Im Nachhinein

Kurzbeschreibung:

Am 23.4.2019 um 21:18 von SuYeon auf StoryHub veröffentlicht

Im Nachhinein betrachtet war seine Beziehung zu Judar schon immer ein wenig seltsam gewesen.
Als er noch ein kleiner Junge war, war er an dem seltsam aussehenden Jungen, der es wagte ihm die Aufmerksamkeit seiner Mutter zu stehen, interessiert.
Er war irgendwie eifersüchtig. Er wollte seine Mutter mit niemanden, außer seinen Brüdern und seiner Schwester, teilen. Was war an dem anderen Jungen so besonders oder interessant, das seine Mutter ihm so viel Beachtung schenkte? Eine rhetorische Frage, denn er musst auch gestehen, dass er selbst an Judar interessiert war.

Judar faszinierte ihn. Die Art und Weise wie der Junge aussah, mit anderen interagierte und sprach. Außerdem schien es als könne Judar eine Fähigkeit, die man Magie nannte, nutzen. All dies unterschied den Jungen mit den stechend roten Augen, die an sich auch schon ungewöhnlich und daher auch auffällig waren, von den anderen Bewohnern des Palastes. Als Kind hatte Hakuryuu sich gefragt, ob das Erscheinungsbild Judars vielleicht normal im Volk war. Hakuryuu hatte den Palast als Kind nie verlassen. Es war wegen des andauernden Kriegs zwischen den Reichen Go, Gai und Kou zu gefährlich für ihn in die Stadt zu gehen. Im Palast war es angeblich am Sichersten.

Heutzutage war Magie für ihn normal, aber damals als er noch ein Kind gewesen war, war es etwas Mysteriöses, Unbekanntes. Es war beängstigend, interessant, lustig und schön! Jetzt aber war es einfach nur da. Nichts Besonderes mehr, aber immer noch beängstigend, interessant, lustig und schön.

Judar war in der Lage Magie zu nutzen - immerhin war er ein Magier - und er liebte es, dies auch zu zeigen.
Wie oft hatten die Diener sich schon um kaputte Türen, Vasen und andere Dinge kümmern müssen?
Wie oft hatte Judar schon den Garten – die Büsche, die Blumen, das Gras und selbst Bäume, aber er niemals Pfirsichbäume – oder andere Plätze im Palast – wie die Bücherei oder andere „langweilige“ Orte – in Brand gesetzt?
Wie oft war jemand durch Judars Magi verletzt worden und wie oft hatte Gyokuen ihn deswegen geschimpft?
Judar hatte es nie interessiert.
Hakuryuu auch nicht.

Im Nachhinein betrachtet war es immer Judar gewesen, der versucht hatte, eine Beziehung zwischen ihnen aufzubauen.
Hakuryuu selbst war immer zu schüchtern gewesen, um ein Gespräch mit Fremden zu beginnen. Er hatte immer zu viel Angst vor anderen, sodass es fast unmöglich für ihn war eine Freundschaft aufzubauen. Der Palast war riesig und viele Leute lebten und arbeiteten dort, aber dennoch waren kaum Kinder da, insbesondere Kinder in seinem Alter. Daher klebte er förmlich an seiner Schwester, seiner Mutter und wenn seine Brüder da waren an ihnen. Auch nicht unbedingt die beste Voraussetzung, um Freunde zu finden.

Judar war anders. Er kam immer zu ihm und fing ein Gespräch über verschiedene Dinge an. Er beschwerte sich über seine Lehrer und das harte Training, aber er gab auch mit seinen magischen Fähigkeiten und Wissen an. Hakuryuu war damals davon beeindruckt.
Auch war es immer Judar gewesen, der Hakuryuu zum Spielen eingeladen hatte. Hakuryuu hatte es gemocht, mit dem jungen Priester zu spielen.
Die Spiele waren laut, grob, wild und lustig.
Sie wurden oft geschimpft, aber sie beide interessiert das herzlich wenig.
Warum sollten sie auch?
Sie hatten Spaß und es war nichts falsch daran Spaß zu haben – das hatte er damals zumindest gedacht. Dass es eben nicht mehr spaßig war, sobald Schaden, in welcher Form auch immer, entstand, hatte er erst mit der Zeit gelernt.
Schlussendlich war die Zeit, die sie zusammen gespielt oder einfach miteinander geredet haben, selten und meistens auch kurz.
Judar musste viele Zauberformeln lernen und besuchte viele verschiedene Länder. Wenn er von seinen Reisen zurückkam, erzählte er Hakuryuu von all jenen Orten, die er gesehen hatte.

Nach dem Brandvorfall wurde Hakuryuu von den Menschen um sich herum isoliert - war nur noch der vierte Prinz, ein Schwächling und mit keiner nennenswerten Zukunft, warum sollte man sich also noch um ihn bemühen -, aber auch er selbst distanzierte sich von ihnen. Er konnte niemanden mehr vertrauen! Jeder war ein potentieller Feind, ein Verbündeter Al Thamens! Er hatte seiner Familie, seiner Mutter vertraut. Sie hatte ihn verraten. Hatte seine Brüder und seinen Vater - ihre eigenen Söhne und ihren Ehemann - ermordet. Er hatte den Soldaten vertraut, aber sie waren es, die ihn und seine Brüder in den Flammen gemeinsam mit Magiern der Organisation angegriffen hatten. Er hatte vertraut und wurde verraten.

Er distanzierte sich auch von Judar – der ihn als einziger ganz normal behandelte, nachdem er seine Position als dritter Prinz verloren hatte –, da er ein Teil der Organisation war.
Judar kam trotzdem weiterhin zu ihm, um zu spielen – was aber immer abgelehnt wurde –, zu reden oder seine neuen Fähigkeiten zu demonstrieren. Nachdem Koutoku zum Kaiser gekrönt worden war, wurde Judar wichtiger und hatte somit auch weniger Zeit für Hakuryuu, was jenen aber herzlich egal war. Immerhin wollte er ja keinen Kontakt mehr zu dem anderen Jungen.
Was Judar zu tun hatte, war Hakuryuu unbekannt und es hatte ihn damals nicht interessiert und jetzt war es nicht mehr wichtig.
Alles was damals zählte, war die Tatsache, dass Judar ein Teil Al Thamens war. Er war einer ihrer Puppen und Hakuryuu hasste alles und jeden, der mit der Organisation in Verbindung stand - egal ob sie direkt für die Organisation arbeiteten oder sich ihrer nicht bewusst waren und die seltsamen Gestalten wie normale Mitglieder des Hofstaats behandelten.
Deswegen hasste er auch Judar - Judar arbeitete für die Organisation.

Im Nachhinein betrachtet hatte Hakuryuu Judar nie die Möglichkeit gegeben zu beweisen, dass er mehr als nur eine Puppe war, das er ein menschliches Wesen mit einer eigenen Meinung, einem eigenen Verstand war, dass er auf Hakuryuus Seite stand, dass er nicht sein Feind war.
Hakuryuu hatte dem anderen nie die Möglichkeit gegeben, ihm zu zeigen wer er wirklich war.

Judar hatte erst kürzlich angefangen allmählich das „Recht“ zu erhalten, er selbst zu sein. Nämlich ab den Zeitpunkt, den dem Hakuryuu und er sich entschlossen hatten, sich gegen Gyokuen zu verbünden. Leider war die gemeinsame Zeit kurz und wurde vom Prinzen eher als Zweckgemeinschaft angesehen. Jetzt war Judar tot und würde nie mehr zurückkommen.
Als Hakuryuu angefangen hatte Judar als das zu sehen, was jener beziehungsweise wer und wie jener wirklich war, hatte man ihm den anderen weggenommen. Und jetzt bereute er die entgangenen Möglichkeiten eine Freundschaft mit Judar zu schließen.

Jetzt fragt sich Hakuryuu, wie die Dinge wohl ausgegangen wären, wenn er sich mit Judar angefreundet hätte, wenn er mehr mit jenem geredet hätte, insbesondere über Al Thamen.
All die Jahre in Einsamkeit hätten verhindert werden können, wenn er es nur zugelassen hätte, dass Judar ihm näher kam.
Judar hatte nie auf ihn herabgesehen oder ihn anderweitig schlecht behandelt.
Judar hatte immer ein Lächeln für ihn übrig und sprach immer mit ihm, wenn er Zeit dazu hatte.
Judar wollte Kontakt mit ihm, wollte mit ihm befreundet sein, aber Hakuryuu hatte ihn immer abgewiesen, weil er dachte, dass der andere ein Teil Al Thamens war, eine Puppe der Hexe, die ihm alles genommen hatte.

Jetzt fragte Hakuryuu sich, wie ihre Beziehung zueinander ausgegangen wäre, wenn Judar noch am Leben wäre.
Wie wäre der Bürgerkrieg ausgegangen?
Was wäre, wenn sie verloren hätten?
Was wäre, wenn sie gewonnen hätten?
Wären sie in einen weiteren Krieg gezogen oder würde Judar sich zur Ruhe setzten, um all die Pfirsiche des Palastgartens zu essen und ihn dazu „zwingen“ seinen Djinn dafür zu nutzen die Pfirsiche nachwachsen zu lassen.
Wäre er selbst zur Ruhe gekommen?
Wären sie richtige Freunde geworden und hätte er angefangen Judar als eigenständige Person zu sehen, nicht mehr als Puppe der Organisation?
Würden sie aufhören einander zu benutzen?
Viele Fragen, irrelevante Fragen.
Judar war nicht mehr und der Krieg war vorbei.

Hakuryuu war jetzt der Kaiser und er hatte keine Zeit, um darüber nachzudenken, was hätte sein können. Er musste in die Zukunft sehen, wenn er seinen Job als Kaiser gut verrichten wollte.

Langsam bahnten sich Tränen ihren Weg über sein Gesicht und fielen zu Boden, wo sie für immer verschwanden.
Hakuryuu weinte leise.
Er weinte wegen und für seine Brüder - die von ihrer eigenen Mutter ermordet worden waren und die er so schrecklich vermisste.
Er weinte wegen und für Judar - der sein ganzes Leben lang von Gyokuen benutzt worden war – so wie er selbst – und kurz nachdem er endlich Freiheit erlangt hatte verstarb.
Er weinte wegen all der Jahre in Einsamkeit, die er hinter sich hatte - die nicht hätten sein müssen, wenn er einen anderen Weg eingeschlagen hätte.
Er weinte wegen all der Dinge, die hätten sein können.
Er weint wegen all der Dinge, die niemals sein würden.
Er weinte auch für all jene, die wegen des Krieges verstorben waren – einen Krieg den auch er zu verschulden hatte. Das Kou reich hatte viele sinnlose Kriege begonnen und so viele unschuldige Menschen waren deswegen ums Leben gekommen.
Er weinte auch für Kougyoku – die nun, auch wenn ihr Brüder noch am Leben waren, ganz alleine war, so wie er damals.
Und er weinte wegen und für so vieles, das er nicht einmal beim Namen nennen konnte.

Er wünschte, er könnte noch einmal von vorne beginnen.
Im Nachhinein betrachtet hätte er seinen anderen Weg wählen können, aber das hatte er nicht und nun musste er mit den Folgen seiner Entscheidungen klar kommen – vielleicht war nicht alles seine Schuld, nicht seine Schuld allein, aber niemand interessierte es, wer wirklich verantwortlich war. Er hatte die Schuld auf sich zu nehmen, denn so war es am einfachsten für alle anderen.