Patchouli

Kurzbeschreibung:

Am 16.4.2017 um 23:46 von irinaverene auf StoryHub veröffentlicht

les fleurs du mal

can I take it to a morning
where the fields are painted gold
and the trees are filled with memories
of the feelings never told?



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Flora ist vierundzwanzig, als sie Helia an der La Sapienza in Rom wiedersieht.

Der Sommer ist da. Überall in der Stadt duftet es nach Kräutern und frischen Tomaten und glühendem Pflasterstein. Die Mittagshitze ist nur im Schatten erträglich, die Sonne blendet bei jedem Blick, und ganz plötzlich steht er da auf dem Campus, sein Skizzenbuch und einen Faber-Castell-Bleistift in den Händen, genauso wie früher, als seien die letzten sechs Jahre nie passiert.

Er blickt kurz von seiner Zeichnung auf. Sein Blick wandert suchend über den Platz, als habe er einen Augenblick zu lange seinen Gedanken nachgehangen und in der Zwischenzeit sein Motiv verloren; dann sieht er sie, mehr durch Zufall als alles andere, und seine Mundwinkel heben sich zu einem zögerlichen Lächeln. Sie erwidert es und winkt ihm von Weitem zu, während ihr Herz einen nervösen Satz macht.

Es ist sechs Jahre her. Sechs lange Jahre.

 

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Wann immer sie zwischen den Vorlesungen Zeit dafür findet, kümmert sie sich um ihre Pflanzen. Dabei kann sie abschalten und ihre Gedanken sortieren; so war es schon immer. Sie schneidet Äste zurecht, bewässert die Wurzeln, entfernt welke Blätter, topft ihre Lieblinge in bessere Erde und größere Töpfe um.
Neben dem kleinen Garten außerhalb der Stadt, den ihre Eltern für sie gepachtet haben, ist auch ihre kleine Apartmentwohnung im Zentrum Roms voller Pflanzen. Pflanzen in Marmeladengläsern und Blecheimern, die von der Decke hängen oder auf Beistelltischen einen Platz finden, duftende Hyazinthen auf den Fensterbänken, Schlingpflanzen an den Gitterstäben des Balkons, Basilikum in der Küche, winzige Beete in hölzernen Regalen und dazwischen Plakate an den Wänden, auf denen verschiedene Gattungen und wissenschaftliche Daten zu ihnen abgebildet sind.
Ihre Möbel sind aus massiven Nussbaumholz, von den Eltern gesponsert, wie so vieles, und wenn sie sich morgens auf den Weg zur Uni macht, muss sie die Vorhänge leicht zuziehen und das Fenster gekippt lassen, um abends in der Wohnung nicht vor Hitze einzugehen.

 

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An diesem Abend trifft sie sich mit Stella in der Innenstadt. Sie trägt einen luftigen braunen Volantrock und ein bauchfreies Oberteil in Pistaziengrün, dazu Römersandalen mit vielen verschnörkelten Riemchen und goldener Schnalle. Stella stolziert in Keilabsatzsandalen und einem bunten Maxikleid neben ihr her. Sie riecht nach Daisy von Marc Jacobs und Flora genießt ihre Anwesenheit, ausnahmsweise. Das Kapitel namens Winx ist ein Stück Vergangenheit, an das sie sich ab und zu gern erinnert.
„Wie ist es so an der Uni?“, hakt Stella nach, wahrscheinlich aus Höflichkeit, denn Flora kann sich nicht vorstellen, dass sie sich wirklich dafür interessiert. Sie war noch nie für Kunst zu begeistern gewesen, geschweige denn für das Lernen; über Büchern zu brüten und ständig nur zu pauken steht einer reichen Schönheit nicht, wie sie immer zu sagen pflegt. „Gut“, antwortet sie mit einem Lächeln, das etwas zu optimistisch, zu fröhlich, zu aufgesetzt scheint; aber ihrem Gegenüber fällt das nicht auf, nicht jetzt, nicht an so einem angenehm sonnigen Tag in der schönsten Stadt der Welt. „Es war eine gute Entscheidung.“
Sie setzen sich ins Rosati an der Piazza del Popolo, bestellen zwei Cocktails mit Crushed Ice und Schirmchen, und Stella redet unaufhörlich mit dem neusten Klatsch und Trasch und der Herbstkollektion ihres Lieblingsdesigners auf sie ein. Ausnahmsweise stört es Flora nicht. Sie ist dankbar für jede Ablenkung von ihren Gedanken, die sich immer nur um eine Sache drehen. Oder besser gesagt: Um eine Person.

 

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Es ist reiner Zufall, dass sie und Helia beide denselben zusätzlichen Kunstkurs belegt haben. Sie begrüßen sich mit einem knappen Nicken, einem schüchternen Blick, einem Ist der Platz neben dir noch frei? und während sich alles noch genauso anfühlt wie früher, zum Verwechseln ähnlich, ist es irgendwie auch vollkommen anders, vollkommen neu und befremdlich.

„Es ist schön dich wiederzusehen“, murmelt Helia einige Zeit später auf dem leeren Gang vor dem Hörsaal, als er ihre Stirn küsst und sie vorsichtig in seine Arme zieht. Er umarmt sie lange und lässt erst wieder los, als sie freiwillig einen Schritt weit von ihm zurücktritt. Sie atmet tief seinen vertrauten Geruch ein, schmiegt sich an seine Brust und versucht tief durchzuatmen, als könnte sie dadurch die aufkommenden Tränen der Freude zu unterdrücken.

Zwischen Auslandsaufenthalten, Praktika, mehreren Umzügen und stressigen Teilzeitjobs fällt es allzu leicht zu vergessen, dass das Leben nicht nur aus Verpflichtungen besteht. Aber die Sommernächte in Rom sind lang und lebhaft und voller jugendlicher Leichtigkeit, die sie beide seit Jahren vermisst haben, und irgendwie sind sie im Grunde genommen beide genau deswegen hergekommen: Um wieder das zu tun, was sie lieben. Nicht das, was sie sollen. Dass sie dabei ein lang vermisstes Stück Vergangenheit wiederfinden würde, hätten sie wahrscheinlich beide nicht erwartet.

 

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Sie sitzen auf der Dachterasse des Ristorante Ciampini, es ist kurz vor Ladenschluss und die Lichter der Stadt strahlen hell und zahlreich; man könnte fast meinen sie ersetzen den klaren Sternenhimmel.
Flora nippt an ihrem Getränk und versucht Helias Blicken auszuweichen, aber spätestens, als er seine linke Hand auf ihre rechte legt, kann sie nicht mehr verhindern, dass sie ihn direkt ansieht, die Wangen heiß vor Aufregung und ein zaghaftes Lächeln auf den Lippen.

Es ist ein Abend nur für sie beide. Ein Abend, an dem nichts anderes eine Rolle spielt. Es ist fast genauso wie früher, wenn man sich die sechs Jahre dazwischen wegdenkt.

„Vielleicht hätte ich nie gehen sollen“, bemerkt sie plötzlich und blickt schnell wieder zu Boden.

Ein paar Meter weiter ziehen die Wasserschildkröten ihre Runden durch den kleinen Teich der Terrasse. Alles ist friedlich. Alles ist ruhig. Nur ihre Gedanken nicht. Es schwirrt ihr schon die ganze Zeit über im Kopf herum, auch wenn sie erst jetzt den Mut dazu findet es tatsächlich zu sagen. Und nun denkt sie mehr denn je, dass sie vielleicht einfach wieder gehen sollte. Weglaufen. Bevor sie sich in etwas verrennt.

Helia streicht mit dem Daumen über ihren Handrücken und schweigt lange. Die Nachtluft ist klar und frisch, eine angenehme Abwechslung zur stickigen Hitze am Tag.

Der Kellner erinnert sie im Vorbeigehen an die Uhrzeit, Wir schließen gleich, signori, und beide nicken und lächeln höflich. Wie in einem stillen Übereinkommen stehen sie auf und gehen zur Treppe. Die Rechnung haben sie längst beglichen. Er hält ihr die Tür auf und lässt ihr den Vortritt auf dem Weg nach unten.

„Vielleicht hätte ich mit dir kommen sollen“, sagt er schließlich, als sie wieder nach draußen auf die Straße treten. Er greift nach ihrer Hand und sie hört endlich auf übers Weglaufen nachzudenken.

 

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Sie sind für ein paar Tage zusammen verschwunden, weit, weit weg vom Lärm der Hauptstadt, irgendwo mitten in der Provinz, lauen Abendwind im Haar und die letzte Hitze des verblassenden Tages auf den nackten Schultern.

(Zusammen weglaufen ist so viel besser.)

Die Felder scheinen wie golden angemalt von der untergehenden Sonne und Flora legt den Kopf auf Helias Schulter. Die unausgesprochene Frage, die im Raum steht, lautet: Weißt du noch?

 

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„Wen zeichnest du?“, fragt sie ihn an einem ruhigen Sonntagmorgen, den sie zusammen in seiner kleinen Studentenwohnung verbringen.

Das Sonnenlicht ist noch nicht ganz so grell und heiß und fällt hier auf der Seite zum Hinterhof nur gedämpft durch die halb transparenten Vorhänge. Die Einrichtung ist aus hellem Holz und weiß lackierten Vintage-Einzelstücken, mit grünen Pflanzen hier und dort, einem beigefarbenen Zottelteppich und einem großen Bett mit weißem Metallgestell und heller Baumwollbettwäsche.
Flora blättert durch ein Lehrbuch und macht sich nebenbei Notizen, aber eigentlich interessiert sie sich viel mehr für das Blatt Papier, das Helia seit Stunden immer mehr mit feinen Linien füllt, sodass sich mittlerweile ein Gesicht erahnen lässt. Ein Lächeln aus dunklem Lippenstift, langes glattes Haar und ein spitzes Kinn, der Ansatz eines Kleids mit hohem Kragen. Flora sieht schon lange bei der Entstehung dieses Bilds zu und so langsam packt sie die Neugier. Da ist dieses Gefühl des Erkennens, wenn sie der klaren Kontur und den sanften Schatten des fremden Gesichts folgt, und zugleich ein Hauch von Nostalgie, der sich in ihrem Inneren breitmacht; wie eine schwache Erinnerung aus grauer Vorzeit, die sie nicht recht greifen kann.

„Eine Freundin“, erklärt Helia. Er dreht sich kurz zu ihr um und lächelt unverfänglich. „Ich glaube nicht, dass ihr euch kennt.“

 

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Als Flora sie zum ersten Mal im Türrahmen des Vorlesungssaals lehnen sieht – die Beine, die in einer violetten Vintage-Schlaghose stecken, locker überschlagen, einen Arm um den Brustkorb geschlungen und die freie Hand an der getönten Brille, um diese zurechtzurücken – weiß sie sofort, dass sie es ist.

„Flora“, sagt sie auf einmal, und erst, als diese allzu vertraute Stimme sie aus ihren Gedanken reißt, realisiert Flora, dass die andere mittlerweile direkt vor ihr steht. „Was für ein netter Zufall.“

Ihr Lächeln trifft wie ein frisch geschliffenes Wurfmesser, schonungslos, direkt in die Brust, und sie hinterlässt einen unwiderstehlichen Duft nach Diors Hypnotic Poison und ein Bisschen nach Patchouli, als sie an ihr vorbei zu ihrem Platz in der letzten Reihe geht.

 

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Die Stadt ist voller Touristen, als die Urlaubszeit so richtig beginnt, und immer öfter flüchten sie sich zusammen nach irgendwo anders, wo immer das auch dieses Mal sein mag. Die frische Luft rauscht in den Blätterdächern über ihnen und sie blicken auf das weite Feld hinaus, auf dem sich Sonnenblumen in die Höhe ranken, in der Ferne ergänzt durch endlose Meere aus gelbem Raps.

(Ich glaube nicht, dass ich euch kennt – Die Worte hallen in ihren Gedanken wider und sie weiß nicht, wie sie sagen soll: Du hast mich angelogen.)

Helia küsst Floras Nacken und den Übergang zu ihrer Schulter, streicht ein paar feine Härchen beiseite, und seine Berührung fühlt sich so vertraut an, so heimisch, dass sie mit einem letzten schwermütigen Seufzen all die Gedanken unterschluckt, auch wenn sie für einen Augenblick glaubt, dass er nach ihr riecht, nach ihrem Parfüm und dem violetten Nagellack, den sie fast immer trägt und der oft während der Vorlesungen auf ihren langen Fingernägeln trocknet, während der Luftzug durch die offenen Fenster den Geruch in die vorderen Reihen weht.

So war es schon immer zwischen ihnen; vieles bleibt unausgesprochen, weil sie einfach nicht wissen wie. Gefühle. Gedanken. All das, was einen beschäftigt, wenn man jemanden liebt. Und wieder bleibt nur die ewig stumme Frage: Weißt du noch, damals?

 

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„Du kennst sie nicht wirklich“, meint er irgendwann, als hätte er ihre vorwurfsvollen Gedanken in den letzten Wochen lesen können.

In ihren freien Stunden kümmern sie sich jetzt gemeinsam um ihre Pflanzen oder faulenzen in seinem Zimmer. Sie verbringen viel Zeit zusammen (so viel, dass Flora sich manchmal fragt wie er dazwischen überhaupt noch Zeit dafür findet Darcy zu treffen) und wahrscheinlich war es unvermeidlich, dass er sie irgendwann darauf anspricht, aber obwohl sie es vielleicht hätte erwarten müssen, setzt ihr Herz einen Schlag lang aus und sie hält sich nur mit Mühe davon ab den schweren Terrakottakübel, den sie gerade vom Tor zum Zaun trägt, fallenzulassen, als er dann plötzlich darauf zu sprechen kommt.
Am liebsten würde sie lügen, Ich weiß nicht, was du meinst und Wen kenne ich nicht wirklich? und Du redest wirres Zeug, Schatz, aber sie weiß genau, dass sie ihm nichts vormachen kann, also blinzelt sie ihm nur hilflos entgegen.

„Du kennst sie von früher“, fährt er fort, als sie ihm nach einer Weile noch immer nicht geantwortet hat. „Aus einer anderen Zeit.“

„Ich kenne dich auch aus einer anderen Zeit“, erinnert sie ihn.

Flora hat zwar gehofft, dass das Gespräch schnell vorbei sein würde, aber so ein abruptes und vor allem unvollständiges Ende war dennoch nicht ihre Absicht. Die entstandene Stille ist unangenehm, aber keiner von beiden wagt es mehr sie zu durchbrechen. Nur das Surren der Insekten und das entfernte Rauschen eines Schnellzugs auf den Bahngleisen einen halben Block weiter tönen noch über durch die in warmen Lichtfluten versinkende Landschaft.

 

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„Ich bin nicht deinetwegen hier“, sagt Flora, als sie ihre Secondhand-Lederhandtasche unter dem kleinen Cafétisch abstellt, ihre Sonnenbrille zurückschiebt, sodass sie ihr die Haarsträhnen aus dem Gesicht hält, die sich aus dem hohen Zopf gelöst haben, und sich auf dem Stuhl gegenüber der Frau, die sie anscheinend schon erwartet hat, niederlässt. „Nur damit das klar ist.“

Ich kenne da ein nettes kleines Café am Rande der Stadt, in dem wir uns in Ruhe treffen könnten, wenn du das willst, hat sie gesagt. Vertrau mir, es gibt dort das beste Eis, das ich je gegessen habe. Und Plätze im Freien.
Flora hat gelacht, Ein Café mit freien Plätzen draußen, in Rom, im Sommer? Guter Witz, aber Darcy hat nur mit einer Adresse geantwortet und ihr ein viel zu freundliches Bis am Samstag dann nachgerufen, während sie hinter der nächsten Ecke verschwunden ist, die Bücher für den anstehenden Kurs und ihren Notizblock unter den Arm geklemmt.

Nun ist sie hier und genießt für einen Augenblick den angenehmen Schatten, den der aufgespannte Coca Cola-Sonnenschirm ihnen auf diesem Platz spendet.

„Bist du nicht?“, hakt ihr Gegenüber mit einem süffisanten Schmunzeln und einem prüfenden Blick nach. Sie hat sich mit beiden Ellenbogen auf dem Tisch aufgestützt, sich etwas vorgelehnt, die Hände locker gefaltet und beobachtet Flora über den Rand ihrer Brille hinweg.
„Nein“, beharrt Flora. Sie schlägt die Karte auf, die schon auf dem Tisch bereitliegt, und blättert lustlos darin herum. Ihr ist der Appetit schon vergangen bevor sie überhaupt hier angekommen ist, aber das muss die andere nicht wissen und deshalb versucht sie sich nichts anmerken zu lassen.

Eine junge Kellnerin mit vielen dünnen geflochtenen Zöpfen, dunklem Teint, Sommersprossen im Gesicht und einer Schürze in den Farben des Cafélogos um die Hüfte, kommt an den Tisch und nimmt ihre Bestellungen auf. Noch einmal kurz Ablenkung, denkt Flora, noch einmal kurz Durchatmen
Doch kaum hat sich das Mädchen weggedreht, ergreift Darcy gleich wieder das Wort, lässt ihr keine Zeit zum Nachdenken, sich sammeln, noch einmal tief Luft holen.

„Ginge es hier um ihn, hättest du dich mit ihm getroffen, nicht mit mir“, stellt sie trocken fest. „Du hättest mit ihm reden und alles das klären können, was dich bedrückt. Wir wissen beide, dass Helia ein netter Kerl ist, mit dem man sich bestens unterhalten kann, nicht wahr?“

Flora nickt widerwillig, unfähig etwas zu auf diese viel zu wahren Worte zu erwidern.

„Und doch bist du hier ...“

Da ist dieser durchdringende Blick, den Flora nicht ganz deuten kann, und für die Dauer eines Wimpernschlags wird ihr furchtbar kalt, als sei ein Windstoß über die kleine Piazza gefegt, obwohl da eigentlich gar nichts gewesen ist. Aber so schnell wie das Frösteln gekommen ist, so schnell ist es auch wieder verschwunden und –

„… Bei mir …“

– wird von einer unerwarteten Hitzewelle abgewechselt. Ihre Hände fühlen sich klamm an und ihre Wangen sind heiß, aber ihre Stirn ist kühl und sie weiß überhaupt nicht, wo ihr der Kopf steht, als plötzlich eine andere Kellnerin neben ihr auftaucht und ihren gewünschten Eisbecher vor ihr abstellt.

„G-grazie“, stammelt sie, sichtlich verwirrt, nachdem sie ihr Gegenüber lange, lange regungslos angesehen hat; es hat sich angefühlt wie eine halbe Ewigkeit.

 

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Es passiert an einer Kreuzung auf dem Heimweg. Direkt an der Straße, mit einer warmen Sandmauer in Floras Rücken und Darcys Gesicht ganz nah vor ihrem, viel zu nah, als dass sie noch klar denken könnte. Die perfekt manikürten Finger verhaken sich in ihrem Haar, der Duft von Patchouli hängt schwer in der Luft und vermischt sich mit dem Geruch nach heißem Teer, der den Straßen stets anhaftet, und –

„Nicht meinetwegen, hm?“

– Floras Lippen zittern, aber sie kann nichts sagen, keine einzige Silbe. Da ist nur dieses Küss mich, küss mich, küss mich in ihren Gedanken, dass sie schon seit geraumer Zeit nicht mehr abschalten kann und das sie doch, wie so vieles, nicht über die Lippen bringt.

 

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Wenn sie Helia fragt, was Darcy für ihn ist, zuckt er nur hilflos mit den Schultern und kann nichts sagen, oder zumindest nie das richtige. Eine Freundin, nennt er es manchmal, und an anderen Tagen: Meine Muse. Dazwischen immer wieder: Ich weiß es doch selbst nicht.

Irgendwann versteht sie, dass das nicht daran liegt, dass er ihr etwas verschweigen möchte, sondern daran, dass er keine Worte für das hat, was er wirklich meint. Sie versteht es, weil sie selbst nicht wüsste, was sie sagen würde, würde er ihr dieselbe Frage stellen, und zugleich beginnt sie auch zu verstehen, was er meinte, als er zu ihr sagte: Du kennst sie nicht wirklich.

 

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„Wir müssen reden.“

Es ist einer dieser Sätze, die niemand hören will und die niemand gerne sagt, aber Flora hat mir der Zeit gelernt, dass sie manchmal auch die unangenehmen Dinge aussprechen muss, um sie irgendwie erträglicher machen zu können. Sie hat schon mit Bloom am Telefon darüber geredet und nachdem selbst ihre beste Freundin keinen anderen Rat wusste als Offene Kommunikation ist das A und O, hat sie einen Entschluss gefasst. Sie bringt ein Seufzen hervor und dreht sich zu Helia um. Hinter ihm fällt das erste kühle Licht des Tages durch die Fenster, taucht den Raum in ein milchiges Blau.

„Können wir das auf einen anderen Morgen verschieben?“, gähnt er und setzt ein entschuldigendes Lächeln auf. „Einen, den wir ganz für uns haben, außerhalb der Stadt?“

 

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Die Bäume hängen voller Erinnerungen, als seien es Früchte, die gerade reif genug sind, dass sie beginnen von allein von den Ästen zu fallen. Erinnerungen an klare Sommermorgen, Bauchschmerzen vor Lachen und nie ausgesprochene Gefühle aus einer anderen Zeit, die weiter weg scheint denn je.

Floras Ohr liegt an Helias Brust und sie lauscht seinem Herzschlag, seinem gleichmäßigen Atem. Zwischen dem Duft nach frisch gemähter Wiese und Mohnblumen am Wegrand haftet Helias Hemd eine subtile Note von Patchouli an, kriecht an der schönen Szenerie empor wie eine wachsende Efeuranke. Flora atmet tief ein, genießt die Vertrautheit, die vage Ahnung, die sie beschleicht, und spricht endlich aus, was ihr schon seit ihrem ersten Wiedersehen auf der Zunge liegt.

„Weißt du noch, damals?“