British Note

Kurzbeschreibung:

Am 27.5.2022 um 17:04 von pseudodcXDM auf StoryHub veröffentlicht

1. Kapitel: Das erste Urteil

Lionel rannte über die Schulflure. Er war längst außer Atem, aber ans Stehenbleiben dachte er kein Stück. Denn um jeden Preis musste er so schnell wie möglich hier raus, bevor ... Er schüttelte den Kopf, um all die schrecklichen Bilder aus seinem Kopf zu bekommen. Daran durfte er jetzt nicht denken! Lionel ergriff das Treppengeländer und nahm zwei Stufen auf einmal, bis er das Ende der Treppen erreichte. Durch das Glas des Haupteinganges sah er die Personen, zu denen er wollte. Aber sein Blick haftete auf dem dunkelhaarigen Brillenträger in der Mitte, der verängstigt seinen Rucksack an die Brust drückte. Die anderen drei Jungen näherten sich ihm mit Drohgebärden. Genau das, was Lionel verhindern wollte.
Er ballte die Hände zu Fäusten und knirschte mit den Zähnen. Wieso haben sie es immer zu nur auf Tommy abgesehen?, dachte Lionel. Aber die Antwort kannte er längst: Tommy wehrte sich nie gegen die Schikanen. Noch dazu war er als Nerd und Homosexueller der perfekte Kandidat als Mobbing-Opfer.
Und dabei sollte die Cartwright Academy demnächst die Auszeichnung für die beste diskriminierungsfreie Privatschule Englands erhalten. Aber die Lehrer kümmerte so oder so nur diese Auszeichnung. Für die Wahrheit, die beinah tagtäglich in der Academy geschah, waren sie blind. Traute sich doch mal ein Schüler, einen anderen wegen Mobbing zu verpetzen, wurde es zumeist unter den Teppich gekehrt. Gesagt, sie sollen es ignorieren. Es würde schon irgendwann von alleine aufhören. Deshalb lag es an Schülern, wie Lionel, die Mobbing-Fälle auf eigene Faust im Keim zu ersticken. Und das am besten ein für alle Mal!
Mit letzter Kraft stieß Lionel die Doppeltür auf und sprintete zu den Jungen. Zu seinem Glück lag die Aufmerksamkeit der Rowdys auf Tommy. Denn das nutzte er sofort aus. Mit einem beherzten Hechtsprung rammte Lionel einem der Jungs die Schulter in die Seite. Dieser stieß einen überraschten Laut aus. Zu zweit stürzten sie zu Boden.
»Geh von mir runter, Thompson!«, knurrte Dylan und trat nach ihm. Doch Lionel dachte nicht im Geringsten daran und klammerte sich an die Uniform des Älteren. Nur hatte er Dylans Freunde außer Acht gelassen, die ihn unter den Schultern packten und ruckartig auf die Füße zogen. So hielten sie ihn in ihrer Mitte gefangen. Lionel blieb äußerlich ruhig, während er innerlich vor Wut kochte. Doch einen Befreiungsversuch unternahm er nicht. Er wusste, dass er scheitern würde. Wie jedes Mal. Stattdessen wechselten er und Tommy einen schnellen Blick miteinander. Unmerklich nickte Lionel seinem besten Freund zu. Zögern stand diesem ins Gesicht geschrieben, aber dann entfernte er sich einige Schritte rückwärts, drehte sich um und rannte davon. Dylan schaute ihm kurz nach, als er wieder aufstand, und Lionel befürchtete, er würde ihm nachlaufen. Aber glücklicherweise war dies nicht der Fall.
»Na, meinetwegen«, sagte Dylan schulterzuckend. Mit einem Grinsen drehte er sich zu Lionel und seinen Freunden um. »Dann verpassen wir eben dir eine kleine Abreibung, Thompson.« Blitzschnell wurde Lionel eine Faust in den Magen gerammt. Den Schmerz registrierte sein Gehirn mit wenigen Sekunden Verzögerung. Er kniff die Augen zusammen und krümmte sich, aber Dylans Freunde hielten ihn weiterhin in Position. Fest biss Lionel die Zähne zusammen, als weitere Schläge auf ihn einprasselten. Es gab keine Chance, dass er sich wehren konnte. Er musste das durchstehen. Für Tommy. Für all jene, die unter den Schikanen von Dylans Schlägertruppe litten.
Auf einmal lösten sich die Griffe unter seinen Schultern und Lionel fiel unsanft zu Boden. Er presste sich eine Hand auf den Bauch. Spätestens morgen früh würde er blaue Flecken haben. Wie jedes Mal. Dylan begab sich auf seine Augenhöhe. Verachtung stand in seinem Blick geschrieben. Er hielt ein Klappmesser in der Hand. Lionel schluckte.
»Ich kann dich nicht leiden, Thompson.« Dylan drehte das Messer so, dass die Schneide das Sonnenlicht reflektierte. »Immer, wenn wir deinen Schwuchtel-Freund oder sonst wen aus der Regenbogen-Truppe vermöbeln wollen, bist du zur Stelle und versaust uns die Tour. Das ist echt nicht so geil, Mann, so gar nicht. Wir haben einen Ruf und diesem Ruf müssen wir gerecht werden. Aber das können wir nicht, wenn du uns dazwischen funkst. Verstehst du das?«
Trotz der Schmerzen schaffte es, Lionel zu sagen: »Leute zu vermöbeln, nur weil sie anders sind, ist kein Ruf. Das ist Diskriminierung.« Er war selber erstaunt, wie ruhig er dabei klang. Und das, obwohl nur wenige Zentimeter vor ihm ein scharfes Messer darauf wartete, ihn aufzuschlitzen.
»Diskriminierung, hm?« Auf Dylans Gesicht zeichnete sich ein spöttisches Grinsen ab. »Du wirfst mit großen Worten um dich, Kleiner. Ich dachte, wenn wir dich vermöbeln werden, wirst du irgendwann lernen, wo dein Platz in dieser Schule ist. Aber offensichtlich muss ich zu härteren Methoden greifen.« Seine Hand, die das Messer umklammert hielt, schnellte nach vorne. Lionel zuckte zurück, als der kühle Stahl seine Wange berührte. Sein Adamsapfel hüpfte. Sein Herz schlug schneller.
Unbewusst spannte Lionel den Kiefer an, als die Schneide über seine Haut glitt. Ein brennender Schmerz folgte. Als Dylan die Klinge ins Sonnenlicht hielt, verstand Lionel warum: Sein Blut haftete am Messer!
Vollkommen gleichgültig wischte Dylan das Blut mit einem Taschentuch ab und klappte die Klinge wieder ein. Das Messer verschwand in einer Tasche seiner grauen Uniformhose. »Das, Thompson, war nur ein kleiner Vorgeschmack, was ich dir morgen nach der Schule antun werde.« Mit einem boshaften Lächeln richtete Dylan sich auf, sah auf Lionel hinab. »Such dir schon mal einen Grabstein aus.«

Stolpernd betrat Lionel das Badezimmer seines Elternhauses. Vor der Toilette ließ er sich auf die Knie sinken, beugte sich über die geöffnete Schüssel und übergab sich würgend. Seit er das Schulgelände hinter sich gelassen hatte, hatte er das Bedürfnis dazu. Die vorherige Situation mit Dylan und seinen Schlägerfreunden rumorte unruhig in seinem Magen. Vielleicht lag es aber nur an den Schlägen, die er eingesteckt hatte, und der beigefügten Schnittwunde an der Wange. Egal, was der wirkliche Grund war, Lionel war froh, es für heute hinter sich lassen zu können und es wortwörtlich auszukotzen.
Als sein Magen sich beruhigte, betätigte Lionel den Abzug der Toilette und stand schwankend auf, während die unappetitlichen Überreste seines Mittagessens aus der Schulmensa in den Abfluss gezogen wurden. Die Riemen seines Rucksacks streifte er sich von den Schultern. Mit einem dumpfen Laut kam die Tasche auf dem Boden auf. Anschließend schleppte er sich zum Waschbecken und stützte sich an diesem ab. Er wollte nur ungern wissen, wie er jetzt aussah, und doch hob er den Kopf.
Seine sonst so hellgrünen Augen wirkten im Gesicht seines Spiegelbildes trüb und dunkel. Leichte Schatten unter den Augen hoben sich auf dem hellen Teint ab. Pinkgefärbte Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn. Das Blut auf seiner Wange war mittlerweile getrocknet. Neues quoll keins aus der Wunde. »Ich sollte es reinigen«, murmelte Lionel und öffnete die rechte Seite des Spiegels. Verschiedene medizinische Utensilien und Hygieneartikel kamen zum Vorschein. Er nahm sich alles heraus, was er benötigte, und schloss die Spiegelseite wieder.
Unter einem laufenden Wasserhahn hielt Lionel für einen kurzen einen Waschlappen, wrang ihn aus und entfernte mit diesem vorsichtig das getrocknete Blut. Anschließend besprühte er ein Wattepad mit etwas Desinfektionsflüssigkeit, um damit die Wunde abzutupfen. Bei der ersten Berührung mit dem Pad zuckte Lionel leicht zusammen, aber dann machte ihm das kühle und reinigende Mittel auf der Wunde nichts mehr aus. Zum Schluss deckte er die Schnittwunde mit einem Pflaster ab und verstaute die Utensilien wieder hinter dem Spiegel.
Lionel klaubte seinen Rucksack vom Boden auf und trat den Gang in sein Zimmer an. Bis seine Eltern nachhause kamen, hatte er das Haus für einige Stunden für sich alleine. Die Zeit konnte er gut nutzen, um sich eine Ausrede wegen des Pflasters überlegen zu können. Oder er verwendete eine, die seine Eltern bereits von ihm kannten.
Er erreichte das Ende des Ganges und öffnete die Tür zu seinem Zimmer. Seine Schultasche landete in einer Ecke. Die Schuluniform tauschte Lionel gegen legere Kleidung. Nachdem er die Uniform in den Schrank gehängt hatte, fiel sein Blick auf eine Schublade des Schreibtisches. Wie automatisch ging er darauf zu, zog sie auf und entnahm ihr ein unscheinbares schwarzes Schreibheft. Lionel hielt es in Händen, strich über die weißen Lettern, die die Vorderseite zierten. Death Note.
Vor einigen Tagen, als er auf dem Heimweg war, fand er das Heft in einer verlassenen Seitengasse auf dem Boden liegen. Zunächst hatte ihn der Titel stutzig gemacht, dachte, jemand hätte darin eine Art Todesliste verfasst und in der Gasse verloren. Aber als er durch das Notizbuch blätterte, waren die linierten Seiten vollkommen leer. Und das waren sie bis heute. Denn es bereitete ihm eine Gänsehaut, sobald er es nur anschaute. Nur aufgrund der Regeln, die mit weiß auf Schwarz auf der Umschlagsinnenseite geschrieben standen.
Doch jetzt, wo er es nach Tagen wieder in Händen hielt, war seine Angst wie weggeblasen. Ehrfürchtig öffnete er es und las laut die erste Regel des Death Note: »Der Mensch, dessen Name in dieses Heft geschrieben wird, stirbt.«
Lionel leckte sich über die Lippen, lächelte. Adrenalin pulsierte durch seine Adern, als er in einer fließenden Bewegung das Death Note auf den Tisch knallte und die Finger um einen Kugelschreiber schloss. Die Mine schwebte über der leeren Seite des Notizbuches. Wieso schrieb er nicht? Es war doch so einfach! Er brauchte nur den Namen schreiben und dabei Dylans gehässiges Gesicht vor Augen haben. Mehr war nicht von Nöten, damit das Mobbing von ihm für immer aufhörte. Seine Hand, mit welcher er den Stift hielt, verkrampfte sich. Was hielt ihn nur davon ab? Das Gewissen? Dylan schien auch keines zu haben, denn sonst würde er niemanden aus der queeren Community hänseln. Für jenen Moment schluckte er das Gewissen hinunter und lockerte den Griff um den Stift.

Schleppend, gebeugt und mit hängendem Kopf stieg Lionel an der Greenwich-Haltestelle aus und legte den restlichen Schulweg zu Fuß zurück. Doch hatte er das Gefühl, als würde das Death Note in seinem Rucksack immer schwerer werden. Aus einer irrationalen Angst heraus, seine Eltern könnten es entdecken, hatte Lionel das Notizbuch des Todes zu seinen Schulsachen gepackt. Dabei war seine Angst völlig unbegründet. Seine Eltern kamen nie vor sechs Uhr abends nachhause und wenn doch, dann betraten sie nur wenn nötig den ersten Stock.
Nicht so wie vor einem Jahr, als Sammy unter ihnen weilte.
Lionel hatte genau vor Augen, wie der Unfall vonstattenging: Er und Sammy hatten im Vorgarten zusammen Ball gespielt. In dem Moment, wo Lionel den Ball etwas zu hart getreten hatte, flog dieser genau auf die Straße vor dem Haus. Er wollte direkt hinterher, aber Sammy war losgerannt. Er überquerte die Straße, ohne vorher nach links und rechts zu schauen. Hätte sein kleiner Bruder diese kleine Regel beachtet, dann hätte er den verrückten Raser bemerkt und wäre immer noch bei seiner Familie. Aber dennoch, Lionel war nicht besser. Er hatte den Raser gehört, ehe er ihn überhaupt gesehen hatte. Er hätte Sammy warnen können, ihn retten! Aber hätte Sammy die Warnung überhaupt durch den Lärm des Motors überhaupt hören können?
Lionel schüttelte den Kopf, schob diese Gedanken zurück, wo sie hergekommen waren. Es brachte nichts, über das Wenn und Aber nachzudenken. Das brachte seinen kleinen Bruder nicht wieder zurück. Allerdings… Ihm kam das Death Note in den Sinn. Wenn er herausfinden könnte, wie der Raser hieß, dann könnte er sich für den Tod seines Bruders rächen!
Erneut schüttelte er den Kopf, heftiger. »Was denke ich da für einen Stuss?«, sagte Lionel leise zu sich selber. »Sammy würde sicher nicht wollen, dass sein Bruder seinetwegen zum Mörder wird.« Damit brachte er seine Mundwinkel dazu, leicht zu zucken. Jetzt redete er sogar Stuss! Zwar hatte er gestern, als er Dylans Namen in das Death Note geschrieben hatte, an dessen Echtheit geglaubt, aber wenn er ehrlich zu sich selber, dann zweifelte er doch ein wenig. Gestern konnte Lionel das schlecht überprüfen, indem er bei Dylan zuhause anrief und nachfragte. Zumal er weder die Telefonnummer noch die Adresse wusste, um wie zufällig an Dylans Elternhaus vorbeiradeln und überprüfen zu können, ob eine Leiche abtransportiert wurde. Um an die Echtheit des Death Note glauben zu können, müssten Dylans Freunde entweder schwarze Armbinden tragen oder Polizeibeamte zur Schule kommen, die mit ihnen redeten. So wie es in Krimi-Serien ablief.

Endlich bog Lionel von der Royal Hill auf die Burney Street. Er reihte sich in den Strom aus Schülern ein, die alle zur renommierten Cartwright Academy marschierten. Im hellen und langem Schulgebäude wurden unter die Woche täglich sieben Jahrgänge auf insgesamt fünf Stockwerke untergebracht. Während die ersten vier Stockwerke für den Unterricht ausgestattet waren, bot der letzte Stock Räumlichkeiten für diverse Clubaktivitäten, wie Kunst oder Musik.
Vor dem Haupteingang kam Lionel an einer aus Marmor gehauenen Statue eines fülligen Mannes vorbei, der das Wahrzeichen der Schule am Revers trug – eine Rose. Auf den Jacken der Schuluniform befand sich an genau derselben Stelle ebenfalls das Gleiche: in einem dunklen Rot mit den Initialen CA. Auf der silbernen Plakette am Sockel stand der Name Filius Cartwright geschrieben. Er war der Gründer und Namensgeber der Academy, die zu seiner Zeit Cartwright School hieß. Warum die Schule in Academy umbenannt wurde, verstand Lionel nicht. Aber so genau wollte er es nicht wissen.
Zusammen mit seinen Mitschülern, die sich untereinander unterhielten, betrat er das Schulgebäude. Als er mit den anderen Zehntklässlern die rechte Flügeltreppe hinaufstieg, tippte ihm jemand an die Schulter. Lionel sah in das freundliche Gesicht seines besten Freundes. Er erwiderte das Lächeln. »Morgen, Tommy.«
»Guten Morgen, Lio! Bist-… bist du schwer verletzt worden gestern?« Besorgt senkte Tommy die Stimme, musterte Lionels Gesicht und entdeckte das Pflaster. Sofort legte sich ein schuldiger Schatten über sein Gesicht. Er biss sich auf die Unterlippe. Lionel legte ihm eine Hand auf den Rücken, lächelte ermutigend.
»Es ist nur ein Kratzer, Tommy. Das werde ich ja wohl überleben.« Von den blauen Flecken, die seinen Oberkörper zierten, erzählte er mal lieber nicht. Tommy fühlte sich schuldig genug, obwohl er das nicht musste. Es war Lionels eigene Entscheidung gewesen, ihm zur Rettung zu kommen. Die Verletzungen hatte er sich selber zuzuschreiben.
Seine mutmachenden Worte ließen Tommy wieder ein wenig lächeln. Lionel freute sich darüber. Er mochte es nicht, wenn Tommy traurig oder schuldig dreinblickte. Er sollte immer der fröhliche Mensch bleiben, den Lionel einst in der Grundschule kennenlernen durfte.
Und er würde alles dafür tun, damit das auch so blieb. Selbst wenn es hieß, erneut das Death Note verwenden zu müssen, wenn die Echtheit bewiesen wurde.
»Hast du ihn heute schon gesehen?«, fragte Tommy. Er reckte den Hals, um den Anfang der Schülermassen besser zu sehen. Dort liefen für gewöhnlich diejenigen aus dem zwölften und dreizehnten Jahrgang.
»Warum schaust du dich überhaupt nach Jones um?« Kaum sprach Lionel die Gegenfrage aus, bereute er es. Es war doch klar, warum Tommy nach Dylan Ausschau hielt! Doch auch Lionel entdeckte ihn nirgends. Dafür aber seine Schlägerfreunde. Auf der hellen Uniformjacke hoben sich ihre Armbinden deutlich ab.
Sie waren schwarz.

2. Kapitel: Ermittlungen

Kurze, wuschelige und unfrisierte Haare zierten das Haupt des Mannes und Falten die Stirn. Durch den starren Schlafzimmerblick schienen seine grauen Augen geradewegs durch Isaac hindurchsehen zu können. Um seine Lippen und am Kinn war ein gepflegter Dreitagebart sichtbar zu erkennen. Einst zollte Isaac ihm Respekt, aber dieser verschwand vor einem Jahr.
Niemand anderes als William Cruz stand vor der Tür seines Büros, in welchem er potenzielle Klienten für neue Fälle empfang.
Isaac rümpfte die Nase. »Was wollen Sie, Cruz?«
»Darf ich reinkommen?«, kam als Gegenfrage mit Cruz` tiefer Stimme. Mit einem Fingerzeig deutete er in das Büroinnere hinter Isaac. Isaac dachte nicht im Geringsten daran, seinen alten Partner reinzulassen. Allerdings las er in Cruz` Augen eine Dringlichkeit, die kein Zögern geschweige denn Abweisung erlaubte. Er war aus beruflichen Gründen zu ihm gekommen.
Wortlos drehte sich Isaac um und ging in das kleine Büro hinein. Ob Cruz ihm folgte, vernahm er am Zumachen der Tür. Mit verschränkten Armen vor der Brust lehnte sich Isaac gegen seinen Schreibtisch und fixierte Cruz, der auf Abstand blieb.
»Also, was macht ein Detective Inspector des Yard in meinem bescheidenen Büro?«
»Heute Morgen rief uns ein gewisser Watari an. Er sagte, ein gewisser L möchte Sie als Berater beim Yard einsetzen.« Isaac horchte auf. L und Watari also. Von den beiden hatte er seit Jahren nichts mehr gehört.
»Darf ich auch erfahren, warum, Cruz?«
Cruz zog eine Hand aus der Manteltasche, um sich mit dieser über den Bart zu streichen. »Wegen des unerklärlichen Mordes, der gestern Abend verübt wurde.«
Ein Mundwinkel Isaacs zuckte. »Ihr schimpft euch Kriminalpolizei und schafft es nicht, einen Mord aufzuklären?« Auch wenn es ihm schwerfiel, er verkniff sich ein Lachen. Cruz verzog keine Miene.
»Wie gesagt, der Mord ist unerklärlich. Ein gerade mal siebzehnjähriger Teenager ist an plötzlichem Herzversagen gestorben. Laut seinen Eltern hatte er nie Probleme mit dem Herzen gehabt. Macht in Ihrem Oberstübchen dabei etwas klick, O’Neill?«
Nachdenklich strich sich Isaac durch sein dunkles Haar. Als er vor fünf Jahren dem Scotland Yard beigetreten war, wurde er direkt am ersten Tag über eine Todesserie gebrieft, die die Welt sieben lange Jahre den Atem anhalten ließ. Die Opfer starben dabei ebenfalls an Herzversagen. Schuld trug ein gewisser Kira, der diese Morde mit einem Notizbuch des Todes, einem so genannten Death Note, verübt haben soll. Von L kam die Anweisung, dass er sofort beim ersten Opfer informiert werden sollte, wenn so etwas erneut begann.
Isaac wusste nie, was er davon halten sollte. Er hielt das für Humbug, für ein Hirngespinst. Er musste so etwas schon hautnah miterlebt haben, um es glauben zu können. Aber trotzdem, es reizte ihn durchaus, sich vom Gegenteil beweisen zu lassen. Isaac lockerte die Arme und stieß sich vom Schreibtisch ab.
»Das klingt, als wäre ein neuer Kira aufgetaucht«, sagte er. »Also gut. Ausnahmsweise werde ich dem Yard wieder zur Seite stehen.«

Hinter dem Dienstfahrzeug von Cruz parkte Isaac sein schwarzes Motorrad und stieg ab. Den Helm verstaute er im Sitz. Er blickte am Gebäude hoch, zu welchem sie gefahren waren. Die Cartwright Academy, eine der hoch angesehenen Privatschulen Englands. Zumindest wenn er dem Hörensagen Glauben schenkte.
Isaac folgte dem Detective Inspector in das Schulgebäude hinein und betrachtete sogleich den hellen und offenen Eingangsbereich. Hier und da gab es vereinzelt Sitzmöglichkeiten, bei einigen standen auch niedrige Tische dabei. Zwei breite Flügeltreppen führten in den ersten Stock hinauf. Zwischen den Treppen ist eine breite Doppelglastür erkennbar, die zu einem großflächigen Sportplatz hinausführte. Die kurzen Absätze von Cruz` Lederschuhen waren auf dem polierten Fußboden gut erkennbar, als er den Eingangsbereich nach links verließ. Im Gegensatz zu ihm quietschten Isaacs Turnschuhe beim Gehen.
»Sie scheinen sich hier bestens auszukennen, Cruz«, bemerkte er.
»Ein bisschen kenne ich noch aus meiner eigenen Schulzeit«, erzählte dieser. In der Vergangenheit kam es nicht oft vor, dass der Ältere etwas von sich aus preisgab. Deshalb hakte Isaac nach. »Sie sind hier zur Schule gegangen?«
Cruz nickte. »Und was ist mit Ihnen? Bei Ihrem Intellekt kann ich mir bei Ihnen so eine Schule gut vorstellen.« Isaac schätzte es, wie er von ihm sprach. Trotzdem musste er ihn in dem Fall enttäuschen.
»In dem Waisenhaus, in welchem ich aufwuchs, war es Gang und gäbe, dass wir von den besten Universitätsprofessoren, Forschern und Fachleuten unterrichtet wurden. In den Genuss, zur Schule gehen zu dürfen, wie jedes normale Kind auch, kam ich nie.«
Cruz schnaubte. »Für normal habe ich Sie noch nie gehalten, O’Neill.«
Isaac grinste schief. »Danke.«
»Das war kein Kompliment.«
»Das ist mir bewusst.«
Das Ziel ihres Weges näherte sich und Isaac drückte die Türklinke zum Sekretariat hinunter. Ein junger Mann Anfang dreißig saß hinter einem langen Tresen an einem Computer. Er sah auf, als die beiden Ermittler eintraten. Sogleich hielt Cruz ihm seine Dienstmarke vor die Nase.
»DI William Cruz und Berater Isaac O’Neill vom Scotland Yard. Wir bräuchten bitte die Information, wo sich die beiden Schüler Henry R. Morgan und James Hunter derzeit aufhalten.«
Der Sekretär musterte zuerst die Marke und hob dann den Kopf, um dem Ermittlerduo in die Augen zu sehen. Er runzelte die Stirn. »Was möchte das Yard denn bitte von zwei Teenagern?«
»Es geht um einen Fall. Mehr brauchen Sie nicht zu erfahren«, fuhr Cruz den jungen Mann an. Dieser zuckte beim barschen Tonfall zusammen und senkte den Blick auf das Display des Monitors vor ihm. Seine Finger tanzten förmlich über die klackernden Tasten der Tastatur. Isaac sah ihm an, wie unbehaglich er sich wegen des Tonfalls des Älteren fühlen musste. So erging es beinah jedem, der von Cruz zusammengestaucht geschweige denn angefahren wurde. Das Klackern erstarb und der Sekretär hob leicht den Kopf.
»Die Schüler, die Sie suchen, befinden sich derzeit im vierten Stock in Raum 408. Der Name der unterrichtenden Lehrerin lautet Miss Adams.«
»Wir danken Ihnen für Ihre Mühen«, sagte Isaac höflich und schob Cruz langsam rückwärts. Er hob eine Hand zum Abschied. »Ihnen noch einen schönen Tag!« Und damit drehten sich beide Ermittler um und verließen das Sekretariat.

Mit einem leisen Pling öffnete der Aufzug seine Pforten und offenbarte den sauberen, hellen Flur des vierten Stockwerks. Ihnen gegenüber hing ein Plan der Etage. Diesem gaben sie keinerlei Beachtung und schlugen direkt den rechten Weg ein, nachdem sie aus dem Aufzug gestiegen waren. Den kleinen Schildern neben den Türen schenkten sie nur wenige Sekunden Beachtung, bis sie vor dem gesuchten Klassenraum standen. Isaac klopfte mit den Knöcheln gegen das Holz der Tür und öffnete diese daraufhin. Die Augenpaare von Heranwachsenden schauten neugierig in ihre Richtung. Einige fanden es jedoch spannender aus dem Fenster zu starren oder auf leeren Blättern ihrer Blöcke zu kritzeln. Isaac erkannte Henry und James auf dem ersten Blick. Denn sie trugen als einzige Trauerbinden um den Oberarmen. Als Freunde des Verstorbenen wurden sie mit Sicherheit als eine der Ersten informiert.

Cruz stellte sich und Isaac mit vorgehaltener Dienstmarke bei der Lehrerin vor und fügte hinzu: »Entschuldigen Sie die Störung, aber wir würden gerne mit zwei Schülern sprechen, Henry R. Morgan und James Hunter.«
Die genannten Schüler schauten nun auch zu den Ermittlern.
»Haben wir etwas angestellt?«, fragte der Junge, der direkt am Fenster saß.
»Die beiden Herren vom Yard wollen euch sicher nur einige Fragen stellen, James. Seid doch bitte so gut und geht mit ihnen vor die Tür, ja?«, sagte Miss Adams freundlich. James und Henry wechselten einen schnellen Blick miteinander, erhoben sich aber dann von ihren Plätzen und gingen durch die Reihen ihrer Mitschüler nach vorne. Die Ermittler ließen die Jungen vorausgehen und folgten ihnen anschließend. Kaum schloss Isaac die Tür hinter sich, verschränkten die beiden Teenager die Arme vor der Brust und nahmen damit eine Abwehrhaltung ein. Sie machten nicht gerade den Eindruck, als wären sie bereit auch nur eine Frage zu beantworten.
»Also, worum geht es?«, fragte Henry schnippisch. Jugendliche Arroganz stand in seinem Gesicht geschrieben, von Trauer keine Spur. Äußerlich sah er nach einem sportlichen Typ aus, während James eher zurückhaltender wirkte. Cruz ignorierte seinen Tonfall und warf einen Blick in seinen kleinen Notizblock. »Ihr wart Freunde des verstorbenen Dylan Jones, richtig?« Beide nickten. »Kam euch an seinem gestrigen Verhalten etwas merkwürdig vor? Hatte Dylan etwas getan, was unnormal für ihn war?«
James runzelte die Stirn. »Das Einzige, was mir merkwürdig vorkommt, ist Ihre Frage, Sir. Es war ein natürlicher Tod.«
»Das ist uns bewusst, James«, gab Isaac zurück. »Bist du etwas mit der Arbeit des Yard vertraut? Dann wüsstest du, dass wir nur routinemäßig nachfragen.«
Henry pflichtete seinem Kumpan bei. »Uns ist es egal, weswegen Sie das fragen müssen. Merkwürdig bleibt merkwürdig! Außerdem ist sein Name Hunter und ich heiße HR. Nur damit Sie sich das hinter die Ohren schreiben können!« Innerlich verdrehte Isaac die Augen. Dieser Junge besaß ja mal kein Respekt vor der Polizei! In Zukunft würde er mit großer Wahrscheinlichkeit öfters hinter Gittern landen. Sein ehemaliger Partner ließ diese Respektlosigkeit vollkommen unberührt. Dieser hartgesottene Detective Inspector des Scotland Yard hatte in seiner Laufbahn schon weitaus Schlimmeres zu hören bekommen. Und das nicht nur von einem dahergelaufenen Teenager, der das Maul zu weit aufriss.
Aber trotzdem, damit die Situation nicht doch noch unangenehm eskalierte, schlug Isaac vor, dass sie die Teenager getrennt voneinander befragten. Jedoch wartete er auf keine Antwort von Cruz, legte Hunter eine Hand auf den Rücken und schob ihn vom Mitarbeiter des Yard und HR weg.
Nur wenige Sekunden, nachdem sie sich außer Hör- und Sichtweite der beiden befanden, ließ Hunter seine defensive Haltung fallen. Allein durch diese kleine Gestik wusste Isaac, er war der Mitläufer des Trios. Derjenige, der nur mitmischte, weil er dazugehören wollte. Lässig lehnte sich Isaac gegen die Wand, fixierte den Teenager mit seinen hellen Augen.
»So, jetzt kannst du frei reden, Hunter, und mich zu belügen kannst du dir abschminken. Ich sehe an deinen Augen, dass du Dylans Tod genauso merkwürdig findest wie DI Cruz.«
»Und was ist mit Ihnen? Sie erscheinen jetzt auch nicht mehr ... professionell.«
»Ich hab gelernt, mich anzupassen. Aber um mich geht es jetzt nicht.«
Hunter nickte langsam. »Dylan.« Er schluckte, rückte die Trauerbinde zurecht. »Ich-... ich hab ihn gestern noch gesehen. Nur etwa eine halbe Stunde, bevor er gestorben ist.«
»Hat er irgendetwas gemacht oder mit wem gesprochen?«
»Ja. Ich hab gerade aus dem Fenster gesehen, als Dylan die Einfahrt zum Haus unserer Nachbarn hochging.«
»Weißt du, wer in dem Haus wohnt und was Dylan dort wollte?«
»Wohnen tut dort die Familie Wilson. Es sah so aus, als hätte er mit dem Nachbarsjungen gesprochen. Tommy Wilson, ein Zehntklässler dieser Schule.« Aus Isaacs Unterbewusstsein kam die Information zum Vorschein, dass Kira bestimmen konnte, was seine Opfer tun sollten, bevor sie starben. Er schüttelte den Gedanken ab, verstaute ihn wieder in seinem Unterbewusstsein. Ein Gespräch unter Teenagern war für ihn allerhöchstens ein Hinweis und kein entscheidender Beweis. Trotzdem ging Isaac auf die neue Information ein und hakte nach. »Hatten die beiden viel miteinander zu tun?«
Hunter zögerte. Er sah zur Seite und unterbrach damit den Blickkontakt. »In gewisser Weise ja.« Fragend legte Isaac den Kopf schief, drängte den Jungen aber zu keiner Antwort. »Dylan war ... ein Schläger, wissen Sie? Ein Übler, der es nur auf queere Personen abgesehen hatte. Mir kam es so vor, als verspürte er geradezu einen Hass auf diese Leute. Dylan war auch der Erste, der mit dem Mobbing an dieser Schule angefangen hatte. Davor gab es gar keinen. Oder es wurde nur nicht allzu auffällig gemacht. Dann gäbe es da noch Lionel Thompson, ebenfalls Zehntklässler. Er ist als ›Verfechter der Gerechtigkeit‹ an der Cartwright bekannt. Er legte sich andauernd mit Dylan an, obwohl dieser wesentlich größer und stärker war.« Er zuckte mit den Schultern und rieb sich den Nacken. »Jedenfalls sollte das alles gewesen sein, Mr O’Neill. Ich schätze, Sie werden mir eher nicht verraten, warum Sie es wirklich in Erfahrung bringen wollten, oder?«
Isaac grinste schief. »Glaub mir, Hunter, wenn du das wüsstet, würdest du mir den Vogel zeigen. Aber verrate mir noch bitte eines. Warum bist du mit Dylan und HR befreundet? Du scheinst mir nicht gerade ein intoleranter Arsch zu sein.«
»Danke ...?« Hunter legte nun seinerseits den Kopf schief. »Ich weiß es nicht so genau. Vielleicht weil ich meinen Intellekt nicht unter Beweis stellen muss. Also, das, was die Lehrkräfte und meine Eltern von mir erwarten.«
»Du versteckst, wer du wirklich bist«, schlussfolgerte Isaac und schüttelte verständnislos den Kopf. So etwas zu tun, konnte er sich noch nicht einmal vorstellen! Aber auch nur, weil er das Glück hatte, unter Gleichgesinnten aufzuwachsen. An einem Ort, wo er seine Intelligenz und Fähigkeiten frei entfalten konnte.

Als die Ermittler die Jungen zurück in ihren Klassenraum entließen, zeigte Isaacs Handyuhr an, dass es bereits kurz vor Mittag war. Er und Cruz standen sich nun gegenüber und besprachen die Ergebnisse der Befragungen. Ohne wichtige Details auszulassen, fasste Isaac seine neusten Informationen so knapp wie möglich zusammen. Als er endete, strich sich Cruz über das Kinn. »Laut Henry Morgan hätte Dylan niemals mit LGBTQ+ Mitgliedern geredet, ohne die Fäuste zu erheben.« Er schüttelte den Kopf. »So schrecklich das auch klingen mag, aber wir haben es eindeutig mit einem neuen Kira zu tun! Und anders als der Erste hat der Neue direkt mit dem Beeinflussen der Taten des Opfers angefangen.«
Zwar verstand Isaac, warum der Detective Inspector auf seine Meinung beharrte, aber noch blieb er in seinem eigenen Boot sitzen. »Ich sage nicht, dass ich Ihnen mittlerweile Glauben schenke, aber wir sollten uns mit Tommy und Lionel unterhalten. Mal sehen, was sie dazu zu sagen haben.«
 

3. Kapitel: Erwischt?

Es klingelte zur Mittagspause und die Schüler und Schülerinnen stürmten aus den Klassenräumen. Hunderte von hungrigen Heranwachsenden drängelten auf den Gängen des Schulgebäudes. Plauderten und versuchten, an ihren Vordermännern vorbei zur Treppe und zum Aufzug zu gelangen. Jeder wollte der Erste in der Mensa sein. Jeder wollte das erste Stück Pizza abbekommen.
Außer Lionel und Tommy. Gemächlich liefen sie in der Mitte und ließen sich von den Schülermassen hinforttragen. Im Erdgeschoss schoben sich die beiden durch ihre Mitschüler und verließen die Schule durch den Hinterausgang. Rund um den rot-sandigen Sportplatz standen etliche Sitzbänke. Auf einer, die dem Ausgang am nächsten war, nahmen sie Platz und holten ihre Lunchpakete aus den Schultaschen.
Lionel befreite sein Sandwich von der Frischhaltefolie und biss großzügig davon ab. Er kaute, während Tommy eine Tomate von seinem Sandwich fischte. Er zog eine Grimasse und hielt die saftig rote Scheibe zwischen zwei Fingern. »Mum tut jedes Mal eine davon auf mein Sandwich. Dabei weiß sie ganz genau, dass ich kein Gemüse esse.«
»Tomaten sind kein Gemüse, Tommy, sondern Obst.«
Tommy schüttelte den Kopf. »Diskutier nicht mit mir! Du weißt, meine Mütter arbeiten in einem Bioladen. Sie müssen so etwas wissen.«
»Ich möchte deine Eltern auch nicht der Lüge bezichtigen, aber sie sind auch nur Menschen und können nicht alles wissen.«
»Ach ja?« Tommy hob eine Augenbraue. »Ich lass mich ausnahmsweise Mal auf eine Diskussion ein. Versuch, mich vom Gegenteil zu bezeugen.«
»Wenn du es so unbedingt möchtest.« Besserwisserisch hob Lionel einen Zeigefinger. »Tomaten besitzen Samen und was hat noch alles welche? Früchte! Und Früchte sind Obst.«
»Aber wie können sie Obst sein, wenn sie deutlich weniger Zucker haben als beispielsweise Äpfel, hm? Noch dazu wachsen sie nur einjährig und müssen jedes Mal neu eingepflanzt werden. Daher, lieber Lionel, sind Tomaten Gemüse.«
»Das mag sein, aber Gemüse wird entweder als Beilage oder Hauptgericht gegessen. Tomaten hingegen sind ideal für das Frühstück als auch als kleinen Snack für zwischendurch.«
»So?« Tommy verschränkte die Arme vor der Brust. »Und was ist mit Pizzen und Burgern? Da können auch Tomaten drauf sein.«
»Fastfood zählt nicht, Tommy!« Wie um seinen eigenen Worten Ausdruck zu verleihen, nickte er kräftig. Sein bester Freund rollte mit den Augen. »Dein Ernst? Essen ist Essen. Egal, ob Fastfood oder sonst was.«
»Darum geht es mir nicht, Tommy. Ich meine die gesunden Hauptgerichte. Die, die man mit der Familie am Esstisch genießt.«
»Na gut. Trotzdem können auch dort Tomaten verarbeitet werden. Erinnere dich nur, wie dein Vater Bolognese macht. Da sind welche mit drin.« Seufzend ließ Lionel den pinken Schopf hängen. So würden sie doch nie zu einem Ergebnis kommen! Allerdings fiel ihm bereits einen Vorschlag ein, der sicher für beiderlei Genugtuung sorgen konnte. »Tommy -«
»Lio.« Belustigt zuckten seine Mundwinkel nach oben. Er räusperte sich. »Ein Kompromiss. Offensichtlich besitzen Tomaten Eigenschaften von Obst und Gemüse. Daher schlage ich vor, wir einigen uns auf ein Mittelding. Gemüsefrucht, zum Beispiel.«
»Hm ...« Nachdenklich legte Tommy den Kopf schief und tippte sich mit einem Finger gegen das Kinn. Dann zuckte er mit den Schultern. »Einverstanden. Willst du die Tomatenscheibe haben?«
»Klar, immer her damit!« Dankend nahm Lionel die obere Brothälfte hoch und die rote Scheibe des Fruchtgemüses fand ihren Weg auf das Salatblatt. Da an seinem Sandwich bereits ein Bissen fehlte, ragte die Tomate heraus. Als Lionel dies korrigieren wollte, fiel ein großer Schatten auf die beiden.
»Lionel Thompson und Tommy Wilson?« Die Genannten hoben die Köpfe. Zwei graue Augenpaare blickten auf die Jungen hinab. Lionel erkannte die Personen sofort, da Lionel bereits im letzten Jahr die Bekanntschaft mit den Ermittlern O’Neill und Cruz gemacht hatte. Einmal war auch Tommy dabei gewesen. Seitdem hatten die Erwachsenen sich kaum verändert.
»Wollen Sie etwas von uns?«, fragte Tommy mit gerunzelter Stirn.
»Gewiss«, sagte Cruz. »Uns ist zu Ohren gekommen, dass ihr gelegentlich Ärger mit Dylan Jones hattet. Stimmt das?«
»Wieso ›hattet‹? Er -«
»Er ist gestorben«, schnitt Isaac ihm kalt das Wort ab. Tommy klappte der Mund auf, die Augen geweitet. Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben. Bei Lionel zuckten die Mundwinkel. Er spürte, wie er freudig lächeln wollte. Um es zu unterdrücken, biss er ein weiteres Stück von seinem Mittagessen ab. Es gehörte sich nicht, sich über den Tod eines verhassten Mitschülers zu freuen. Schon gar nicht, wenn man dafür verantwortlich war. Er versuchte, möglichst ein unschuldiges Gesicht aufzusetzen, als er sich in das Gespräch mit einklinkte. »Sirs, dürften wir erfahren, wie er gestorben ist und wann? Wir haben sicher ein Alibi für den Zeitpunkt.«
»In diesem Fall besitzt ein Alibi keinerlei Gültigkeit, Lionel«, merkte Cruz an. »Beantwortet einfach kurz unsere Fragen und wir lassen euch dann in Ruhe, okay?« Beide Jungen gaben mit einem Nicken ihre Zustimmung. Spätestens ab jetzt musste Lionel spontan schauspielern lernen, um nicht als Hauptverdächtiger abgestempelt zu werden. Ein perfektes Gemisch aus Lügen und Wahrheiten sollte genügen. Damit hatte er ja bereits Erfahrung sammeln können.
Er lehnte sich gegen die Lehne der Sitzbank. »Dylan und seine Freunde diskriminieren jede queere Person, also auch Tommy. Ich mische mich nur ein und rette die Leute.«
»Indem du dich selbst verletzen lässt?« Aufmerksam lag Isaacs Blick auf dem Pflaster auf Lionels Wange. Lionel hob zwei Finger. »Erstens, ich wusste nicht, dass Dylan ein Messer hatte und zweitens, wurde ich von Stärkeren festgehalten.«
Isaac nickte, kommentierte es nicht weiter. Genau wie Cruz. »Habt ihr sonstige Informationen, die wir noch nicht kennen? Freut ihr euch, dass Dylan gestorben ist?«
»N-natürlich nicht! Ich mein -«, stotterte Tommy, der sich mit beiden Händen an sein Essen klammerte. Lionel legte ihm eine Hand auf die Schulter und sprach für ihn, aber auch für sich selber: »Wir beide konnten Dylan nie sonderlich leiden. Im Grunde konnte das niemand an dieser Schule, außer Hunter und HR. Aber den Tod ...« Er schüttelte den Kopf. »Das würden wir wirklich niemanden wünschen! Eine gerechte Strafe hätte ausgereicht.« Aus zusammengekniffenen Augen musterte Cruz den Jungen vor sich, strich sich dabei über den Bart. Lionel befürchtete bereits, der Detective Inspector würde seine Halbwahrheit durchschauen, als Cruz sich schließlich doch entspannte.
»Du bist eine ehrliche Haut, Lionel Thompson. Zu ehrlich meiner Meinung nach.« Dann wandte er sich an Tommy. »James Hunter erzählte uns gegenüber, er hätte beobachtet, wie Dylan gestern Abend mit dir gesprochen haben soll. Worüber habt ihr geredet?« Zunächst zögerte Tommy. Seine Augen zuckten unruhig durch die Gegend, während seine Finger das Sandwich auseinanderrupften. Aber dann berichtete er leise: »Er- ... er hat sich bei mir entschuldigt.«
»Mehr nicht?«, hakte Cruz nach. »Nur eine plumpe Entschuldigung?«
Tommy nickte zaghaft und die Ermittler tauschten einen Blick untereinander aus. Dann sprach Cruz zu beiden: »Verlasst bitte auf Weiteres nicht die Stadt. Für den Fall, dass wir mit euch noch einmal in Kontakt treten müssen.« Erneut nickten die Teenager und die Ermittler wünschten ihnen einen schönen Nachmittag. Als sie außer Hör- und Sichtweite waren, murmelte Tommy ein leises Danke in seinen nicht vorhandenen Bart. Sanft strich Lionel ihm über den Rücken. »Kein Problem. Aber meiner Ansicht nach, hättest du erst gar nicht reden müssen. Deine Körperhaltung hätte ausgereicht, als ... du weißt schon.«
Sein bester Freund nickte beklommen, erinnerte sich an die Worte O’Neills. »Wir wissen aber immer noch nicht, wie er gestorben ist«, fügte er leise hinzu. Wie geistig nicht ganz anwesend, starrte Tommy sein zerrupftes Sandwich an und steckte es anschließend weg. Er hatte keinen einzigen Bissen gegessen.
Lionel musterte seinen besten Freund. Er lag falsch. Nur er wusste es nicht.

Als es zwei Schulstunden später zum Schulschluss klingelte und alle Teenager nach draußen strömten, verabschiedete sich Lionel von Tommy und ging so schnell wie möglich zur Haltestelle, um von dort aus die U-Bahn nachhause zu nehmen. Zuhause streifte er sich beiläufig die Schuhe ab und lief, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf in sein Zimmer. Als die Zimmertür ins Schloss fiel, lehnte er sich dagegen und wühlt mit vor Aufregung klopfendem Herzen in seinem Rucksack, um das schwarze Notizbuch zu Tage zu führen. Die Tasche schmiss er achtlos auf sein Bett. Aufgeschlagen legte er das Death Note auf dem Tisch ab und betrachtete den Textblock, der auf der ersten Seite geschrieben stand:

Dylan Jones
Herzversagen
Am Abend des 13. Oktober 2021 fährt er mit der U-Bahn zu den Wohnvierteln. Er besucht seine jüngeren Mitschüler und entschuldigt sich bei ihnen. Zuhause erliegt er qualvoll einem plötzlichen Herzleiden.

Lionel leckte sich die Lippen. Spätestens ab jetzt gab es keine Zweifel mehr, dass es sich beim Death Note um eine keine Fälschung handelte. Kurz vor seinem Tod hatte Dylan genau das ausgeführt, was Lionel aufgeschrieben hatte. Er grinste. Endlich erkannte er, was das Death Note tatsächlich darstellte: die Lösung! Dieses normal erscheinende schwarze Notizbuch war die Lösung für all die diskriminierenden Probleme, die die Schule besaß.
Und Lionel musste die Hand sein, die die Lösung zu nutzen wusste!
Wie automatisch holte seine Hand einen Bleistift aus der Aufbewahrungsbox auf seinem Schreibtisch. Er wusste bereits, wer das nächste Opfer des Death Notes werden sollte. Jedoch, als er die Mine auf dem weißen Papier aufsetzte, huschte in seinem Augenwinkel ein schwarzer Schatten am Fenster vorbei. Vor Schreck brach ihm die Bleistiftmine ab. Er hielt inne. Atmete so flach wie möglich.
Was war das nur? Hatte Lionel es sich vielleicht nur eingebildet?
»Wer wird es denn heute?« Erschrocken fuhr Lionel herum und ließ den Stift los. Das Schreibutensiel schlug auf dem Boden auf. Mit aufgerissenen Augen starrte er das zweimeterhohe Monstrum an, was vor ihm stand. Die dunkle Kleidung wirkte eng und wie aus Leder. An seinem Gürtel war eine kreuzförmige Tasche befestigt und an einem Handgelenk befand sich ein Armreif mit einem Totenkopf. Die Haut, als auch die Haare, waren in einem blau-grauen Farbton, die dunkelblauen Lippen zu einem Grinsen verzehrt. Damit entblößte das Monstrum seine spitzen Zähne. Am linken Ohr baumelte ein herzförmiger Ohrring. Aber am auffälligsten waren die Augen. Sie waren gelb mit roten Pupillen und quellten aus den Augenhöhlen hervor.
»Wer bist du?«, flüsterte Lionel ehrfürchtig, wagte es nicht, den Blick von es abzuwenden.
»Ich?« Mit einem langen Finger deutete das Monstrum auf sein Gesicht. Es legte den Kopf auf die Seite. »Ich bin der Shinigami Ryuk. Ein Gott des Todes. Das Death Note, was du verwendest, gehörte ursprünglich mir.«
»E-ein Todesgott?!« Die Beine gaben unter ihm nach. Lionel musste sich setzen. Schnell warf er einen Blick auf das aufgeschlagene Notizbuch hinter ihm. »Was willst du von mir? Willst du dein Eigentum zurückhaben?«
»Im Gegenteil. Hör zu, Kleiner.« Leichtfüßig lösten sich Ryuks Füße vom Boden und der Todesgott legte sich in der Luft in eine liegende Position. Den Kopf legte er auf einer Faust ab. Fasziniert beobachtete Lionel ihn dabei. Er sprach weiter: »Sobald ein Death Note die Menschenwelt berührt, gehört es hierher. Da du es warst, der es gefunden hat, bist du der neue Besitzer. Sofern du es behalten möchtest. Meine Aufgabe ist es lediglich dir fortan auf Schritt und Tritt zu folgen.«
»Wie ein Stalker.« Reflexartig schlug sich Lionel die Hand vor den Mund. Die Worte waren ihm einfach herausgerutscht. Ryuk stieß ein heiseres Lachen aus. Unglaublich! Es amüsierte den Todesgott, wie Lionel ihn aus Versehen betitelt hatte. »Stalker! So hat es bisher noch niemand ausgedrückt! Ihr Menschen seid wirklich köstlich! Nicht so wie Äpfel, aber ihr kommt gleich an zweiter Stelle!« Ryuks Lachen hatte so sehr Lionels Aufmerksamkeit für sich vereinnahmt, dass der Teenager beinah das Motorengeräusch vor dem Haus überhörte. Er wagte einen Blick aus dem Fenster und schluckte. Sein Vater! Aber was tat er bereits zuhause? Ohne darüber nachzudenken, stürzte Lionel aus seinem Zimmer. Genau wie beim Heimkommen, nahm er auch jetzt zwei Stufen aufeinmal, bis er von der vorletzten Stufe aus zu Boden sprang. Stolpernd empfang er seinen Vater im Eingangsbereich. »H-hey, Dad! Was machst du schon hier?«
»Plusstunden«, brummte er. Er hob eine Augenbraue und musterte seinen Sohn. »Warum siehst du so gehetzt aus, Lionel?« Hinter seiner Stirn suchte Lionel nach einer Ausrede, entschied sich aber dann für die Wahrheit und schlang die Arme um seinen Vater. »Na, ich wollte dich so schnell wie möglich begrüßen, Dad!« Sein Vater musterte ihn weiter, zuckte aber dann mit den Schultern und erwiderte die plötzliche Umarmung. Dabei wuschelte er ihm durch den pinken Schopf, schob ihn aber dann von sich und ging unter dem Türbogen durch ins Wohnzimmer. Für einen Moment blickte Lionel ihm nach, ehe er sich wieder der Treppe zuwandte – und erschrak. Er musste sich auf die Lippe beißen, um nicht laut zu schreien. Denn mit dunklen Flügeln flog Ryuk über der obersten Treppenstufe und starrte auf den Teenager hinab. Immer wieder wanderten Lionels grüne Augen ins Wohnzimmer, wo sich sein Vater auf die Couch gesetzt hatte. Ob er den Todesgott gesehen hatte?
Ryuks dunkle Stimme riss ihn aus den Gedanken. »Keine Sorge, Lionel. Nur Menschen, die das Death Note berührt haben, können mich sehen und hören.« Wie geistig nicht ganz anwesend, nickte Lionel lediglich und stieg die Stufen wieder hinauf. Flügelschlagend machte Ryuk ihm Platz und folgte Lionel zurück ins Zimmer.
»Also, wer wird das heutige Opfer, Lionel?«, wiederholte der Todesgott seine Frage vom Anfang. Lionel blickte zum aufgeschlagenen Death Note. Ah, richtig. Er wollte jemandes Namen hineinschreiben, bevor Ryuk plötzlich in seinem Zimmer stand. Das hatte er in der ganzen Aufregung vergessen. Das hämische Grinsen von HR Morgan blitzte kurz in seinem Kopf auf und Lionel ballte unwillkürlich die Fäuste, die er dann wieder löste. Er hob seinen Bleistift vom Teppichboden auf und setzte sich. Schreiben tat er aber noch nichts.
»Ryuk«, sagte er und drehte den Stift zwischen den Fingern. »Um jemanden mit dem Death Note töten zu können, muss es der vollständige Name einer Person sein, richtig?«
Ryuk nickte. »Genau. Kosenamen oder nur ein Teil des Namens zählen nicht. Selbst wenn du das Gesicht genau vor Augen hast.« Dann hatte Lionel ein Problem. HR war definitiv ein Spitzname. Aber wie sollte er seinen richtigen Namen herausfinden? Über dieses Problem nachdenkend, fiel der Bleistift seinen Zähnen zum Opfer. Sie hinterließen kleine Bissspuren auf der harten Oberfläche. Er hielt inne, schielte zum Todesgott, der wieder seine schwebende Liegeposition eingenommen hatte und ihn neugierig musterte.
»Woher kennst du eigentlich meinen Namen?«
»Erstaunlich, das fiel dir früher auf als dem Jungen, den ich vor dir begleitet habe.«
»Welchen -« Lionel schüttelte den Kopf. »Egal. Beantworte meine Frage!« Er glaubte, das Dauergrinsen des Todesgottes würde noch breiter werden, als dieser mit einem Fingerzeig über Lionels Kopf deutete. »Ich kann ihn sehen, Kleiner. Direkt über deinem Kopf.« Lionel riss die Augen auf. Dann konnte Ryuk den Namen eines jeden Menschen sehen! Ryuk streckte einen Arm aus, um einen Apfel aus dem Korb auf dem Tisch zu entfernen. Mit dem Apfel in einer Hand erläuterte er: »Weißt du, Lionel, du kannst diese Fähigkeit auch bekommen. Allerdings zu einem großen Preis.«
Lionel schluckte. »Wie hoch ... ist dieser Preis?« Als wäre der Apfel ein Maiskolben nagte der Todesgott große Stücke aus dem Obst heraus und verschlang anschließend auch den Strunk des Obstes. Erst dann gab er dem Teenager eine Antwort. »Für einen Menschen sehr hoch. Weißt du, ich bin auch in der Lage, die Anzahl an Jahren zu sehen, die ein Mensch noch leben wird. Stirbt dieser Mensch frühzeitig, erhalte ich seine verbliebene Lebenszeit. Wenn du den Handel mit den ›Shinigami-Augen‹ abschließt, ziehe ich dir die Hälfte deiner verbliebenen Lebenszeit ab.«
Für einen langen Moment dachte Lionel tatsächlich darüber nach, den Handel einzugehen. Abgesehen von den Vorteilen, die er dadurch erhalten würde, verband der Handel ein enormes Risiko. Lionel wusste nicht, wie lange er noch zu leben hatte. Es konnten fünfzig Jahre als auch nur fünf sein. Erneut nagte er auf dem Bleistift herum. Das war eindeutig ein Handel, den er nicht leichtfüßig eingehen sollte. Er schüttelte den Kopf. »Vorerst kann ich darauf verzichten.«
Ryuk zuckte mit den Schultern. »Wenn du dich um entscheidest, sag nur Bescheid.« Er angelte sich einen neuen Apfel aus dem Korb, während Lionel sich wieder dem schwarzen Notizbuch zuwandte. Den angenagten Bleistift spitzte er an und setzte die neue Mine auf dem linierten Papier an.

Am nächsten Morgen fanden vier Schüler und Schülerinnen den Tod.

4. Kapitel: Das Squere

Warmes Wasser floss Lionel über die Brust, den Rücken bis hinunter zu den Beinen und den Füßen. Vermischt mit dem Schaum seines Shampoos und Duschgels verschwand die klare Flüssigkeit im Abfluss. Er legte den Kopf in Nacken und schloss die Augen, während das Wasser sein Gesicht benetzte.
Zwei Tage. Nach seinem letzten Gebrauch des Todesnotizbuchs waren bereits zwei Tage vergangen. Seitdem hatte sich das Mobbing-Verhalten an seiner Schule ein wenig verbessert. Zumindest unter den jüngeren Schüler und Schülerinnen hatten die Schikanen aufgehört, weil sie schlichtweg Angst verspürten. Dabei würde Lionel den Jüngeren nie etwas antun. Es reichte, wenn es unter den Jahrgängen elf bis dreizehn Tote gab. Sie waren es schließlich, die den unteren Jahrgängen ein schlechtes Vorbild waren. Solange sie am Leben blieben, würde es niemals zu einer rapiden Änderung kommen. So viel stand für Lionel fest. Nur musste er dafür von ein paar zu vielen Personen den vollständigen Namen herausfinden. Ohne dabei den Handel mit den Shinigami-Augen einzugehen. Unterbewusst wusste er, dass es eines Tages unweigerlich dazu kommen musste.
Lionel drehte das Wasser ab und verließ die Duschkabine. Nachdem er sich mit einem Handtuch ordentlich abgetrocknet und mit frischen Klamotten eingekleidet hatte, ging er über den Flur zurück in sein Zimmer. Dort wartete bereits der Todesgott Ryuk in seiner üblichen schwebenden Liegeposition, der langsam einen Apfel aß. Seit Lionel verstanden hatte, dass der Shinigami in diese Obstsorte praktisch vernarrt war, hatte er den bisherigen Apfelkorb gegen einen Größeren ausgetauscht. Was aber nicht sonderlich viel gebracht hatte. Denn Lionel bekam das Gefühl, je mehr Äpfel er Ryuk anbieten konnte, desto schneller verschwanden sie in ihm. Dabei aß er wirklich langsam, wenn nicht sogar richtig genießend.
»Ich hätte eine Frage, Ryuk«, begann Lionel, als er die Zimmertür geschlossen hatte, »warum bist du so vernarrt in Äpfel? Es gibt auch noch andere Obstsorten, die genauso gut schmecken.«
Schockiert keuchte Ryuk auf. Er hätte beinah den Apfel fallengelassen. »Kleiner! Nichts schmeckt so gut wie die Äpfel der Menschenwelt!« Wie hypnotisiert starrte Ryuk das angebissene Stück Obst an und strich sanft mit einem Finger über die Oberfläche. »Sie sind so rot und so saftig und so -«
»Schon gut! Hab es verstanden.« Doch der Todesgott hörte ihn nicht. So sehr war er damit beschäftigt, alle schmackhaften Eigenschaften eines Apfels aufzuzählen. Lionel rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf. Er hörte ihm nicht zu und ging stattdessen zu seinem Kleiderschrank. Er schob die Tür zur Seite auf, bückte sich und holte eine schmale, hölzerne Kiste heraus. Ein Zahlenschloss baumelte an ihr. Auf dem Deckel standen in goldenen Lettern die Initialen seines Namens geschrieben. Als Lionel fünf Jahre alt war, bekam er die Kiste von seiner Großmutter zur Einschulung geschenkt. Ihr Hintergedanke dabei war, er sollte die Kiste als eine Art ›Erinnerungsbox‹ sehen, in welcher er kleine, symbolhafte Erinnerungen aufbewahren konnte.
Und das tat er seit jeher auch.
Lionel drehte an den kleinen Rädchen des Schlosses, um den Code einzugeben. Mit einem Klick ging es auf und Lionel öffnete den Deckel der Kiste. Lächelnd blickte er auf viele Erinnerungsstücke hinab: farbenfrohe Klemmbausteinfiguren, die seine ersten Freunde darstellten, sein Lieblingsstofftier als Baby, die erste Valentinskarte aus der Grundschule und und und. In dieser Erinnerungsbox lagen wirklich seine liebsten Erinnerungen drin, wobei er mit den Jahren auch welche aussortiert hatte, weil sie ihm nicht mehr wichtig genug oder zu negativ behaftet waren. Aber nur um in Erinnerungen schwelgen zu können, hatte er die Kiste nicht herausgekramt. Seine Intention hinter dieser Tätigkeit beinhaltete zwei Dinge. Erstens, wegen eines Bandes, auf welchem ein regenbogenfarbiger Pfeil auf einem schwarz-weiß gestreiften Hintergrund abgebildet war, und zweitens, weil die Kiste einen versteckten Boden enthielt. Den hatte er vor einigen Jahren zufällig entdeckt, als die Box ihm aus Versehen aus den Händen gerutscht und zu Boden gefallen war. Am Rand des Deckels war dabei ein Holzsplitter abgesprungen, der bis heute nicht repariert worden war.
Bevor Lionel sich jedoch dem Boden widmete, legte er sich das Band um das linke Handgelenk und verknotete die Enden miteinander. Dort, wo er sich mit Tommy heute Abend wollte, zeichnete es ihn als ›Verbündeten‹ der Community LGBTQ+ aus. Als das Band weder zu fest noch zu locker sein Handgelenk zierte, hebelte er den zweiten Boden mithilfe eines Schraubenziehers auf. Vorsichtig holte er aus dem Versteck das Death Note heraus.
Ryuk, der seine Aufzählung über Äpfel beendet hatte, verfolgte Lionels Tun. »Sag bloß, du möchtest es mitnehmen, Kleiner.«
»Natürlich nicht«, erwiderte Lionel. »Lediglich einige Schnipsel.« Wahllos schlug er eine leere Seite auf und fing an, diese mit einer Schere in kleine Rechtecke zu zerteilen. Als dies erledigt war, kürzte er einen Bleistift auf die Größe seines kleinen Fingers und verstaute diesen zusammen mit den Schnipseln in eine Streichholzschachtel, die in seiner Hosentasche verschwand. An Ryuk gewand gestand er: »Natürlich hoff ich, dass ich sie nicht einsetzen muss. Aber wenn doch, dann ...« Vielsagend klopfte er sich auf die Hosentasche, ließ die nicht gesagten Worte zwischen sich beide im Raum hängen. Zunächst blickte der Todesgott ihn nur an, aber dann stieß er ein heiseres Lachen aus. Zwischen zwei Lachern sagte er: »Ich muss zugeben, Lionel, du bist ein cleveres Bürschchen.« Lionel grinste des Kompliments wegen in sich hinein. Ob Ryuk das auch dem anderen Jungen gegenüber zugegeben hatte?

Stolz leuchtete das regenbogenfarbige Neonlogo eines 3D-Würfels über der Tür des Pub. Lionel reckte den Kopf, um zu sehen, bis wohin die Schlange reichte. An der Kreuzung wurde das vermeintliche Ende der Schlange von einer Hausfassade verdeckt. Eine ganze Menge Leute warteten an einem kühlen Oktoberabend darauf, eingelassen zu werden. Denn das Squere war der diverseste Nachtclub und Pub des East End – zumindest wenn man unter achtzehn war. Es lag nur wenige Straßen von den restlichen Pubs und Nachtclubs entfernt, wobei es trotzdem noch mit Bus und Bahn gut erreichbar war.
Von dem Barkeeper wusste Lionel, dass der Pub ausschließlich für Erwachsene eröffnet wurde, der dann aufgrund der Konkurrenz dichtmachen musste. Das blieb auch so, bis der aktuelle Besitzer es von Grund auf renovieren ließ, um einen geeigneten Safespace für das junge diverse Spektrum Londons zu eröffnen. Während es unter der Woche ein gewöhnlicher Pub für die Teenager war, erwachte es am Wochenende als Nachtclub. Verbündete, wie Lionel einer war, wurden natürlich auch herzlichst willkommen geheißen.
Er blickte neben sich zu Tommy hinüber und sah, wie der kühle Wind an seiner Kleidung und am dunklen Haar zerrte. Er schlang die Jeansjacke enger um den Oberkörper. »Ist dir kalt?«, erkundigte sich Lionel und machte Anstalten seine eigene Jacke auszuziehen. Doch Tommy winkte ab. »Geht schon.« Seine runde Brille rutschte ihm ein Stück über die Nase und als guter Freund rückte Lionel ihm diese wieder zurecht. Tommy schenkte ihm ein dankendes Lächeln, was er direkt mit einem stillen ›gern geschehen‹ auf den Lippen erwiderte.
Sie erreichten die Spitze der Schlange und traten als Letzte durch die Tür in die Wärme, bevor der Türsteher verkündete, dass der Club voll sei. Die Tür schloss sich hinter ihnen und laute, dröhnende Musik umhüllte die Jungen, die auf ein Meer aus tanzenden und hüpfenden Gleichaltrigen sahen. Die komplette Tanzfläche war von bunten Lichtkegeln erhellt. Jeder anwesende Teenager trug ein farbiges Band am Handgelenk, was sie entweder als Verbündete oder Mitglieder der queeren Community kennzeichnete.
Lionel beugte sich zum Ohr seines besten Freundes und sagte: »Ich hol die Getränke. Such du uns schon mal einen Sitzplatz, ja?«
»Geht klar!«, rief Tommy, im Versuch die Musik zu übertönen. Dann trennten sie sich. Während Lionel zielgerichtet die Bar aufsuchte, lief Tommy in die entgegengesetzte Richtung zum Sitzbereich. Im selben Moment, als er die Bar erreichte und die Getränke orderte, gesellte sich ein etwas älterer Junge neben ihn. Aufgrund des Lichtmangels und der umherschwenkenden, bunten Lichtkegeln, brauchte Lionel einen Augenblick, bis er ihn erkannte. Hunter.
»Sieh mal einer an. Das nenn ich doch mal einen überraschenden Wendepunkt«, kommentierte Ryuk. Er flog flügelschlagend hinter Lionel. Es kümmerte ihn nicht, wenn Clubbesucher durch ihn hindurch gingen, weil sie nicht in der Lage waren ihn zu sehen. Ihre Blicke trafen sich. Aber Hunter wandte sich prompt von ihm ab, ergriff die zwei Gläser vor ihm und trat von der Bar weg. Lionel starrte ihn noch eine Weile hinterher, bis sein älterer Mitschüler in der Menge untergetaucht war.
Ryuk hatte Recht. Hunters Anwesenheit im Squere war sehr überraschend. Definitiv gehörte er zu den wenigen Personen, die Lionel hier nicht erwartet hätte. Und anhand der Gläseranzahl war er nicht alleine hier. Es war nur ein Gefühl, aber Lionel wusste, dass die zweite Person unmöglich HR sein konnte. Denn dieser hatte einst in der Schule verlauten lassen, er würde das Squere lieber in Flammen stehen sehen, ehe er auch nur einen Zeh in das zweistöckige Gebäude setzte. Allein bei dem Gedanken daran, kochte sein Blut vor Wut. Schnell schluckte er die negativen Gefühle hinunter. Hier und jetzt hatten sie nichts zu suchen.
Die Barkeeperin stellte ihm zwei Gläser - einmal Cola und einmal Sprite - vor die Nase und kassierte von ihm das Geld, um sich dann anschließend dem nächsten Kunden zuzuwenden. Mit den Gläsern in den Händen schlug Lionel die gleiche Richtung ein, wie Tommy sie vorhin nahm. Wobei er darauf achtete, nichts zu verschütten. Der Sitzbereich erstreckte sich in zwei Reihen. Die hintere Reihe bestand aus Ecksofas, die Rücken an Rücken an der Wand standen. Diejenigen in der vorderen Reihen saßen auf gemütlichen Sesseln. Während das Sitzmobiliar einen Regenbogen bildeten, strahlten die niedrigen Tische vor ihnen in einem schlichten Braunton. Lionel suchte den Bereich nach seinem besten Freund ab. Das erwies sich als schwerer als gedacht, denn das Licht war wirklich auf der minimalsten Stufe gedimmt und die Lichtkegel reichten nicht bis hierher. Er kniff die Augen zusammen und entdeckte einen flammenroten Schopf auf einer lilafarbenen Couch sitzen. Und gleich daneben Tommy. Erleichtert ging Lionel auf die beiden zu und setzte sich an Tommys freie Seite. Beide blickten zu ihm.
»Hier, deine Sprite!«, rief Lionel und schob ihm das eine Glas hin.
»Und mir hast du nichts mitgebracht?«, fragte der Rotschopf gespielt traurig. Lionel sah auf das Glas, welches vor dem Rotschopf auf dem Tisch stand, und hob eine Augenbraue. »Du hast doch noch was, Takumi.«
Takumi zog eine Schnute. »Es ist aber fast leer. Einmal kannst du doch ein Gentleman sein und einem Mitschüler ein Getränk ausgeben. Bitte!« Bittend hielt er die aneinandergelegten Hände vor seinem gesenkten Kopf. Blinzelnd sah Lionel ihn an und senkte seufzend den Kopf. »Meinetwegen. Aber erst, wenn es wirklich leer ist. Und wehe du trinkst den Rest jetzt auf Ex!« Ein Funkeln war in Takumis dunkle Augen getreten, als er sein Haupt wieder hob. »Arigató, Lio! Ich schulde dir was!«
Im Laufe des Abends wechselten sie sich mit Tanzen ab, damit immer mindestens einer beim Tisch war und auf die Getränke aufpasste. In einem Club wie diesem war die Wahrscheinlichkeit zwar gering, dass jemand mit KO-Tropfen in der Tasche herumlief, aber Lionel wollte dann doch lieber auf Nummer sicher gehen. Denn dank seinen Eltern kannte er genügend Geschichten, was diese Tropfen bei einem anrichteten. Wenn Erwachsene dazu in der Lage waren, jemanden damit wehrlos zu machen, dann waren es hormongesteuerte Teenager erst recht. Deshalb lautete hier die Devise: Vorsicht ist besser als Nachsicht!
Jedes Mal, wenn sich Lionel auf die Tanzfläche begab, war er mehr als froh über das Band an seinem Handgelenk. Denn damit signalisierte er, dass er zumindest nicht von anderen Jungs angetanzt werden möchte – und damit waren nicht nur jene mit Penis gemeint. So versuchte er zu vermeiden, dass diejenigen, die es bei ihm versuchten, enttäuscht werden. Viele akzeptierten es sogar schnell und widmeten sich dem nächsten Besucher. Bei anderen hingegen, die dann versuchten ihn auf das andere Ufer zu ziehen, musste er schwerere Geschütze aufziehen. Wenn nicht Tommy oder Takumi ihn aus der Situation retteten, indem sie ihn an angeblich bestellten Getränken erinnerten. Ein oder zweimal brachte er ihnen tatsächlich Neue mit.
Ryuk unterdessen drehte gelegentlich Runden über den Köpfen der Clubbesucher. Die meiste Zeit aber stand er unschlüssig neben dem Tisch der Jungen und ignorierte die Leute, die durch ihn hindurchgingen. Ab und zu verrenkte er sich auf die merkwürdigste Weise, die Lionel bisher nur im Zirkus gesehen hatte. Als Lionel das nächste Mal die Position der Tisch-Wache einnahm, fragte er den Todesgott: »Sag mal, Ryuk, musst du auf Klo oder warum die Verrenkungen?« Er hatte sein Glas an sein Mund gehoben, damit niemand mitbekam, dass er mit jemanden sprach, den nur er sah.
»Ich kann nicht anders, Kleiner. Seit einer gefühlten Ewigkeit hab ich keine Äpfel mehr gegessen!« Wenn Lionel ehrlich zu sich selber war, hatte er so etwas bereits geahnt. Der Todesgott verschlang das Obst wie sein Vater seine Zigaretten rauchte – mehrmals am Tag. Und kurz vor Sammys Todestag besonders oft.
Er leerte sein Glas in einem Zug. »Du musst dich aber gedulden müssen, bis wir wieder zuhause sind. Auch wenn es die meisten nicht mitbekommen würden, wie ein schwebender Apfel langsam gegessen wird. Es wäre trotzdem ein zu großes Risiko und ich würde in Erklärungsnot geraten. Zumal ich noch nicht mal welche dabei habe und an der Bar wird es garantiert keine geben.« Wenn Ryuk enttäuscht war, ließ er es sich nicht anmerken. Aufgrund seines Dauergrinsens war das schwer zu deuten.
»Kannst du dann wenigstens jemandes Namen eintragen?« Lionel rollte mit den Augen und stellte sein Glas ab. Er antwortete nicht darauf. Kurz bevor sie losgegangen waren, um Tommy abzuholen, hatte er dem Todesgott bereits eine Antwort dazu gegeben. Solange kein Blödkopf hier reinkam und Ärger machte, würde es heute Abend keinen Toten geben.
Jemand kam mit schwingenden Hüften und hörbarem Atem auf ihn zu. Lionel spannte seine Muskeln bereits in Alarmbereitschaft an, als merkte, dass es Takumi war. Sein kurzer Rock schwang bei jedem Schritt mit. Er ließ sich neben ihn fallen und Lionel musterte den Jungen im Halbdunkel. Rotgefärbte Strähnen klebten ihm an der Stirn und ein breites Grinsen, das sogar seine Augen erreichte, zierte sein schmales Gesicht. Es war ihm wortwörtlich anzusehen, wie befreit er im Moment war. Einer der Gründe, warum Lionel gerne in das Squere kam. Egal, ob als Pub oder Club am Wochenende, hier musste sich keiner verstecken. Hier konnte jeder das sein, was er nun mal war: normal.
Plötzlich brach die Musik abrupt ab und Lionel blickte sich um. Auf der Tanzfläche hatten sich die Tanzenden geteilt und den Blick auf den Grund freigegeben. Sofort stellten sich seine Nackenhaare auf. Eine Gruppe Teenager – zwei Jungen und zwei Mädchen – umzingelten ein Mädchen in Lionels Alter. Da keine Musik mehr lief, hörte er leider, was sie zu ihr sagten.
»Nettes Kleidchen, Zack. Hast du dich im Schrank deiner Schwester verirrt?«, fragte der schwarzhaarige Junge spöttisch und lachte. Seine Freunde stimmten in das Lachen mit ein. Eines der Mädchen schubste das Jüngere grob. Es strauchelte, ruderte mit den Armen und fiel unsanft auf ihren Po. Erneut lachten die Vier und Lionel ballte die Fäuste. Er spürte die aufkeimende Wut in sich. Er presste die Zähne zusammen. Warum griff niemand sonst ein? Aber die Antwort lag klar auf der Hand. Die mobbenden Teenager waren schlichtweg größer als sie alle. So etwas schüchterte nun mal ein. Als Lionel aufstehen wollte, hielt Takumi ihn am Arm zurück und deutete mit einem Nicken auf die Szenerie. Zusammen beobachteten sie überrascht, wie Tommy und Hunter sich vor das Mädchen stellten.
Tommys Stimme klang ungewöhnlich mutig und selbstbewusst, als er zu ihnen sagte: »Ihr lasst sie jetzt bitte in Ruhe, klar? Sonst holen wir die Security.« Die Älteren blieben unbeeindruckt, grinsten und tauschten untereinander Blicke aus. Dann sahen sie auf Tommy und Hunter hinab. Wie automatisch griff Lionel in die Hosentasche, in welcher er die Streichholzschachtel mit den Schnipseln aus dem Death Note verstaut hatte. Doch genau wie beim Eintragen von HRs Namen, zögerte er auch jetzt. Er konnte die Gruppe nicht töten. Er sah sie zum ersten Mal. Er konnte ihre Namen gar nicht kennen. Ryuks Blick ruhte auf ihm.
»Die Augen, Lionel. Sag nur ein Wort und ich verleihe dir die Augen eines Shinigami, damit du sie töten kannst.« Lionel ertappte sich dabei, wie er tatsächlich über das Angebot nachdachte. Vier Namen im Austausch eines einzigen Wortes. Das klang so einfach. So ... verlockend. Er hörte die Menge aufkeuchen, als Hunter gerade zu Boden ging, aber direkt wieder aufsprang. Noch wurde Tommy in Ruhe gelassen. Solange Hunter noch kampffähig war, galt er als die größte Bedrohung. Aber egal, wie sehr er sich auch gegen sie wehrte, alleine hatte er keine Chance. Irgendwann würde er gar nicht mehr aufstehen.
Eine Bewegung ging durch die Menge, als sie sich erneut teilten. Dieses Mal für zwei hünenhafte, trainierte Männer in schwarzer Kleidung. Die Security war endlich angekommen. Als wäre die schikanierende Gruppe nicht anwesend, zogen die beiden Männer Tommy, Hunter und das Mädchen aus der Gefahrenzone heraus, um sich anschließend vor der Gruppe aufzubauen.
»Dominique duldet so ein Verhalten in seinen Clubräumen nicht«, erklärte der linke von beiden. Die Gruppe wich nicht zurück und doch las Lionel etwas in ihren Gesichtern, was ihm ein Grinsen auf das Gesicht zauberte: Ehrfurcht. Solange ihre Gegner und Opfer kleiner und jünger waren, ließen sie den Obermacker heraushängen, aber sobald sie es mit älteren und eindeutig stärken zu tun bekamen, waren sie nichts weiter als dumme Teenager, die ihre Probleme mit Gewalt lösten.
Und trotzdem fasste das rothaarige Mädchen Mut und sah mit erhobenem Kinn die Security an. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt. »Ach? Und was verlangt der Herr Besitzer von seinen Gorillas nun, hm?« Selbstverständlich ließen sich die Herren von der Security von ihr nicht beeindrucken. Sie blieben standhaft. Nun antwortete der Rechte auf ihre Frage: »Ihr begleitet uns ›Gorillas‹ widerstandslos vor die Tür. Ansonsten muss Dominique eure Eltern hiervon benachrichtigen. Und das wollt ihr garantiert nicht.« Die Gruppe tauschte unruhige Blicke, zögerten. Dann ließen sie resigniert die Köpfe hängen und wurden von der Security vor die Tür begleitet. Tosender Applaus und Jubel machten sich unter den Clubbesuchern breit, was aber schnell endete, als die Musik wieder einsetzte. Sie tanzten weiter, als wäre nie etwas passiert.
Als wäre alle Energie aus ihm gefahren, ließ sich Lionel zurück auf das gemütliche Polster fallen. Er war sichtlich erleichtert über den Ausgang der Situation. Jedoch empfand ein kleiner Teil in ihm es schade, dass er den Handel nicht eingehen konnte. Er war so auf seine Schule fokussiert gewesen, dass er verdrängt hatte, dass es außerhalb der Cartwright ebenfalls solche Schwachmaten gab. In Zukunft musste er dieses Problem auch noch angehen!
Noch dazu spukte ihm weiterhin Hunters Eingreifen durch den Kopf. Was hatte ihn nur dazu veranlasst? Und überhaupt, was tat er im Squere? Weil er mit Dylan und HR befreundet war, hatte Lionel stets angenommen, Hunter würde genauso denken wie die beiden. Dass das queere Spektrum nicht normal sei und deshalb ›verhindert‹ werden sollte. Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass Hunter eher ein Mitläufer wäre. Vielleicht hatte er einfach nur Freunde gesucht und ausgerechnet die beiden gefunden.
Lionel schüttelte den Kopf. Was überlegte er da? Nur über ihn nachzudenken brachte doch nichts. Er musste mit ihm reden. Nur so würde er gescheite Antworten auf seine Fragen bekommen. Aber darum wollte er sich einandermal kümmern. Denn im Moment galt seine Aufmerksamkeit alleine Tommy und Takumi.

5. Kapitel: Kira

Als Lionel nach dem Wochenende die Schule betrat, hatte sich im Eingangsbereich ein dichter Halbkreis aus Teenagern der verschiedenen Jahrgänge gebildet. Im Zentrum saß Takumi. Wie gebannt hingen die anderen an seinen Lippen. Aber auch Takumi selber wirkte erregt, durch das, was er ihnen erzählte. Neugierig näherte sich Lionel dem Halbkreis und schnappte die nächsten Worte auf.
»... So wie ich es euch doch sage, sie sind von einer höheren Macht ermordet worden. Das war kein natürlicher Tod!«, sagte Takumi und gestikulierte dabei wild mit den Händen.
»Das ist doch Schwachsinn«, sagte ein Mädchen, dessen Name Lionel nicht kannte. »Das, was du meinst, kommt einem Gott gleich. Wie hätte derjenige fünf Personen umbringen können, hm? Bei ihren Toden waren sie alleine.«
»Ich kann nur das wiedergeben, was mir Onkel Tota erzählt hat. Er hat die Kira-Ära miterlebt und in dem Fall ermittelt. Die Tode passen in dieses Schema mit rein. Oder denkst du wirklich, gerade Jones hätte sich freiwillig entschuldigt?« Als der Fall ›Kira‹ erwähnt wurde, schnellte Ryuks Blick zu Takumi. In seinen Augen funkelte ein Glanz der Zufriedenheit. Lionel legte die Stirn in Falten.
»Hey, Takumi!«, grüßte er nun und mischte sich in den Halbkreis. »Was ist dieser ›Kira-Fall‹ von dem du redest?« Einige der Älteren stöhnten genervt auf – unter ihnen auch das Mädchen, welches an Takumis Aussagen Zweifel hegte. Doch Lionel ignorierte die anderen. Sein Blick lag auf Takumi, der ihn breit angrinste. Seine Augen funkelten, als hätte er auf diese Frage von ihm gewartet.
»Gut, dass du fragst, Lio! Pass auf, ich erkläre es jedem nur einmal.« Dem genervten Gestöhne der anderen nach, hatte er es vermutlich schon mehrmals erklären müssen. Lionel hätte wetten können, dass sein Kumpan dem jedes Mal mit freudigem Eifer nachkam. Auch Ryuk schien an seinen Worten interessiert zu sein. »Also, mein Onkel hat mir nicht direkt von dem Fall erzählt. Das darf er als Polizist nicht, aber das Wichtigste weiß ich von ihm.« Takumi räusperte sich, beugte sich vor und legte die Unterarme auf den Knien ab. So sah er zu Lionel hinauf. Mit düsterner Stimme sagte er: »Der Fall trug sich von 2003 bis 2010 in Japan zu. Ein Jahr nach meiner Geburt waren meine Eltern mit mir in die Heimat meiner Mutter geflogen. Angeblich wegen einer neuen Arbeitsstelle von ihr, aber jetzt weiß ich es besser. Sie waren aus Angst vor der Herrschaft des Kira geflohen. Aber ... vor einem Gott kann man nicht fliehen. Denn Kira braucht nur zwei Dinge, um jemandes Todesurteil fällen zu können.« Takumi legte eine Kunstpause ein, damit Lionel das eben Gesagte verdauen konnte. Er atmete aus. Ihm war nicht einmal aufgefallen, dass er die Luft angehalten hatte. Sein Mitschüler sprach weiter: »Das Erste ist der Name der Person und das Zweite das Gesicht. Aber manchmal reicht auch nur das Gesicht, damit Kira jemanden töten konnte.«
Ein Schauer lief Lionel eiskalt den Rücken runter. Das klang eindeutig nach dem Death Note und den Augen eines Shinigami! Deshalb war Ryuk so interessiert. Wenn er richtig lag, dann war es Ryuk höchstselbst, der Kira damals das Death Note gegeben hatte. Aber warum war der Todesgott so zufrieden? Was für eine Beziehung verband ihn mit Kira?
»Das ist alles Humbug, Matsuda!« Die Köpfe aller schnellten hoch zum Treppenanfang, wo HR mit verschränkten Armen stand. Dann steckte er die Hände in die Taschen und begann mit dem Abstieg. »Wenn dieser sogenannte ›Gott Kira‹ wirklich existiert und nun in England ist, warum zeigt er sich uns nicht, hm? Warum versteckt er sich, wenn er doch so allmächtig ist?«
»Er braucht sich uns nicht zu offenbaren, HR«, erwiderte Takumi und stand auf. Er breitete die Arme aus. »Denn Kira ist überall! Wie sonst soll er Jones und die anderen vier umgebracht haben?«
»An jedem Tag sterben Menschen. Was machen da vier Teenager noch aus? Man wird geboren, um zu leben und eines Tages zu sterben. Das ist der Kreislauf des Lebens, Mann. Dabei richtet sich der Tod nicht nach Alter.«
Lionel biss sich auf die Unterlippe, als er dadurch an Sammys Tod erinnert wurde. Sein Blick senkte sich. Sein armer kleiner Bruder war gerade einmal sieben gewesen, als dieser verdammte Raser ihn auf der Spielstraße erwischte. Da musste er dem Älteren zum ersten Mal Recht geben. Das Alter einer Person war dem Tod vollkommen egal. Er holte sich einfach jeden wie es ihn beliebt!
»Findest du es nicht auch merkwürdig, dass ausgerechnet vier Teenager unserer Schule an zwei Tagen hintereinander sterben? Das ist ja wohl kaum ein Zufall!«, sagte Takumi nun und stemmte die Hände die Hüfte. Erst jetzt bemerkte Lionel, dass er den Rock der Mädchenuniform trug. Und erstaunlicherweise hatte HR bislang keine abfällige Bemerkung darüber verloren. Stattdessen wischte er Takumis Aussage beiseite und trat auf ihn zu. HR war etwa ein Kopf größer als er. Mit erhobenem Kinn blickte er auf ihn hinab. »Wir werden ja sehen, ob es deinen ›Gott Kira‹ tatsächlich gibt. Triff mich heute nach dem Mittagessen auf dem Schuldach. Und halte deine Handykamera bereit.« Grob bohrte HR ihm einen Finger in die Brust, schob ihn damit von sich und machte auf dem Absatz kehrt. Ein jeder beobachtete, wie er die Treppenstufen wieder hinaufstieg.
»Er wird sowas von sterben«, prophezeite Takumi. »Kira verzeiht nicht.«

In den Schulstunden vor dem Mittag war Lionel nur körperlich anwesend. Mehrere Gedanken, die rein gar nichts mit Mathe oder Geografie zu tun hatten, spukten ihm durch den Kopf. Ryuks Reaktion auf den Kira-Fall, Takumis Erzählungen darüber und auch das, was HR angekündigt hatte. Er hatte es nicht genau benannt, aber Lionel war klar, er würde Kira auf irgendeine Weise herauslocken wollen. Er wollte ihn – Lionel – dazu ermutigen, ihn vor laufender Kamera zu töten. Mit dem Ergebnis, dass HR nicht sterben würde. So wie die Dinge im Moment standen, würde er das auch nicht. Lionel hatte noch keine Chance bekommen, seinen richtigen Namen herauszufinden. Wenn er Kiras Existenz bewahrheiten und zeitgleich HR umbringen wollte, blieb ihm keine anderen Wahl.
Er musste den Handel mit den Shinigami-Augen eingehen.
Als es zum Mittagessen klingelte, saßen Lionel und Tommy wieder auf ihrer gewohnten Sitzbank beim Sportplatz. Nur zehn Minuten vor Ende sprang Lionel plötzlich auf und verkündete: »Ich muss auf die Toilette. Warte nicht auf mich!« Ohne auf Antwort seines besten Freundes zu warten, sprintete er die Stufen zum Schulgebäude hinauf und nahm anschließend den Aufzug in den fünften Stock. Für gewöhnlich hielt sich hier niemand vor den Clubaktivitäten auf und just in dem Moment war es ihm auch recht so. Denn es sollte niemand mitbekommen, wie er im Grunde Selbstgespräche führte, weil nur er in der Lage den Todesgott zu sehen. Trotzdem ging er mit Ryuk vorsichtshalber in die Jungentoilette dieser Etage und überprüfte alle Kabinen. Als er sichergestellt hatte, dass sie auch wirklich alleine waren, sagte er mit ernster Miene zum Todesgott: »Also, Ryuk, zu dem Jungen, den du mal erwähnt hast. Das war Kira, oder?«
Ryuk kratzte sich am Kinn, nickte bestätigend.. »So wurde er von anderen genannt. Aber damals gab es mehr als nur ein Kira.«
»Wie meinst du das? Gab es mehr als nur ein Death Note?« Es überraschte Lionel, dass der Todesgott ihm bereitwillig Antworten lieferte. Ryuk hob zwei Finger in die Höhe. »Nur zwei, die oft den Besitzer gewechselt haben.«
»Hatte ... einer der Kiras den Handel abgeschlossen?«
»Wenn ich mich recht entsinne drei Leute und der zweite Kira sogar zweimal.«
Überrascht riss Lionel die Augen auf. »Zweimal? Das geht?!«
»Jep.« Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber er glaubte, Ryuks Dauergrinsen war noch breiter geworden. »Wenn jemand, der den Handel abgeschlossen hat, das Besitzrecht aufgibt, verliert dieser nicht nur die Fähigkeit der Shinigami-Augen, sondern auch das Gedächtnis. Gelangt derjenige, aber wieder in den Besitz des Death Notes, kommen alle Erinnerungen daran zurück. Nur die Augen nicht.«
»Das heißt ... die Lebenszeit des zweiten Kira wurde zweimal um die Hälfte reduziert.«
»Gut erkannt, Kleiner. Aber wieso willst du das wissen? Du wolltest den Handel doch nicht eingehen.«
»Richtig. Das wollte ich nicht, aber ...« Lionel senkte den Kopf und schluckte. »Aber es geht nun nicht anders.« Mit Entschlossenheit in den grünen Augen hob er wieder den Kopf. »Ryuk, ich möchte die Augen eines Shinigami haben!«
Als er diese Worte ausgesprochen hatte, tat der Todesgott etwas, was er nie in dieser Situation erwartet hätte: Ryuk warf die Arme über den zurückgeworfenen Kopf ... und lachte. Verwirrt legte Lionel den Kopf schief.
»Was gibt es da zu lachen, Ryuk? Du hast doch nur darauf gewartet, dass ich den Handel abschließe.« Auf eine Antwort musste er eine ganze Weile warten, aber dann, als das Lachen langsam abebbte, erwiderte der Todesgott: »Ich hab darauf gewartet, dass du Kiras Werk fortsetzt, Kleiner. Das, was er vor vielen Jahren angefangen hatte. Du hättest mir das Death Note auch nach einer Weile zurückgeben können.«
Unwillkürlich berührte Lionel die Hosentasche, in welcher er die Streichholzschachtel mit den Schnipseln verstaut hatte. »Ursprünglich war das geplant, wenn ich meinen Schulabschluss habe. Allerdings ... das Geschehen im Squere hat mir gelehrt, dass überall solche Typen existieren. Egal, auf welche Schule sie gehen oder welche Hautfarbe oder Nationalität sie besitzen, Menschen sind überall auf der Welt gleich. Überall auf der Welt gibt es Menschen, die von anderen Menschen auf irgendeine Weise misshandelt oder gemobbt werden. Das sind für mich die wahren Kriminellen, die beseitigt werden müssen! Ich kann nicht einfach mit dem Wissen aufhören, dass es in der Welt der Erwachsenen ebenfalls so zugeht!« Entschieden schüttelte Lionel den Kopf, sah zu Ryuk hoch. »Jetzt da du es weißt, kannst du endlich den Handel mit mir abschließen.«

Das halbe Schuldach füllte sich mit Heranwachsenden der Cartwright Academy. Lionel hatte das Glück, bereits in der Nähe gewesen zu sein. Denn so stand er nun in der ersten Reihe. Soweit er erkennen konnte, hatte sich eine bunte Mischung aus den Jahrgängen zehn bis dreizehn auf dem Dach versammelt. Tommy erblickte er nirgends. Aber im Grunde genommen, war das auch gut so. Bei dem, was gleich passieren sollte, sollte er mit seinem zarten Gemüt wirklich nicht hier sein. Wobei er das Gefühl bekam, dass das auch auf einige der Anwesenden zu traf. Die, die er sehen konnte, waren blass und ihre Mimiken schrien geradezu nach Angst. So als ob sie Takumis Worten Glauben schenkten. Sein Blick kreuzte sich mit dem von Takumi. Wie von HR angewiesen, hielt er sein Handy bereits in der Hand. Mit einerm Finger der freien Hand fuhr er sich über den Hals. Als ob er damit prophezeihte, dass HR gleich den Tod finden würde. Lionel grinste nur schief.
Endlich teilte sich die Menge, wie das Wasser bei Moses, um HR durchzulassen. Mit einer Lässigkeit, die bereits an Unverschämtheit grenzte, stolzierte er erhobenen Hauptes auf die Mauer zu, die Menschen davor schützte, vom Dach zu fallen. Sogleich fackelte Lionel nicht lange und aktivierte die Shinigami-Augen. Mehrere dutzende rote Namen und Zahlen tauchten über den Köpfen der Teenager auf. Doch Lionel fokussierte sich auf den einen Namen, der sich bewegte. Denn nur diesen wollte er herausfinden.
Endlich! Siegessicher grinste er in sich hinein und fischte die Schachtel aus der Tasche. Fest hielt er sie umklammert. Noch wollte er damit warten. Er wollte wissen, was seine letzten Worten waren. Mit dem Rücken zur Mauer stellte sich HR vor seinen ›Zuschauern‹ auf und breitete die Arme aus. Sofort schoss Takumis Hand, in welcher er das Handy hielt, in die Höhe. Er leckte sich über die Lippen, gespannt, auf das, was nun folgte.
»Ladies and Gentlemen! Wir haben uns alle hier versammelt, in der Tatsache den Nachmittagsunterricht freiwillig zu schwänzen, um die Lügen eines Mitschülers zu offenbaren!« Mit wachem Blick schaute sich HR um. Niemand der Anwesenden wagte es ihm ins Wort zu fallen. Zufrieden über diese Tatsache, sprach er weiter: »Wenn ich mich so umschaue, wissen einige, von wem die Rede ist. Für alle, die keinen blassen Schimmer haben, erzähle ich es euch natürlich. Es ist derjenige, der gerade alles filmt – Takumi Matsuda!« Prompt lagen die Augen vieler auf Takumi, der mit einer Hand das Peace-Zeichen machte.
»Dieser Junge«, rief HR, »ist felsenfest davon überzeugt, dass Dylan Jones, Oliver und Kayla Winston, Samantha Higgins und Billy Longford ermordet wurden und dass der Täter kein geringerer als ein ›Gott‹ namens Kira sei!« In den hinteren Reihen breitete sich ein aufgeregtes Murmeln aus, was aber in HRs lauter Rede unterging. Er legte sich eine Hand auf die Brust. »Ich, HR Morgan, werde euch hier und jetzt beweisen, dass sein Gerede nichts als Humbug ist! Denn in unserer Welt gibt es keine Götter. Wie sonst erklärt ihr euch die ganzen Kriege, hm? Wenn Götter doch stets als allmächtig beschrieben werden, warum haben sie die Welt- und Bürgerkriege nicht verhindert? Stattdessen lassen sie die Menschen gewähren, damit wir uns gegenseitig umbringen können als gäbe es kein Morgen. Aus diesem Grund sage ich euch, dass Kira ganz sicher kein Gott ist! Kira ist nur ein gewöhnlicher Mensch, der vorgibt ein Gott zu sein. Sonst hätte er mich doch längst auf der Stelle getötet -«
»Oder er wartet, bis dein Gesülze endlich aufhört«, kommentierte ein Junge kichernd. Aus zusammengekniffenen Augen blickte HR feindselig zu ihm. So als wäre er erbost, wie der Junge es nur wagen konnte, ihn zu unterbrechen. Aber dann ließ er von ihm ab und sprach weiter, als wäre nichts gewesen.
»Ich erzähle euch, warum ich noch nicht tot auf dem Boden liege, meine Freunde. Wie Matsuda heute Morgen erwähnte, benötigt Kira für seine Morde zwei elementare Dinge – den Namen und das Gesicht einer Person. Von mir hat er nur das Gesicht, denn wie jeder weiß, gebe ich meinen Namen niemals Preis. Niemals!« HR lächelte, als hätte er bereits gewonnen. Aber da täuschte er sich gewaltig. Während die Blicke aller auf ihm lagen, zog Lionel das Schachtelinnere ein Stück weit heraus, ergriff den Bleistiftstummel und schrieb ›Henry R. Morgan‹ auf ein Papierschnipsel des Death Notes. Danach verstaute er die Schachtel, als er sich beide Hände in die Hosentaschen steckte. Innerlich zählte er die vierzig Sekunden bis HRs Tod ab.
»Von meiner Seite aus, habe ich nur noch wenige Worte übrig und die möchte ich an Kira höchstselbst richten«, verkündete HR und kletterte auf die Mauer. Mit ausgebreiteten Armen stand er mit dem Rücken zur Schülermasse. »Lang lebe Kira!« Plötzlich rutschte HR ab, als ein wackliges Stück Mauer unter seinen Füßen nachgab. Für einen kurzen Augenblick beobachtete Lionel, wie er sich beim Sturz an die Brust fasste und vor Schmerz das Gesicht verzieh, ehe er in die Tiefe stürzte. Alle um Lionel herum standen einfach nur da und ließen das Schicksal gewähren. Schock stand ihnen förmlich ins Gesicht geschrieben. Doch als von unten ein dumpfes Aufprallen zu hören war, befreiten sich die Ersten aus der Schockstarre und stürzten zur Mauer. Unter ihnen waren auch Takumi und Lionel. Zusammen blickten sie in die Tiefe. Alle Glieder von sich gestreckt lag HR bewegungslos auf dem gepflasterten Weg. Eine Blutlache breitete sich unter seinem Kopf aus. Alles war still. Jeder hielt den Atem an. Niemand sprach auch nur ein Wort.
Und dann schrie ein Mädchen: »D-das war Kira!« und Panik brach unter den Teenagern aus. Wie eine Herde aufgescheuchter Zebras versuchten sie das Schuldach zu verlassen. Einige schafften es auf anhieb, während andere von den Älteren zu Boden gestoßen wurden. Die am Bodenliegenden hievten sich wieder auf die Beine und stolperten zur Tür. Ein paar schafften es, sich gegenseitig auszuschalten, indem sie mit dem Kopf voran ineinanderliefen und wie Baumstämme umfielen. Takumi lehnte an der Mauer und filmte das Geschehen. Er wirkte gelassener und gefasster als die anderen. Aber beim genauen betrachten, fiel Lionel auf, dass sein Mitschüler wie Espenlaub am ganzen Leib zitterte. Er lehnte nur an der Mauer, um nicht umzufallen.
»Als würde man kopflosen Hühnern zuschauen«, kicherte Ryuk amüsiert, doch Lionel ignorierte ihn. Ihm erging es nicht gerade besser als Takumi. Obwohl er seine Muskeln anspannte, zitterte er ebenfalls. Er stolperte rückwärts, drehte sich vom Geschehen weg und erbrach sich. Seine Knie zitterten und er klammerte sich an die Mauer, wie ein über Bordgegangener an einen Rettungsring. Das Bild der Leiche hatte sich in sein Gehirn gebrannt.
»Hey, alles klar, Kleiner? Sag bloß, der Anblick hat dich auch geschockt -«
»Halt-... halt die Klappe ... Ryuk«, flüsterte Lionel schweratmig und wischte sich mit einem Taschentuch über den Mund. Das Tuch warf er achtlos in sein Erbrochenes und richtete sich langsam in die Senkrechte auf. Seinen Rettungsring ließ er keinen Augenblick los. »Ich bin vierzehn. Vor HR hab ich erst den Tod eines Menschen mit ansehen müssen. Sag mir lieber, wieviele Death Notes sich derzeit in London befinden. Denn durch meinen Eintrag ist HR ganz sicher nicht gestorben.«
In einer entschuldigenden Geste hob Ryuk die Arme. »Sorry, Kleiner. Meine Aufgabe in der Menschenwelt beschränkt sich auf beobachten und Äpfel essen. Du musst das schon mit deinen eigenen Augen herausfinden.«

6. Kapitel: Der Videobeweis

In Gedanken versunken saß Isaac auf seinem Bürostuhl und starrte in ein Glas mit Whiskey. Die Jalousien waren komplett unten, das Licht aus. Lediglich der Desktop des Laptops beleuchtete die obere Hälfte seines Körpers. Er dachte an den aktuellen Fall, welchen er mit Cruz im Moment bearbeitete. Fünf mysteriöse Tode von Teenagern und das innerhalb von zwei aufeinanderfolgenden Tagen. Von Anfang an, war Cruz der festen Überzeugung gewesen, dass ein gewisser Kira hinter den Morden steckte. Isaac hingegen wollte das nicht so recht glauben und versuchte vehement gegen seine Argumente anzukämpfen.
Aber mittlerweile ...
Die Leichen sprachen für sich. An ihnen gab es keinen Hinweis auf Gewaltanwendungen von einer zweiten Person. Alle starben an Herzversagen. Er gab es nur ungern zu, aber Cruz könnte tatsächlich Recht behalten, was Kira anging. Da er allerdings wusste, dass die japanischen Kiras entweder alle tot waren oder ihr Gedächtnis verloren hatten, gab es nur eine Schlussfolgerung: In London lief ein neuer, selbsternannter Gott frei herum, der es auf Minderjährige abgesehen hatte. Mit großer Wahrscheinlichkeit war er selber einer von ihnen.
Auf einmal tauchte auf seinem Laptopbildschirm ein schwarzes L auf weißem Hintergrund auf und eine computerverzerrte Stimme sagte: »Lange nicht gesehen, Isaac.«
Isaac antwortete nicht sofort. Er leerte das Glas in einem Zug und stellte es auf dem Tisch ab. Dann sagte er: »Ich weiß, dass du es bist, Near. Lass die verzerrte Stimme und zeig dich.«
»... Bist du allein?«
»Wenn es nicht so wäre, dann hätte ich das eben nicht gesagt.« Ihm war bewusst, warum die verzerrten Stimmen und die Initialen notwendig waren, aber das hieß nicht, dass er kein Fan von dieser Geheimniskrämerei sein musste. Zumal sie im Moment wirklich unter sich waren.
Es dauerte, als würde Near zögern, aber dann verschwand der Buchstabe und das Kamerabild eines weißhaarigen jungen Mannes in ebenso weißer Kleidung erschien. Wie üblich kniete er auf dem Boden, umringt von Spielzeugen. Er hatte sich kaum verändert. Nur die Schokoladentafel war neu. So wollte er sich wohl an Mello erinnern. Isaac sprach ihn nicht darauf an.
»Warum rufst du an? Sicher nicht, um in alten Erinnerungen zu schwelgen, oder?«
»Es geht um den Fall, den ich dir anvertraut habe.« Near biss ein Stück aus der Tafel Schokolade ab. »Hast du herausgefunden, ob Kira dafür verantwortlich ist?«
»Es besteht die Möglichkeit dazu, ja.« Isaac entschied, ihm nichts von seinen anfänglichen Zweifeln zu erzählen. Mit einem Finger fuhr er über den Rand des leeren Glases. Auf der anderen Hand stützte er den Kopf ab. »Bislang beschränkt sich die Zahl der Hauptverdächtigen auf die Schüler und Schülerinnen der Cartwright Academy. Wie es aussieht, waren die Opfer allesamt intolerante Mobber. Da lag das auf der Hand.«
»Scharfsinnig wie eh und je.« Er wusste nicht, ob das sarkastisch gemeint war. Near ließ eine kleine Holz-Eisenbahn über den Teppich fahren. Wie beiläufig erwähnte er: »Ein Mitglied der japanischen Polizei hat mir heute ein Video zugespielt. Ich habe es dir per Mail weitergeleitet.«
Mit gerunzelter Stirn klickte Isaac auf das E-Mail-Icon. Als sich das Fenster dazu öffnete, fand er tatsächlich eine Mail von einem gewissen L vor und öffnete diese. Sie beinhaltete lediglich eine Video-Datei, die er anklickte. Der Media Player für die Wiedergabe öffnete sich, zusammen mit einem Ladekringel auf einem eingefrorenen Videobild. Das Video schien auf dem Dach einer Schule aufgenommen worden zu sein. Die Kamera war auf niemand geringeres als Henry R. Morgan gerichtet.
»Achte besonders auf die anderen«, riet Near ihm.
»Du brauchst mir meine Arbeit nicht zu erklären, Near«, gab Isaac zurück. Ihm waren die paar Schüler am rechten und linken Seitenrand bereits aufgefallen. Unter ihnen war auch Lionel Thompson zu sehen. Aber mit Sicherheit waren hinter der Kamera eine ganze Schar von Teenagern der Cartwright. Egal, was ihn gleich erwartete, es musste spannend genug sein, um dem Unterricht fernzubleiben.
Endlich verschwand der Ladekringel und Isaac beugte sich neugierig vor. HR hielt vor versammelter Mannschaft eine Rede, aber er hatte die Laustärke soweit heruntergedreht, dass er nicht jedes Wort davon verstand. Das brauchte er aber auch nicht. Er wollte sich voll und ganz auf die Teenager am Kamerarand konzentrieren. Nur ab und zu schnappte er Satzschnipsel auf, wie die Erwähnung Kiras, der in Wahrheit ein ganz gewöhnlicher Mensch war. Isaac hätte sich denken können, dass die Verschwiegenheit der Polizei nichts nützte. Früher oder später geriet alles in die Öffentlichkeit. Hierbei geschah es wohl durch einen Jungen namens Takumi Matsuda.
Ab einem gewissen Punkt im Video fiel sein Blick auf Lionel. Etwas an ihm war merkwürdig. Bis zu diesem Moment verhielt er sich genau wie seine Mitschüler um ihn herum und hatte den Worten HRs gelauscht. Aber just in dem Moment, wo HR genau die Dinge nannte, die Kira zum Morden benötigte, führte Lionel die rechte Hand zu seiner linken. Er senkte leicht den Kopf. Schaute er auf etwas in seiner Hand? Isaac war nicht in der Lage, es genau zu erkennen, aber dafür bemerkte er durchaus die schreibende Handbewegung des Jungen, sowie das kleine siegreiche Lächeln, als er die Hände in die Hosentaschen steckte.
Nun drehte er die Lautstärke wieder höher. Er hatte nun das, wofür Near ihm vermutlich das Video geschickt hatte. Trotzdem wollte Isaac wissen, was noch geschah.
»Von meiner Seite aus, habe ich nur noch wenige Worte übrig und die möchte ich an Kira höchstselbst richten«, sagte HR nun und kletterte auf die Mauer. Er breitete die Arme aus, sein Rücken war der Kamera zugewandt. »Lang lebe Kira!« Isaac glaubte, sein Herz würde für einen Moment stehenbleiben, als HR abrutschte und fiel. Augenblicke verstrichen, in denen Isaac glaubte, das Video sei eingefroren. Aber dann stürzten die Teenager zur Mauer. Die Kamera lugte über die Mauer hinweg, wurde auf eine bewegungslose Person gerichtet.
Isaac schloss den Media Player und lehnte sich im Drehstuhl zurück. Unruhig strich er sich durch sein dunkles Haar. Seine Mundwinkel zuckten nach oben und dann entrang seiner Kehle ein leises Lachen.
»Was ist so lustig, Isaac?«, fragte Near, dessen Videoübertragung erneut den Bildschirm für sich beanspruchte. Er wickelte sich eine Haarlocke um den Finger.
»Near ...«, sagte Isaac hörbar leise. »Als du mir das Video geschickt hast, da wusstest du doch bereits, dass sich unter ihnen Kira befindet, oder?«
»Ich habe mir das Video nicht angeguckt, wenn du das damit andeuten möchtest.« Die Antwort überraschte Isaac. Near sprach weiter: »Als meine Quelle mir das Video schickte, habe ich es ungesehen an dich weitergeleitet. Es ist nun mal dein Fall und nicht meiner. Ich werde erst eingreifen, wenn ich es für richtig halte.«
»Du meinst eher, wenn du der Meinung bist, dass ich nicht mehr in der Lage bin, den British Kira allein zu schnappen.«
Für eine Sekunde ließ Near die Locke in Ruhe und sah Isaac direkt an. »Ich meine damit, falls du aus der Reihe tanzen solltest.« Ohne sich zu verabschieden, beendete Near die Übertragung und ließ einen verdutzten Isaac zurück.
»Nicht aus der Reihe tanzen?«, wiederholte er, griff nach der Whiskeyflasche und goss sich neu ein. Mit dem abgestützten Kinn auf einer Hand blickte er in die bronzene Flüssigkeit. Ein kleines Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Oh, Near ... Du kannst so clever sein, wie du willst, aber die letzten Tage hast du einen Fehler begangen ...« In langsamen Kreisen bewegte er das Glas in seiner Hand, beobachtete, wie der Whiskey den Bewegungen folgte. Er führte das Glas an seine Lippen. »... und der war es, mir die Verantwortung für den Fall zu geben.« Ein Schluck und der Whiskey floss seine Kehle hinunter, während seine Gehirnzellen einen Plan schmiedeten.
Er wollte den britischen Kira aufhalten. Aber gleichzeitig wollte er auch das Death Note ganz für sich alleine haben. Und das ging nur, wenn der British Kira von der Bildfläche verschwand.

Kalt strich der Herbstwind über Isaacs Nacken. Er richtete den Kragen seines Mantels auf, schlang ihn enger um den Körper. Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen, als er einen Blick auf die Uhr warf. Die Person, auf die Isaac seit geraumer Zeit wartete, sollte jeden Augenblick auftauchen. Zum x-ten Mal holte er sein Smartphone aus der Tasche und überprüfte die anonyme Botschaft, die er vor einigen Tagen auf diversen Social Media Plattformen gepostet hatte:

Kira, ich bewundere deinen Mut, bei dem, was du in den letzten Tagen gemacht hast sehr. Dank dir traut sich kaum einer mehr, Schwächere zu tyrannisieren.
Und doch bist du ein Feigling! Das einzige, was du dafür tust, sind Namen aufzuschreiben. Der Rest erledigt die Macht des Death Notes. Du ruhst dich einfach nur auf den Lorbeeren aus und lässt dich als Helden und Gottheit feiern. Dabei wärst du ein Nichts ohne das Death Note. Du verstehst es richtig, Kira. Ich kenne dein Geheimnis und ich weiß auch, wer du in Wirklichkeit bist.
Wenn du nicht willst, dass ich damit zur Polizei gehe, dann triff mich diesen Samstag um halb drei beim Tower Hamlets Cemetery.
Sei pünktlich – I.

Die Anzahl, wie oft es geteilt wurde, überstieg nach nur wenigen Stunden bereits mehr als ein Tausend. Die Wahrscheinlichkeit, dass Lionel die Botschaft nicht mitbekam, war dadurch sehr gering. Zumal er die Wahl des Tages und des Ortes nicht dem Zufall überlassen hatte. Denn heute vor einem Jahr starb jemand, den der Junge nur allzu gut kannte und auf genau diesem Friedhof begraben lag.
Und heute vor einem Jahr endete Isaacs letzter Fall als Detective Inspector des Scotland Yard.

7. Kapitel: Partner

Es war ein Nachmittag wie jeder andere im Herbst. Lionel kam etwas früher aus der Schule nach Hause, denn heute war ein besonderer Tag. Heute war der siebte Geburtstag seines kleinen Bruders Sammy und Lionel hatte etwas Besonderes besorgt.
Schnell streifte er die Schuhe ab und auch die Schultasche landete im Eingangsbereich des Hauses. Eilig schritt Lionel in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Ein erleichterter Seufzer entwich seinen Lippen, als er die halbrunde Fußballtorte erblickte. Ein Glück! Seine Mutter hatte es tatsächlich geschafft, die Torte beim Konditor abzuholen. Zufrieden schloss er den Kühlschrank wieder, verließ die Küche und stieg die Treppe hinauf in sein Zimmer, wo er eine Schachtel unter dem Bett hervorholte. Damit setzte er sich auf sein Bett, entfernte den Deckel. Sachte strichen seine Finger über den Stoff des Fußballtrikots, unterschrieben von Sammys Lieblingsspieler. Sein gesamtes Taschengeld, was er monatelang angespart hatte, ging für dieses Trikot drauf, aber es würde sich garantiert lohnen. Da war er sich sicher. Sammy hatte sich das Trikot schon lange gewünscht und nun würde sein Wunsch endlich Wirklichkeit werden.
Wenig später am Abend saß die ganze Familie beisammen. Vater, Mutter, großer Bruder und auch Onkel, Tante und Cousins und Cousinen. Alle waren anwesend, um den Geburtstag des kleinen Sammy zu feiern. Alle sangen Happy Birthday, als die Geburtstagstorte gebracht und auf den Couchtisch gestellt wurde. Sammy strahlte über das ganze Gesicht, wippte aufgeregt auf den Fußballen auf und ab. Seine Freude zauberte Lionel ebenfalls ein Lächeln aufs Gesicht.
»Puste die Kerze aus und wünsch dir was«, sagte er zu ihm.
Sammy nickte. »Mach ich!« Sein Bruder kniete sich hin, schloss kurz die Augen. Dann holte er tief Luft und als er kräftig ausatmete, war die Kerze erloschen. Anschließend wurde die Torte angeschnitten und die Stücke auf alle Anwesenden verteilt – angefangen beim Geburtstagskind.
»Lass sie dir schmecken, Sammy«, sagte Lionel. »Ich habe sie extra für dich ausgesucht.«
»Wirklich?!« Die Augen seines Bruders funkelten. »Dann wird sie mir sicher schmecken!« Lächelnd strich er Sammy durchs blonde Haar, als dieser den ersten Bissen in den Mund steckte und genüsslich kaute.
Nachdem die Torte in den Mägen der Familienangehörigen verschwunden war, ging es zum Geschenkeauspacken weiter. Schnell war der Boden und der Couchtisch von buntem Geschenkpapier übersät. Stofftiere, Kinderbücher und Spielzeugautos lagen um Sammy herum. Als letztes Geschenk überreichte Lionel ihm die Schachtel, die er in blaues Papier eingepackt hatte. Das war die Lieblingsfarbe seines Bruders. Abgesehen von ihren Eltern hatte niemand an dieses kleine, aber wichtige, Detail gedacht.
Freudig sprang Sammy auf, als er das unterschriebene Fußballtrikot aus der Schachtel holte. »Danke!«, rief er und schlang seine kleinen Arme um Lionel, der die Umarmung erwiderte und ihm sanft über den Rücken strich. Eine ganze Weile blieben sie in der Umarmung stehen, bis Sammy das Wort an ihre Mutter richtete: »Mummy, können wir im Garten Fußball spielen?«
Sie lächelte, strich ihrem Jüngsten über den Kopf. »Natürlich. Geht ruhig.« Eilig zog Sammy das Trikot über den Kopf und rannte als Erster aus dem Haus. Kichernd folgte Lionel seinem Bruder und hing von der Garderobe ihre beider Jacken ab. Kaum waren die Jacken angezogen, kickte Lionel den Fußball, welcher im Garten lag, zu seinem Bruder. Lionel wusste nicht, wie lange sie sich bereits gegenseitig den Ball zu passten, als er ihn einmal zu hart dagegen trat. Der Fußball flog über Sammys Kopf und den Gartenzaun hinweg und genau auf die Straße zu. Sofort lief Sammy dem Ball hinterher.
»Warte!«, rief Lionel ihm noch nach und plötzlich war es, als würde alles wie in Zeitlupe geschehen. Sammy war so auf den Ball konzentriert, dass er vergaß nach links und rechts zu schauen, ehe er die Straße überquerte. Lionels Kopf ruckte zur Seite, als er die Lichtkegel von einem Auto erblickte. Kurz darauf war das dazugehörige Motorengeräusch zu hören. Er wollte seinem Bruder nach, doch wollten seine Beine ihm nicht gehorchen. Es war, als wären seine Füße am Boden festgeschraubt. Dann kam das Auto um die Ecke gerast. Es war schnell, zu schnell für eine Spielstraße. Sammy schnappte mit ausgestreckten Händen nach dem Ball. Stocksteif blieb er stehen, als er endlich das rasende Auto sah.
Doch es war zu spät. Aus Reflex schloss Lionel die Augen, als der Aufprall kam. Er zuckte zusammen, zitterte am ganzen Leib. Das Motorengeräusch entfernte sich. Zögernd traute sich Lionel die Augen zu öffnen. Sein Herz tat einen Hüpfer, als er den bewegungslosen Körper seines Bruders auf der Straße erblickte.
»Sammy ...«, flüsterte er, traute seiner Stimme nicht. Endlich fühlte er wieder Leben in seinen Füßen und Beinen. Augenblicklich stürzte er auf die Straße, schrie den Namen seines kleinen Bruders. Tränen sammelten sich in seinen Augen. Sachte drehte er den Körper seines Bruders auf den Rücken, bettete den Oberkörper auf seine Arme.
»Sammy ...«, flüsterte er erneut. Eine Träne rollte seine Wange hinunter, strich Sammy durchs blutverschmierte Haar. Seine Augenlider flatterten, öffneten sich langsam. Sein Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln.
»Ich danke dir ... für dein tolles Geschenk ... Lio ...«

Die Erinnerung an diesen Tag überkam ihm jedes Mal, wenn er sein Grab besuchte. So auch heute. Nur dieses Mal führte ihn nicht nur Sammys Tod zum Tower Hamlets Cemetery. Leider nutzte jemand das Datum aus, um sich mit ihm zu treffen. Und er ahnte, wer es sein könnte und ihn interessierte es durchaus, wie »I« es in nur zehn Tagen herausfinden konnte. Außerdem gab es nur wenige Personen, die dazu in der Lage wären und in dem Kira-Fall ermittelten. Zumindest von denen Lionel wusste. Den Mann erblickte er bereits von Weitem. Er stand vor dem Grab des kleinen Sammy,  drehte sich um, als Lionel sich näherte. Ihre Blicken trafen sich.
O’Neill lächelte. »Hallo, Kira.«
»Was wollen Sie?«, fragte Lionel monton.
»Ach?«, sagte O’Neill überrascht und hob eine Augenbraue. »Kein Widerspruch?«
»Warum sollte ich? Das würde Ihren Verdacht sicher nicht ändern, oder?«
»Kluger Junge.« Lionel presste die Lippen aufeinander, wandte sich dem Grabstein zu und strich mit den Fingerkuppen über die Inschrift.

Samuel Thompson
Geliebter Sohn und Bruder
*23.10.2013
†23.10.2020

Tränen sammelten sich in seinen Augen, die er mit dem Ärmel wegwischte. Er wollte nicht in Anwesenheit des Ex-Detectives und eines Shinigamis weinen. Nicht jetzt, nicht hier. Ein Gefühlsausbruch war jetzt das Letzte, was er gebrauchen konnte. Er spürte ihre Blicke auf sich ruhen.
»Ich habe das ganze Jahr über weiter ermittelt«, teilte O’Neill nach einer Weile mit. »Ich kenne seinen Namen.«
Lionel blickte nicht von der Inschrift auf. »Warum erzählen Sie mir das? Was erhoffen Sie sich?« Schritte auf dem Gras. Der Privatdetektiv erschien in seinem Augenwinkel, blieb schließlich hinter dem Grabsteib stehen. Ein Arm war auf dem Rücken verschränkt, mit der freien Hand strich er über den Stein.
»Ich bin ein gefallener Mann, Lionel. Ich habe dort ermittelt, wo andere längst aufgegeben haben.Habe alles getan, um nur diesen einen Namen herauszufinden und als es endlich soweit war, wurde ich einfach aus dem Dienst entlassen. Unehrenhaft hieß es, weil ich Beweise fand, die ein Richter so nie anerkennen würde.« So als würde er das selbst nicht glauben, schüttelte O’Neill den Kopf, lachte kurz auf und strich sich durchs dunkle Haar.
»Und ein falscher Name ist ehrenhafter?«, kommentierte Ryuk und gewann damit Lionels Aufmerksamkeit. Ein falscher Name? So unauffällig wie möglich wagte er mit seinen Shinigami-Augen einen Blick über den Kopf des ehemaligen Detective Inspectors. Für einen kurzen Moment schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht, was er aber schnell wieder gegen ein Trauriges austauschte. Er steckte die Hände in die Jackentaschen.
»Und das soll ich Ihnen glauben, wo Sie doch mit einem anderen Namen unterwegs sind?«
Musternd blickte O’Neill in sein Gesicht. »Dann ist es also wahr, das mit den Shinigami-Augen. Dann nehme ich mal an, ein Shinigami ist auch anwesend, hier und jetzt?« Bevor Lionel reagieren konnte, zog O’Neill einen saftig roten Apfel aus der Tasche und warf diesen hoch. Natürlich war Ryuk sofort zur Stelle und schnappte sich den Apfel. Am liebsten hätte Lionel ihn dafür geschlagen. Die Reaktion des Todesgottes war in dem Moment sehr unbedacht. Aber was hätte er auch dagegen machen können? Ryuk liebte einfach Äpfel, wie Menschen das Rauchen. Zufrieden beobachtete O’Neill wie ein schwebender Apfel Stück für Stück aufgegessen wurde.
»Faszinierend. Wirklich faszinierend«, murmelte er. »Wenn ich ihn nur sehen könnte ...« Vielsagend fiel sein Blick auf Lionel. »Wie wär`s, Lionel? Ich gebe dir den Namen und du lässt mich im Gegenzug dein Death Note berühren.«
»Nein«; sagte Lionel sofort, verengte die Augen. »Wenn ich das tue, würden Sie es mit Sicherheit sofort an sich nehmen wollen und meinen Namen reinschreiben, damit das Besitzrecht auf Sie übergeht.«
»Du hast eine blühende Fantasie, Lionel. Das muss ich dir lassen, aber das hatte ich gar nicht vor. Denn ich töte keine Kinder. Auch nicht jene, die sechs Menschen auf dem Gewissen haben.«
»Jetzt haben Sie aber eine blühende Fantasie, Mr O’Neill. Es mag sein, dass ich für die ersten fünf Tode verantwortlich bin, aber HR Morgan habe ich nicht getötet. Das schwöre ich.« Lange kreuzten sich ihre Blicke, lange lag ein Mantel des Schweigens über ihnen, bis O’Neill den Blickkontakt abbrach und langsam über den Waldboden ging. Zögernd folgte Lionel ihm.
»Dann gibt es wieder mehr als ein Death Note«, mutmaßte O’Neill. »Wer?«
»Ich habe einen Verdacht, der sich möglicherweise bald bewahrheiten wird.« Unter den wachsamen Augen des Shinigamis Ryuk begannen sie über den Friedhof zu spazieren. »Sie können sich denken, dass ich Ihnen meinen Verdacht nicht verraten werde.«
»Dass ist auch nicht nötig. Aber so langsam sollte ich zu meiner wahren Intention kommen, nicht wahr? Ich möchte eine Partnerschaft vorschlagen. Nur zwischen dir und mir.«
»Und aus dieser ... Partnerschaft erhoffen Sie sich das Death Note?«
»Keineswegs! Du würdest es behalten und weiter fleißig Namen notieren, die ich dir nenne.«
Lionel blieb stehen. »Ich soll für Sie töten?«
»So kann man es auch ausdrücken«, erwiderte O’Neill und blieb ebenfalls stehen. Er warf einen Blick über seine Schulter. »Und der Fahrer vom letzten Jahr soll der Erste sein.« Analysierend sah Lionel den Privatdetektiv von oben bis unten an, überlegte, ob er die Partnerschaft eingehen sollte. Trotz seines jungen Alters war er nicht dumm. Er wusste durchaus in den Gesichtern der Menschen zu lesen. Aber bei diesem Mann, diesem Isaac O’Neill, biss er sich die Zähne aus. O’Neill wusste, wie er seine Emotionen unter Kontrolle hielt und seine Gedanken nicht nach draußen trug. Es war, als träge dieser Mann eine undurchschaubare Maske. Lionel musste aufpassen, wenn er auf diese Maskerade nicht hereinfallen wollte. Er musste seine nächsten Worte mit Sorgfalt wählen und mit einem gesunden MIsstrauen auf das Angebot eingehen. Jedoch war immer noch die Macht der Shinigami-Augen auf seiner Seite. Zur Not besaß er dadurch ein Druckmittel. Leichtfüßig ging Lionel weiter, ging an O’Neill vorbei. Die Schrittgeräusche hinter ihm verrieten, dass er ihm folgte.
»Ich werde über Ihr Angebot nachdenken.«
»Mehr kann ich wohl nicht von dir verlangen«, seufzte O’Neill und fischte etwas aus seiner Manteltasche. Er überreichte Lionel ein zusammen gefaltetes Stück Papier. Fragend schoss eine Augenbraue in die Höhe, als er es ihm abnahm.
»Wenn deine Antwort Ja lauten sollte, entfalte es und ... Naja, du weißt dann, was du zu tun hast. Auf Wiedersehen, Lionel.« Zum Abschied tippte sich der ehemalige Detective Inspector mit zwei Fingern gegen die Stirn, kehrte Lionel den Rücken zu und entfernte sich langsamen Schrittes. Ein Augenblick lang sah Lionel ihm hinterher, musterte dann nachdenklich das Papier zwischen seinen Fingern. Ein Gefühl sagte ihm, dass er bereits wusste, was auf dem Papier geschrieben stand.
»Und, Kleiner?«, meldete sich Ryuk zu Wort. »Was wirst du jetzt tun?«

8. Kapitel: Was nun?

»Vier Schüler und Schülerinnen des Shakespeare Internats sind gestern Nacht ums Leben gekommen«, fasste Mr Thompson einen Artikel der Morgenzeitung zusammen. »Die Polizei vermutet, sie hängen mit den anderen Todesfällen der letzten Tage zusammen.«
»Die Polizei interpretiert zu viel hinein«, sagte Mrs Thompson, als sie mit einer Kanne frisch aufgebrühtem Kaffee aus der Küche kam. »Steht im Artikel, wie sie gestorben sind?«
Die Augen seines Vater überflogen die schwarzen Lettern. »Kein wie oder warum.«
»Dann kann das nur ein Zufall sein. Jetzt leg die Zeitung weg. Die Toasts werden sonst kalt.«
»Ja, natürlich.« Geräuschvoll faltete sein Vater die Zeitung zusammen und legte sie anschließend feinsäuberlich neben seinen Teller. Lionel hatte die Unterhaltung stillschweigend verfolgt, während er sein Porridge mit Blaubeeren aß. Seine Eltern und auch die restliche Londoner Bevölkerung hatte keine Ahnung, was wirklich hinter den Todesfällen steckte. Durch seine gleichaltrigen Freunde hatte er mittlerweile oft genug mit bekommen, dass die Erwachsenen die Ereignisse herunterspielten, sie verharmlosten, damit ihre Kinder keine Angst bekamen. Keiner von ihnen verstand die Verbindung, dabei geschah so etwas nicht zum ersten Mal. Die Erwachsenen verharmlosten, um zu vergessen. Dabei spielte sich die Wahrheit seit elf Tagen direkt vor ihren Augen ab.
»Hast du heute etwas vor, Lionel?«, wollte seine Mutter lächelnd wissen.
»Ich wollte heute zu Tommy fahren«, sagte Lionel. »Einfach Zeit mit ihm verbringen.« Das war nicht ganz die Wahrheit. Er würde zu dessen Haus fahren, aber seinen Freund wollte er noch nicht besuchen. Sein wirklicher Grund wohnte ein Haus weiter, aber das brauchten seine Eltern nicht zu wissen. »Ich weiß noch nicht, wann ich wieder zuhause sein werde. Könnte spät werden.«
»Ich hoffe doch, nicht allzu spät. Denk dran, morgen ist wieder Schule.«
»Das musst du mir nicht sagen, Dad.« Der Löffel kratzte über das Porzellan, als Lionel den letzten Rest seines Frühstücks aus der Schüssel schabte und dann in seinen Mund schob. Als er das Essen runtergeschluckt hatte, brachte er die leere Schüssel und sein benutztes Besteck in die Küche. Aus dem Obstkorb klaubte er sich einen Apfel und lief danach die Treppenstufen hoch in sein Zimmer. Leise schloss er die Tür hinter sich, durch welche Ryuk hindurch lief und das saftige rote Obst auffing. Lionel ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl nieder.
»Du hast mir noch nicht verraten, ob du die Partnerschaft mit diesem O’Neill eingehen willst«, fing Ryuk ein Gespräch an und legte sich schwebend in der Luft hin. Den Apfel ließ er, wie einen Basketball, auf einem Finger rotieren.
»Das hätte ich vielleicht, wenn er mir den Namen nicht gegeben hätte«, gestand Lionel schmunzelnd und nahm ihm das Papier, was O’Neill ihm gestern gegeben hatte. Aufgefaltet hielt er es dem Shinigami hin. »Praktischerweise sogar mit einem Foto.« Auf dem genannten Foto war ein Mann Ende vierzig zu sehen. Violettgefärbte Haarsträhnen fielen ihm über das rechte Auge, graue Augen waren hinter Brillengläsern zu erkennen. Die Nase war leicht schief und eine kleine Narbe war am rechten Mundwinkel zu sehen. Dank seiner Shinigami-Augen wusste Lionel, dass der notierte Name unter dem Foto korrekt war.
»Dann wirst du deinen Bruder also jetzt rächen, Kleiner?«
»Genau das hatte ich vor, Ryuk.« Er holte das Death Note aus seinem Versteck im Schrank und schlug es mit einer Hand auf. Mit der anderen Hand griff er nach dem Kugelschreiber, welcher auf dem Schreibtisch lag. Die Kaugeräusche des Shinigamis ignorierend, schrieb er alles Nötige auf die Linien des schwarzen Notizbuchs:

Robert Lewis
Herzversagen, 24.10.2021 um 10 Uhr
Er fährt zum Scotland Yard und reicht einem Detective ein unterschriebenes Geständnis, dass er für den Tod von Samuel Thompson verantwortlich ist. Anschließend erliegt er einem Herzversagen.

Zufrieden schlug Lionel das Notizbuch des Todes wieder zu, lächelte. Sein Herz fühlte sich wie beflügelt an, jetzt, wo er wusste, dass er sich um den Mörder seines Bruders keine Sorgen mehr machen musste. Jeden Augenblick war alles erledigt. Doch, was sollte Lionel dann mit dem Death Note machen? Er nutzte es nur mit dem Hintergedanken, sich irgendwann am Mörder seines Bruders rächen zu können und das hatte er nun erreicht. Zwar konnte er mit dem Morden von Mobbern weitermachen, doch tat dies der zweite Kira offensichtlich auch. Er benötigte es also theoretisch nicht mehr. Nachdenklich tippte er sich ans Kinn.
»Ryuk, mal angenommen, ich gebe das Besitzrecht ab, was würde mit mir passieren?«
»Du verlierst die Erinnerungen an das Death Note und auch die Shinigami-Augen. Sobald du es aber erneut berührst, kehren die Erinnerungen vollständig zurück, abgesehen von den Augen eines Shinigami.«
»Verstehe ...«, murmelte Lionel und beugte sich leicht vor, den Blick auf den Boden gerichtet. Das war eine wirklich gute Sache. Da er persönlich die Partnerschaft nicht eingehen wollte, kam ihm die erzwungene Amnesie ganz recht. Augenblicklich nahm eine Idee in seinem Kopf Form an. Erneut wandte er seine Aufmerksamkeit dem Shinigami zu. »Kann jemand, der bereits ein Death Note besitzt, ein Zweites besitzen?«
Ryuk nickte. Lionel schmunzelte. »Sehr gut.« Schwungvoll drehte er sich zu seinem Tisch um, legte sich ein Blatt Papier zurecht und ergriff erneut den Kugelschreiber. Wort an Wort reihte sich auf dem Papier zusammen, bis er den Stift wieder beiseite und das Papier zusammengefaltet in das Notizbuch legte. Ryuk beobachtete ihn dabei.
»Ich vermute, du möchtest es wirklich abgeben? Du wirst vergessen, dass du es warst, der deinen Bruder gerächt hast.«
»Das mag sein, Ryuk, aber ich werde es aus den Medien erfahren und das wird meinem ›alten Ich‹ ausreichen. Tod ist Tod, nicht wahr? Solltest du als Todesgott wissen.«
»Ja ... Tod ist Tod.«
»Dann verstehen wir uns ja.« Er überreichte ihm das Notizbuch mit den Worten: »Ryuk, bringe das Death Note bitte dem anderen Kira. Ich gebe das Besitzrecht an ihn ab.«
»Wie du möchtest, Kleiner. Es war mir eine Freude dich begleiten zu dürfen.« Das waren die letzten Worte, die Lionel von ihm hörte, ehe ihm schwarz vor Augen wurde und er vom Stuhl rutschte.

9. Kapitel: Epilog

Nichtsahnend saß Hunter unter dem Baum in seinem Garten, als das schwarze Notizbuch vor ihm auf dem Boden landete. Eine fragende Augenbraue schoss in die Höhe, als er einen Blick zu seinem Shinigami warf. Dieser schien dieser in die Ferne zu blicken. Perplex tat Hunter es ihm nach. Doch war nichts bemerkenswertes zu sehen.
»Soma, was -«, setzte er an, doch unterbrach ihn die tiefe, leise Stimme des Shinigami: »Nimm das schwarze Death Note.« Hunter öffnete den Mund, wollte zu einer Frage ansetzen, doch ließ er es, als die roten Pupillen auf ihn gerichtet waren. Also beugte er sich leicht vor und streckte eine Hand nach dem schwarzen Notizbuch aus. Kaum hielt er es zwischen seinen Fingern, stand eine große und schwarze Gestalt neben ihm. Hunter zuckte zusammen, blickte der Gestalt dann hoch in dessen bläulichen Gesicht.
»Wie komme ich zu der Ehre von gleich zwei Shinigami aufgesucht zu werden?«, hauchte er ehrfürchtig.
»Das würde ich auch gerne wissen«, gestand Soma. »Ryuk, was ist aus deinem Schützling geworden? Ist er gestorben?«
»Nein, er hat bloß das Besitzrecht abgegeben«, antwortete Ryuk ehrlich und zuckte unbeteiligt mit den Schultern. Mit einem seiner langen Finger deutete er auf das zweite Death Note. »Er hat dir eine Nachricht hinterlassen.«
»Eine Nachricht ...?«, wiederholt Hunter und schlug prompt das Notizbuch des Todes auf. Und da! Ein zusammengefaltetes Stück Papier fiel ihm in den Schoß. Aufgeregt leckte er sich über die Lippen und faltete es anschließend auseinander. Von links nach rechts und Wort für Wort las er still die Botschaft:

Hallo Hunter,

mit dem Tod von Henry R. Morgan hast du mir mein Opfer genommen, aber das ist okay. Denn dadurch und durch meine Shinigami-Augen habe ich erfahren können, dass ein zweites Death Note in London existiert. Ich weiß nicht, was du damit planst, aber meine Vermutung lautet, dass wir das gleiche Ziel verfolgen – die Ausrottung aller, die gegen eine diverse Welt sind. Und ich weiß, du bist entweder selber ein Mitglied oder zumindest ein Verbündeter von LGBTQ+. Ich schreibe dir diese Botschaft, da jemand bei Scotland Yard meine wahre Identität herausfinden konnte und ich deshalb nicht mehr als Kira agieren kann. Beim Yard ist er unter dem Namen ›Isaac O’Neill‹ bekannt, aber sein richtiger Name lautet ›Ian Draven‹. Erst gestern haben wir uns getroffen und Draven hat mir eine Partnerschaft angeboten. Ich möchte, dass du an meiner Stelle das Angebot annehmen sollst, denn einen Verbündeten in den Reihen des Yard zu haben, kann nützlich sein. Jedoch solltest du dich auch vor ihm in Acht nehmen und ihm nicht zu sehr vertrauen. Er weiß, dass zwei Death Notes existieren, aber deinen Namen kennt er noch nicht. Sei vorsichtig.

Kira

P.s.: Ryuk liebt Äpfel.


Einige Male las er sich die Botschaft durch, überprüfte, ob er auch tatsächlich die Zeilen richtig verstand. Der Sinn blieb jedes Mal der Gleiche: Hunter sollte das Werk Kiras fortsetzen und das gleich mit zwei Death Notes. Mit zwei Shinigamis an seiner Seite. Grinsend fuhr sich Hunter durch sein Haar, lehnte den Kopf gegen den Baumstamm.
Ein Lachen entfloh seiner Kehle.