es war ein Wunder gewesen, dass Shen überlebt hatte, und auch später, dank guter ärztlicher Behandlung. Doch dass der Lord aus Angst ihn innerlich nicht sofort in sein Herz geschlossen hatte, war ein Fehler gewesen.
Er streckte seine Flügel nach seinem Sohn aus und hob das strampelnde Baby aus den Decken heraus.
„Warte noch ein bisschen mit dem Ausfüllen der Formulare“, wandte er sich schließlich an den Arzt. „Wir werden uns über einen Namen schon einig werden. Dein Lohn wird dir zugeschickt.“
Die Echse zuckte die Achseln. „Wie Sie meinen, mein Lord“, und packte den Notizblock wieder weg. Dann verabschiedete er sich und ließ Lord Liang mit seinem Sohn zurück. Das Küken rekelte sich erneut und sah babbelnd zu seinem Vater hoch. Der Lord seufzte tief. Er schaute auf seinen frischgeborenen Sohn, dann auf den Wächter. Schließlich gab er sich einen Ruck und ging zu der Antilope rüber. Ai wollte, dass er seinen Namen nahm. Prüfend betrachtete er den Wächter. Vielleicht würde ihm der Name ja doch gefallen.
„Nun, wie heißen Sie?“, fragte er.
„Long-Long, mein Lord“, antwortete die Antilope.
„Long-Long?“ Liang klang etwas enttäuscht. Es war nicht gerade der Namen, den er sich vorgestellt hatte. „Na gut, danke.“
Mit diesen Worten schritt der Lord aus dem Zimmer.

„Long-Long“, murmelte Lord Liang vor sich hin, während er mit seinem Sohn in den Flügeln durch die Flure ging. Ai war die Treppe einen Stock höher gestiegen, doch der Lord ließ sich Zeit. Der Name, dem ihm der Wächter genannt hatte, ging ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf und stellte sich vor, wie man den Kleinen dann später nennen würde. „Lord Long-Long.“ Liang verzog den Schnabel. Eigentlich hatte er sich einen anderen Namen für seine Nachfolge vorgestellt.
“Long-Long, Long-Long. Lord Long-Long.”
Liang konnte sich irgendwie nicht so damit anfreunden. Unterwegs kamen sie an Shens ehemaligem Zimmer vorbei. Der Lord hielt an und betrachtete nachdenklich die Tür. Vielleicht brachte ihn das auf andere Gedanken und vielleicht auch eine Gelegenheit, dass sein Sohn indirekt mit seinem Bruder in Berührung kam. Es fiel dem Lord schwer diesen Raum zu betreten, bei der Vorstellung, dass Shen auf ihn zukommen würde, um sein Geschwisterchen zu sehen. Was hätte er gefragt? Hätte er einen guten Namen für seinen Bruder gehabt?
Langsam ging der Lord mit dem Küken durch den Raum. Das Zimmer war so wie nach Shens Abreise. Nichts war berührt worden. Jeder Schrank, jeder Tisch, jeder Gegenstand stand immer noch an seinem Platz. Als sie an ein paar Waffen vorbeikamen, die Shen sich zur Anschauung an die Wand gestellt hatte, es waren hauptsächlich einfache Säbel, wurde das Küken auf einmal aktiv und streckte seine kleinen weißen Flügel nach etwas aus. Lord Liang hielt an und schaute verwundert auf den Gegenstand, dass die Aufmerksamkeit des Babys erregt hatte.
„Der Dandao?“ Er betrachtete den einschneidigen Säbel. Das war Shens erste Trainingswaffe gewesen. „Dein älterer Bruder hatte damit geübt.“
Eine Weile hing Lord Liang seinen Erinnerungen nach. Shen war so stolz gewesen, eine Waffe zu besitzen, mit der er Eindruck schinden konnte. Er hatte sich schon immer Respekt gewünscht. Anfangs war Lord Liang dagegen gewesen, aus Angst er könnte sich wehtun. Doch Shen verstand es mit der Zeit hervorragend mit Waffen umzugehen. Es hatte den Lord selber erstaunt wie geschickt er sein konnte, was sich beim Kung-Fu-Training weniger gezeigt hatte. Im Gegenteil, er war sogar ziemlich schlecht gewesen, obwohl die Meister ihn unterrichtet hatten.
„Dandao“, murmelte Lord Liang vor sich hin. „Dao.“
Dao war ein Überbegriff für diese Waffen und als Name für seine Familie eher ungewöhnlich. Aber vielleicht…. Nachdenklich sah er seinen kleinen Sohn an. „Dao bedeutet auch „der Weg“.“ Er hob das Küken hoch und betrachtete es eingehend. Das Baby empfand große Freude bei diesem Hochheben und lachte. Lord Liang legte die Stirn in Falten. Vielleicht… nur vielleicht. „Vielleicht findest du ja einen Weg zu ihm. – Dao.“

Als er das Zimmer betrat, schaute seine Frau nicht auf. Die Lady von Gongmen saß auf einem Stuhl, den Kopf zur Seite geneigt und mit einem Flügel verdeckt. Sie schien ihren zweiten Sohn nicht sehen zu wollen.
Als sie ihren Mann näherkommen hörte, bewegte sie zögernd die Schnabellippen. „Und? Wie hieß er?“
„Dao“, log Liang. Er hasste es zu lügen.
Seine Frau sprang auf. „Das war Shens erste Waffe gewesen! Nein! Nimm was anderes…“
„AI!“, unterbrach ihr Mann sie schroff. „Entweder diesen oder gar keinen! Namenlos können wir ihn nicht durchs Leben ziehen lassen. Das können wir ihm nicht antun. Es sei denn du willst, dass ich ihn Chen, Sheng oder Zhen taufe! Wäre dir das lieber?!“
Eine Weile sah die Pfauenhenne ihren Mann sprachlos an. Schließlich sank sie zurück auf den Stuhl und Liang vermutete, dass sie nichts weiteres mehr dazuzusagen hatte. Er fühlte das Küken in seinen Flügeln wieder strampeln. Lächelnd hob er das Küken erneut hoch. Es sollte wenigstens etwas mit seinem ersten Sohn verbinden, selbst wenn es seiner Frau nicht gefiel. Ein wenig glücklich rieb er seinen Schnabel an seinem Sohn. „Mein kleiner Dao.“
Das Baby quietschte vergnügt. Doch seine Mutter bekam das Fiepen von ihrem Sohn nicht mit. Sie saß nur da und starrte ins Leere.


Die alte Ziege seufzte. „Als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre. Viel schlimmer war, was danach passierte.“
Jetzt hoben auch alle anderen die Köpfe. Wenn die alte Dame sowas sagte, dann musste es wirklich etwas Schlimmes gewesen sein. Nur Meister Ochse verzog keine Miene, da er, genauso wie Meister Kroko, die Geschichte schon kannten.
„Was ist passiert?“, fragte Po neugierig. Doch die Worte der Ziege galten wieder Shen, der sie erwartungsvoll ansah.
„Deine Mutter konnte sich nie von dir lösen“, fuhr die alte Ziege fort. „Niemals wollte sie dich ersetzen. Und immer, wenn sie Dao sah, erinnerte er sie an dich. Deine Mutter konnte ihn nie als ihren Sohn akzeptieren. Sie redete ununterbrochen nur von dir…“ Sie seufzte erneut. „Sehr zum Leidwesen von anderen.“

Drei Jahre später nach Daos Geburt…

Mit tapsigen Schritten ging das junge weiße Küken durch die Gänge des Palastes. Aus dem Zimmer seiner Eltern drangen laute Stimme zu ihm hindurch. Neugierig steckte Dao seinen kleinen Kopf durch den Türspalt. Im Raum standen seine Mutter mit seinem Vater. Lady Ai hatte das Gesicht in den Flügeln vergraben und weinte. Wie so oft. Noch nie hatte das Küken sie lachen gesehen.
„Ich will meinen Sohn! Ich will meinen Sohn!“, schrie Ai mit weinerlicher Stimme.
Lord Liang schüttelte bekümmert den Kopf und nahm sie in die Flügel. „Er ist aber nicht mehr hier.“ Er umfasste ihr Tränenüberströmtes Gesicht und sah ihr feste in die Augen. „Aber Dao ist auch dein Sohn. Du solltest ihn genauso viel Liebe geben. Er braucht das.“
Lady Ai öffnete mühsam den Schnabel. „Ich… ich kann nicht!“
In diesem Moment vernahmen beide die kleine Gestalt im Türrahmen. Lady Ai genügte nur ein einziger Blick, dann rannte sie schnell davon.
Traurig sah Dao ihr nach. „Hab ich Mama wieder verjagt?“
„Nein, nein“, versicherte ihm sein Vater und umarmte ihn. „Sie war nur etwas durcheinander.“


„So war dein Vater hauptsächlich für ihn da gewesen“, erzählte die Ziege weiter. „Aber das hatte Dao natürlich nicht genügt. Dein Bruder hatte es manchmal nicht ertragen, dass deine Mutter ihn gemieden hatte wie einen Wildfremden. Er wollte so gerne ihre Aufmerksamkeit. Und als dann der Tag kam, an dem du schon genau fünf Jahre die Stadt verlassen hattest, wollte er ihr ein besonderes Geschenk machen. Er hatte sich solche Mühe geben, ihr was Schönes zu schenken, doch stattdessen, ist sie von ihm weggelaufen. Sie war so entsetzt über seine Bemühungen, dass sie Hals über Kopf die Stadt verließ und sich auf die Suche nach dir machen wollte. Aber wie du weißt, erlitt sie einen Unfall in den Bergen. * Und als sie dann in Gongmen starb, da machte… da machte sich dein Bruder große Vorwürfe.“

Vor 23 Jahren in Gongmen

Eine Weile blieb Lord Liang noch neben dem Totenbett seiner toten Frau, bevor man sie endgültig mit einem Laken bedeckte. Mit schweren Schritten entfernte er sich. Erschrocken blieb der Pfau stehen, als er seinen fünfjährigen Sohn in der Tür stehen sah.
Das weiße Kind sah ihn entgeistert an. Lord Liang stellte sich schnell vor ihm, um ihn die Sicht auf das Laken verdeckte Bett zu versperren, doch der Junge wusste ganz genau was passiert war.
„Mama ist tot“, hauchte das Kind mit erstickter Stimme.
Der Lord senkte den Blick. „Sie ist eingeschlafen.“
Sanft legte er die Flügel auf Daos Schultern. Doch das konnte den Jungen nicht beruhigen.
„Mama ist meinetwegen gestorben.“
Geschockt von diesen Worten kniete sich der Lord vor ihm hin. „Das ist nicht wahr! Es war ein Unfall gewesen.“
Dem Jungen stiegen die Tränen in die Augen. „Es war meine Schuld gewesen! Ich hab sie verjagt!“
Noch bevor sein Vater etwas sagen konnte, entwand sich der Junge aus seiner Umarmung. „Ich hab sie umgebracht!“ Weinend rannte der weiße Junge aus dem Zimmer.
Bestürzt rannte sein Vater ihm nach. „DAO!“


„Dein Bruder rannte davon“, führe die Ziege traurig ihre Erzählung fort. „Ich weiß es noch genau. Ich hab ihn durch die Gänge laufen sehen, hab ihn weinen gehört. Er rannte durch die Wachen hindurch. Man hatte ihn nicht aufhalten können. Er floh aus der Stadt. Das waren zumindest die letzten Aussagen, wo man ihn noch an den Häusern hat vorbeirennen sehen. Man hat natürlich anschließend sofort alles nach ihm abgesucht. Die ganze Umgebung. Aber… aber alles was man von ihm fand, war nur sein weißer Umhang, den man irgendwo im Wald aufgelesen hatte.“ Die Ziege stützte sich schwer auf ihrem Gehstock ab. Anscheinend dachte sie noch daran, wie verzweifelt Lord Liang darüber gewesen war. „Monate lang suchte dein Vater nach ihm“, berichtete sie weiter. „Doch er konnte ihn nie finden. Nachdem ein Jahr ins Land gezogen war, ohne auch nur eine Spur von ihm zu finden, musste er die Suche endgültig aufgeben und dein Bruder wurde für tot erklärt. Man nahm an, dass er irgendwo verunglückt war, allerdings hatte man nie von einer Leiche eines kleinen weißen Pfauenjungen berichtet. Aber andererseits wurde auch später nirgendwo in China ein anderer weißer Pfau gesichtet. Nachdem die Suche eingestellt worden war, fasste dein Vater schließlich einen Entschluss. Ich unterhielt mich noch mit ihm. Dann sagte er zu mir: „Mein erster Sohn wurde verbannt, meine Frau ist tot, nun ist auch noch mein zweiter Sohn von mir gegangen.“ Aber er wollte sein Versprechen einlösen, was er seiner Frau gegenüber am Sterbebett gegeben hatte. Nämlich dafür zu sorgen, dass du noch eine Zukunft hast. Den Rest kennst du ja. Dein Vater brachte mühsam über die Jahre das nötige Geld für dich zusammen, damit du wieder eine Existenz hattest. Er starb drei Jahre bevor du wieder nach Gongmen zurückkamst. Seit dem Verschwinden von deinem Bruder sind nun schon 23 Jahre vergangen. Bis heute hatte man nie mehr wieder etwas von ihm gehört und niemand hat ihn jemals wiedergesehen.“
Nachdem die Ziege ihre Geschichte mit diesen Worten beendet hatte, schaute sie Shen mit trauriger Miene and. Shens Schnabellippen begannen zu beben. „W-warum hat man mir das nie erzählt?!“
„Was hätte es gebracht?“, gab die Ziege zurück. „Dein Bruder galt für tot, warum sollte man dir von einem toten Bruder erzählen, der kaum existiert hat? Und außerdem, selbst wenn ich vorgehabt hätte es dir zu sagen, hätte es dich interessiert? Du warst doch damals nur mit deinem Traum beschäftigt, China zu erobern.“
„Warum hast du es mir dann nicht später gesagt?!“
Die Ziege schüttelte wehmütig den Kopf. „Damit du hinter einem Bruder nachtrauerst, den du nie gekannt hast, und auch nie hättest kennenlernen können?“ Sie schüttelte wehmütig den Kopf. „Du hattest doch schon deine Eltern verloren. Warum sollte ich dich auch noch damit belasten? Ich war so froh gewesen, dass du einmal seit langem wieder richtig gelacht hattest, als du deine Familie wieder gefunden hattest. Wieso hätte ich dir dann sowas erzählen sollen?“ Sie senkte den Blick. „Shen, ich konnte es nicht tun. Ich konnte es nicht.“
Ein Schweigen legte sich über die Gruppe. Eine Weile sah Shen sie noch an, dann senkte er den Blick und massierte seine Stirn.
Po war der Erste, der sich traute wieder ein Wort zu sagen und schaute auf Yamato, der ebenfalls still geworden war. „Tja, ich schätze, damit wäre der Fall ja wohl klar, oder?“, fragte der Panda vorsichtig in die Runde, um auf den Vorfall von vorhin aufmerksam zu machen. „Dann kann Shen es ja nicht gewesen sein. Ich meine, dann war es wohl er. Oder war es vielleicht doch ein anderer? Und was war das nochmal mit den Ninjas gewesen?“
Tigress gab ihm einen Stoß in die Rippen. So sehr Po wie die anderen auch neugierig war, so schien diese Frage eher unangebracht zu sein.
Einzig nur Meister Ochse besaß die Unverschämtheit sich über den gebeugten weißen Pfau zu beugen und mit einem spöttischen Ton seinen Senf noch dazu zuzugeben. „Bilde ich es mir nur ein, oder bist du jetzt um eine Erfahrung reicher geworden?“
Empört schlug Shen ihm mit dem Fuß ins Gesicht, was dem Ochsen aber nichts ausmachte. Doch statt sich weiter zu prügeln rannte der Pfau einfach davon. Yin-Yu wollte ihm nach, doch die Ziege hielt sie zurück. Sie wusste, Shen wollte jetzt alleine sein.
König Wang kratzte sich verwirrt am Kopf. „Also wirklich, diese Familie überrascht mich immer wieder.“
Po sah ihn tröstend an. „Da bist du nicht der Einzige, Kumpel.“


Das chinesische Wort “Dao” kann je nach Aussprache verschiedene Bedeutungen haben. Es kann sowohl „Dāo – Schwert, Klinge“ als auch „Dào – Weg“ heißen. Weitere wären z.B. Dǎo – Insel, aber auch andere Bedeutungen als Nomen, Verben ect…, sind möglich, was hier aber jetzt nicht wesentlich ist. <3 Danke fürs Lesen. :-)


* Siehe „Die letzte Chance“, Kapitel 26

8. Kapitel: Ein Entschluss

8. Ein Entschluss


Die Sonne neigte sich und eine Ruhe legte sich über das Gebiet in der Arena, was kein Vergleich zum heutigen lauten Mittag war. Doch so still und friedlich alles zu sein schien, in Shen tobte ein Sturm. Der weiße Pfau war innerlich so aufgewühlt wie ein unruhiges Meer, das keine Rast fand. Sein Gemüt schwankte unkontrolliert wie hin- und hergeworfene Wellen vom Wind und da war keine klare Sicht am Horizont. Der weiße Lord wusste nicht, was er machten sollte. Er stand einfach nur unbeweglich auf dem Dach der Arena und starrte in die Ferne. Von hier aus hatte er den besten Ausblick über die bewaldete Landschaft. Doch sein Blick war nicht auf die untergehende Sonne gerichtet, sondern auf den dunkleren Teil des Himmels, dort wo die Sonne für gewöhnlich aufging. In dieser Richtung lag Japan, das Land der sogenannten aufgehenden Sonne.
Shen verschränkte die Flügel und verenget die Augen. Eine Weile verweilte er in dieser Haltung, bis er etwas den Kopf senkte. Seit er vom Tod seiner Eltern erfahren hatte, überkam ihm ein Gefühl der noch größeren Einsamkeit. Aber wieso hatte er nie gespürt, dass noch etwas von ihm am Leben war? In ihm staute sich ein Drang auf. Der Drang etwas zu finden, von dem er nicht gewusst hatte, dass es existierte.
Seine Fingerfederspitzen auf seinen Flügeln verkrampften sich. Er wollte Antworten. Doch woher sollte er sie hernehmen?
Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Er war irgendwie froh darüber, dass er keinen älteren Bruder hatte, aber dennoch, wenn das ganze jetzt schon 28 Jahre her war, dann war dieser Bruder 28 Jahre alt. Nur vier Jahre älter als Sheng.
Über Shens Schnabel huschte ein Lächeln. Über 20 Jahre erschienen so kurz, wenn man zurückblickte. Die Zeit verflog so schnell. So verflucht schnell.
Unter Shens Federn zog sich ein Schauder. Manchmal wünschte er wirklich, er könnte die Zeit zurückdrehen. Wo würde er dann heute stehen? Und wo würde sein Bruder stehen?
Er stellte seinen Pfauenkamm auf, als er leise Schritte hinter sich vernahm. Yin-Yu war nicht völlig schwindelfrei, aber das Dach der Arena war breit genug, sodass sie sich halbwegs darauf sicher fühlte. Weil Shen jetzt schon Stunden auf dem Dach verbracht hatte, machte sie sich Sorgen, dass er noch die ganze Nacht dortbleiben könnte.
Sie streckte ihren Flügel nach ihm aus. Als er mit seinem feinen Gehör ihr Vorhaben erkannte, schnellte er seinen Flügel vor sie, sah sie aber immer noch nicht an.
„Nein!“, befahl er entschieden. Er wollte keine Tröstungen. Nicht mal eine Berührung.
Seufzend ließ die Pfauenhenne den Flügel wieder sinken und schaute nun ebenfalls in die Richtung, wohin Shen die ganze Zeit hinstarrte.
„Worüber denkst du nach?“, fragte sie nach einer Weile, doch Shen schwieg. Sie wusste ganz genau worüber er grübelte, weshalb sie sich jetzt direkt neben ihm hinstellte und ihn von der Seite ansah. „Shen, ich sehe es dir an, was du gerne tun würdest. Wenn ich von einem Bruder von mir gehört hätte, so würde ich dasselbe tun.“
Endlich kam Bewegung in den weißen Pfau und er entfernte sich ein paar Schritte von ihr. „Ich weiß nur nicht, ob ich ihn sehen soll“, murmelte er. „Vielleicht sollten wir uns besser nie sehen.“
Yin-Yu hob verwundert die Augenbrauen. „Warum sagst du das?“
„Wäre ich an seiner Stelle gewesen, dann wäre ich wütend auf ihn“, gab Shen als Antwort.
Die Pfauenhenne seufzte bekümmert. „Weil du mehr Liebe von deiner Mutter bekommen hattest, die er nie bekommen hatte?“ Sie ließ ein paar Sekunden verstreichen. Als Shen darauf nichts sagte, versuchte sie ihm etwas Mut zuzusprechen. „Aber das ist schon so lange her. Vielleicht hat sich im Laufe der Zeit was geändert.“
Sie näherte sich ihm erneut. Doch Shen schüttelte leicht den Kopf. „Wenn es wahr ist, dass man als Geschwister ähnliche Empfindungen hat, dann kann ich mir das sehr schwer vorstellen.“ Jetzt endlich sah er sie an. „Und du weißt, wie ich über meine Eltern gedacht habe.“
Yin-Yu sah ihn traurig an. „Aber wenn du es nicht tust, dann wirst du es nie erfahren.“
Shen umarmte sich selber und richtete erneut seinen Blick in die Ferne. „Ich hab viele Fragen. Wie kommt es nur, dass er in Japan ist?“
„Vielleicht ist er zufällig dort hingekommen“, vermutete sie. „Ein Kind kann sich gut auf einem Schiff verstecken. Schließlich ist er von zuhause weggelaufen. Dann wäre ein Schiff genau das richtige, um nicht entdeckt zu werden.“
„Aber was hat er über die ganzen 20 Jahre gemacht?“, dachte Shen laut. „Und warum soll er an einem Überfall auf ein japanisches Dorf beteiligt gewesen sein?“ Mit diesem Gedanken ging Shen unruhig auf und ab.
Auch Yin-Yu geriet ins Grübeln. „Wenn es wahr ist, dass er mit Ninjas, gestohlen hat“, meinte sie, „dann kann es sich vielleicht um eine Diebesbande handeln. Ich weiß nicht viel über die japanische Kultur, aber vielleicht missbrauchen diese Kämpfer ihre Fähigkeiten, um anderen zu schaden. Selbst hierzulande nutzen einige Kung-Fu, um arme Leute zu bestehlen. Aber vielleicht gibt es auch noch eine ganze andere Erklärung dafür.“
„Aber welche?“
Die Pfauenhenne zuckte hilflos die Achseln. „Vielleicht wäre es das Beste, wenn du Yamato diese Frage stellst. Vielleicht kann er dir ein paar Antworten liefern.“
Shen schien da nicht so ganz überzeugt zu sein. „Und wenn nicht?“
Über Yin-Yus Schnabel huschte ein sanftes Lächeln. „Warum fragst du das, Shen? Wenn du die Antworten nicht hier findest, dann solltest du sie suchen – und zwar woanders.“
„Woanders?“ Shen sah sie verwundert an. „Wenn ich aber woanders bin, dann bist du ebenfalls anderswo.“
Sie kicherte verschmitzt. „Shen, ich komm schon zurecht. Ich bin ja nicht allein. Du musst nicht ständig um mich herum sein. Du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Wenn du gehen möchtest, dann solltest du gehen.“
Shen wich ihrem Blick aus, was sie aber nicht davon abhielt, ihren nächsten Gedanken auszusprechen. „Vielleicht wäre es sogar im Sinne von deinem Vater, dass du ihn siehst. Und selbst wenn dein Bruder einen Groll gegen dich hegen würde, wäre es nicht gut, wenn ihr die ganze Sache ein für alle Mal aus der Welt schaffen würdet?“
Shen schloss die Augen und ging ganz tief in sich. „Du könntest zwar damit recht haben“, meinte er nach einer Weile, „aber ich möchte nur ungern gegen jemanden kämpfen müssen, den ich noch kennenlernen wollte.“ Er schmunzelte spöttisch. Sogar beim Panda wollte er das, bevor er ihn mit seiner Kanone vernichten wollte… Aber das hier war etwas ganz anderes. Er wollte seinen eigenen Bruder doch gar nicht beseitigen. Er wollte wenigstens mit ihm reden, aber was, wenn er nicht mit ihm reden wollte?
Yin-Yu sagte nichts, sondern legte ihre Flügel auf Shens Schulter und ließ ihn nachdenken. Sie selber konnte ihm keine Entscheidung abnehmen. Das konnte nur er.

„Also, alles in allem haben wir recht gut was dabei verdient“, meinte Mr. Ping, während er zusammen mit Mr. Han das Geld zählte. „Vor allem die Panda-Plüschies. War ein gutes Geschäft gewesen.“
Das Schwein neben ihm nickte. „Das sollten wir das nächste Mal wiederholen.“
„Das nächste Mal?“ Der Panda, der nicht weit von ihnen an einem Tisch saß, hob geschockt den Kopf. „Heißt das, ich muss nochmal antreten?“
Meister Shifu, der neben ihm saß, legte die Ohren an. „Also für gewöhnlich, muss der Champion seinen Titel immer im nächsten Wettkampf verteidigen, Drachenkrieger.“
Po wurde es mulmig im Magen. „Na toll.“
Er schaute sich um, in der Hoffnung, dass jemand dagegensprechen würde. Doch niemand schien sich dazu äußern zu wollen. Sie saßen alle im Festsaal an einem Tisch, obwohl schon alle Gäste gegangen waren. Die Pfauenkinder knabberten hier und da noch das restliche Essen an. Mit Ausnahme von Fantao, der sich kurz hat entschuldigen lassen, weil er mal raus musste. Die Furiosen Fünf hatten es ebenfalls vorgezogen noch wach zu bleiben, bis sie erfuhren, was der weiße Pfau als nächstes vorhatte. Meister Ochse und Meister Kroko saßen im Schneidersitz in einer Ecke und vertrieben sich die Zeit mit Meditation. Yamato hatte sich auch noch nicht weit entfernt und schlief gegen eine Wand gelehnt. Auch König Wang hatte sich zu einem Nickerchen überreden lassen. Xia ließ nachdenklich ihren Blick schweifen. Sheng saß neben ihr und aß ebenfalls noch etwas vom Essen, aber er wirkte ziemlich still.
Endlich hörten sie, wie jemand die Tür öffnete. Alle hoben die Köpfe, als sie Shen in der Tür auftauchen sahen, dicht gefolgt von Yin-Yu. Doch die Augen des Pfaus galten nicht den Meistern oder einen von seiner Familie. Stattdessen richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Kragenbären, den er mit einem leichten Fußtritt weckte. Schlaftrunken öffnete der japanische Bär die Augen.
„Wo haben Sie ihn gesehen?“, kam Shen sofort auf den Punkt. „Wo genau war das gewesen?“
Der Kragenbär gähnte nochmal, bevor er müde antwortete. „Wie ich schon sagte, es war ein Dorf in den Wäldern, Süd-Westlich in Japan. Kimura, heißt das Dorf.“
Shen hob den Schnabel höher. „Dann werde ich dort hingehen.“
Zedong war sofort Feuer und Flamme. „Du gehst nach Japan?! Wow! Kann ich mitkommen?! Kann ich mitkommen?! Ich hab noch nie Ninjas gesehen!“
„Nein!“, wies Shen den Jungen ab. „Ihr reist wieder nach Hause.“
„Aber das geht doch nicht“, mischte Po sich jetzt ein. „Zumindest Sheng muss mit ins Tal des Friedens kommen.“
Der weiße Pfau sah ihn verwundert an. „Ins Tal des Friedens?“
Der Panda nickte energisch. „Ja, nach jedem Kung-Fu-Wettkampf erweisen alle Teilnehmer nochmal im Ursprungsort des Kung-Fu die Ehre. Das ist Tradition. Hast du das vergessen?“
Dieser Gedanke gefiel Shen gar nicht und er hätte bestimmt etwas dagegen eingewandt, wenn Yin-Yu nicht noch was gesagt hätte.
„Dann reisen wir auch zum Tal des Friedens“, sagte sie. „Dort können wir ja dann auf eine Nachricht von dir warten. Und den Kindern wird es bestimmt auch gefallen.“
Sie sah Shen bittend an.
„Das ist eine super Idee!“, rief Po begeistert und legte Zedong eine Tatze auf die Schulter. „Dann lernt ihr auch mal das Dorf kennen!“
„Das Kung-Fu-Dorf?“, fragte Zedong.
„Ja, und wer weiß…“ Po legte die Stirn in Falten. „Vielleicht treffen wir unterwegs sogar auf einen Haufen böser Buben.“
„Wow, können wir dahin, Dad? Dürfen wir? Dürfen wir?“
Shen kämpfte mit sich selber, ein `Ja´ zu äußern. Aber es war vielleicht besser, als wenn sie die ganze Zeit darum betteln würden nach Japan mitzukommen.
„Na gut“, gab er schließlich nach. „Aber setzt ihnen keine Flausen in den Kopf!“ Das letzte was er noch wollte, war, dass sie noch so Kung-Fu-Verrückt wurden wie dieser fette Panda.
König Wang, der inzwischen wieder aufgewacht war, beugte sich zu Mr. Ping rüber. „Ich darf nicht zufällig mitkommen, oder?“
„Aber natürlich“, bestätige der Gänserich. „Im Tal des Friedens ist jeder willkommen, solange er gute Absichten hat.“
„Na, die hab ich ja.“
„Wir feiern eh ein Fest dort“, führte Mr. Ping weiter aus. „Ein paar Mündchen mehr können wir immer füttern.“
„Dann werden wir uns jetzt alle ausruhen“, verkündete Meister Shifu. „Und werden morgen uns dann zum Tal des Friedens aufmachen.“
Shen nickte. „Gut, und ich werde mich in der Zwischenzeit nach Gongmen begeben. Von dort fahre ich mit dem Schiff weiter.“
„Moment mal!“, mischte sich Meister Ochse jetzt ein und erhob sich von seinem Schneidersitz. „Sollte nicht jemand mit ihm mitgehen, damit er keinen Unfug stiftet?“
„Danke“, lehnte Shen unhöflich ab, „aber ich kann auf deine Gesellschaft verzichten!“
„Dann gehe ich mit ihm mit“, bot sich die alte Ziege an, die wieder wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Alle sahen sei verwundert an.
„Nur bis nach Gongmen“, erklärte sie. „Dort werde ich dann auf ihn warten.“
„Aber was ist, wenn er in Japan was anstellt?!“, gab Meister Ochse energisch zu Bedenken.
Doch statt einer einfachen Antwort, erhielt er von der Ziege einen leichten Schlag mit ihrem Gehstock auf den Kopf. „Tu mir den Gefallen und verbinde ihn einmal nicht mit etwas Schlechtem“, raunte sie ihm zu. „Es war schon schlimm genug gewesen, dass er als Kind schikaniert wurde, weil man seine Farbe mit einem Fluch in Verbindung gebracht hatte.“ Sie sah den Ochsen strafen an.
„Also dann, begeben wir uns in die Nachtquartiere“, gebot Shifu.
Er machte den Anfang. Die Furiosen Fünf folgten ihm. Nur Po wagte sich in Shens Nähe und sah ihn vielsagend an. „Und du willst wirklich nach Japan? Allein? Aber was ist, wenn da wirklich Ninjas sind?“
„Panda, ich kann sehr gut auf mich selber aufpassen“, versicherte ihm Shen und sah Po streng an. „Habe ich mich klar und deutlich genug ausgedrückt?!“
Po schluckte schwer, doch noch ehe er mit einem anderen Thema ausweichen konnte, ging Shen an ihm vorbei und ging zu seiner kleinen Tochter. „Und Shenmi, du bleibst bei den anderen. Das ist mein voller Ernst!“
Das Mädchen nickte gehorsam. „Ist gut, Papa.“
Po sah die beiden traurig an. Er hatte gerade die Tatze gehoben und den Mund aufgemacht, als Shifu argwöhnisch die Augen verengte. „Po, du kommst mit!“
„Äh, ja, ich komme, Meister.“ Dennoch zögerte der Panda, was bei Shifu den Geduldsfaden reißen ließ. „Po!“
„Ja, Meister.“ Gehorsam folgte der Panda den anderen.
„Und es macht dir nichts aus, dass ich nur mit dir nach Gongmen komme?“, erkundigte sich die Ziege, als der Großteil schon gegangen war.
Shen verzog den Schnabel. „Solange du nicht schon wieder irgendeinen Hintergedanken ausgebrütet hast.“ Er warf ihr einen skeptischen Blick zu. „Sonst machst du nie was ohne Grund.“
Die alte Ziege lächelte. „Ich wollte ohnehin noch etwas in Gongmen in meinem alten Haus erledigen. Ich werde einen Brief an meinen Großneffen schreiben, dass er zu mir kommen soll. Ich werde dann solange dort warten, bis du wieder zurückbist.“
Diese Erklärung stimmte den Pfau nur halbwegs zufrieden. Er kam auch nicht mehr dazu länger über diese Aussage nachzudenken, denn im nächsten Moment tauchte vor ihm ein großer Eber auf, bei dem es sich wohl um den Hauswirt handelte. „Entschuldigen Sie? Ist das Ihr Sohn?“ Mit diesen Worten hob er Fantao hoch. „Er hat die ganze Außenwand am Nebeneingang mit Farbe vollgeschmiert.“
Entrüstet verschränkte der Pfauenjunge die Flügel. „Das ist Kunst!“

9. Kapitel: Stimmen aus der Vergangenheit

9. Stimmen aus der Vergangenheit


Mit gesenktem Blick blieb Shen stehen. Er konnte nicht fassen, dass er das irgendwann mal tun würde. Langsam hob er wieder den Kopf und schaute auf die große Steinwand, die vor ihm hochragte. Eigentlich hatte er nie etwas für diesen Ort übriggehabt. Im Gegenteil. Er hatte ihn regelrecht verabscheut. Er hatte sich in der Familie schon immer wie ein Ausgestoßener gefühlt, warum sollte er sich dann für die Geschichte seiner Verwandtschaft interessieren? Doch wenn er die ganze Wahrheit erfahren wollte, dann musste er selbst hierherkommen, um nach handfesten Beweisen für die Existenz eines Bruders zu finden.
Er befand sich nahe des Gongmen Palastes, den er einst zerstört und der wieder aufgebaut worden war. Aus dem Stadtarchiv konnte er sich keine Aufzeichnungen erhoffen, weil Lord Xiang bei seinem Überfall auf die Stadt vor ein paar Jahren fast alles verbrannt hatte. Doch die Familienkammer hatte er zum Glück nicht geplündert. Dafür war sie zu gut versteckt. Sogar der Öffnungsmechanismus war solange nicht auffindbar, solange man nicht wusste, wo er sich befand. Der weiße Pfau ging an der Wand entlang, bis er auf ein Mauern-Relief stieß, dass die Form eines Pfaues besaß. Dort drückte er auf einen bestimmten Stein im Mauerwerk. Im nächsten Moment rückte die Steinwand mit einem lauten Ächzen zur Seite und gab den Weg zu einem großen, dunklen Gang frei.
Shen nahm die mitgebrachte Laterne in den Flügel und ging in den Tunnel hinein, der abgesenkt nach unten führte. Shens Schritte verlangsamten sich. Die Wände waren hier kahl und trostlos. Erst gegen Ende des Ganges begann sich das Bild zu verändern. Auf den Steinen tauchten gemalte und gemeißelte kleine Pfauenfiguren auf. Eigentlich waren es nur Pfauenherren mit offenem Pfauenrad, die mit verschiedenen Farben bemalt worden waren. Endlich hatte der weiße Pfau das Ende des Tunnels erreicht. Dort stellte er die Laterne ab und betrachtete mit einer Spur von Ehrfurcht eine andere Steinwand. Hier war ein besonders großer Pfau abgebildet. Er war dreimal so groß wie Shen, hatte sein Pfauenrad geöffnet und sein Blick war nach unten gerichtet, als würde er sehen wollen, wer sich zutritt in den Raum verschaffen wollte. Shen hatte nie nachgefragt, wen das darstellen sollte. Vermutlich ein Urvater von ihm. Der Pfau wollte nicht noch mehr Zeit verschwenden und holte eine Pfauenfeder hervor, die er sich zuvor hat rausreißen müssen. Und das aus einem bestimmten Grund. Mit der langen Pfauenfeder in den Flügeln ging er zu einem langen flachen Stein, der an der Seite im Fußboden verborgen lag. Dort legte er die Feder ab, denn der Mechanismus wurde erst ab einem bestimmten Gewicht einer Pfauenfeder ausgelöst. Es entstand ein knackendes Geräusch hinter der Mauer. Der Öffnungsmechanismus war entriegelt. Shen zählte an der Wand ein paar Pfauenfiguren und drückte auf eine bestimmten bemalten Pfauenfigur auf dem Stein. Dieser bewirkte, dass die große Steinplatte sich hob und den Raum dahinter freigab. Shen nahm wieder die Laterne zur Hand und begab sich in das Archiv seiner Vorfahren. Der Raum dahinter war unermesslich groß. An den Wänden hingen gemalte Bilder, der einstigen Familien und Herrscher. Eines davon erregte ungewollt sofort seine Aufmerksamkeit. Er hielt die Laterne höher und schaute in die gemalten Gesichter seiner Eltern auf dem Familienportrait.
Shen verzog verbittert den Schnabel. „Seht mich doch nicht so an!“, zischte er, als wären die Bilder lebendig. „Ihr habt doch selber Schuld!“ Er seufzte. „Warum rede ich eigentlich mit euch? Ihr redet doch auch nicht mit mir.“
Er sah sich hastig um, nur um sich zu vergewissern, dass ihn niemand beobachtete. Dann wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. Er hasste es als erwachsener Mann zu weinen.
Er wandte sich von dem Bild ab und ging an den hohen Holzregalen vorbei, die vollgestopft waren mit Schriftrollen. Egal ob Geburtsurkunden, oder allerlei Aufzeichnungen, alles hatte mit seiner Familie zu tun. Shen stimmte dies für einen Moment nachdenklich. Streng genommen musste er diese Aufzeichnungstradition fortführen. Er beschloss später darüber noch mal mit der Wahrsagerin zu reden. Still suchte er die Fächer ab. Da hier nur die Aufzeichnungen von seiner Familie gelagert wurden, musste er nicht lange suchen. Seit dem Tod seiner Eltern war nichts mehr vorgefallen, was in Verbindung mit seiner Familie stand. Er war der letzte seiner Eltern. Oder zumindest so dachte er noch vor kurzem, aber dennoch hatte sich danach keiner seiner entfernten Verwandten mehr gezeigt. Aus welchem Grund auch immer. Nicht mal Freunde. Manchmal fragte sich Shen, ob seine Eltern überhaupt Freunde gehabt hatten. Er erinnerte sich nur wage an Besuche von anderen, aber dies waren nur Bekanntschaften für einen Augenblick gewesen, die er anschließend sehr schnell wieder vergessen hatte, oder sogar vergessen wollte. Obwohl… Shen geriet erneut ins Grübeln. An feste Freunde konnte er sich vielleicht nicht erinnern, wohl aber an Auseinandersetzungen. Er wusste es noch genau, weil er seinen Vater noch nie handgreiflich gesehen hatte. Bis auf eine einzige Begebenheit. Da war er gerade… Shen legte die Stirn in Falten. Wie alt wer er da gewesen? Es musste unter 10 Jahre noch gewesen sein. Oder sogar unter 5 Jahre? Jedenfalls erinnerte er sich noch daran, wie sein Vater einmal im Hinterhof sich mit einem anderen Pfau geprügelt hatte. Shen hatte in diesem Augenblick aus dem Fenster gesehen. Sein Vater rangelte mit dem anderen Pfau auf dem Boden. Im nächsten Moment kam dann seine Mutter angelaufen und hatte versucht seinen Vater von dem anderen Pfau wegzuziehen. Nachdem sie es endlich geschafft hatte, hatten sich die zwei Pfaue danach nur noch angeschrien.
„Wir haben uns nichts mehr zu sagen!“, schrie Lord Liang den anderen Pfau an.
„Nein, absolut nichts mehr!“, keifte der andere Pfau gekränkt zurück. „Verkriech du dich nur mit deinem Kung-Fu und deiner feinen Familie hier! Obwohl, dein Sohn sieht auch nicht gerade besser aus…“

Ab diesen Moment hatte Shen nicht mir zuhören wollen. Er ist danach einfach abgehauen. Er hatte seinen Vater nur noch im Hintergrund etwas fluchen hören. Danach wusste Shen nichts mehr, nur dass er diesen Pfau danach seitdem nie mehr wiedergesehen hatte. Er konnte sich nicht mehr ganz genau an die Farbe von diesem Pfau erinnern. War sie grün, oder blau? Nein, vielleicht sogar mit gelben Flecken? Shen schüttelte den Kopf. Das war doch im Moment unwichtig. Dieses ganze Familienzeug um ihn herum, schien ihn so zu beeinflussen, dass sogar sein Geist in der Vergangenheit grub. Dabei wollte er nur eine einzige Vergangenheit erfahren.
Endlich hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte. Er zog eine Rolle, die das besagte Jahr beinhaltete. Schnell entrollte er sie bis er die Stelle gefunden hatte. Mit leiser Stimme las er vor: „Zur Zeit von Lord Liang und Lady Ai, wurde ihnen ein zweiter Sohn geboren von weißer Gestalt…“ Shen überflog den Text. Vielleicht gab es auch etwas, was die alte Ziege ihm nicht gesagt hatte. Doch auch in dieser Aufzeichnung blieb das Ergebnis dasselbe. „… und war nie mehr gesehen worden“, schloss der Bericht ab. Shen durchlas noch die restlichen Aufzeichnungen über seinen Vater, und über seine Beerdigung. Aber selbst bis in die letzte Zeile wurde sein Bruder nie mehr wieder erwähnt.
Enttäuscht schlug er mit der befiederten Faust auf das Pergament. Wenigstens hatte er jetzt den Beweis, dass alles wirklich passiert war. Seufzend packte er die Buchrolle wieder weg und nahm die Laterne wieder zur Hand und verließ das Archiv. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, sodass er Sorge hatte, das Schiff nach Japan zu verpassen.

Das Haus der alten Ziege lag nicht allzu weit vom Palast entfernt. Etwas außer Puste kam Shen dort an. Die Ziege war gerade dabei den Flur mit einem Besen auszufegen, als sie ihn mit einem Lächeln empfing. „Wenn man Monatelang nicht im Haus war, dann sammelt sich so viel Staub an“, schmunzelte sie. „Mein Großneffe wird ja bald vorbeikommen. Dann kann er mir etwas besser helfen.“
„Ist das Schiff schon da?“, fragte Shen ohne auf ihre Putzangelegenheit einzugehen.
„Das Schiff legt erst in zwei Stunden ab“, antwortete sie bedächtig. „Du hast also noch genügend Zeit, um etwas zu Essen.“ Sie legte den Besen beiseite. „Und wie war es im Archiv gewesen? Hast du dich noch mal vergewissert, dass ich dir nichts vorenthalten habe?“
Shen hob die Augenbrauen. „Woher weißt du, dass ich im Archiv war?“
Sie strich ihm kurz über den Flügel. „Du hast Staub an den Federn.“ Sie lachte. „Komm rein.“
Damit verschwand sie ins Haus. Shen folgte ihr zögernd. Er war so gut wie nie da drinnen gewesen. Vor allem seit die Ziege in den Palast gezogen war, bewahrte sie nur allerlei Krimskrams in den Räumen auf. Prüfend sah Shen sich um. Hier und da strich er mit den Fingerfedern über ein Möbelstück und zerrieb den Staub dazwischen. Sie hatte recht. Hier war wirklich dringend mal ein Hausputz fällig. Sein Blick fiel auf ein gemaltes Bild, dass die Ziege in jüngeren Jahren und einen anderen Ziegenbock daneben zeigte.
„Wer ist das?“, fragte Shen neugierig.
Die Ziege hatte gerade einen Teekessel hervorgeholt und schaute in Shens Richtung. „Oh, ein Bild von mir und meinem Mann.“
Shen sah sie verdutzt an. „Du warst verheiratet?“
„Nur eineinhalb Jahre“, erklärte die Ziege und setzte den Teekessel auf. „Ich verlor ihn sehr früh. Danach hab ich nie wieder geheiratet.“
„Wirklich nicht?“
„Nein, Shen.“
„Warum nicht?“
Sie schwieg einen Augenblick. „Vielleicht weil ich nie mehr einen anderen Mann wie ihn getroffen hatte. Oder vielleicht hätte ich Schuldgefühle gehabt, wenn ich jemand anderen seinen Platz hät einnehmen lassen.“ Sie holte eine Schachtel mit Teeblättern hervor, hielt einen kurzen Moment inne, dann wanderte ihr Blick wieder zu Shen. „Könntest du dir vorstellen, dass jemand anderes Yin-Yus Platz einnehmen könnte?“
Der weiße Pfau schwieg und wich ihrem Blick aus. Vielleicht wollte er einfach nicht daran denken, dass Yin-Yu irgendwann nicht mehr in seiner Nähe sein würde. Für einen Moment blieb Shen schweigend in dieser Haltung stehen. Erst als er die Hufe der Ziege auf seinem Flügel spürte, taute er wieder auf. Sie sah ihn warm an. „Komm, trinken wir einen Tee.“
Sie zog ihn zu einen Stapel Kissen, wo sie Shen anwies sich hinzusetzen. Dort verharrte der weiße Pfau, bis sie mit einem Tablett und dem Tee zu ihm zurückkehrte.
Zuerst schwiegen sie, während sie den Tee einschenkte. Shen kam sich etwas unbeholfen vor. Er fühlte sich genötigt etwas zu sagen, und wusste jetzt nicht über was. Sie hätten jetzt Gelegenheit in Ruhe zu reden. Obwohl Shen nicht wüsste, worüber sie reden sollten. Dazu war es in den letzten Jahren selten dazugekommen. Schließlich rang er sich dazu durch ein Gespräch zu beginnen. „Du sagtest, du kanntest oder du hast meinen Bruder gesehen“, begann er.
Die Ziege, die ihm gegenüber Platz genommen hatte, nickte. „Ja.“
„Wie war er?“, wollte Shen wissen. „Hatte er… auch dasselbe Problem wie ich?“
Sie rührte in ihrer Teetasse. „Du meinst das Gefühl anders zu sein?“
„Beantworte mir einfach nur meine Frage.“
Die Ziege nippte kurz an ihrem heißen Tee und dachte nach. „Nun, wie ich schon sagte, er unterschied sich so gut wie gar nicht von dir. Nur eines war etwas anders…“
Shen beugte sich ihr vor. „Und was?“
„Nun, er war gut im Kung-Fu.“
Der weiße Pfau legte skeptisch den Kopf schief. „Besser als ich?“
Die Ziege hob die Augenbrauen. Shen war doch nie so gut im Kung-Fu gewesen. Zumindest nicht unter 5 Jahren. Aber sie wollte es nicht anprangern und führe ihre Erklärung in eine andere Richtung aus. „Er versuchte in allem gut zu sein. Egal ob im Alltag oder im Training. Genauso wie du, wurde auch er im Kung-Fu ausgebildet, so wie es seitdem Eintreffen der Meister, in den Tagen deines Vaters, Tradition ist. Aber ich merkte, dass er es nicht aus Liebe zum Kung-Fu tat. Er wollte einfach nur gut sein. Er wollte alles perfekt machen.“ Sie seufzte leise. „Vielleicht hatte er gehofft, dass deine Mutter ihn dann einmal länger als fünf Sekunden ansehen würde.“
Shen schwieg. Er wusste selber, wie sehr er die Anerkennung seiner Eltern wollte, aber auf diese Art und Weise hatte er es nie erfahren. „Hat mein Vater denn nie mehr über ihn gesprochen, nachdem er wieder nach Hause zurückgekehrt war?“, wollte er wissen.
Der Blick der Ziege wanderte kurz zur Zimmerdecke bevor sie antwortete. „Nun, er hatte wenig nach seiner Rückkehr gesprochen. Er war ziemlich schwach gewesen, obwohl er von der Kondition her noch recht rüstig war. Er war ja noch nicht mal ganz so alt gewesen. Es war von daher ein Schock für uns alle gewesen, als er so plötzlich verstorben war. Und dann noch sein Freund, der ihn noch bis Gongmen begleitet hatte. Ehrlich gesagt hab ich ihn nicht so sympathisch gefunden, obwohl er deinen Vater geholfen hatte wieder nach Hause zu kommen. Er hat sich sogar eigenhändig um die Beerdigung gekümmert, er hat sogar einen Arzt arrangiert. An seinen Leichnam wollte er mich nicht heranlassen…“ Sie sah Shen verlegen an. Sie war wieder vom Thema abgewichen. Sie schüttelte den Kopf. „Aber was solls. Was passiert ist, ist passiert. Jedenfalls hatte er kein einziges Wort mehr über deinen Bruder erwähnt. Er… er sagte mir nur…“
Shen verengte die Augen. „Was hat er gesagt?“
Sie schwenkte ihre Teetasse in den Hufen. „Nun, dass… falls du wieder zurückkehren solltest… dass ich dann ein Auge auf ihn haben sollte… damit dir nichts passiert.“
Die Augen des Pfaus weiteten sich vor Verwunderung. Die Ziege senkte den Blick. „Diese Aufgabe habe ich wohl nicht so gut erfüllt, nicht wahr?“
Sie sahen einander schweigend an. Schließlich wich sie seinem Blick aus und blies über ihren dampfenden Tee. Shen tat es ihr gleich und ließ den beruhigenden Duft der Teeblätter auf sich einwirken.

„Und du bist dir auch sicher, dass du ganz alleine dorthin fahren möchtest?“
Sie standen am Hafen und die Ziege ließ den einstigen Prinzen nur ungern gehen.
„Ich komm schon zurecht“, versicherte ihr Shen. „Wäre ja nicht mein erster Alleingang.“
„Aber selbst früher hattest du jemanden gehabt“, gab die Ziege zu bedenken. „Auch wenn es nur ein Wolfsrudel war.“
Shen seufzte schwer. Manchmal dachte er noch an das Wolfsrudel, oder zumindest eine neue Armee hinter sich stehen zu haben als eine Art Leibgarde. Er schüttelte den Kopf. Darüber konnte er sich immer noch später Gedanken machen.
„Ich muss los.“
Gerade als er auf das Schiff zulaufen wollte, hielt die Wahrsagerin ihm noch am Flügel fest.
„Ich wünsche dir viel Glück“, sagte sie. „Und iss immer gut, denk an deine Kräfte.“
Innerlich rollte Shen mit den Augen. Manchmal benahm sie sich schlimmer als eine Mutter. Endlich ließ sie langsam seinen Flügel los. Shen war erleichtert, als er endlich das Schiff bestieg und dieses ablegte.
Sie winkte ihm zu. Shen sah sich um, nur um sicher zu gehen, dass ihn niemand dabei zusah. Dann hob er kaum sichtbar den Flügel und winkte zurück, wenn auch mit ernstem Gesichtsausdruck. Es kam ihm etwas lächerlich vor sich wie ein kleines Kind zu verabschieden. Er war immer noch ein hoher Lord. Die alte Ziege nahm es ihm nicht übel. Sie blieb solange noch am Hafen stehen bis das Schiff nicht mehr zu sehen war.
Mit Wehmut suchte sie den Horizont ab. Es war genau wie damals. Traurig schloss sie die Augen. Auch damals, als der weiße Pfau die Stadt verlassen musste, hatte sie ihn noch lange nachgeschaut, bis er nicht mehr zu sehen gewesen war. Es hatte ihr weh getan, dass sie durch ihre Wahrsagung so ein Unglück über die Familie gebracht hatte. Hatte sie sich deswegen dazu verpflichtet gefühlt, mit Shens Vater zu reden und er sie im Gegenzug um einen Gefallen beteten hatte? Was hatte sein Vater als Letztes noch über seinen Sohn Shen gesagt? Nur kurz bevor er gestorben war?
„Wann immer es in deiner Macht steht“, sagte der blaue Pfau mit schwacher Stimme, „behüte meinen Sohn.“
Die alte Ziege senkte wehmütig den Blick. „Ich kann ihn nicht von seinem Vergehen freisprechen.“
Der blaue Pfau legte seine Flügel auf ihre Hufe und sah sie eindringlich an. „Es genügt schon, dass du ihm kein Leid zufügst. Tu es auch für meine Frau.“

Die Ziege verlagerte ihr Gewicht auf dem Gehstock, dass er sich nur so bog.
„Ach, Liang“, seufzte sie. „Ich wünschte, du könntest jetzt hier sein.“

Shen lehnte sich an die Reling und ließ seinen Blick über das offene Meer schweifen. Er war die Jahre so auf China fixiert gewesen, dass er nicht so darüber nachgedacht hatte, wie es wohl hinter den chinesischen Grenzen aussah. Es hatte ihn nie so weit hinausgezogen. Da gab es noch so viele anderen Länder, über die er bis jetzt nur in Geschichtsbüchern gelesen hatte. Und jetzt musste er ausgerechnet in die weite Welt hinaus, wo sein Bruder sich über all die Jahre versteckt gehalten hatte. Der Pfau stützte den Kopf auf die Flügel und stellte sich vor wie sein Bruder ihn wohl ansehen würde, wenn sie sich treffen würden. Seine Identität konnte er vor ihm ja nicht verschleiern. Sie waren fast gleichaussehende Zwillinge. Er würde sofort merken, mit wem er es zu tun hatte. Diese Vorstellung bereitete Shen etwas Bauchschmerzen. Was würde wohl passieren? Er prüfte seine Federmesser unter seinen Federn. Sogar sein Lanzenschwert hatte er mit an Bord genommen. Eigentlich wollte er sie nur ungern zum Einsatz kommen lassen, aber wenn Dao ihn eventuell keine andere Wahl mehr ließ…?
In diesem Moment ließ ihn ein Magenknurren aufhorchen. Augenblicklich hob Shen den Kopf. Das war doch…
Mit wachsamem Blick ging er an einer Reihe von Fässern vorbei. Und in einem davon drang ein dumpfes Gemurmel zu ihm hindurch.
Dem Pfau stieg der Zorn in die Federn. Blitzschnell packte er mit dem Fuß das Fass und trat dagegen. Das Fass rollte über das Deck und knallte gegen die Reling. Der Deckel sprang auf, woraufhin das Gesicht eines Pandas hervorschaute.
„Oh, Mann. In ein Fass zu steigen ist einfach, aber da wieder rauszukommen…“
Po war noch ganz schwindelig von dem Fassrollen. Mühsam versuchte er aus dem Holzfass sich rauszuwinden. Seine Arme bekam er noch frei, nur sein Bauch steckte fest.
Im nächsten Moment wurde das Fass nach oben gerissen und stand wieder gerade. Allerdings vor einem weißen wütend dreinschauenden Pfau.
Erschrocken zog Po den Kopf ein. „Ich glaube, ich geh doch wieder ins Fass runter.“
Vergeblich versuchte er seinen Bauch einzuziehen, doch ein Fluchtweg ins Versteck war im Moment unmöglich.
Shen ballte die Fäuste. Irgendwann würde er diesen Panda noch umbringen!
„Ich verlange, dass du sofort von hier runtersteigst!“, befahl Shen laut.
„Da runter?“ Po schaute über die Reling. „Aber Shen, wir schippern mitten auf dem Meer… AH!!!!!“
Shen verpasste ihm einen Tritt und Po klatschte mitsamt Fass ins Wasser. Prustend kam der Panda wieder an die Oberfläche. „Hey, Shen! Shen! Du kannst mich noch nicht einfach hier unten lassen!“
„Die Strömung wird dich schon wieder nach China transportieren“, antwortete der Pfau halbherzig. „Und hoffentlich auch weit genug weg von mir.“
Das Schiff fuhr weiter und nahm von dem Panda im Fass keine Notiz. „Hey, Shen, du kannst mich doch nicht einfach ohne richtiges Schiff auf dem Meer treiben lassen. SHEN!“
Doch der Pfau stellte sich taub und hob den Schnabel in den Wind. „Diesmal nicht – Panda.“
Enttäuscht gab Po das Rufen auf. Das Schiff war fast an ihm vorbei. Mühsam paddelte der Panda darauf zu und konnte sich gerade noch an das Heck festklammern.
„Oh, Mann“, murmelte Po und hielt sich den Mund zu. „Hoffentlich werde ich nicht seekrank.“
Für den Rest der Fahrt schweig der Panda, während das Schiff sich mehr und mehr dem Land der aufgehenden Sonne näherte.

10. Kapitel: Überraschungen

10. Überraschungen


„Und das ist das Tal des Friedens?“ Shenmi reckte interessiert den Hals, als sie ersten Häuser in der Ferne aufragen sah.
„Ja“, bestätigte Meister Shifu. „Hier hat das Kung-Fu seinen Anfang genommen.“
Zedong und Fantao waren hellauf begeistert. „Cool!“
Shifu drehte sich um. „Po, willst du nicht auch mal etwas…“ Der Meister sah sich suchend um. „Wo ist Po?“
„Äh…“ Monkey kratzte sich ratlos am Kopf. „Er… er hat gesagt, er wollte kurz mal weg.“
Shifu verengte die Augen. „Was soll das heißen, er müsste kurz mal weg?!“ Seine Ohren zogen sich nach hinten. „Wie lange ist er schon weg?!“
Crane tippte nervös die Fingerfederspitzen aneinander. „Wie lange darf er denn schon weg sein, ohne, dass Ihr Euch aufregt, Meister?“
„Jetzt sagt mir bloß nicht, dass unsere Hauptperson zum Ehrenfest fehlt?!!“ Der kleine Meister war außer sich.
Die fünf Freunde sahen einander beschämt an. Sie hatten zwar mit aller Macht versucht Po von seinem Vorhaben abzuhalten, Shen zu folgen, doch am Ende war ihre Mühe umsonst gewesen.
„Was solls“, meinte Mr. Ping, der gerade des Weges dahergelaufen kam. „Dann kommt er eben später nach. So wie ich meinen Sohn kenne, wird er doch keine Kung-Fu-Party sausen lassen. Und bis die anderen Teilnehmer da sind, werden noch ein paar Tage vergehen. Immerhin müssen wir noch alles für sie vorbereiten.“
Er schaute nach hinten, wo Yin-Yu gerade mit den anderen Kindern von einem Karren abstieg. Dem Pfauenjungen Jian fiel sofort was anderes auf.
„Was ist das für ein Haus auf dem Berg?“, fragte er und deutete nach oben.
„Das ist der Jade-Palast“, beantwortete Viper seine Frage.
„Ist der aus purem Jade?“
Monkey zuckte die Achseln. „Na ja, der Großteil davon.“
Wang sah sich interessiert um. „Seit meiner letzten Anreise hier, hat sich nicht viel verändert.“
Viper and Mantis sahen einander rastlos an. „Was hätte man denn hier verändern sollen?“, fragte sich das Insekt.
Meister Ochse hingegen stampfte nur mit hocherhobenen Kopf nach vorne. „Wir waren auch schon ewig nicht mehr im Jade-Palast gewesen. Mal sehen, was dort noch so steht.“
„Zedong! Lauf doch nicht so schnell!“ Yin-Yu hatte Mühe mit dem aufgeregten Jungen Schritt zu halten.
„Ich will doch nur gucken!“, rief der gescheckte Pfau und rannte den anderen voraus die Straße runter. Plötzlich blieb er wie vom Donner gerührt stehen. Die anderen, die ihm nachkamen, sahen ihn verwundert an.
„Was ist denn los, Zedong?“, fragte Xia besorgt.
Zedong antwortete nicht, sondern deutete nur geradeaus. Alle folgten seinem Fingerzeig und waren für einen Moment fassungslos. Sie konnten gar nicht glauben, wen sie da an einer Hausmauer stehen sahen, oder eher halb aufgerichtet, denn die Person stützte sich auf einer Krücke ab.
Meister Ochse blieb kurz der Mund offen. „Hey, ist das nicht der Kerl, der vor ein paar Jahren in Gongmen…?“
Shenmi sprang freudig auf. „Onkel Xiang!“
„Onkel?“ Xia meinte sich verhört zu haben und beobachtete wie das weiße Pfauenmädchen auf den blauen Pfau zu rannte. Xiang wich erschrocken zurück und stolperte fast. Wegen seinem gelähmten rechten Bein fiel es ihm schwer, dem weißen Mädchen auszuweichen, dass freudig um ihn herumsprang.
„Hör gefälligst auf damit!“, schimpfte er. „Lass das!“
Wütend stieß er mit dem krückenaussehenden Gehstock nach ihr. Xia eilte sofort nach vorne.
„Hey! Lass meine Schwester in Ruhe!“ Sie nahm Shenmi beiseite und sah ihren Ex-Vater streng an. „Was willst du denn hier?“
Der blaue Pfau verengte argwöhnisch die Augen. „Immer noch so frech. Manieren wirst du wohl nie lernen.“
Xia verschränkte gekränkt die Flügel. Anfangs hatte sie gedacht, Xiang wäre ihr leiblicher Vater, bis ihre Mutter ihr gestand, dass Shen ihr wirklicher Vater war.
In diesem Moment tauchte Yin-Yu auf. „Guten Tag“, grüßte sie ihn höflich und verneigte sich sogar. „Wir haben gar nicht erwartet dich hier zu sehen.“
Der blaue Pfau räusperte sich. „Es war Lius Idee gewesen.“
„Oh, ist sie auch hier?“
„Ja, sie ist oben im Zimmer dort.“ Der Pfau deutete auf ein Fenster im ersten Stock im Nebenhaus.
Doch noch ehe Yin-Yu etwas anderes fragen konnte, wurde sie von Xiang sofort wieder angemeckert. „Was zur Verdammnis, habt ihr eigentlich hier zu suchen?!“
„Was wir hier zu suchen haben?“, wiederholte Xia empört. „Was hat dich denn hierhergetrieben? Doch bestimmt nicht nur, weil du Liu einen Gefallen tun wolltest, oder?“
Sheng, der sich jetzt ebenfalls dazugesellte, versuchte die Situation etwas zu entspannen. Er hegte zwar genauso noch einen tiefen Groll gegen Xiang wie seine ältere Schwester, doch das würde den blauen Pfau nur noch unnötig wütender machen.
„Oder hattet ihr vorgehabt euren ersten Hochzeitstag hier zu verbringen?“, fragte er ruhig.
„Hochzeitstag?“ Xiang rümpfte den Schnabel. „Der war schon vor ein paar Wochen gewesen“, belehrte er seinen Ex-Sohn. „Selbst wenn wir ihn hätten, so würde ich ihn bestimmt nicht hier verbringen.“
„Und warum wollte deine Frau dann hierherkommen?“, wollte Yin-Yu wissen.
Sie schrak kurz zusammen, als sie Xiangs schneidender Blick traf und es erinnerte sie an ihre damalige Ehe, wo es keinen Tag geben hatte, wo er ihr keinen bösen Blick zugeworfen hatte.
„Frag sie selber“, wies Xiang sie an.
Yin-Yu nickte, da sie Xiangs schlechte Laune ihr gegenüber nicht noch weiter heraufbeschwören wollte. Doch noch ehe sie sich entfernen konnte, hielt Xiang sie noch mit eisigen Worten zurück.
„Ist er auch hier?“, fragte der blaue Pfau forschend.
Yin-Yu wusste sofort wen er meinte. „Nein, er ist nicht mitgekommen. Er hat noch etwas Wichtiges zu erledigen.“
Xiang schien innerlich erleichtert zu sein. Doch Yin-Yu hielt es für ihre Pflicht ihrer Aussage noch etwas hinzuzufügen. „Aber wir warten auf eine Nachricht von ihm, von daher, sei nicht überrascht, falls er doch noch auftauchen sollte.“
Xiang verengte gefährlich die Augen. Die Pfauenhenne begegnete ihnen mit einer leichten Furcht und Entschlossenheit. So sehr sie sich noch immer vor ihm fürchtete, die Angst von damals saß in ihr noch tief, so war sie sich sicher, dass er nicht in der Gegenwart von anderen handgreiflich werden würde. Nachdem sie ein paar Sekunden seinem Blick standgehalten hatte, wandte sie sich ab und ging in das besagte Haus rein. Der blaue Pfau sah ihr mit verächtlichem Gesichtsausdruck nach. Yin-Yus Selbstvertrauen war ihm ein Dorn im Auge. Egal ob er mit Liu eine Ehe eingegangen war oder nicht, die Dominanz von Frauen rief in ihm immer noch Furcht hervor.
„Hey, darf er überhaupt hier sein?“, beschwerte sich Meister Ochse, der nun ebenfalls mit seinen Kollegen Meister Kroko und Meister Shifu dazugestoßen war.
„Aha, die Herren aus Gongmen“, empfing der blaue Pfau sie im herablassenden Ton. „Auch kein Vorbild in Sachen höflicher Begrüßung. Nicht gerade lobenswert in der Gegenwart von…“ Sein abfälliger Blick wanderte auf die kleinen Pfaue. „… von Kindern.“
Er holte ein Tuch aus seiner dunkelblauen Robe hervor und strich sich damit über den Schnabel, als wäre er gegen Kung-Fu-Meister allergisch. „Und um auf deine ungehobelte Frage zurückzukommen“, fuhr Xiang unbeirrt fort. „Ich wüsste nicht, was dagegensprechen würde, dass ich mich hier nicht aufhalten dürfte.“
Meister Ochse stieß ein lautes Schnauben aus. „Mir würde da schon eine ganze Reihe von Gründen einfallen“, knurrte er. Xiangs Überfall auf die Stadt Gongmen vor ein paar Jahren, hatte er noch lange nicht vergessen. Vor allem da durch den blauen Pfau die Stadt fast in Schutt und Asche gelegt worden wäre.
Xiang hingegen schien diese Bemerkung völlig kalt zu lassen. Obwohl er sich vor einer Gruppe von Leuten gegenübersah, die alles andere als begeistert über seine Gegenwart waren. Und Xiang hatte für einen Augenblick das Gefühl unter den abweisenden Blicken der anderen einzuknicken, doch er war seelisch stabil genug, um sich nichts von seiner Unsicherheit anmerken zu lassen. Er fand sogar die Courage, oder eher die Unverfrorenheit, den Hunnenkönig weniger freudig zu empfangen.
„Wang, dich hätte ich am aller wenigsten hier vermutet. Ist es dir überhaupt erlaubt gewesen, nach China zu kommen?“
„Pass bloß auf was du sagst!“, mahnte der Hunnenkönig ihn. „Gegenüber deiner verrückten Tante hatte ich noch Verständnis für deine Lage, aber nicht, dass du hier Unruhe stiftest. Spiel hier also nicht mit meiner Nachsicht!“
Xiang schnaubte angewidert. „Mmpf. Nachsicht. Pass besser auf, dass du nicht um meine Nachsicht betteln musst.“
König Wang ballte die Hufe zu Fäusten. Wäre er nicht so gut erzogen worden, hätte er dem halbgelähmten Pfau am liebsten die Krücke aus den Flügeln geschlagen. Xiang schien das genau zu wissen und grinste gehässig.
„Hey, Leute!“, meldete sich auf einmal Mr. Pings Stimme, dem die angespannte Atmosphäre nicht entgangen war. „Wer von euch hat Hunger? Ich gebe einen aus im Restaurant.“
„Das ist eine gute Idee“, stimmte Sheng ihm zu und schob die Kinder beiseite. Bei Shenmi hatte er die größten Schwierigkeiten, weil sie ihre Augen nicht von dem blauen Pfau abwenden konnte. Zum einen, weil sie Xiangs blaue Farbe immer noch faszinierte und zum anderen, weil sie sich irgendwie etwas Freundliches von ihm erhoffte. Doch darauf wartete sie vergeblich. Xiangs hasserfüllter Blick ruhte sogar besonders auf ihr, sodass es dem Mädchen für einen Moment unheimlich wurde.
„Wir begeben uns in den Jade-Palast“, lehnte Meister Shifu die Einladung ab. „Wir haben noch einiges zu besprechen.“ Er warf den fünf Freunden einen mahnenden Blick zu. „Und informiert mich sofort, sobald Po hier eintrifft. – Und er soll sich bei mir unverzüglich melden!“
Die Fünf nickten stumm. Gegenüber Shifus Laune hatten sie immer Respekt. Als die Meister sich entfernt hatten, entspannten sie sich wieder etwas.
„Ich hätte auch noch ein Loch im Magen“, sagte Mantis und hüpfte Richtung Mr. Pings Restaurant.
Xia war die Letzte, die auf dem Platz zurückblieb und Xiang strafend ansah. Beide warfen sich nochmal vergiftete Blicke zu, dann humpelte der blaue Pfau auf der Krücke gestützt davon.
„Xia?“ Besorgt kam Sheng zu ihr rüber. „Kommst du?“
Xia rümpfte den Schnabel. „Ich kann es einfach noch nicht fassen, dass sie ihn wirklich geheiratet hat.“
Sheng sah sie prüfend von der Seite an. „Hasst du ihn immer noch?“
Sie sah ihren Bruder verbittert an. „Ich werde ihn immer hassen.“

Etwas besorgt stieg Yin-Yu die Treppe zu einer der Kammern hoch. Es wunderte sie, dass Liu bei so einem schönen Wetter im Zimmer hockte. Als sie an der Tür zum Zimmer ankam, klopfte sie zaghaft an.
„Wer ist da?“, fragte eine Frauenstimme von innen.
„Ich bin’s. Yin-Yu.“
Es entstand eine kurze Pause, bevor sie eine Rückantwort erhielt. „Ja! Komm rein!“
Vorsichtig öffnete Yin-Yu die Tür. Zu ihrer Verwunderung saß die Pfauenhenne auf einem Bündel aus Decken im Bett. Liu stand noch nicht einmal auf, doch sie begrüßte die ältere mit offenen Flügeln.
„Was für eine Überraschung“, hauchte Liu überwältigt. „Ich hab Sie gar nicht hier erwartet.“
Yin-Yu lächelte. Dann ging sie auf die jüngere Pfauenhenne zu und umarmte sie, wobei Liu sie ganz feste an sich drückte.
„Ich bin ja irgendwie froh Sie hier zu sehen“, sagte Liu.
„Aber warum denn?“ Yin-Yu sah sie besorgt an. „Ist etwas passiert? Und warum sitzt du im Bett? Bist du krank?“
Liu schaute verlegen zur Seite. „Nun, nicht direkt.“
Mit diesen Worten schob sie die Decken unter sich beiseite und erhob sich, woraufhin etwas Weißes unter ihr zum Vorschein kam. Yin-Yu schaute mit großen Augen auf das Ei.
Liu lächelte. „Gefällt es dir? Ich hab’s vor ein paar Wochen gelegt.“
Yin-Yu war völlig überwältigt und strich behutsam über die Eierschale. „Oh, Liu, das ist wirklich…“ Sie hielt inne. „Vor ein paar Wochen? Wie lange seid ihr denn jetzt schon hier? Oder habt ihr es bis hierher transportiert?“
Liu rieb sich über den Hals. „Nun, als Xiang von meiner Schwangerschaft erfuhr, da war er ein wenig nervös. Ich meine… wir haben zwar gewusst, dass ich schwanger werden würde, aber als es dann soweit war…“ Sie schwieg für ein paar Sekunden. „Nun… dann kam mir die Idee, dass wir uns an einem Ort zurückziehen, wo wir nicht so unter Anspannung stehen. Xiang erinnert das Haus in Mendong immer noch so sehr an vergangene Tage. Mit Ihnen.“
Yin-Yu seufzte schwer bei diesen Erinnerungen. Als sie von Shen schwanger gewesen war, und sie Xiang ihre Schwangerschaft gestanden hatte, im Glauben die Kinder wären von ihm, da hatte er relativ gleichgültig reagiert.
„Hat er es denn gut aufgenommen?“, wollte sie wissen. „Ich meine, was hat er gesagt, als du ihm sagtest, dass du schwanger bist? Hat er…“ Sie zögerte es diese Frage zu stellen. „Hat er nochmal nachgefragt… ob… ob das von ihm ist?“
Zu ihrer Erleichterung reagierte Liu nicht beleidigt auf diese Frage. Sie könnte es Xiang sogar nicht verdenken, dass er genau bestätigt haben wollte, dass das Ei auch wirklich von ihm war und nicht von jemand anderen. Bei Yin-Yu hatte er sich schon getäuscht, wobei Yin-Yu damit nur ihre Kinder beschützen wollte, weil ihre Mutter sie zu der Heirat mit Xiang gezwungen hatte, obwohl sie schon bereits von Shen schwanger gewesen war.
„Nun“, begann Liu zögernd. Sie holte tief Luft. „Ja, er hat danach gefragt. Sogar zweimal. Er hat mir sogar dabei so tief in die Augen gesehen, dass ich befürchtete, er würde es mir nicht glauben. Es hat fast einen Tag gedauert, bis ich ihm jeden Zweifel ausreden konnte.“ Sie umarmte sich selber. „Es war nicht leicht gewesen.“
Yin-Yu nickte verständnisvoll. Xiang war schwierig zu überzeugen, das wusste sie nur zu gut noch von früher.
„Wann wird es soweit sein?“, fragte sie, um vom Thema abzulenken.
„Schon sehr bald. Vielleicht sogar die nächsten Tage.“
„Dann sind wir ja gerade noch rechtzeitig gekommen.“ Sie hielt inne. „Aber du hast mir immer noch nicht gesagt, warum ihr ausgerechnet hierhergekommen seid.“
Liu wiegte den Kopf. „Nun, ich habe gehofft, dass ihm diese Umgebung vielleicht etwas friedlich stimmen würde. Und ich dachte, das Tal des Friedens wäre der perfekte Ort dafür.“
Yin-Yu legte die Stirn in Falten. „Ich kann mich aber nicht daran entsinnen, dass er Po gut leiden konnte. Wie hast du ihn dazu gebracht hierherzukommen? Und wenn ihr schon ein paar Wochen hier seid, wie kommt es dann, dass die anderen nichts davon wissen?“
„Nun, als ich hörte, dass ein Kung-Fu-Wettkampf stattfinden würde“, sagte Liu ruhig. „hab ich mich nochmal erkundigt und erfuhr, das der Panda und die anderen ein paar Wochen vorher in ein Kung-Fu-Trainingslager reisen würden, um sich auf einen Wettkampf vorzubereiten. Von daher habe ich angenommen, sie wären solange weg, bis das Kind geschlüpft ist. Wäre der Panda noch hier, hätte ich Xiang wohl kaum dazu überreden können hierherzukommen. Doch es hat sich wohl etwas hinausgezögert.“ Sie seufzte. „Aber… versteh mich nicht falsch… aber, dass ihr hier sein würdet, damit habe ich nicht gerechnet. War er wütend auf euch?“
Yin-Yu biss sich auf die Unterlippe. „Na ja, ich hab ihn schon unten gesehen. Erfreut war er nicht darüber.“
„Oh.“ Liu legte den Flügel über ihr Gesicht. „Ich hoffe, dass war jetzt kein Fehler gewesen hierherzukommen.“
Die Ältere sah sie mitleidig an. „Hat er immer noch Probleme?“
„Ich will nicht sagen, dass er vollständig geheilt ist“, antwortete Liu nach einigem Zögern, „aber es ist auch nicht schlimmer geworden.“
Yin-Yus Blick fiel wieder auf das Ei. „Wie war eigentlich die Hochzeit gewesen?“
„Nun, wir hatten keine Gäste eingeladen, wenn du das meinst.“ Sie lächelte sie an. „Ich hätte auch nicht gewusst, wen ich hätte einladen sollen.“
Yin-Yu lächelte ebenfalls. Liu war immer noch so bescheiden wie damals. Kein Wunder, war sie doch ohne Eltern und als arme Arbeiterin tätig gewesen und ein Leben in Komfort gar nicht gewohnt.
In diesem Moment vernahmen beide humpelnde Schritte auf der Treppe. Kurze Zeit später öffnete jemand die Tür.
„Xiang.“ Liu sah ihren Mann überrascht an. „Ich dachte, du wolltest unten bleiben.“
Der blaue Pfau stieß ein abfälliges Schnauben aus. „Wenn ich mich vor irgendwelchen Blicken retten möchte, dann bin ich wohl gezwungen hierhochzukommen.“
Er ließ sich auf einer Sitzbank nieder. Sein Blick ruhte besonders auf Yin-Yu, als würde er von ihr eine Rüge erwarten, was ihn veranlasste sie so streng wie möglich anzusehen.
Yin-Yu versuchte ihn anzulächeln. „Ich hab gerade gesehen, dass ihr Nachwuchs erwartet.“
„So?“ Xiang hob arrogant den Schnabel „Amüsiert dich das?
„Ich gratuliere euch“, beeilte sich Yin-Yu schnell zu sagen. Sie merkte, dass Xiang ihre Anwesenheit störte und zog es vor sich zu verabschieden. „Ich lass euch dann allein.“ Sie eilte zur Tür und nickte ihnen nochmal heiter zu. „Ich wünsche euch viel Glück.“ Sie sah Liu aufmunternd an. „Wir sehen uns dann später. Bis dann.“
Damit verschwand sie aus dem Zimmer. Xiang sah ihr übelgelaunt nach. Dann wanderte sein wütender Blick auf Liu, die entschuldigend den Kopf einzog. „Ich hatte wirklich keine Ahnung gehabt, dass sie hierherkommen würden!“, verteidigte sie sich. „Das wusste ich wirklich nicht!“
„Das möchte ich dir auch geraten haben“, fauchte der blaue Pfau. „Ich habe dich nicht geheiratet, damit du mein Leben bestimmen kannst.“
„Sowas würde ich nie tun.“ Sie ging zu ihm und hielt seinen Flügel, als würde sie um seine Gunst flehen. „Nur, sei so gut und halte das noch die nächsten paar Tage durch. Tu es für das Kind.“ Sie drückte seine Flügel fester. „Es würde mir so viel Freude machen, wenn du es ein Lächeln schenken würdest. Wenigstens nur einmal.“
Xiangs Augen verengten sich. „Vorausgesetzt es ist von mir.“
Liu erschrak. Hatte Yin-Yus Anwesenheit wieder die Zweifel in ihm hochsteigen lassen? Doch Xiang sah sie nicht an, sondern grübelte nur darüber nach, dass er es bedauerte hierhergekommen zu sein.

Gut gelaunt stand Mr. Ping in der Küche und schnibbelte das Gemüse. Er war so froh wieder in den eigenen vier Wänden stehen zu können, obwohl das Geschäft außerhalb ja nicht so schlecht gelaufen war. Er war so sehr in seiner Arbeit vertieft, dass er nicht die Gestalt bemerkte, die sich hereinschlich und im Türrahmen der Küche stehen blieb.
„Klopf, klopf!“, trällerte jemand.
Überrascht drehte Mr. Ping um. Ihm fiel das Messer aus dem Flügel, als er einen dickeren Gänserich vor sich stehen sah.
„Pong?“ Für einen Moment wusste, Mr. Ping nicht was er sagen sollte. „Was – was machst du denn hier?! Das ist ja eine Überraschung dich hier zu sehen!“
Freudig umarmte er den anderen Gänserich, der wiederum erwiderte seine Begrüßung mit einem lauten Lachen. „Na, ich muss doch auch mal wieder meinen Bruder besuchen“, gackerte er amüsiert und tippte Mr. Ping auf den Bauch. „Hast ja ein wenig abgenommen.“
Mr. Ping verzog beleidigt den Schnabel. „Und du, du hast wieder zugenommen.“
Pong lachte. „Immer noch der gute alte Ping.“
Mr. Ping lachte ebenfalls. Dann sprang er auf und rief durch das Küchenfenster nach draußen auf die Terrasse, wo nicht nur Yin-Yu und die Kinder, sondern auch die Furiosen Fünf und Wang saßen.
„Hey, Leute! Seht doch mal, seht doch mal!“, rief Mr. Ping ihnen zu und zog Pong zu ihnen nach draußen. „Das ist mein Bruder Pong!“
„Pong?“ Mantis legte verwundert den Kopf schief.
Der dicke Gänserich lachte. „Eigentlich heiße ich Bing, aber da gab es zwischen uns dann immer Verwechslungen. Die Leute hatten Schwierigkeiten uns auseinanderzuhalten vom Namen her. Dann versuchten wir es mit Bing-Bing. Aber weil mein Bruder Ping heißt, nannte man mich immer spaßeshalber Pong, und der ist dann als Spitzname geblieben. Ihr könnt mich also ruhig Pong nennen.“
„Und das macht Ihnen nichts aus?“, erkundigte sich Xia vorsichtig, da sie keinen beleidigen wollte.
„Aber nur keine Sorge“, winkte Pong ab, wobei sein Blick zu Yin-Yu wanderte, die besonders durch ihre teure Kleidung auffiel. „Und mit wem habe ich die Ehre?“
„Sei höflich“, raunte Mr. Ping seinem Bruder zu. „Sie ist eine Lady.“
„Oh, entzückt Sie zu sehen, Madame.“ Pong nahm Yin-Yus Flügel und gab ihr einen Handkuss auf den Flügel. Yin-Yu kicherte verlegen. Dann wandte sich Pong wieder seinem Bruder zu. „Wo ist denn dein Sohn? Der Drachenkrieger.“
„Oh, na ja, weißt du…“ Verlegen rieb Mr. Ping die Flügel aneinander. „Er ist im Moment nicht da, aber er wird ganz bestimmt sehr bald hier auftauchen. Ganz bestimmt.“
Er sah die fünf Freude hoffnungsvoll an, obwohl die ihm auch keine Antwort oder Garantie darauf geben konnten.
Mr. Pong hingegen zuckte die Achseln. „So, na gut. Hey! Ich muss euch unbedingt mit meiner Familie bekannt machen!“
Mr. Ping sprang auf. „Oh, du hast deine Kinder mitgebracht? Oh, was für eine Freude! Ich hab sie schon seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen!“
„Na ja, ich fand, sie müssten mal das Restaurant ihres Onkels kennenlernen. Und der Anlass für das Kung-Fu-Fest fand ich genau der richtige Zeitpunkt dafür.“
„Wen hast du denn alles mitgebracht? Alle?“
„Nur die älteren. Die Kleineren konnten nicht mitkommen.“
„Wo sind sie denn?“
„Komm raus. Ich zeig sie euch!“
Sie folgten Mr. Pong vor das Restaurant nach draußen auf die Straße, wo ein Karren stand. Alle waren schon ausgestiegen und standen in der Reihe nebeneinander. Am Anfang stand eine füllige Gans, in einem farbenfrohen Kleid.
„Das ist meine Frau Li-Li“, stellte Mr. Pong sie vor. „Das hier sind meine älteren Söhne: Peng, Teng, Weng, Feng, Zeng… und meine Tochter Liana.“
Liana unterschied sich grundlegend von ihren Brüdern. Nicht nur weil sie ein Mädchen war, sondern auch ihre Erscheinung. Sie war nicht gerade ein hässliches Entlein, trotz ihrer grau-weißen Federn wie ihre Brüder und Eltern. Im Gegenteil. Sie trug ein lavendelfarbiges Hemd, ihre längeren Federhaare waren zu einem Zopf geflochten und trug eine Pfirsichblüte an der Stirn.
Die Furiosen Fünf grüßten die Gänsefamilie herzlich.
„Ein Jammer, dass Po nicht hier ist“, bemerkte Monkey mit einem leichten Bedauern.
„Also Kinder hört mal!“, rief Mr. Pong auf und deutete auf Yin-Yu, Xia, Sheng und die kleinen Kinder. „Das ist eine royale Familie. Ich erwarte, dass ihr euch von eurer besten Seite zeigt, verstanden?“
Die Gänseriche und Liana nickten und verneigten sich sogar höflich. Auch die Pfauenvögel taten es ihnen gleich. Xia bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Sheng sich weder verneigte noch sonst irgendeine Bewegung machte. Sie sah ihn verwundert an. Doch ihr großer Bruder stand da wie eingefroren. Und seine Augen waren weit geöffnet.
„Äh, Sheng?“, erkundigte sie sich leise und versetzte ihm einen Seitenstoß. „Alles okay bei dir?“
Doch Sheng war wie betäubt. Liana bemerkte wie Sheng sie anstarrte und verneigte sich vor ihm erneut. „Es freut mich Sie kennenzulernen.“
Sheng bewegte den Schnabel, aber es kamen irgendwie keine brauchbaren Worte da raus. „Ja, ich… ich… ich… meine…“
„Er ist Kung-Fu-Vizemeister“, verkündete Zedong neben ihm stolz.
„Äh… ja, ja, ja, ja, ja, ich bin… ich bin Vize-“ Sheng geriet immer mehr ins Stottern.
Das Gänse-Mädchen kicherte, was Sheng unter seinem Gefieder zum erröten brachte.
„Ich muss los!“
Verwundert sahen alle zu wie Sheng schnell davonrannte. Mr. Pong ließ sich davon nicht stören. „Jetza!“, rief er und schlug Mr. Ping schwungvoll auf den Rücken, dass ihm fast die Luft wegblieb. „Zeig mir mal dein Restaurant von unserem Vater. Ich muss doch wissen, was du alles noch auf die Beine gestellt hast.“

Sheng verschwand hastig um die nächste Ecke. Dort lehnte er sich gegen die Hauswand und atmete tief durch. Er wusste gar nicht, was mit ihm los war. Sein Herz raste wie wild, doch er fühlte sich nicht krank. Oder vielleicht doch? Er fasste sich an die Stirn, konnte aber keine Untertemperatur feststellen. Er schien sogar erhöhte Temperatur zu haben. Nervös rieb er sich die Schläfen. Er konnte im Moment an nichts anderes denken, als an nur eine Person und stieß einen wehmütigen Seufzer aus. „Liana.“

11. Kapitel: Gefährliches Japan

11. Gefährliches Japan


Shen reckte den Hals. Am Horizont tauchte eine Küste auf. Ungeduldig behielt er das Stück Land in der Ferne im Auge bis endlich der Kapitän zu ihm eilte.
„Mein Lord, wir erreichten die Küste Japans in 5 Minuten.“
Shen zeigte kaum eine Regung, doch innerlich war er total aufgewühlt. „Und dieses Gebiet ist unbewohnt?“, erkundigte er sich nochmal mit leichtem Desinteresse in der Stimme.
Die Antilope nickte. „Wie Sie es wollten. Aber wir können dann nicht so nah ans Ufer fahren wegen der Felsen.“
Shen winkte abweisend mit dem Flügel. „Es genügt schon, wenn Sie ein paar Meter davorhalten. Den Rest bewältige ich alleine.“
Der weiße Pfau wartete noch eine Weile, bis das Schiff nahe genug an der Küste schwamm, die nur aus reiner Vegetation und großen runden Steinen bestand.
Shen band sich sein Lanzenschwert auf den Rücken fest, welches er zuvor noch in ein Tuch eingewickelt hatte. Man musste nicht sofort sehen, dass er bewaffnet war. Und eine kleine Reisetasche, die er auf seiner Schulter umhängte. Anschließend stellte er sich auf die Reling und suchte die Küste nach einem passenden Landeplatz ab. Doch noch ehe er abspringen konnte, hielt der Kapitän ihn noch zurück. „Wenn Sie aber wieder nach China wollen, dann müssen Sie in den Hafen von Koyosho einsteigen. Dort gehen wir vor Anker.“
Shen nickte. „Weiß Bescheid.“ Dann schlug er kräftig mit den Flügeln und stieß sich vom Schiff ab. Da das Deck nicht sehr hoch stand, musste er einiges an Kraft aufwenden, um nicht ins Wasser zu fallen. Pfaue konnten nicht besonders gut fliegen, allerhöchstens gleiten, wenn sie von einer großen Höhe sprangen. Doch schließlich erreichte Shen trockenen Fußes das steinige Ufer. Dort angekommen schüttelte er einmal kurz sein Gefieder und sah sich suchend um. Überall lagen große Steine herum und weiter dahinter erstreckte sich ein großes Waldgebiet. Shen stieß einen tiefen Seufzer aus. Es wäre vielleicht angenehmer gewesen in einem Hafen einzufahren, doch der weiße Pfau wollte kein Risiko eingehen. Wenn schon Yamato so aufgebracht über ihn gewesen war, vielleicht war anderen japanischen Bewohnern ebenfalls ein weißer Pfau bekannt. Und einen Aufruhr konnte er jetzt am aller wenigsten gebrauchen. Er wollte ungestört nur in das Dorf kommen, das weiter im Landesinneren lag. Er holte eine Karte heraus. Dem Plan nach müsste er etwas in den Wald hinein bis er auf einen Pfad stieß. Er packte die Karte wieder weg und ging schnurstracks durch die Sträucher.

Po, der sich immer noch am Schiff festgeklammerte, hielt sich hilflos den Mund zu. Das ganze Geschaukel über die ganzen Stunden bekam seinen Magen nicht gerade gut. Zudem konnte er sich noch nicht mal mit irgendetwas ablenken. Überall nur Wasser, Wasser, Meer, Wasser, Küste… Er riss die Augen auf, als er eine weiße Gestalt zwischen den Bäumen verschwinden sah.
„Hey, hey, hey, warte!“
Schnell stieß der Panda sich vom Schiff ab, das weiter an der Küste entlangfuhr und paddelt im Fass auf das Land zu. Nach einem guten Marathon-Schwimmen erreichte er keuchend das rettende Ufer. Beherzt packte er einen Felsen und zog sich daran aus dem Wasser. Nach einer Minute Verschnaufpause zwängte sich der schwarz-weiße Bär aus dem Fass und riss voller Freude die Arme in die Luft. „Land!“
Der Panda war so erleichtert, dass er die Steine abknutschte. Doch im nächsten Moment zwickte ihn etwas ins Gesicht. „Autsch!“
Erschrocken sprang Po auf und rieb sich seine schmerzende Nase. Ein kleiner Krebs hatte ihn in die Schnauze gezwickt. Empört über diesen „Kuss“ krabbelte das Schalentier eilig zwischen den Steinen davon, während Po immer noch damit beschäftigt war seinen Kussunfall zu verarbeiten.
„Japan tut ganz schön weh“, klagte er. Doch dann fiel ihm wieder ein, wieso er überhaupt hier war und sah sich suchend um. Wo war Shen?

Der Wald wirkte friedlich und unschuldig, doch auf Shen hatte die Ruhe der Natur keine Wirkung. Immer wieder schlug der Pfau heftig einen Farn beiseite oder schob einen störenden Ast von sich. Ab und zu hielt er inne, wenn er meinte im Sonnenstrahl, der durch das Blätterdach schien, eine weiße Gestalt zu sehen. Schließlich hielt er es nicht mehr länger aus. Er blieb stehen und atmete einmal tief durch. Dann sah er sich aufmerksam um. Auf dem Schiff hatte er die Anspannung halbwegs noch ausgehalten, doch jetzt war er völlig unruhig und nervös. Gedankenverloren ließ er seinen Blick schweifen und fragte sich, ob er gerade den Fleck von Japan überschritt, auf dem auch sein Bruder irgendwann mal gegangen war.
Japan war für Shen nicht ganz unbekannt. Er hatte viel darüber gelesen in seiner Schulzeit, oder wenn Geschäftsleute aus Japan nach Gongmen kamen und von ihrem Land berichteten.
Dennoch hatten ihn die Belange seines Vaters nie sonderlich interessiert.
Shens Flügel verkrampften sich. Er schloss für einen Moment die Augen und versuchte etwas zu fühlen. Manche Leute behaupteten Geschwister würde irgendetwas seelisch verbinden. Sie würden sogar die Gegenwart des anderen spüren können. Nach einer Weile öffnete er wieder enttäuscht die Augen. Er fühlte gar nichts. Schließlich rang Shen sich dazu durch weiterzugehen, bis er auf den erwarteten Waldpfad stieß. Er sah sich nochmal um, ob jemand unterwegs war. Als er niemanden sah, setzte er seinen Weg fort.

„Mm, ist nicht gerade ein riesiger Unterschied zu Zuhause“, murmelte Po vor sich hin und wanderte durch das Dickicht des japanischen Waldes. Er wusste zwar nicht, wo genau er hin sollte. Er konnte nur geradeaus laufen in der Hoffnung auf etwas Brauchbares zu stoßen, dass ihn wieder auf Shens Fährte führte. Er hielt abrupt an, als er einen breiten Pfad kreuzte.
„Oh Mann, endlich ein Stück Zivilisation.“ Glücklich über diese Entdeckung machte Po ein paar Schritte auf der Waldstraße. Der Panda schaute nach rechts und nach links. In welche Richtung war Shen gegangen? Ratlos kratzte Po sich am Kopf. Dabei wanderte sein Blick auf den Boden, wo er einen Vogelfußabdruck auf einem Stück feuchter Erde entdeckte. Er war noch ganz frisch und der Größe nach zu urteilen konnte es nur von einem großen Vogel stammen. Po machte einen Freudensprung. Shen war also nach links gegangen.
„Und da behauptet Shifu immer ich würde keine Spuren erkennen“, schmunzelte der Panda vor sich hin und ging nun ebenfalls die Straße nach links runter.
Doch es dauerte nicht lange und Po stand vor einem neuen Problem. Das Problem einer Weggabelung. Prüfend betrachtete Po die Schriftzeichen auf den Schildern, die in der Mitte der Abzweigung standen. Er konnte sie nur bedingt entziffern, und selbst wenn so konnte er mit den Ortsnamen nicht viel anfangen. Er wusste noch nicht einmal, wo genau er sich in Japan befand. Irgendwo Süd-West, das war klar, aber wo musste er jetzt hin, um ans Reiseziel zu kommen?
Auf einmal fing Pos Nase etwas auf. Irgendein leckerer Geruch lag in der Luft. Interessiert hob der Panda den Kopf höher und hielt die Nase in den Wind. „Mm, das riecht ja hier sehr gut.“ Der Duft kam aus der Richtung, wo die Straße nach rechts runterführte. Da ihm im Moment eh nichts Besseres einfiel, folgte er dem Geruch und bog nach rechts ab. Es dauerte nicht lange und er gelangte zu einem großen Haus, was einem kleinen Restaurant glich.
„Meine Rettung!“, jubelte Po. Er hatte schon lange nichts mehr gegessen und vielleicht war Shen sogar dort. Er stieg eine Holztreppe hoch und schob vorsichtig die Tür auf. Der Raum dahinter lag im Halbdunkeln. Das Licht schien nur bedingt durch die kleinen Fenster. Auch waren nicht viele Gäste anwesend. Nur ein paar Ziegen, ein paar Sikahirsche und ein älterer Dachs saßen im Raum verteilt an Tischen.
Pos Blick wanderte zur Theke, wo dahinter ein Honsho-Wolf mit Schürze stand und ziemlich gelangweilt dreinschaute. Als er den Panda hereinkommen sah, hob er nur kaum sichtbar die Augenbrauen. Er war Fremde wohl gewohnt.
„Konnichiwa“, murmelte er mit einem leichten Kopfnicken, was Po erst mal innehielten ließ. Konnte er sich hier überhaupt verständigen?
„Äh, ja, konnichiwa…“, grüße er zurück, wobei er nicht wusste, was er jetzt sagen sollte. Doch der Wolf verzog gleichgültig den Mund. „Der Herr kommen aus China?“
Po hob erleichtert den Kopf. „Äh, ja. Sie sprechen Chinesisch?“
„Hört man doch. Was darfs sein?“
Po trat näher an die Theke heran und besah sich die Menüliste, mit der er aber nichts anfangen konnte. „Äh, was können Sie denn empfehlen?“
Der Wolf seufzte genervt. „Okonomiyaki, Soba, Ramen, Udon mit verschiedenen Beilagen und Onigiri, kann man auch in der Tüte mitnehmen, aber das kostet extra.“
Po rieb sich ratlos das Kinn. „Äh, könnten Sie das etwas erläutern? Die Gerichte meine ich.“
Der Wirt verdrehte die Augen. Offensichtlich hatte er nicht gerade Lust auf einen Menü-Vortrag. „Okonomiyaki besteht aus gebratenem Teig mit verschiedenen Zusätzen. Wenn du es anders nennen willst, dann sag dazu eine Art zerhackter Pfannkuchen. Soba sind Nudeln aus Buchweizen, ebenfalls mit verschiedenen Beimengungen. Ramen, sind ebenfalls Nudeln in verschiedenen Ausführungen, je nachdem was du bevorzugst. Udon, sind unsere dicksten Nudeln und gibt’s mit Gemüse und Onigiri, sind Knödel aus Reis.“
Po merkte, wie sein leerer Magen heftig anfing zu knurren. „Mm, das ist sehr schwierig.“ Es klang alles köstlich. „Dann, dann, dann würde ich gerne…“
Plötzlich schlug der Wirt mahnend mit der Faust auf den Tisch. „Kannst du auch bezahlen?“
„Äh, na klar.“ Hastig wühlte Po in seiner Hosentasche und holte ein paar Münzen hervor. „Ich hab nur chinesisches Geld…“
„Nein“, lehnte der Wirt ab. „Nur japanische Währung oder Muscheln.“
Po klappte die Kinnlade runter. „Hä? Können Sie nicht wechseln?“
„Hab ich immer gemacht, bis der letzte mir Fälschungen untergejubelt hatte.“
Po stand völlig verloren vor der Theke und starrte den Wirt fassungslos an. „Heißt das, Sie wollen mir nichts geben?“
Der Wolf verschränkte die Arme. „Genau das.“
„Ach, kommen Sie schon“, bettelte Po, der den Duft von Essen jetzt gar nicht mehr ignorieren konnte. „Machen Sie doch eine Ausnahme. Ich… ich bin ja nicht nur irgendeiner. Ich bin der Drachenkrieger und gerade sogar Kung-Fu-Champion geworden.“
Der Wolf verzog gleichgültig den Mund. „Und wenn Sie der Kaiser von China wären, entweder so oder du kannst wieder gehen.“
Po legte flehend die Handflächen zusammen. „Oh, bitte, bitte, bitte, bitte!“
„Lassen Sie gut sein“, meldete sich auf einmal eine alte Frauenstimme neben ihm zu Wort. „Ich bezahle für den jungen Mann.“
Verwundert sah Po die alte Dame an. Es war ein Rotgesichtmakak oder wie andere sie nannten Schneeaffe, obwohl sie gar nicht rein weiß war. Das Fell war hellgraubraun und das Gesicht rot. Sie trug einen roten Kimono mit blauen Blumen. Aber was Po noch mehr wunderte war, dass ihr Chinesisch absolut akzentfrei war.
„Sie können sich ruhig aussuchen, was Sie wollen“, lud die alten Schneeaffendame ihn ein.
„Oh, das ist sehr nett von Ihnen“, bedankte Po sich noch völlig überrumpelt.
Die Dame lächelte. „Sie müssen doch hungrig sein, nach so einer Schiffsreise.“
Po sah sie verwundert an. „Woher wissen Sie, dass ich gerade vom Schiff komme?“
„Ihre Hose ist feucht vom Salzwasser“, klärte sie ihn auf. „Und Algen hängen zwischen den Fußzehen. Und dem Geruch nach zu urteilen… waren sie in einem Fass gereist.“
Prüfend beschnupperte Po seine Arme. Roch er wirklich so streng?
„Ich kenne mich gut mit Touristen aus“, führte sie weiter aus. „Ich war früher Fremdenführerin gewesen musst du wissen.“
„Oh, dann müssen Sie ja sehr viel wissen. Könnten Sie mir vielleicht eine Auskunft geben?“
„Wenn ich kann. Möchtest du mit mir einen Tee trinken?“
„Oh, gerne.“
„Dann komm mit.“ Sie winkte ihn zu einem niedrigen Tisch heran, wo schon Tasse und Kanne standen. Dort kniete sie sich davor auf den Boden. Dann deutete sie mit der Hand vor sich. „Nimm Platz.“
Po tat es ihr gleich und kniete sich an den Tisch gegenüber von ihr. „Danke.“
Sie bestellte eine zweite Tasse und es dauerte nicht lange und vor dem Panda dampfte eine Tasse grüner Tee.
„Mit dem Alter kann man nicht mehr viel machen“, murmelte die Affendame vor sich hin, „aber solange der Verstand noch mitmacht. Was führt dich hierher?“
Po tippte nervös mit den Fingern auf der Tischplatte. „Nun, eigentlich suche ich gerade einen… äh… Freund von mir. Er ist hier ebenfalls abgestiegen, und jetzt suche ich ihn. Weil er hier jemanden sucht und die auch ich suche.“
„Und wen genau suchst du?“
Po beugte sich zu ihr vor. „Nach einer Bande von Ninjas, die vor einigen Tagen ein Dorf überfallen haben sollten.“
Die alte Dame ließ die Tasse sinken. „Grund Gütiger, du willst sie doch nicht etwa ehrlich zu Gesicht kommen? Oder willst du dir nur das überfallene Dorf ansehen? Vom Katastrophentourismus hab ich noch nie viel gehalten.“
„Nein, nein, nein“, stritt Po ab. „Ich bin nicht als Tourist hier… es ist viel mehr eine… na ja sagen wir… Hilfsaktion… oder Suchaktion. Also, nicht in dem Sinne, es geht nicht um die Ninjas direkt, sondern um etwas anderes. Aber kennen Sie sie denn? Sind die denn schon lange im Gauner-Geschäft?“
Die alte Affendame hob die Augenbrauen. „Nun, von diesen hat man bis jetzt noch nicht viel gehört, aber wenn, dann gäbe es auch nichts Positives zu berichten.“
Po spitzte die Ohren. „Was weiß man denn über sie?“
„Nun, es existieren keine handfesten Beweise, nur Gerüchte. Man sagt, dass sie sogar nicht aus Japan, sondern aus dem Ausland stammten. Niemand weiß genau wie viele es sind, doch man sagt, sie wären gute Kämpfer. Der Legende nach sollten sie von einem Samurai aufgenommen und unterrichtet worden sein.“
Pos Augen weiteten sich. „Samurais? Wow.“
„Jedoch töteten sie den Samurai und gründeten ihren eigenen Clan“, erläuterte sie ohne mit der Wimper zu zucken. Po hingegen blieb der Mund offenstehen. „Die haben ihren eigenen Lehrer umgebracht? Ist ja sehr makaber.“
„Wie gesagt, es ist nur ein Gerücht. Als Fremdenführerin muss ich Touristen auch was Interessantes bieten. Es könnte wahr sein, oder auch erfunden. Keiner weiß genau, was in solchen geheimen Kreisen als Tatsache dargestellt werden kann. Jedenfalls machten sie sich selbstständig. Sie selber nennen sich die „Schwarzen Tiger“.“
„Sie meinten wohl Panther, oder?“
„Ob sie nun Panther oder dunkel gefärbte Tiger sind, jedenfalls nennen sie sich so und sind dafür bekannt zu stehlen. Manchmal plündern sie sogar. Vor allem haben sie es auf kostbare Wertgegenstände abgesehen. Sie sollten sogar mal ein Schatzmuseum ausgeraubt haben.“
Sie machte eine kurze Pause, was Po Gelegenheit gab eine andere Frage zu stellen.
„Und die haben auch… einen weißen Pfau?“
Die Affendame hob verwundert die Augenbrauen. „Du scheinst sehr viel zu wissen für einen, der nicht aus Japan stammt.“
Po lächelte verschmitzt. „Nun, nicht alles. Nur dass er ursprünglich aus China stammt, als Kind soll er von Zuhause weggelaufen sein.“
Der Rotgesichtmakak rieb sich übers Kinn. „Nun, den weißen Pfau hat man erst seit ein paar Jahren gesichtet. Niemand weiß, wo er vorher gewesen war. Aber…“ Sie lächelte ihn an, „ich weiß es.“
Po setzte sich kerzengerade auf. „Wirklich?!“
„Nun, nicht alles. Aber als Fremdenführerin kommt mal sehr viel herum. Als ich vor einigen Jahren, und das sind bestimmt schon 20 Jahre her, da war ich noch etwas jünger und gelenkiger. Da begegnete ich einem kleinen weißen Pfau, in der Nähe einer Siedlung. Ich fand es merkwürdig, weil mir noch nie ein weißer Pfau dieser Art begegnet war. Vielleicht rein weiße Pfaue, oder Pfaue mit weißen Flecken, aber noch nie einen mit schwarz-roten Flecken der Pfauenaugen.“
„Ja, das ist er!“, platzte es aus dem Panda heraus. „Was wissen Sie denn was über ihn?“
Doch zu seiner Verwunderung schüttelte die Affendame den Kopf. „Ich habe ihn nur ganz kurz zu Gesicht bekommen, dann war er auch schon wieder verschwunden, als hätte er Angst gesehen zu werden. Danach hab ich ihn auch nie wieder gesehen. Aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass er schon als kleines Kind hier in Japan gewesen war.“
Po ließ enttäuscht die Schultern hängen. „Ach echt? Wo war das denn gewesen?“
„In einer einsamen Wohnsiedlung. Eine ganze Strecke weiter südlicher von Japan.“
„Wirklich? Mm.“ Nachdenklich kratzte sich Po an der Lippe. Diese Information war für ihn nicht unbedingt etwas Neues, aber Dao musste wirklich schon kurz nach seiner Flucht nach Japan gelangt sein. Aber wie genau? War er aus Versehen auf ein Schiff gekommen, oder hatte man ihn sogar entführt? Er sah die alte Affendame prüfend an, doch die hatte anscheinend nicht mehr zu berichten und trank ihren Tee.
„Wie auch immer“, meinte Po nach einer Phase des Überlegens. „Genau den suche ich jedenfalls. Und wenn er wirklich gerade mit diesen Ninjas rumhängen sollte, dann werde ich ihn dann dort suchen müssen. Wissen Sie, wo man diese Banditen finden kann?“
Doch der Rotgesichtmakak schüttelte erneut den Kopf. „Das weiß keiner so genau. Würde man es wissen, so hätte die Regierung schon längst etwas dagegen unternommen. Sie kommen und verschwinden auch genauso plötzlich.“
Po rieb sich die angespannten Schultern. Demnach konnten sie nur hoffen im überfallenen Dorf mehr zu erfahren. Aber dafür musste er erst mal dorthin gelangen. Und dazu musste er erst mal Shen finden. Aber vorher musste er dringend noch etwas essen.
„Okay, jedenfalls danke für die Einladung. Gilt die noch für das Essen?“
Er deutete zwischen Teetasse und Theke und hoffte, dass die Bezahlung nicht nur für den Tee galt. Doch die alte Dame lächelte ihm aufmunternd zu. „Bestell dir ruhig was du brauchst.“
Der Panda nickte. „Danke.“ Und erhob sich.
„Du bist so ein netter Bursche“, fügte die alte Affendame hinzu. „Lass dich nur nicht von diesen Raufbolden erwischen. Es wäre schade um jemanden wie dich von der Welt zu verlieren.“
Po zwinkerte ihr zu. „Nur keine Sorge. Ich bin erster Kung-Fu-Champion geworden.“ Er wandte sich der Theke zu, doch die alte Affendame hielt ihn erneut zurück. „Und noch etwas junger Mann. Du hast dir für dein Ausflugsziel eine bedenkliche Gegend ausgesucht.“
Po sah sie verwundert an. „Wieso?“
„Diese Gegend liegt zwar sehr abgeschieden, und hier kommen meist nur Wanderer oder Waldbewohner hierher, aber es könnte auch jeder hinter einem Busch lauern, der ahnungslose Leute ausrauben will. Sei daher vorsichtig, wenn du die Wege beschreitest.“
Po dachte einen Augenblick nach, dann nickte er. Das waren ja nicht gerade schöne Touristenattraktionen hier. Und das Gespräch über die Ninjas ging ihm auch nicht mehr aus dem Kopf. Irgendwie fragte er sich, ob es überhaupt so eine gute Idee gewesen war, sich mit einer Bande kaltblütiger Räuber anzulegen. Po wusste nicht viel über Ninjas. Das meiste davon waren nur Gerüchte. Nachdenklich strich sich Po über seinen Bauch. Meister Shifu hatte ihm gesagt, er sollte auf sein Bauchgefühl hören. Po horchte in sich hinein. Was sagte ihm sein Bauchgefühl gerade?
Im nächsten Moment stellte sich Po vor die Theke und schlug kräftig mit der flachen Hand auf den Tisch. „Eine Schüssel Soba-Nudeln und eine Tüte Onigiri zum Mitnehmen bitte!“

Auf dem Pfad, der nach links von der Weggabelung wegführte, war Shen schon ein gutes Stück weit gekommen. Die Umgebung war jetzt ein wenig steiniger. Teilweise ragten große Felsen aus dem Boden hervor. Es war schon später Nachmittag und die Sonne begann sich zu neigen. Der Pfau hob den Kopf, als er das Plätschern eines Baches vernahm. Da er kein Wasser bei sich hatte, bog er vom Weg ab. Am Bach kniete er sich nieder und löschte seinen Durst. Anschließend schöpfte er Wasser und machte sich damit sein Gesicht nass.
Plötzlich hatte er das Gefühl nicht mehr alleine zu sein. Er konnte zwar niemanden sehen, aber er spürte, dass jemand herumschlich. Suchend sah er sich um. Schließlich blieb sein Blick an einem Busch hängen, zwischen deren Zweigen es merkwürdig leise Raschelte und Knackte. Shen war misstrauisch genug und packte zur Vorsicht sein Lanzenschwert aus. Ohne den Busch aus den Augen zu lassen, schlich er sich leise an. Wer immer es auch wagte sich an ihn heranzupirschen, der sollte sein blaues Wunder erleben. Es hatten schon zu viele den Fehler begangen, von ihm zu denken, dass er harmlos sei.
Shen schob die Spitze von seinem Lanzenschwert weiter vor. Gleich hatte er den Busch erreicht. Auf einmal verstummte das Geräusch. Shen spannte die Muskeln an. Sein Blick durchbohrte fast das Gestrüpp und er versuchte etwas zwischen den Blättern zu erkennen. Dann erkannte er eine sehr, sehr langsame Bewegung im Geäst. Der Pfau reckte den Hals. Es kam auf ihn zu.
Plötzlich ergriff ihn etwas von hinten. Shen stieß einen Schrei aus, doch sein Angreifer ließ ihm keine Zeit sich zur Wehr setzen zu können. Im nächsten Augenblick fühlte Shen sich von einem großen Körper gepackt, der ihn innerhalb einer Millisekunde kräftig umwickelte. Shen Blick wanderte kurzfristig zum Gebüsch, wo sich ebenfalls wieder etwas bewegte. Doch das was aus dem Gebüsch herauskam war keine Gestalt, sondern das Ende einer Schwanzspitze einer großen Schlange, während das andere Ende, oder genauer gesagt, das Ende mit dem Kopf sich daran machte, immer mehr seinen Körper um sein Opfer zu wickeln. Sofort war der Pfau bewegungsunfähig. Hilflos lag er in den Schlingen einzig seine Füße waren noch frei, doch die Riesenschlange behob diese Lücke sofort und schlang ihren Körper nur noch mehr um den großen weißen Vogel. Shen versuchte sich noch herauszuwinden, doch der Schlangenkörper umwickelte jetzt auch noch seinen Hals, dass ein Entkommen für ihn unmöglich machte.
„Lass mich los!“, schrie Shen ihn an.
Im nächsten Moment schnellte ein Schlangenkopf vor ihm und stierte ihm drohend in die Augen. „Erst Geld, dann wir können reden über deine Freilassung“, höhnte die große Schlange mit spöttisch düsterer Stimme. Ihr Akzent klang ein wenig ausländisch und auch nicht wie Japanisch, obwohl sie diese Worte auf Japanisch aussprach.
Ihre Augen waren braun-gelb gemischt, ihr Körper war hellbraun-gelb überzogen mit schwarzen fleckenartigen Mustern. Für einen kurzen Moment war Shen wie gelähmt. So einer großen Schlange war er bis jetzt noch nie begegnet und schon gar nicht in dessen Würgegriff gewesen. Mit jedem Atemzug zog der Python seine Muskeln enger. Shen fiel es schwerer Luft zu holen.
„Also, was ist jetzt mit deinem Geld?“, wiederholte die Schlange ihre Frage ungeduldig. Allerdings verstärkte sie ihren Druck kurzfristig. Shen krampfte zusammen. Nur mit Mühe bekam er einen Satz über die Schnabellippen. Japanisch konnte er extrem gut, sodass er auch auf Japanisch antwortete.
„Ich… ich habe keins bei mir!“ Er versuchte sich zu befreien, doch vergeblich.
Der Python hob verwundert die beschuppten Augenbrauen. Eigentlich wollte er den Pfau mit seinem Japanisch erst ärgern, doch als dieser auch auf Japanisch antwortete, stellte er seine nächste Frage auf Chinesisch, und das gar nicht mal schlecht. Er drehte den Pfau herum, sodass Shen auf mit dem Kopf nach unten hing. „Du behauptest allen Ernstes, du hast kein Geld?!“, fauchte der Python. „Na schön, ich kann es mir auch holen!“
Sogleich suchte seine Schwanzspitze nach der Tasche, die Shen zuvor im Gras abgelegt hatte und leerte sie aus. Doch außer ein paar einfachen Reiseutensilien befand sich wirklich nichts im Beutel. Empört warf das große Tier die Tasche wieder auf den Boden.
„Wo hast du dein Geld?!“, brüllte er den bewegungsunfähigen Pfau an.
Doch Shen blieb bei seiner Aussage. „Hab ich doch gesagt… ich hab nich…“
„Willst du mich für dumm verkaufen?!!“ Wütend warf der Python sich mit dem Pfau ins Gras und würgte den Vogel noch mehr. Shen meinte er würde gleich ersticken. Er konnte noch nicht mal seine Federmesser erreichen, um sich zu wehren. Stattdessen konnte er nur auf Erlösung hoffen.
„Hey, ist das der berühmte Sumo-Kampfstil, oder was?“, fragte eine andere Stimme von hinten.
Der Python unterbrach kurz seinen Würgevorgang und schaute verwundert auf einen Panda, der eine Papiertüte in den Pfoten hielt.
„Was bist du denn?“, fragte die Schlange unhöflich.
Shen hingegen stieg die Wut hoch. „Wie bist du wieder…?! Was hast du hier zu suchen…?! Du verdammter…!“ Weiter kam der Pfau nicht, denn im nächsten Moment wickelte der Python einen Teil seines Körpers um dessen Schnabel und Shen war jetzt sogar gezwungen fürs erste den Stummen zu spielen.
Po räusperte sich. „Ich bin der Drachenkrieger. Und seit diesem Jahr Kung-Fu-Champion. Und ich hab mich nur gefragt, warum du meinen Companion im Würgegriff hältst. Oder ist das doch so eine japanische Begrüßungsformel für Touristen?“
Die Pythonschlange fauchte den Panda böse an. „Du bist wohl schwer vom Begriff! Das ist ein Überfall!“ Auf einmal hielt der Python inne und schnupperte interessiert. Der essbare Geruch von Onigiri stieg ihm durch die Zunge in die Nase.
Geschockt musste Po mitansehen wie der Python mit seiner Schwanzspitze ihm einfach die Papiertüte aus den Pfoten riss.
„Hey!“, rief der Panda empört. „Das ist mein Essen!“
Doch im nächsten Moment öffnete der Python seinen Mund und ließ die Reisgerichte in seinen Schlund wandern. Anschließend warf er die leere Papiertüte dem Panda vor die Füße.
„Na dann hol sie dir“, höhnte der Python mit einem breiten Grinsen und schluckte die Onigiris hinunter.
Wütend stierte Po zu ihm hoch. Bei Essen-Stehlen verstand er keinen Spaß, dennoch rief er sich seine Beherrschung zurück und atmete einmal tief durch. „Hör mal zu, Kumpel. Ich weiß zwar nicht, welche Ameise dich gebissen hat, aber was erlaubst du dir einfach harmlosen Touristen ihr Geld zu stehlen? Was ist das denn für eine Art? Willst dir wohl einen Palast davon kaufen, was? Oder sogar eine Insel.“
Der Python zischte ihn an. „Du Idiot! Ich will nur von dieser verdammt kalten Insel weg!“
Po hob verwundert die Augenbrauen. „Na dann tu das doch, oder was hindert dich daran?“
Der Python beugte sich mit düsterem Blick zum Panda vor. „Und womit soll ich ein Schiff bezahlen?“
„Wieso? Wo willst du denn hin?“
„Dich interessiert es wohl eher nicht, wo ich herkomme?“
Po verdrehte genervt die Augen. „Okay, wo kommst du denn her?“
„Aus Australien“, antwortete der Python kurz und knapp. „Und ich wollte nach Afrika.“
Der Panda sah die Schlange verwundert an. „Australien? Afrika? Äh, das liegt aber ganz wo anders. Da musst du schon nach Westen und nicht nach Norden…“
Ein lautes Fauchen von dem Python ließ ihn verstummen. „Da wollte ich auch hin! Nur irgend so ein Idiot hat mir ein falsches Schiff genannt. Ich wollte Richtung Afrika reisen, stattdessen bin ich in Japan gelandet. Mein gesamtes Reisegeld ist dabei draufgegangen!“
„Oh.“ Allmählich verstand Po. „Das ist natürlich ärgerlich. Konntest du die Reise nicht reklamieren? Oder warum arbeitest du das Geld nicht ab, statt es von anderen zu stehlen? Oder vielleicht Verwandten schreiben, die dir Geld schicken könnten?“
„Meine Verwandtschaft kann mich mal!“, keifte der Python. „Und selbst wenn ich Arbeiten könnte, um von dieser verfluchten Insel wegzukommen, niemand will mir was anbieten.“
„Aber weshalb nicht?“
Der Python kam mit seinem Kopf näher an ihn heran. „Darum.“ Mit diesen Worten öffnete er seinen Mund. Po gefror kurzfristig das Blut in den Adern, als daraufhin lange Giftzähne zum Vorschein kamen. „Oh, und ich dachte, wegen der Größe…“
„Ja, ja“, spielte der Python seinen Schock herab. „Welcher große Python hat schon Giftzähne? Frag mich nicht, was für einen familiären Hintergrund das hat. Keine Ahnung, was meine Mutter an einer Giftschlange gefressen hatte.“
Po schluckte. „Okay, ich werde nicht fragen.“
Nachdenklich rieb er sich übers Kinn. Eine Giftschlange war schon für einige Leute Anlass zur Besorgnis, aber eine riesige Giftschlange, war wohl eine Spur zu hoch. Viper hatte auch mal mit solchen Vorurteilen auf Schlangen zu tun gehabt, wenn er da an den Fall mit der Kobra Fu-Xi dachte. Selbst die eigenen Dorfbewohner hatten Viper aufgrund der Angriffe der Kobra angefeindet.
„Tja, das kann ich dir nachfühlen, Kumpel…“
„Du weißt gar nichts!“, fuhr die Schlange ihm dazwischen, doch Po ließ sich diesmal davon nicht einschüchtern. „Oh, doch, meine Freundin ist auch eine Schlange. Und zusammen mit meinen anderen Freunden, sind wir das Kung-Fu starke Team.“
Mit diesen Worten holte er ein gemaltes Foto heraus, auf dem er und die Furiosen Fünf abgebildet waren. „Siehst du?“ Stolz hielt Po das Bild höher. Doch dem Python interessierte diese Aufmachung überhaupt nicht. Wütend packte er den Panda mit seiner Schwanzspitze und begann ihn nun ebenfalls um den Hals zu würgen.
„Erspar mir dein Gesülze!“, schimpfte der Python. „Wenn du schon so schlangenfreundlich bist, dann gib mir dein Geld!“
Po versuchte seinen Hals zu befreien, doch der Python ließ einfach nicht locker. „Ich hab nur chinesisches Geld“, stieß Po mühsam hervor. „Ich meine, wenn dir das reicht…“
„Wie soll ich das denn jetzt wechseln?!“, schrie der Python lauter. „Denkst du man wird mich in eine Bank lassen?!“
„Dann frage ich mich aber, ob man dich überhaupt auf ein Schiff lassen wird“, entgegnete Po unwirsch, doch dadurch machte er die Schlange nur noch wütender. Und es dauerte nicht lange und Po war ebenfalls eingewickelt.
„Hey, willst du uns jetzt beide umlegen?!“, protestieret der Panda empört.
„Du tätest gut daran deine vorlaute Klappe zu halten!“, schimpfte der Python.
Po spürte, wie der Python die Muskeln um ihn herum anspannte. „Wie wäre es denn, wenn wir dich mitnehmen?“
Der Python hielt inne. Sogar Shen sah verwundert auf, obwohl er immer noch von Kopf bis Fuß in Schlingen lag.
„Wir wollen sowieso so schnell wie möglich wieder nach China“, führte Po weiter aus, „da könnten wir dich doch mitnehmen. Wir könnten doch eine Fahrgemeinschaft bilden.“
Der Python drückte seinen Körper enger um den Panda. „Willst du mich veralbern?!“
„Ich meine es ernst“, beteuerte Po.
„Dann verrate mir doch, womit ich das bezahlen soll?“, forschte der Python böse.
„Indem du uns freilässt“, bot der Panda an. „Das wäre doch ein guter Tausch, oder etwa nicht? Wir dürfen das erledigen, was wir in Japan erledigen wollen, und dann nehmen wir dich mit aufs Festland. Ist zwar nicht Afrika, aber besser als auf einer Insel zu bleiben.“
Po erstarrte kurzfristig, als der Python mit seinen Giftzähnen gefährlich nahe an ihn heranrückte. „Und wie wollt ihr das anstellen, dass ihr dem Kapitän erlaubt, eine riesige Giftschlange auf ein Schiff mitzunehmen?“
Po deutete auf Shen. „Weil ihm das Schiff gehört. Na ja, oder zumindest teilweise. Oder na ja, Meister Ochse sagte, er würde nur beschränkten Einfluss auf Gongmens Verwaltung haben, also es steht da noch nichts fest, aber er wird den Schiffseigentümer schon dazu überreden.“
Der Python besah sich den Pfau mit prüfendem Blick. „So wichtig sieht er gar nicht aus.“
Shen schnappte bei dieser Beleidigung hörbar nach Luft, soweit ihm überhaupt noch Luft zur Verfügung stand.
„Nenn es wie du willst“, meinte Po belanglos. „Aber wir könnten es so machen, wenn du nicht für den Rest deines Lebens als Räuber neben der Straße lauern willst. Aber vorher müssen wir noch etwas erledigen.“
Der Python verengte die Augen. „Und was?“
„Wir wollen gegen eine Bande von Ninjas kämpfen. Oder zumindest was bei ihnen holen. Oder genauer gesagt jemanden…“
„Diese kampfsüchtigen Banditen von denen alle hier reden?“, fragte der Python verwundert und ließ Po los. „Du erwartest doch etwa nicht, dass ich da mitkomme?“
Po rieb sich seinen befreiten Hals. „Das hab ich auch nicht gesagt. Wir könnten uns doch im Hafen treffen.“
Der Python sah ihn misstrauisch an. „Und woher soll ich wissen, dass ihr mich nicht verschaukeln wollt?“
„Äh…“ Po wusste da im Moment auch nicht, wie er das beweisen sollte. „Also ich weiß nicht…“
Die Augen des Pythons wanderte auf das Lanzenschwert, welches Shen bei dem Überfall hat fallen lassen. Er hob es mit der Schwanzspitze auf und betrachtete es. „Mm, das hier scheint ja einiges Wert zu sein. Dann nehme ich das als Pfand mit.“
Po hob protestierend die Hand. „Äh, ich denke nicht, dass Sie das dürfen…“
Der giftige Python drückte den Pfau noch kräftiger, was Po notgedrungen dazu veranlasste nachzugeben. „Okay, okay, okay, dann eben so. Wir sehen uns doch eh später wieder, oder nicht?“
Der Python zischte. „Wenn ihr auf das Schiff kommt. Welches ist es? Und wo?“
„Das ist nicht zu übersehen. Es hat rote Segel. Und soweit ich auf der Anzeigetafel gelesen habe, wird das Schiff in Koyosho vor Anker gehen…“
„Na schön.“ Entsetzt beobachtete Po, wie der Python erneut damit begann den Pfau in seinem Griff kräftig zu drücken. Shen zappelte und rang nach Luft.
„Hey, was soll das?!“, rief Po erschrocken.
Der Python sah ihn düster an. „Nur damit dein Freund nicht auf dumme Gedanken kommt. Ich habe den Eindruck, er ist ein wenig zu angriffslustig.“
Einige Sekunden später lockerte die Riesenschlange zu Pos Erleichterung den Griff. Mit großen Augen sah Po zu, wie der Pfau halbohnmächtig aus dem Schlangenkörper zu Boden glitt. Der Python kümmerte sich nicht, um Shens erbärmlichen Zustand und kroch mit dem Lanzenschwert in der Schwanzspitze davon. „Ich erwarte euch dann im Hafen von Koyosho.“
Mit diesen Worten kroch er davon. Sprachlos starrte Po ihm nach. Doch dann fiel ihm Shen wieder ein. Besorgt beugte er sich über den Pfau, der schwer atmend im Gras lag.
„Shen? Shen? Alles in Ordnung?! Sag doch was!“
Doch der Pfau war gar nicht in der Lage auch nur einen Satz von sich zu geben. Beruhigend hob Po die Arme. „Okay, okay, okay, erst mal tief Luft holen. Normal atmen…“
Der Panda wedelte mit den Pfoten über Shens Gesicht und fächerte ihm frische Luft zu. Nach einer Weile normalisierte sich Shens Atmung wieder. Und kaum hatte er sich halbwegs wieder gefasst, wanderten seine wütenden Augen auf den Panda.
Po lächelte ihn an. „Hey, ich weiß wie du dich fühlst. Viper hatte mich auch mal im Würgegriff gehabt. Das war ein Erlebnis kann ich dir sagen, das hat auch ein Stück mein Leben verändert. Wer hätte je gedacht, dass beinlose Gesellen so eine Kraft aufwenden können… AUTSCH!“
Im nächsten Moment traf den Panda ein Fußtritt vom Pfau in die Magengrube. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb Po sich den Bauch. „Oh, ich hab doch gerade noch gegessen.“
„Du verdammter Narr!“ Zornig sprang Shen auf. „Wie konntest du ihn entkommen lassen?!“
„Wieso?“, fragte Po. „Du kannst froh sein, dass ich das auf eine diplomatische Art und Weise gelöst hatte. Sonst hätte er dich mit ziemlicher Sicherheit zu Tode gewürgt.“
„Und dafür musstest du ihn mit meinem Schwert davonkommen lassen?!“, schrie Shen ihm dazwischen.
„Shen, wir holen es uns ja wieder zurück“, versuchte Po ihn zu beruhigen.
„Du hättest es bis aufs Blut verteidigen sollen!“ Shen sah aus, als würde er dem verschwundenen Python noch nachhaltig seine ganzen Federmesser in die Wirbelsäule schleudern.
„Nun mal die Ruhe, Shen“, erhob Po mutig seine Stimme. „Spätestens in Koyosho treffen wir ihn ja wieder.“
„Und wer garantiert dir, dass dieses beinlose Kreatur es nicht an den nächsten versteigert?!“, beschwerte Shen sich weiter.
Po zuckte die Achseln. „Warum? Nur weil er eine Schlange ist, heißt das doch noch lange nicht, dass er sein Wort nicht halten wird.“
„Er hat mich überfallen!“
Po verzog den Mund. „Also, würdest du mir das versprechen, ich würde dir glauben… AH!“
Dem Panda blieb der restliche Schrei im Hals stecken, als Shen sein Federmesser vor seiner Nase hielt. „Ich würde dir raten, darum zu beten, dass ich es wiederbekomme“, fauchte Shen zornig. „Sonst werden deine Knochen in der Sonne bleichen… Und zwar auf zwei Kontinenten gleichzeitig!“
Po zog eingeschüchtert den Kopf ein. „Hast du vielleicht Hunger?“
Mit diesen Worten holte er ein Onigiri aus der Hosentasche hervor, welches er beiseitegelegt hatte. Doch Shen holte mit seinem Flügel aus und schlug es ihm aus der Pfote. Das Reisbällchen wirbelte durch die Luft und landete in einer Dreckpfütze.
Zuerst starrte der Panda mit offenem Mund auf das Malheur. Dann zog er erbost die Augenbrauen zusammen und sah Shen vorwurfsvoll an. „Schön. Fühlst du dich jetzt besser?“
Shen stieß ein lautes abfälliges Schnauben aus. „Wie kommst du eigentlich dazu zu behaupten, wir wären innerhalb kürzester Zeit wieder in China?!“
„Na ja, ich darf doch nicht so lange wegbleiben“, meinte Po. „Immerhin muss ich noch zu einem Kung-Fu-Fest.“
Der Panda wich einen Schritt von Shen weg, als dieser lauter und aggressiver zu atmen begann. Schließlich steckte Shen sein Messer wieder ein und schwang wütend seine Robe herum. „Warum verschwindest du nicht wieder zu deinem Kung-Fu-Verein?!“
Po zog die Augenbrauen zusammen. „Shen, was hast du eigentlich gegen Kung-Fu?“
Shen presste die Schnabellippen zusammen. Po meinte sogar, er würde fast weinen, doch dann drehte der Pfau seinen Kopf verbittert zur Seite. „Es geht dich gar nichts an.“
„Natürlich geht es mich was an, ich bin doch dein Freund.“
„DAS BILDEST DU DIR NUR EIN! Ihr und eurem verseuchten Gefasel von Freundschaften, könnt mir gestohlen bleiben!“ Shen riss seine Tasche vom Boden hoch und warf sie sich über die Schulter. Po sah ihn völlig verdattert an. Normalerweise verwendete Shen selten solch eine Ausdrucksweise, doch im Moment schien es dem Pfau völlig egal zu sein, was er von sich gab. Schließlich deutete Shen drohend mit einem Federzeigefinger auf den Panda. „Und ich habe längst nicht vergessen, dass ihr noch meinen Sohn mit hineingezogen habt!“
Po fühlte sich wie vor dem Kopf geschlagen. „Was habe ich denn jetzt schon wieder Falsches gesagt?“
Ein böser Blick von Shen und Po wich etwas zurück. „Okay, okay, okay… belassen wir es doch einfach dabei. Immerhin müssen wir noch deinen Bruder suchen.“
Shen stieß ein lautes Knurren aus, dass seine Kammfedern zitterten. Da war schon wieder dieses Wort „wir“.
„Kannst du mich nicht einmal in Ruhe lassen?!“, knurrte der Pfau verbissen. „Nur ein einziges Mal?! Zudem müsste ich dich einsperren lassen. Du bist als blinder Passagier ohne Bezahlung auf einem Schiff mitgereist!“
Po schaute zerknirscht zu Boden. „Tut mir leid, ich war nur neugierig gewesen…“
Dem Panda stockte der Atem, als Shen mit düsterem Blick auf ihn zuging und ihn mit seinen Augen durchbohrte. „Neugier kann sehr gefährlich werden“, raunte Shen ihn unheilvoll zu.
Po machte gerade den Mund auf, doch noch ehe er einen Laut von sich geben konnte, kam Shen ihm zuvor. „Was ist denn?! Hau doch einfach ab!“
„Wie du willst.“ Po kehrte ihm dem Rücken zu. „Dann werde ich dir eben nichts über deinen Bruder erzählen, dass mir eine alte Dame im Gasthaus gesagt hat, die Tee trinkt. Und ein Wirt der kein chinesisches Geld akzeptiert.“
Diese Verkündigung ließ den Pfau aufhorchen. „Was hat sie dir erzählt?“
Po drehte sich wieder zu ihm um. „Also darf ich mitkommen?“
„Was hat es damit zu tun?!“ Es ärgerte Shen maßlos, dass der fette Panda mehr wusste als er.
Doch Po verzog keine Miene, sondern setzte nur ein Grinsen auf. „Nur wenn ich mitkommen darf, dann erzähle ich dir, was ich weiß.“
Shen verengte bösartig die Augen. „Erpresser.“
Po zuckte die Achseln. „Sieh es doch als eine Art Bezahlung an.“
Der Drachenkrieger schaute besorgt auf Shens Flügel, die sich bedrohlich anspannten und zu Fäusten geballt waren. Seufzend ließ Po die Schultern hängen und sah Shen bittend an.
„Shen, könnten wir denn nicht zusammen weiterreisen? Nur zumindest für eine kleine Weile? Du wirst nicht mal merken, dass ich da bin.“
Das würde Shen am schwierigsten fallen. Dieser tollpatschige Panda, war doch gar nicht zu übersehen. Wütend verschränkte der weiße Pfau die Flügel und drehte dem Panda den Rücken zu. Schüchtern trat Po näher an ihn heran.
„Nur für eine ganz kleine Weile wenigstens?“, hackte Po bittend nach. „Du kennst mich doch. Ich werde sonst eh nur heimlich hinter dir her gehen. Aber wenn du mich siehst, kannst du mich ja dabei im Auge behalten.“
Shen erwiderte nichts, sondern starrte nur in den Wald. Po ließ seinen Blick kurz durch die Gegend schweifen, dann schaute er wieder auf den weißen Pfau. „Also, je länger du mit deiner Antwort wartest, desto später wird es. Es wird ja gleich schon dunkel…“
„Na schön!“, unterbrach Shen genervt seine Predigt. „Dann erlaube ich dir mitzukommen.“
Noch ehe Po einen Jubel ausrufen konnte, kreuzte Shens Flügel wieder sein Blickfeld. „Aber ich dulde keine Beschwerden! Und das Reisetempo bestimme ich, verstanden?! Wenn du nicht mithalten kannst, dann halte ich deinetwegen nicht an!“
Po schluckte. Das war deutlich. Aber eine andere Wahl hatte er eh nicht, wenn er Shen begleiten wollte. „Alles klar. Hab verstanden.“
Etwas entspannter ließ der Pfau wieder den Flügel sinken. „Also, was weißt du?“
Po zuckte die Achseln. „Och, nicht viel. Nur, dass mir eine alte Dame berichtet hat, dass dein Bruder vor über 20 Jahren in einem kleinen Ort gesichtet worden war. Danach hatte sie ihn aber nicht mehr gesehen. Dafür hab ich erfahren, dass diese Ninjas mit Vorliebe gerne kostbare Schätze plündern sollen.“
Shen hob die Augenbrauen. „Das ist alles?!“
„Ich denke, ja.“
Shen stieß ein wütendes Knurren aus. Und dafür hatte er sich überreden lassen? Gekränkt wandte der weiße Pfau sich von dem Panda ab und begab sich wieder auf den Weg, den er zuvor entlanggegangen war.
„Äh, Shen?“, fragte Po, woraufhin Shen sich genervt zu ihm umdrehte.
„Was?“
„Hast du wirklich kein Geld bei dir? Ich dachte, du hättest es in Gongmen schon gewechselt.“
Zu Pos Überraschung huschte ein Lächeln über Shens Schnabelwinkel. „Panda, denkst du wirklich, ich würde es in der Tasche mit mir herumtragen, wo es jeder entwenden kann?“
Po sah ihn verwundert an. „Wo hast du es dann?“
Shen schnaubte kurz, doch dann hob er den Zipfel von seiner Robe und deutete auf den Saum, in dem etwas eingenäht worden war. Po betrachtete den Saum genauer. Der Stoff schien an dieser Stelle etwas dicker zu sein, was man von außen nicht sehen konnte.
„Ich hab das Geld in meinem Mantel eingenäht“, verkündete Shen mit stolzer Stimme und ließ seinen Mantel wieder los. Dann schritt der Pfau mit hoch erhobenem Schnabel an den Panda vorbei. Po sah ihn für einen Moment sprachlos hinterher, dann lächelte er. „Na dann, müssen wir hoffentlich nicht verhungern.“ Dann lief er Shen nach, sichtlich darauf gespannt, was sie in den Wäldern Japans noch erwarten wird.

12. Kapitel: Tischgespräche

12. Tischgespräche


Die ersten Sterne funkelten schon am Himmel und mit der Abendstimmung lockte es vermehrt Gäste in Mr. Pings Restaurant. Es war ein lauwarmer Sommerabend, sodass man sich gemütlich auf der Terrasse niederlassen konnte. Auch Yin-Yu wollte es sich nicht nehmen lassen, mit ihren Kindern dort zu speisen. Den Rest des Tages hatten sie nur damit verbracht ihre Zimmer zu begutachten, zumal die Kinder sich darüber immer gestritten hatten, wer welches Bett beziehen durfte. Sheng war der Einzige, der sich den ganzen Tag über hat nicht blicken lassen, obwohl Meister Shifu sich nochmal nach ihm erkundigt hatte, weil er als Kung-Fu-Teilnehmer normalerweise im Palast sein sollte. Da Shifu nichts anderes einfiel, wies er die Furiosen Fünf an, sich nach ihm umzusehen.
So kam es, dass Tigress, Monkey, Viper, Crane und Mantis die Pfauenfamilie vor dem Eingang des Restaurants antraf. Doch auf ihre Frage, ob die Mutter wüsste, wo Sheng war, musste sie verneinen.
„Nein, ich hab ihn heute nicht mehr gesehen“, gab Yin-Yu zur Antwort.
„Er hat noch nicht mal sein Bett gewählt“, beschwerte sich Zedong. „Dabei hätte ich gerne mit ihm eine Kissenschlacht gemacht.“
Yin-Yus Blick wanderte zu ihrer älteren Tochter Xia, doch auch sie hatte keine Ahnung wo Sheng sich befinden könnte.
„Ich nehme an, er wird kommen, wenn er Hunger hat“, schloss Yin-Yu die Fragerei ab und schob ihre kleinen Kinder ins Restaurant rein.
Die fünf Kung-Fu-Meister sahen einander an. Dann begaben auch sie sich auf die Restaurant-Terrasse, in der Hoffnung, dass Sheng dort irgendwann auftauchen würde. Wang befand sich nicht unter den Gästen, da dieser es vorgezogen hatte früh zu Bett zu gehen.
Yin-Yu wählte einen Tisch an der Seite, den Mr. Ping sogar für sie reserviert hatte. Knappe zwei Tische weiter saßen Mr. Pongs Familie. Sie grüßten einander kurz, dann begaben sich die Pfauenvögel auf ihre Plätze.
Die Furiosen Fünf mussten einen Tisch weiter hinten nehmen, weil es schon ziemlich voll war.
„Was meint ihr, Leute?“, begann Monkey, nachdem ein jeder seinen Platz eingenommen hatte. „Findet ihr wirklich, wir hätten Po alleine gehen lassen sollen?“
Mantis vibrierte mit den Antennen. „Was hätten wir denn machen sollen? An die Leine konnten wir ihn nicht nehmen.“
„Aber wenigstens überreden“, fügte Monkey hinzu.
„Po und überreden?“ Viper schüttelte den Kopf. „Wenn er sich was in den Kopf gesetzt hat, dann kann man ihm doch schwer wieder davon abbringen. Erinnere dich nur mal daran, wie er sich heimlich in die Feuerwerkfabrik reingeschlichen hatte, obwohl wir es ihm verboten hatten.“
Crane nickte. „Viel hätte nicht gefehlt, und wir hätten ihn noch in die Luft gejagt. Obwohl Shen es dann selber getan hatte…“
„Jetzt hört schon auf!“, unterbrach Tigress das Gespräch. Sie hatte keine Lust alte Geschichten nochmal aufleben zu lassen, die ihr sowieso wieder Sorgen bereiten würden. Sie hatte immer noch ein wenig Bedenken, dass der weiße Pfau vielleicht doch noch die Beherrschung verlieren würde und es wirklich nochmal zu einer Auseinandersetzung zwischen den beiden ehemaligen Kontrahenten kommen könnte. „Sagt mir was ihr essen wollt, dann bestell ich vorne.“
Die vier Freunde gaben ihre Esswünsche durch, dann begab sich die Tigerin zur Küche. Dort stand auch schon Yin-Yu und bestellte für ihre Kinder. Als die zwei Frauen einander sahen, nickten sie sich kurz zu. Yin-Yu fühlte sich dazu gedrängt, irgendetwas zu sagen, sie wusste nur nicht was. Schließlich lächelte sie die Tigerin an. „Guten Appetit“, wünschte sie ihr und begab sich wieder zu ihrem Tisch. Etwas anderes, dass sie hoffte, dass es dem Drachenkrieger gut geht, wollte sie nicht mal erwähnen. Zwar zweifelte sie nicht daran, dass Shen sich benehmen würde, doch sie wusste, dass er sehr leicht ausrasten konnte, wenn ihm etwas nicht passte. Und es schien für Shen sehr wichtig zu sein, etwas über seinen Bruder in Erfahrung zu bringen.
Endlich war auch Tigress mit dem Bestellen an der Reihe. Sie war überrascht, als sie Mr. Pings Bruder Pong ebenfalls in der Küche stehen sah. Der dickere Gänserich winkte ihr kurz zu und während Mr. Ping die Bestellung für Tigress fertig machte, beobachtete Mr. Pong die Arbeit.
„Also Bruder“, begann er mit prüfendem Blick. „Ich finde, du schnibbelst das Gemüse zu dünn. Da muss auch mehr in die Suppe rein.“
Mr. Ping verdrehte die Augen. „Ich bereite das Essen so zu wie ich es von Vater gelernt habe.“
Pong verzog den Schnabel. „Natürlich. Wie immer.“
Mr. Ping kniff genervt die Augen zusammen. Dann reichte er Tigress die Schüsseln raus. Die Tigerin bedanke sich nochmal, dann verschwand sie wieder. Yin-Yu sah zu wie sie sich an den Tisch zu ihren Freunden begab. Dann ließ sie nachdenklich ihren Blick über die Terrasse schweifen und wünschte sich, dass Shen neben ihr sitzen würde.
Sie hielt inne als sie im nächsten Moment Liu und Xiang am Eingang stehen sah. Xiang verzog schlagartig das Gesicht und wich zurück vom Terrasseneingang als hätte er gerade Kakerlaken in der Küche entdeckt. Die Pfauenhenne beobachtete wie Liu auf ihn einredete, aber Xiang schüttelte nur energisch den Kopf.

„Aber du kannst doch nicht einfach ohne Essen ins Bett gehen“, gab Liu zu bedenken.
Doch Xiang wollte sich von ihr nicht überreden lassen, ins Restaurant zu gehen. „Dann hol mir was raus. Aber da rein gehe ich nicht!“
„Ach, komm schon“, versuchte sie ihn zu ermuntern. „Sie werden dich schon nicht zusammenschlagen.“
„Es genügt schon, wenn die mich ansehen!“
„Du musst ja nicht mit ihnen an einen Tisch sitzen.“ Sie zog erneut an seinem Flügel, doch der blaue Pfau riss sich einfach von ihr los.
„Mach doch was du willst“, murrte er und humpelte davon. „Aber ich esse draußen!“
Enttäuscht sah Liu zu wie Xiang mit der Krücke die Straße runterschlurfte. Sie fragte sich, wenn sein Bein gesund wäre, ob er dann bessere Laune hätte. Aber seit dem Unfall sind jetzt schon fast 6 Jahre vergangen. Dass er sein Bein wieder normal bewegen könnte, war praktisch unmöglich.
Nachdenklich begab sie sich ins Restaurant. Da der Tisch der Pfauenfamilie nicht allzu weit von der Küche entfernt stand, erhob Yin-Yu sich von ihrem Platz, als Liu an ihnen vorbeikam.
„Möchtest du dich zu uns setzen?“, fragte sie.
Liu sah sie überrascht an. „Oh, nachher. Ich muss Xiang erst sein Essen raustragen.“
„Isst er nicht mit uns mit?“, fragte Shenmi enttäuscht.
Liu sah das weiße Pfauenmädchen mit warmem Blick an. Es tat ihr gut, wenn noch jemand anderes außer sie sich um Xiang bemühte. Doch dann schüttelte sie den Kopf. „Nun, ich glaube nicht. Er isst gerne alleine.“ Dann wandte sie sich an Mr. Ping. „Eine Schüssel zum Mitnehmen bitte.“
Xia sagte nichts, doch sie schien erleichtert zu sein nicht mit Xiang auf derselben Terrasse essen zu müssen. Kaum hatte Liu das Essen erhalten, ging sie nach draußen. Shenmi folgte ihr mit den Augen und beobachtete wie Liu mit der Schüssel in den Flügeln die Terrasse verließ und auf die Straße verschwand. Seufzend stocherte das weiße Mädchen in ihren Nudeln herum.
„Wieso hast du ihn Onkel genannt?“
Xias Frage ließ die Kleine kurz zusammenzucken. Es war ihr nicht verborgen geblieben, dass Xia Xiang immer noch nicht leiden konnte.
Schüchtern sah sie zu ihrer älteren Schwester hoch. „Ich wollte nur was Nettes sagen“, antwortete sie leise.
Xia schnaubte, dann aß sie weiter ihr Essen.

Suchend sah Liu sich um. Schließlich fand sie Xiang nahe der Flussbrücke. Dort hatte er sich auf einer Mauer niedergelassen und starrte düster ins Leere. Langsam ging sie zu ihm rüber.
„Hier, bitte schön.“ Sie hielt ihm die Schüssel hin.
Xiang schenkte ihr nur einen kurzen Seitenblick, dann riss er ihr die Schüssel aus den Flügeln. Ohne Dank stellte er sie auf seinen Schoß ab und schien zu warten bis Liu wieder verschwunden war.
Liu war sein Verhalten bereits gewohnt und verabschiedete sich. „Guten Appetit.“
Ohne auf eine Antwort von Xiang zu warten, sie wusste, dass er ohnehin nicht antworten würde, begab sie sich zurück ins Restaurant. Dort bestellte sie für sich noch was. Doch als sie sich an den Tisch zu Yin-Yu setzen wollte, zögerte sie. Zwar sah Shenmi neugierig auf, und Yin-Yu winkte sie zu sich heran, nur Xia war die Einzige, die ihr einen säuerlichen Blick zu warf. Zedong, Fantao und Jian bildeten die Ausnahme. Sie waren zu sehr damit beschäftig sich die Nudeln wieder aus den Federn zu ziehen, die sie sich spaßeshalber zugeworfen hatten. Da brachten auch die mahnenden Worte ihrer Mutter nichts. Liu lächelte und zupfte Zedong eine Nudel heraus.
„Hey, meine!“, beschwerte sich der Pfauenjunge und nahm sie ihr wieder ab.
„Kinder sind ganz schön aufregend“, meinte die jüngere Pfauenhenne.
Yin-Yu seufzte. „Tja, jeden Tag stellen sie was anderes an.“
Liu kicherte. „Dann weiß ich ja, worauf ich mich demnächst einstellen muss.“
Xia sah überrascht auf. „Planen Sie Nachwuchs?“
Liu setzte sich. „Es ist sogar schon da. In ein paar Tagen ist es soweit.“
Xia fielen fast die Essstäbchen aus den Fingerfedern. „Sie bekommen Kinder?“
Liu sah zu Yin-Yu rüber. „Hat sie das euch noch nicht gesagt?“
Yin-Yu wiegte den Kopf. „Ich dachte, dass du es selber sagen möchtest.“
Lius Blick wanderte wieder zu Xia, die nicht gerade freundlich dreinschaute. Sie seufzte und versuchte zu lächeln. „Nun genauer gesagt, nur eins. Aber ich freu mich schon darauf.“
Doch Xia schien das nicht friedlich zu stimmen. „Halten Sie das für klug?“, fragte sie mit säuerlichem Unterton.
Liu sah sie verständnislos an. „Wie meinen?“
Xia schluckte eine böse Bemerkung herunter. Dass Xiang sie als kleines Kind heimlich verletzt und bedroht hatte, wollte sie gegenüber ihrer Mutter nicht erwähnen, weshalb sie eine indirekte Antwort gab. „Ich spreche davon, ob es klug ist, ein kleines Kind in seine Nähe zu lassen.“
„Du meinst Xiang?“ Liu rieb sich nervös die Flügel. „Nun, ich kann ja verstehen, dass du und er nicht so gut auskamen…“ Sie versuchte die passenden Worte zu finden. „Aber ich bin mir sicher, dass er das Kind diesmal freundlicher aufnehmen wird.“ Sie versuchte erneut zu lächeln, was ihr diesmal aber nicht so gut gelang wie vorhin. „Er hat in den Jahren, seit wir zusammen sind, einige Fortschritte gemacht.“
Xia verzog den Schnabel. „Muss ja ein toller Fortschritt gewesen sein“, bemerkte sie trocken und ihr Blick fiel dabei auf Shenmi. „Sogar zu ihr war er gemein gewesen.“
Shenmi schluckte erschrocken ihre Nudeln runter und wusste nicht, ob sie darauf was erwidern sollte.
Liu versuchte die Sachlage zu entschärfen. „Aber das ist doch vor zwei Jahren gewesen“, beteuerte sie. „Er ist in letzter Zeit viel ruhiger geworden. Sonst hätte er nie eingewilligt, mich zu heiraten.“
Xia drehte beleidigt den Kopf zur Seite. „Wer’s glaubt.“ Sie zuckte zusammen, als sie den Flügel ihrer Mutter auf ihrem Flügel spürte.
„Xia, das reicht jetzt“, meinte Yin-Yu mit ernstem Blick. „Lass uns besser von was anderem reden.“ Und wandte sich wieder Liu zu. „Wie steht es eigentlich in Mendong? Ist die Stadt immer noch dieselbe?“
Niemand hatte bemerkt, wie Shenmi ihren Platz verlassen hatte und zu Mr. Ping rübergegangen war. Das Mädchen war auf Lius Aussage, dass Xiang ruhiger geworden war, neugierig geworden und wollte sofort mit dem blauen Pfau ein Gespräch anfangen.
„Mr. Ping?”, rief sie über die Theke.
Verwundert schaute der Gänserich zu ihr nach draußen. „Ja bitte?“
„Darf ich die Schüssel kurz mit nach draußen nehmen?“, fragte das weiße Mädchen.
„Wenn du sie wieder zurückbringst.“
„Bestimmt.“
Schnell rannte das Mädchen wieder an ihren Platz und nahm ihre Schüssel in die Flügel. „Mama, darf ich kurz raus?“
Verwundert sah ihre Mutter sie an. „Mit der Schüssel?“
„Ich bring sie ja gleich wieder“, versicherte das Mädchen und lief eilig davon.
Xia wollte schon aufstehen, doch ihre Mutter hielt sie zurück. „Xia, bleib bitte sitzen.“ Beide ahnten zwar, was das Mädchen vorhatte, doch Yin-Yu hielt es für das Beste, Shenmi nicht daran zu hindern. Sie hatte mit Xiang zwar in ihren Ehejahren auch keine guten Erfahrungen gemacht, doch vielleicht war an Lius Aussage doch etwas Wahres dran.

Missmutig rührte Xiang in den Nudeln herum. Der Gedanke, wegen seiner Ex-Familie nicht an einem normalen Tisch sitzen zu können, ließ in ihm die Wut hochsteigen. Am liebsten wäre er sofort wieder abgereist, doch Liu konnte unmöglich mit dem Ei eine lange Strecke zurücklegen. Zudem wäre sie dann nur enttäuscht von ihm. Mit einem Seufzer ließ der blaue Pfau die Essstäbchen in den Nudeln stecken. Er gab es nur ungerne zu, doch er mochte Liu wirklich, auch wenn es anfangs für ihn ziemlich schwierig gewesen war. Er wollte eine Zeitlang nicht wahrhaben, dass er ein Mädchen seiner Art mochte. Seit seiner Kindheit hatte er das weibliche Geschlecht nur verachtet und sich geschworen, niemals ihnen das Leben zu erleichtern. Yin-Yu war zwar nie böse zu ihm gewesen, dennoch hatte er sie immer gehasst. In jeder Pfauenhenne hatte er nur seine teuflische Mutter oder seine brutale Tante gesehen. Selbst vor Liu war er immer geflüchtet, wenn sie das Zimmer betrat. Ständig glaubte er immer, er hätte alles nur geträumt und in Wahrheit würde seine Mutter hereinkommen, um ihn weiterhin zu schikanieren. Allein schon die Silhouette einer Pfauenhenne konnte ihn in Panik versetzen.
„Hi.“
Xiang schrie erschrocken auf, als die kleine Gestalt eines Pfauenmädchen neben ihm wie aus dem Nichts auftauchte. Erst als er Shenmi erkannte, beruhigte er sich wieder, wenn auch sein Herz ihm bis zum Hals schlug.
Das weiße Mädchen lächelte ihn an. „Hab ich Sie erschreckt? Entschuldige.“
Allmählich schaffte es Xiang wieder eine verärgerte Miene aufzusetzen. „Was willst du hier?!“
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
„Nein“, wies Xiang entschieden ab und drehte den Kopf von ihr weg. Wieso war dieses Gör schon wieder in seiner Nähe?
Das Pfauenmädchen sah ihn fragend an. „Wieso nicht?“
„Du nervst“, wimmelte der blaue Pfau sie ab. Er wollte, dass sie verschwand.
„Dann setze ich mich eben hierher.“ Mit diesen Worten begab sich das Mädchen mit der Schüssel ein Stück weiter weg auf die kleine Steinmauer und ließ sich dort nieder. Dann nahm sie die Essstäbchen und stopfte sich die Nudeln in den Schnabel.
Xiang versuchte sie zu ignorieren, doch das ständige Geklapper der Essstäbchen zerrte an seinen Nerven, bis sie schließlich rissen.
„Kann man denn hier nicht einmal in Ruhe essen?!“, schrie er. „Ich bin schon extra nicht ins Restaurant gegangen! Müsst ihr mich stattdessen jetzt noch bis auf die Straße verfolgen?!“
Shenmi sah ihn verwundert an. „Wieso? Ich hab nur gedacht, Sie brauchen jemanden zum Reden.“
Xiang verengte bösartig die Augen. „Ich kann mich sehr gut selber beschäftigen!“
„Oh.“ Shenmi rührte in ihren Nudeln herum. „Dann bleibe ich einfach sitzen. Sie müssen ja nicht reden. Dann sage ich auch nichts.“
Schüchtern aß sie ihre Nudeln weiter. Der blaue Pfau hatte seinen Blick wieder von ihr abgewandt und beide schwiegen. Doch in Xiang baute sich neue Wut auf. Die Gegenwart dieses Mädchens engte ihn innerlich ein. Mit jeder Minute spannten sich seine Muskeln immer mehr und mehr an, bis sogar seine Flügel anfingen zu zittern. Egal wie ruhig Shenmi auf ihrem Platz saß, er kam sich vor wie auf einer Folterbank. Vor allem ihre Ruhe machte ihn wahnsinnig. Sie hatte das beste Leben, dass man als Kind haben konnte und saß seelenruhig da, während er nur die Hölle durchlebt hatte.
Seine Fingerfedern bohrten sich in die Schüssel. Wieso gönnte das Leben diesem Gör mehr Ruhe als ihm?!
Mit einem lauten Knall stellte er die Schüssel auf die Steinmauer ab und sprang auf seinem linken gesunden Bein in einem gewaltigen Sprung auf Shenmi zu, den man ihm nie zugetraut hatte. „Verschwinde gefälligst!“
Shenmi schrie erschrocken auf, als Xiang sie so grob am Flügel packte. Doch im nächsten Moment packte ihn ein anderer Flügel und drückte ihn so feste, dass der blaue Pfau das Mädchen loslassen musste. Sheng drückte seinen Ex-Vater von Shenmi weg und zwang ihn auf den Boden. Xiang versuchte sich aufzurichten, doch dann wandte Sheng einen weiteren eisernen Griff an und fixierte ihn damit.
Wütend stierte Xiang ihn an. „Du verdammter…!“
Sheng würgte die nächsten Worte ab, indem er mahnend den Flügel hob. „Fass sie noch einmal so an“, drohte er, „und du kannst zu spüren bekommen, was ich in den ganzen Jahren dazugelernt habe.“
Xiang zitterte, doch dann gab er den Widerstand auf. Als Sheng spürte, dass er sich nicht mehr zur Wehr setzte lockerte er die Griffe. Er ließ vom blauen Pfau ab und wandte sich wieder seiner kleinen Schwester zu. Das Mädchen war immer noch etwas betäubt. Erst als ihr großer Bruder sie am Flügel nahm und ihre Schüssel aufhob, lebte sie wieder auf.
„Komm Shenmi“, wies Sheng sie an und beide gingen die Straße rauf.
Xiang starrte ihn wütend nach.
Als sie schon ein Stück weit weg waren, sah Sheng seine Schwester an. Diese sah traurig zu ihm hoch. Schließlich drückte Sheng ihr die Schüssel in die Flügel.
„Ich werde Mutter nichts sagen“, sicherte Sheng ihr zu. „Doch tu mir den Gefallen und halte etwas mehr Abstand von ihm.“
Daraufhin wusste Shenmi nichts zu sagen, nickte aber gehorsam. Obwohl sie viel mehr von sich selber enttäuscht war und sich fragte, ob sie etwas falsch gemacht hätte.

Pong runzelte die Stirn, während er immer noch in der Küche stand und seinem Bruder weiter bei der Arbeit zusah. „Du machst die Nudeln immer noch so wie Vater.“
„Natürlich“, antwortete Mr. Ping überrascht.
„Warum probierst du nicht mal was anderes aus?“
„Was anderes?“ Mr. Ping sah seinen Bruder überrascht an. „Ich hab doch schon so viel. Klöße, Nudeln- und Reisgerichte. Sogar Tofu hab ich seit ein paar Jahren auf der Speisekarte stehen. Das hatte mir Vater damals nie erlaubt.“
„Ich meinte etwas ganz anderes“, wandte Mr. Pong ein. „Eine ganz andere Geschmacksrichtung mit verschiedenen Gewürzen.“
„Wovon redest du da?“
„Na, zum Beispiel Curry. Das ist der neuste Trend in Südchina.“
Mr. Ping hob skeptisch die Augenbrauen. „Curry?“
„Ja, und das Ganze in Reis, und dann noch Bananen, oder Pfirsiche dazu.“
„Bananen? Pfirsiche? Im Reis?“
„Schmeckt fantastisch“, versicherte Mr. Pong. „Ich biete es auch in meinem Restaurant an und die Leute sind begeistert davon.“
„Also ich glaube kaum, dass das kompatibel ist“, behauptete Mr. Ping trocken. „In meine Nudeln und Reis kommt nur Gemüse rein.“
Mit diesen Worten wandte sich der Gänserich wieder den Bestellungen zu, bis sein Bruder ihn ruckartig beiseite nahm. „Ich beweise es dir“, sicherte Mr. Pong ihm zu. „Na komm ich zeig’s dir!“
Mr. Ping verzog den Schnabel. „Ich habe aber kein Corry.“
Curry“, verbesserte Mr. Pong. „Nur keine Bange. Ich hab ein paar Sachen mal mitgebracht.“
Noch ehe Mr. Ping etwas sagen konnte, war Pong auch schon nach draußen verschwunden. Und es dauerte nicht lange und er kam mit einem Stoffbeutel zurück, den er sofort auf der Arbeitsplatte ausschüttelte. Hervor kamen ein paar Behälter. Anschließend schlenderte er zu einem Regal und holte ein paar Essensachen heraus. „Okay, nehmen wir mal Reis. Und Zwiebeln. In einer Pfanne verrühren. Pfirsiche kochen…“
„Pong!“, beschwerte sich Mr. Ping. „Das ist immer noch meine Küche!“
„Aber immer noch die Küche von unserem Vater“, belehrte ihm sein Bruder.
Mürrisch sah Mr. Ping zu wie sein Bruder in wenigen Minuten das Gericht fertig hatte und in eine Schüssel gab. Der Reis war jetzt fast gelb.
„Ich bitte dich“, protestierte Mr. Ping. „Pfirsiche mit Reis und das noch mit diesem braunen Pulver drinnen. Wer soll das denn mögen?“
„Fragen wir doch mal einen der Gäste. Hey, Sie, Mister!“
Energisch winkte Mr. Pong mit dem Flügel, nachdem er Sheng am Eingang entdeckt hatte. „Kommen Sie doch mal her.“
Verwundert sah Sheng auf. „Wer? Ich?“
„Natürlich Sie! Kommen Sie mal her!“
Sheng war zwar sehr verwundert, dass man ihn sofort zur Küche bat, zuckte dann aber die Achseln. Er wies seine kleine Schwester an, schon mal zu ihrer Mutter zu gehen, dann ging er zur Theke. Auf dem Weg kam er auch an dem Tisch vorbei an dem Pongs Familie saß. Auch Liana befand sich unter ihnen. Sheng konnte nicht anderes und sah zu ihr rüber. Ihre Blicke trafen sich. Der Blick der Gans war zuerst neutral, doch der Pfau meinte, sie würde ihn insgeheim anlächeln. Schnell schaute er weg und beeilte sich an die Theke zu kommen, wo Mr. Pong ihn schon sehnsüchtig erwartete.
„Sie haben als Mitglied der hohen Gesellschaft bestimmt Sinn für gute Geschmäcke“, meinte Mr. Pong. „Hier kosten Sie mal.“
Er hielt ihm die Schüssel hin. Prüfend betrachtete der Pfau den Inhalt. „Und was ist das?“
„Nicht fragen“, wies Mr. Pong ihn an. „Einfach nur probieren.“
In der Zwischenzeit war Shenmi wieder zurück an ihrem Tisch. Ihre Mutter beobachtete sie besorgt.
„Ist etwas passiert?“, fragte sie.
Shenmi sah ruckartig zu ihr hoch. „Nein, nein, alles okay.“ Und setzte sich brav ihn.
Xia schielte kurz zu ihr rüber, stellte aber keine Fragen.
Sheng hatte unterdessen zu einem Löffel gegriffen und kostete von dem unbekannten Mahl. Er ließ es kurz im Mund zergehen, dann nickte er. „Schmeckt gut. Wie nennt man das?“
Mr. Pong wurde ein paar Zentimeter größer. „Das, Mister, ist der neue Essenstrend in Südchina. Jetzt kann ich sogar sagen, dass sogar Royals dieses Rezept empfehlen.“
„Kann ich das auch mal probieren?“, fragte ein Schwein neben Sheng.
„Ich auch!“, drängte ein Hase.
Energisch zwängten sich die Leute nach vorne. Sheng wurde ungewollt zurückgedrängt. Dabei wischte er mit seinen langen Federn über die Köpfe von ein paar Gästen.
„Oh, tut mir leid“, entschuldigte Sheng sich und drehte sich um. Doch stattdessen tunkte er versehentlich seine langen Federn in eine Suppenschüssel.
„Oh, tut mir sehr leid.“ Schnell brachte der Pfau seine Federn erneut in Sicherheit. Doch als er sich entfernten wollte, trat jemand auf seinen langen Pfauenschwanz. Sheng spürte nur einen Ruck und er wusste sofort, dass er jetzt eine Feder weniger hatte. Erschrocken wirbelte er herum und stieß gegen einen Tisch. Kurz darauf schaute er direkt in das Gesicht von Liana.
Beschämt stützte er sich auf der Tischplatte ab, wobei er unter den Federn extrem errötete.
„Oh, tut- tut mir leid“, stotterte er. „Ich bin es gar nicht gewohnt mit den langen Federn in einem engen Raum zu stehen.“
Die Gans kicherte. „Das macht doch nichts. Es ist ja nichts passiert…“
„Hallo Sheng!“ Im nächsten Moment landete Monkey neben ihm. „Der Meister hat nach dir gesucht.“
„Nach mir?“
„Du solltest im Palast sein.“
„Oh, ist er noch wach?“
Monkey kratzte sich am Kopf. „Äh, ich denke…“
„Dann haben wir vielleicht noch was zu bereden!“, fiel Sheng ihm ins Wort. „Am besten wir gehen sofort.“
Mit diesen Worten schob er den verblüfften Monkey zum Ausgang, während Sheng seiner Mutter noch zurief: „Mutter, ich bin im Palast!“ dann eilte er schnell auf die Straße. Hauptsache er war weg aus Lianas Blickfeld. Ihm war das alles immer noch total peinlich, und er konnte nur hoffen, dass sie seine Missgeschicke so schnell wie möglich wieder vergaß.

Allmählich leerte sich das Restaurant. Es bestellten sich noch ein paar Gäste mehr was von Pongs neuem Essen. Allerdings sehr zum Frust von Mr. Ping, dem die neue Küche gar nicht behagte. Auch Yin-Yu begab sich mit den Kindern zum Ausgang. Liu begleitete sie. Neben dem Eingang bemerkte sie eine leere Suppenschüssel, die Xiang einfach dort abgestellte hatte, nachdem er aufgegessen hatte. Anschließend hatte sich der Pfau auf sein Zimmer zurückgezogen.
Die beiden verheirateten Pfauenhennen verabschiedeten sich. Liu begab sich sofort zu ihrem Zimmer, wo es bereits dunkel war. Die Pfauenhenne sah zum Bett rüber, wo Xiang sich schon hingelegt hatte. Sie seufzte. Er schien immer noch von diesem Abend enttäuscht zu sein. Am liebsten hätte sie sich an ihn gekuschelt. Doch wenn Xiang üble Laune hatte, wollte er gar nichts von ihr.
Leise begab sie sich zu den Decken, in dem ihr Ei lag. Behutsam strich sie über die Eierschale. Sie konnte nur hoffen, dass sein Unmut mit der Geburt des Babys ein Ende hatte.

„Wieso schläft Sheng nicht bei uns?“ Zedong war von der Ankündigung seiner Mutter nicht begeistert, die ihrem Sohn klar machen musste, dass Sheng wahrscheinlich für die nächsten Tage im Palast übernachten würde.
„Wo bleibt denn dann der Spaß?“, beschwerte sich der Pfauenjunge weiter.
Seine Mutter legte ihre Flügel auf seine Schultern. „Junge, Sheng ist nun mal erwachsen und hat eigene Verpflichtungen, denen er nachkommen muss.“
„Wenn dafür die Kissenschlacht ausfällt, dann ist das Erwachsenenleben ziemlich öde.“
Enttäuscht verschwand der Junge in sein Zimmer, wo seine zwei Brüder schon auf den Betten herumsprangen.
„Mutter?“ Yin-Yu drehte sich zu ihrer älteren Tochter um. „Shenmi wollte noch, dass du ihr „Gute Nacht“ sagst.“
Die Pfauenhenne hob verwundert die Augenbrauen. „Aber das mache ich doch immer.“
Während Xia sich noch bettfertig machte, begab sich die Pfauenmutter ins Gästezimmer, wo Shenmi und Xia ein Bett bezogen. Das weiße Mädchen lag schon im Bett.
„Na, wie gefällt dir dein Bett?“, fragte ihre Mutter. Es war bei weitem nicht so luxuriös wie das im Palast zuhause, doch die Kinder hatten sich noch nie über Primitives beschwert. Im Gegenteil, manchmal spielten sie lieber im Matsch als mit ihren Spielsachen.
Shenmi nickte leicht. „Ganz okay.“
Nachdenklich setzte sich ihre Mutter neben sie ans Bett. „Ist etwas, Schatz?“
„Wann kommt Papa denn wieder?“, wollte Shenmi wissen.
„Das weiß ich noch nicht genau“, antwortete Yin-Yu wahrheitsgemäß. „Aber ich denke, bald.“
Vermutlich vermisste das Mädchen ihren Vater auch deswegen, weil es auch Shen war, der ihr immer „Gute Nacht“ gesagt hatte und es kam selten vor, dass er es ausfallen ließ.
Yin-Yu sah ihre Tochter an. „Möchtest du mir noch etwas sagen, Schatz?“
Shenmi schien sogar vorgehabt zu haben, etwas sagen zu wollen, doch dann schüttelte sie den Kopf. „Nein.“
Ihre Mutter hob die Augenbrauen. „Wirklich nicht?“
Das Mädchen schüttelte erneut den Kopf. „Nein, gar nichts.“
Zwar hätte sie gerne noch etwas über Xiang gefragt, doch dann befürchtete sie, dass sie erneut jemanden verärgerte und entschied sich dafür, vorerst über den Vorfall von heute Abend zu schweigen.
Yin-Yu nickte verständnisvoll und gab ihr noch einen Kuss auf die Stirn. Dann verließ sie das Zimmer. Xia wünschte ihr ebenfalls noch eine gute Nacht, bevor sie sich zu Shenmi ins Zimmer begab. Kaum war sie weg, ging Yin-Yu an ein Fenster und schaute zum Sternenbesetzten Himmel hoch. „Ach, Shen. Ich hoffe, es geht dir gut.“

Am japanischen Nachthimmel blinkten die Sterne wie in China, und dennoch meinte Shen hier wäre sogar die Atmosphäre anderes. Aber vielleicht lag es auch nur an der Gesellschaft. Genervt wanderte sein Blick nach hinten. Immer lehnte sich der Panda an einem Baum oder Felsen und massierte sich seine Füße. Schon seit Stunden marschierten sie durch die einsamen Wälder, ohne auch nur auf eine Zivilisation zu stoßen.
„Shen“, keuchte der Panda, „ich will mich ja nicht beschweren…“
„Dann tu es auch gar nicht!“, unterbrach Shen ihn mit kaltem Unterton. „Wenn du nicht mithalten kannst, dann kannst du auch wieder umkehren.“
Seufzend raffte sich der Panda zu einem neuen Fußmarsch auf. „Aber könnten wir vielleicht mal eine kleine längere Pause machen?“
Shen hob aufmüpfig den Schnabel und ging einfach weiter. Mühselig folgte ihm der Panda.
Nach ein paar Metern blieb der weiße Pfau abrupt stehen und deutete an den Wegesrand. „Hier schlagen wir unser Nachtlager auf.“
Er hatte kaum ausgesprochen, da ließ der Panda sich einfach ins Gras fallen.
Wenig später brannte ein Lagerfeuer. Po hatte sich einen Schlafplatz aus Zweigen zusammengebettet, während Shen sich mit einer mitgebrachten Decke zudeckte. Als dann endlich Ruhe zwischen den beiden eingekehrt war, konnte Po sich eine Frage nicht verkneifen.
„Shen?“, fragte er leise. „Hattest du dir eigentlich schon immer einen Bruder gewünscht?“
Shen schwieg, weshalb Po weiterredete. „Also ich würde mich freuen, wenn ich erfahren würde, dass ich Geschwister hätte.“ Als abermals eine Antwort von Shen ausblieb, schielte Po neugierig zu ihm rüber. „Du nicht?“
Shen drehte sich einfach auf die Seite und kehrte dem Panda den Rücken zu.
Ernüchtert legte Po sich wieder hin. „Oh, okay. Ja, war ein langer Tag gewesen. – Na dann, gute Nacht.“
Es dauerte nicht lange und Po war im Tiefschlaf. Nur Shen schlief nicht. Ständig kreisten ihm die Gedanken um seinen Kopf herum. Vor allem beschäftige ihn eine Frage: Was machte sein Bruder gerade?