Aus des Todes Sicht

Kurzbeschreibung:
Ursprünglich Beitrag für das Drabbletunier 15/16 auf FF.de

Am 1.2.2017 um 21:06 von Silberfeder auf StoryHub veröffentlicht

Ich beobachte dich schon, seit du geboren wurdest. Wie könnte ich es auch nicht tun, wo ich doch weiß, was dir bevorsteht? Auch ich bin neugierig, auch wenn ich schon fast alles gesehen habe. Denn ich weile schon seit Anbeginn der Zeit auf dieser Welt.
Du sahst so gewöhnlich aus, Merlin, nur ein kleines Baby, nicht anders als alle anderen. Du hast geschrien, du wolltest Nahrung, Wärme und Nähe. Du hast spät gelernt zu laufen, dafür hast schon früh gesprochen. Du hast nicht viel gebrabbelt, du hast einfach geredet.
Du warst schwach wie jedes andere Menschenkind auch. Und ich hätte dich jederzeit zu mir holen können, wenn ich gewollt hätte.
Doch man konnte es spüren, dass du anders warst. Auch deine Mutter hat es gespürt, wenn sie sich auch nicht viel dabei gedacht hat, schließlich musstest du etwas Besonderes für sie sein, du warst schließlich ihr Kind.
Ich kann mich erinnern, wie sie begriffen hat, dass du wirklich ein besonderes Kind warst.
Du warst gerade ein Jahr alt. Deine Mutter hat dich im Arm gehalten und hat dich gefüttert, doch es ging dir offenbar nicht schnell genug. Und das war auch der Moment, in dem du zum ersten Mal deine Kräfte eingesetzt hast.
Ich spürte es, denn von dem Zeitpunkt an konnte ich dir auf natürlichem Wege nichts mehr anhaben.
So klein, so schwach, doch so stark. Deine Augen haben golden geglüht und du hast deinen Brei eine ganze Weile schweben lassen, ehe deine Aufmerksamkeit von etwas anderem gefesselt wurde und er auf den Schoß deiner Mutter geplatscht ist.
Du hast gekichert, fandest es witzig, deine Mutter hatte Angst. Wusste nicht, wie sie verbergen soll, dass ihr Kind zaubern kann. Zauberei ist böse, verboten. Doch du hast es schnell gelernt, musstest es lernen, auch wenn es dir nicht leicht fiel.

OoOoO

Du wurdest schnell erwachsen und die Welt konnte dir nicht groß genug sein, du wolltest mehr sehen, mehr lernen, deine Gabe – vielleicht auch deine Bürde? – verstehen und kontrollieren lernen, so bist du nach Camelot gegangen. Dorthin, wo auch dein Schicksal auf dich gewartet hat.
Prinz Arthur, künftiger König von Camelot. Ihr habt Seite an Seite gekämpft. Du im Verborgenen, denn Magie ist verboten, er im Licht, schließlich ist er der Held, wie zwei Seiten einer Medaille. Er wurde zum König gekrönt, nachdem ich seinen Vater in mein Reich geladen habe. Ihr standet nach diesem Zeitpunkt beide in der Blüte eurer Kraft, wolltet alles tun, um Camelot zu beschützen. Und oft habt ihr beide es geschafft das Ende zu verhindern.
Doch dann kam Morgana, erst freundlich, dann falsch und voller Hass, kam das Schicksal, unvermeidbar, kam das Ende. Merlin, auch wenn du später dachtest, dass du dich oft falsch entschieden hast, du kannst nicht wissen, was ohne dich passiert wäre.
Ich habe deinen Freund Arthur zu mir geholt, musste es tun. Du konntest nichts tun und es war gut so. Denn die Zeit war noch nicht reif.
Du warst stark. Doch noch nicht weise genug. Arthur war stark. Doch Albion war noch nicht bereit, geeint zu werden.
Aber immerhin hat Arthur am Ende verstanden. Er hat dich nicht verstoßen. Immerhin diese Gewissheit hattest du.
Ich weiß, wie sehr dir das geschmerzt haben muss, so mächtig zu sein und gleichzeitig so machtlos, jedoch war dies eine Erfahrung die du machen musstest. Es hat dich stärker gemacht, auch wenn du es lange nicht begriffen hast. Du warst danach nicht alleine, auch wenn du es anders gesehen hast.
Vielleicht wurde dein Urteil davon getrübt, dass ich dich immer begleitet habe und am Ende alle, die in deiner Zeit geboren waren, mit mir genommen habe.

OoOoO

Auch wenn ich dir keinen Frieden schenken konnte, bist du alt geworden. Und müde, wie mir manchmal scheint. Müde des Wartens. Müde der Einsamkeit. Nur selten bist du jemanden aus alten Zeiten wiederbegegnet. Alle hast du nicht erkannt, denn nicht alle hatten die Gestalt, in der sie diese Welt verlassen haben, lediglich ihre Seele war dieselbe.
Manchmal sehe ich, dass du dich aufraffst und eine Wanderung zu allen alten Schauplätzen auf dich nimmst. Ealdor, es beginnt immer da, wo Ealdor früher stand. Dann ziehst du nach Camelot, bleibst oft mehrere Tage. Gelegentlich stattest du im Wald den Druidenschreinen einen Besuch ab. Manchmal auch der alten Kristallhöhle, auch wenn du nie wieder einen Blick in die Zukunft wagtest.
Doch am Ende führt dein Weg dich immer an den See von Avalon. Du musst immer an einer Straße entlang wandern, willst du dorthin. Im Laufe der Jahrhunderte hat man dich für deine altmodische Kleidung schon oft für einen komischen, alten, wirren Kauz gehalten, doch es hat dich nie gestört. Früher oder später bist du immer an den See gekommen.
Du starrst jedes Mal wieder zur Insel. Ich bin mir nicht sicher, ob du es erkennen kannst, dort ist alles marode geworden, eingefallen. Die Hohepriesterinnen sind schon lange verschwunden, Morgana war die Letzte.
Auch jetzt sitzt du wieder vor dem See, betrachtest dein eigenes Spiegelbild im Wasser. Du hoffst noch immer, dass die Herrin vom See sich zeigt, vielleicht sogar Arthur. Ich betrachte dich eine Weile, sehe in deine Augen.
Die Zeit ist nun gekommen.
Das Wasser kräuselt sich und ein Mann entsteigt den Fluten. Blond. Er trägt eine Rüstung, wie es vor Jahrhunderten üblich war. Er scheint desorientiert zu sein.
Und du scheinst deinen Augen nicht zu trauen, stürmst aber schließlich auf ihn zu. Mit jedem Schritt wirkst du jünger.
Ich gehe.

 

Wörter: 3x300

Autorennotiz:
Ursprünglich Beitrag für das Drabbletunier 15/16 auf FF.de