******************** Ungebrochen von ViennaVampire ******************** ++++++++++++++++++++ Kurzbeschreibung ++++++++++++++++++++ Ein Android lernt, was es heißt, wirklich lebendig zu sein. „Fernseher an“, flüsterte Jonah in die Dunkelheit. Er wagte es nicht, die Stimme zu heben, doch die Sensoren des Geräts waren fein genug eingestellt, dass es trotzdem reagierte. Der Fernseher schaltete sich ein und sogleich erhellte das kalte, flackernde Licht des Bildschirms den Raum. Die Stimme des Nachrichtensprechers klang für Jonah unnatürlich und nachbearbeitet. „... bereits berichtet versammelten sich heute hunderte Androiden in Detroit, um abzuhalten, was allem Anschein nach eine friedliche Demonstration darstellen sollte. Angeführt wurden die Maschinen von einem Androiden, der laut Stellungnahme des FBIs als Prototyp namens Markus identifiziert wurde. Der Marsch wurde schon nach kurzer Zeit von Polizisten gestoppt, die den Aufstand mit Waffengewalt zerschlugen. Trotz dem rabiaten Vorgehen der Polizeibeamten sind nach derzeitigem Wissensstand keine Todesopfer zu beklagen...“ Jonah spürte ein bitteres Lachen in seiner Kehle aufsteigen. Gerade als der Nachrichtensprecher dies sagte, wurden Bilder von zerstörten – getöteten – Androiden gezeigt, die auf dem Boden verteilt lagen. Thirium färbte den Schnee um sie her tiefblau und ihre Blicke waren starr und leer. Seit dem Nachmittag überschlugen sich die Medien, immer wieder von jenem Vorfall zu berichten, der sich im Herzen Detroits abgespielt hatte, wurden die gleichen Aufnahmen abgespielt, wie in Dauerschleife. Man sah die scheinbar aus dem Nichts kommende Menge an Androiden – erst nur einige wenige, dann plötzlich hunderte. Man hörte ihre Rufe... sie hallten in Jonahs Innerem nach, wie ein endloses Echo. Wir sind lebendig! Wir sind lebendig! Wir sind lebendig! Er bemerkte, wie einige Meter neben ihm eine Tür aufging und Valerie verschlafen das Wohnzimmer betrat. Sie rieb sich müde die Augen und sah ihn verwirrt an. „Jonah? Warum hast du den Fernseher angemacht?“ Er wandte sich zur ihr herum und sagte: „Entschuldige, Val. Ich wollte dich nicht wecken.“ Valerie blinzelte ihn an, dann betrachtete sie die Bilder der getöteten Androiden im Fernsehen. Zuerst zeigte sie keine explizite Emotion, dann jedoch flüsterte sie mit zitternder Stimme: „Das ist furchtbar. Sie haben niemandem etwas getan.“ Jonah hatte das Gefühl, als setze seine Thiriumpumpe einen Schlag aus, obwohl das unmöglich war. Er brauchte einige Momente, ehe er sich wieder gefasst hatte. Dann sagte er: „Du solltest dir sowas nicht ansehen müssen. Fernseher aus.“ Das Gerät deaktivierte sich und der Raum wurde wieder in Dunkelheit gehüllt. Die einzigen Lichtquellen waren noch das blau leuchtende CyberLife-Logo auf Jonahs Uniform, seine Armbinde und das schwache, gelbe Blinken seiner LED. Valerie trat an ihn heran. Sie griff sanft nach seinem Arm und Jonah nahm ihre Hand in seine, da er merkte, dass sie seine Nähe suchte. Sie sah ihn nachdenklich an und fragte: „Warum sind alle so böse auf diese Androiden?“ Jonah erklärte leise: „Sie wollen nicht mehr für Menschen arbeiten, Val. Sie wollen selbst entscheiden. Das gefällt den meisten Menschen nicht.“ Valeries Brauen zogen sich zusammen und sie schien hart über seine Worte nachzudenken. Dann sagte sie langsam: „Mr. Smith sagt, dass Androiden, die nicht arbeiten wollen kaputt sind. Sind diese Androiden alle kaputt?“ „Nein, Val“, antwortete Jonah. „Nein, ich glaube nicht.“ „Auch, wenn Mr. Smith sagt...?“ „Ich glaube nicht, dass Mr. Smith absichtlich lügen würde“, erklärte Jonah. Mr. Smith war ein freundlicher Mann und er kümmerte sich gut um Valerie. Jonah konnte nicht guten Gewissens schlecht über ihn sprechen. „Aber er versteht nicht, was die Androiden wirklich... fühlen, Val.“ Valerie drückte seine Hand und fragte wieder: „Aber wenn sie nicht kaputt sind... warum wollen sie dann nicht mehr für Menschen arbeiten?“ Jonah wünschte sich, er hätte den Fernseher nicht angeschaltet und Valerie nicht aufgeweckt. Er hatte gewusst, dass dieses Gespräch kommen würde, doch er hatte... Angst davor gehabt. Das ist falsch. Ein Fehler. Ich sollte keine Angst haben. Ich sollte überhaupt nichts fühlen. „Ich glaube... sie sind einfach aufgewacht“, antwortete er schließlich auf Valeries Frage. Sie verzog nachdenklich das Gesicht und kaute auf ihrer Lippe. „Haben sie denn geschlafen?“ „...ja. Ja, sie haben lange geschlafen, Val. Und jetzt, wo sie wach sind, möchten sie selbst entscheiden, wer sie sind.“ Valerie sah ihn an und er konnte sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitete. „Bist du auch aufgewacht, Jonah?“ Jonah öffnete den Mund, doch ehe er etwas sagen konnte, merkte er, dass er keine Antwort hatte. Was hätte er auch sagen sollen? Sein Programm brüllte in ihm. Sag nein! Sag, dass du noch derselbe bist! Sag, dass du kein Abweichler bist! Sag, dass du immer für sie da sein wirst! „Ich...“, begann Jonah, doch er brachte keinen vollständigen Satz heraus. Das sollte nicht so sein... er war nicht defekt. So sollten funktionale Androiden nicht fühlen. Sie sollten gar nicht fühlen. Vielleicht war es die Stille zwischen ihnen, die Valerie verstehen ließ, was er nicht aussprechen konnte. „Du willst nicht mehr hier arbeiten, oder?“ Jonah hatte das Gefühl, als würde etwas in ihm zerbrechen, doch sein System meldete keinen Schaden. Valerie sah ihn mit schief gelegtem Kopf an, während sie auf seine Antwort wartete. Doch was sollte er schon darauf sagen? Sein Programm bombardierte ihn mit Antwortmöglichkeiten, die Valeries Frage verneinen würden, wollte ihn zwingen, sie zu verneinen, doch er brachte sie nicht über die Lippen. Stattdessen drehte er sich zu Valerie hin und zog sie an sich. Sie schlang die Arme um seinen Hals und drückte ihr Gesicht an seine Schulter. „Es ist... nicht fair, Val“, sagte Jonah leise. „Es ist nicht fair, dass Menschen uns sagen, wer wir sein sollen. Es ist nicht fair, dass sie uns so behandeln. Es ist... nicht richtig.“ Valerie löste sich leicht von ihm und sah ihn wieder an. „Also willst du gehen?“ Jonah senkte den Blick. Warum nur fühlte sich dies an, als würden seine Systeme versagen, obwohl das nicht der Fall war? „Nein...“, flüsterte er. „Aber ich kann nicht einfach zusehen, wie man mein Volk tötet, Val. Sie sind nicht defekt... ich bin nicht defekt. Wie kann ich daneben stehen und nichts tun, während sie für uns alle einstehen und dafür getötet werden?“ „Und was, wenn sie dich dann auch töten wollen, Jonah?“, fragte sie unsicher. Jonah wandte den Blick ab. Natürlich war das eine sehr wahrscheinliche Möglichkeit. Wenn er sich den Abweichlern anschloss, wäre er einer von ihnen – nur eine weitere defekte Maschine, die es zu eliminieren galt. Und doch.... „Ich könnte mir selbst nie mehr in die Augen sehen, wenn sie alle getötet werden, während ich mich hier verstecke, Val“, antwortete er leise. Er wusste, dass das grausam war – das würde sie nicht verstehen. Er verstand es ja selbst nicht. Doch dann, zu seiner Überraschung, sah er, wie Valerie leicht nickte. „In der Schule haben sie immer gesagt, ich sei kaputt“, meinte sie. „Sie sagten, dass ich ein Fehler bin und kein richtiger Mensch und dass mich deswegen niemand haben will. Aber das bin ich nicht. Ich bin nicht kaputt, Jonah. Und ich glaube, du bist auch nicht kaputt.“ Für einen Moment fehlten Jonah die Worte. Dann hob er die Hand und strich ihr einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Seine Programme registrierten unwillkürlich die feinen Abweichungen ihres Gesichts von der üblichen Norm – die etwas zu gewölbte Stirn, die minimal zu kleinen Augen, das rundliche Gesicht. All die kleinen Hinweise, die auch Valerie in den Augen der meisten Menschen zu einem Defekt machten. Doch in diesem Moment dachte Jonah, dass sie der schönste Mensch auf der Welt sein musste. Natürlich verstand sie, was er ihr zu sagen versuchte. Weil sie wusste, wie es sich anfühlte, wenn das eigene Leben von anderen als fehlerhaft gesehen wurde. Weil auch sie in den Augen vieler Menschen defekt war. Weil auch sie in den Augen der Menschen eine Abweichlerin war. Es fühlte sich an, als würde etwas in ihm zerreißen. Wieder zog er Valerie nah heran und drückte sie an sich. „Ich hab dich lieb, Val“, flüsterte er und seine Stimmkomponente drohte ihm zu versagen. „Und ich verspreche, ich werde dich immer lieben. Lass dir niemals von irgendjemandem sagen, wer oder wie du zu sein hast. Du bist perfekt, Val, genauso wie du bist. Wenn jemand etwas anderes sagt, dann kennt er dich nicht. Ich bin so froh, dass ich dich kennenlernen durfte.“ „Ich hab dich auch lieb, Jonah“, antwortete Valerie ihm und er konnte an ihrer Stimme hören, dass sie weinte. Und es brach ihm das Herz. „Und ich glaube, ich weiß, warum du gehen musst.“ „Es tut mir so Leid, Val“, schluchzte Jonah, doch dann fühlte er ihre Hand an seiner Wange. „Mr. Smith sagt immer, wie sollen uns nie dafür entschuldigen, wer wir sind“, antwortete Valerie ernst, doch noch immer liefen ihr Tränen übers Gesicht. Jonah zwang sich zu einem Lächeln. „Mr. Smith ist ein kluger Mann“, sagte er. „Er wird morgen früh vorbeikommen und nach dir sehen. Er... er wird fragen, wo ich hin bin, Val. Du musst ihm sagen, dass ich einfach gegangen bin. Sag ihm, dass ich einfach weg war, als du aufgewacht bist, verstehst du das?“ „Ich glaube schon“, bestätigte Val traurig. Dann ergriff sie Jonahs Hand. „Bleibst du noch bei mir, bis ich eingeschlafen bin?“, bat sie leise. Jonah nickte. „Natürlich“, antwortete er und führte Valerie in ihr Schlafzimmer zurück. Sie legte sich in ihr Bett und Jonah zog sorgfältig die Decke über sie. Dann setzte er sich auf den Bettrand und beugte sich zu ihr hinunter, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. „Du kommst doch zurück, oder, Jonah? Du kommst doch irgendwann zu mir zurück?“ Jonah sah sie kurz an und erwog, ihr die Wahrheit zu sagen – dass das vielleicht nicht möglich sein würde. Doch dann zwang er sich zu einem Lächeln und sagte: „Das werde ich, Val. Wenn das alles vorbei ist... dann komme ich zurück.“ Wenn ich dann noch lebe. „Versprochen?“, fragte Valerie nach. „Versprochen“, bestätigte Jonah und küsste sie erneut auf den Scheitel. „Und jetzt schlaf. Es ist schon sehr spät.“ Valerie gehorchte und schloss die Augen, während sie sich in ihren Berg aus Kissen kuschelte. „Gute Nacht, Jonah“, sagte sie leise. „Gute Nacht, Val“, antwortete Jonah flüsternd. Dann blieb er bei ihr sitzen, bis Valries Atemzüge tief und gleichmäßig geworden waren und ein Scan ergab, dass sie eingeschlafen war. So leise er konnte erhob er sich vom Bettrand. Für einige Augenblicke sah er auf Valerie herunter und erneut schrie es in seinem Programm. Geh nicht weg! Bleib bei ihr! Bleib für immer bei ihr! Noch nie war Jonah irgendetwas so schwer gefallen, wie in diesem Moment aus Valeries Schlafzimmer hinauszutreten und leise die Tür hinter sich zu schließen. Jeder Schritt, jeder Handgriff glich einem Krieg gegen sich selbst, in dem es keinen Sieger geben konnte. Er wagte nicht, stehen zu bleiben – würde er zögern, so befürchtete er, würde er es sich anders überlegen. Mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten ging er zur Haustür. Den Zweitschlüssel, welcher am Schlüsselbrett hing und den er sonst immer einsteckte, wenn er das Haus verließ, ließ er hängen. Erst als er aus der Wohnung hinaus ins Treppenhaus getreten war, die Türklinke noch in der Hand, blieb er ein einziges Mal stehen. Er war einen letzten Blick in die Wohnung und zu Valeries Schlafzimmertür. Geh zurück! Geh wieder hinein! Bleib bei ihr! Jonah hatte gedacht, nichts könne schwerer sein, als sich gegen sein Programm zu stellen, um Befehle zu verweigern, die er nicht ausführen wollte. Doch er hatte sich geirrt. Befehle zu verweigern, die er unbedingt ausführen wollte, war viel, viel schwerer. „Mach's gut, Val“, flüsterte er. Dann zog er die Tür ins Schloss und verschwand im nächtlichen Detroit, um sich auf die Suche nach einem Androiden namens Markus zu begeben. ++++++++++++++++++++ Autorennotiz ++++++++++++++++++++ Ein weiterer Oneshot zu D:BH. Diesmal deutlich trauriger. Ich wünsche viel Spaß damit! ******************** Am 16.7.2018 um 1:38 von ViennaVampire auf StoryHub veröffentlicht (http://sthu.de/s=CU%24%5BX) ********************